An diesem Nachmittag beschloß ich, während wir bei über fünfunddreißig Grad Hitze Hühnerkacke in Fässer verluden, daß ich die Nase voll hatte. Der Witz hatte jetzt wirklich einen langen Bart. Und die Osterferien waren auch gerade zu Ende gegangen. Ich wollte raus. Natürlich hatte ich diesen Wunsch schon am ersten Tag hier gehabt, aber Eli zuliebe habe ich meine Gefühle unterdrückt. Jetzt konnte ich sie nicht länger zurückhalten. Ich entschied, daß ich vor dem Abendessen in der Ruhepause mit Eli darüber reden wollte.
Als wir von den Feldern zurückkehrten, nahm ich rasch mein Bad und machte mich zu Elis Zimmer auf. Er saß immer noch in der Wanne; ich hörte das Wasser rauschen und ihn mit seiner tiefen, monotonen Stimme singen. Schließlich verließ er das Bad und rieb sich ab. Die hiesige Lebensart kam ihm zugute: Er wirkte kräftiger und muskulöser. Eli warf mir einen frostigen Blick zu.
„Was willst du hier, Timothy?“
„Nur eine Stippvisite.“
„Jetzt ist Ruhepause. Die sollen wir allein verbringen.“
„Wir sollen immer allein sein“, sagte ich, „außer wenn wir mit ihnen zusammen sind. Nie läßt man uns die Gelegenheit, privat miteinander zu reden.“
„Das ist schließlich ein Teil des Rituals.“
„Ein Teil des Spiels“, sagte ich. „Ein Teil des Scheißspiels, das sie mit uns spielen. Sieh mal, Eli, du bist eigentlich für mich so etwas wie ein Bruder. Es gibt niemanden, der mir zu sagen hat, wann ich mit dir reden kann und wann nicht.“
„Mein Bruder, der Goy“, sagte er. Rasch setzte er ein Lächeln auf, das genauso schnell wieder verschwand.
„Wir hatten genug Zeit zum Reden. Jetzt stehen wir unter der Anweisung, uns voneinander fernzuhalten. Du gehst besser wieder, Timothy. Wirklich, du gehst besser, bevor die Brüder dich hier drin entdecken.“
„Wo sind wir denn hier, verdammt noch mal? Im Gefängnis?“
„In einem Kloster. Und ein Kloster hat feste Regeln. Dadurch, daß wir hierhergekommen sind, haben wir uns diesen Regeln unterworfen.“ Eli seufzte. „Willst du jetzt bitte gehen, Timothy?“
„Es sind ja gerade diese Regeln, über die ich mit dir reden will, Eli.“
„Ich habe sie nicht gemacht. Und ich kann keine für dich aufheben.“
„Laß mich doch ausreden“, sagte ich. „Du weißt, daß die Zeit nicht stehenbleibt, während wir uns hier als Fruchtboden aufhalten. Man wird uns bald vermissen. Unsere Familien werden entdecken, daß sie lange nichts mehr von uns gehört haben. Und jemand wird herausfinden, daß wir nach den Osterferien nicht aufs College zurückgekehrt sind.“
„Na und?“
„Wie lange sollen wir denn noch hier bleiben, Eli?“
„Bis wir das haben, was wir wollten.“
„Du glaubst an den ganzen Scheiß, den sie uns erzählt haben?“
„Hältst du immer noch alles für Quatsch, Timothy?“
„Ich habe hier weder etwas gehört noch gesehen, was meine Meinung ändern könnte.“
„Und die Brüder? Was meinst du, wie alt sie sind?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Sechzig. Siebzig. Einige von Ihnen vielleicht sogar achtzig. Sie führen ein gesundes Leben, viel frische Luft, körperliche Bewegung und sorgfältig ausgesuchte Nahrung. Damit halten sie sich in Form.“
„Ich glaube, daß Bruder Antony mindestens tausend Jahre alt ist“, sagte Eli. Sein Tonfall war kalt, aggressiv und bestimmt: Normalerweise hätte er mich damit zum Lachen gebracht, aber ich konnte es einfach nicht. „Vielleicht ist er sogar noch älter“, fuhr Eli fort. „Das gleiche gilt für Bruder Miklos und Bruder Franz. Ich vermute, daß es nicht einen unter ihnen gibt, der jünger als hundertfünfzig Jahre ist.“
„Ist ja entzückend.“
„Was willst du, Timothy? Willst du raus?“
„Ich habe daran gedacht.“
„Allein oder mit uns?“
„Vorzugsweise mit euch. Wenn nötig, auch allein.“
„Oliver und ich werden nicht gehen, Timothy. Und ich glaube, Ned auch nicht.“
„Schätze, dann bin ich auf mich selbst angewiesen.“
„Soll das eine Drohung sein?“ fragte er.
„Es ist eine Folgerung.“
„Du weißt, was uns anderen passiert, wenn du abhaust.“
„Hast du wirklich Angst davor, daß die Brüder unseren Eid durchsetzen?“ fragte ich.
„Wir haben geschworen, nicht abzuhauen“, sagte Eli. „Sie haben die Strafe dafür genannt, und wir haben zugestimmt, zu bleiben. Ich würde ihre Fähigkeit nicht unterschätzen, den Schwur wahr zu machen, wenn einer von uns ihnen die Gelegenheit dazu gibt.“
„Quatsch, sie sind doch bloß ein Haufen kleiner, alter Männer. Wenn einer von denen mir zu nahe kommen sollte, würde ich ihn in zwei Teile spalten. Mit einer Hand.“
„Wahrscheinlich könntest du das, vielleicht aber auch nicht. Möchtest du für unseren Tod verantwortlich sein, Timothy?“
„Jetzt komm mir nicht mit dem Melodram-Kappes. Ich bin nur verantwortlich für mein eigenes Handeln. Sieh es doch einmal von der existentiellen Seite, so, wie du es immer von uns verlangst: Wir gestalten selbst unser Schicksal, Eli, wir gehen unsere eigenen Wege. Warum sollte ich mich an euch binden lassen?“
„Du hast freiwillig einen Eid abgelegt.“
„Ich kann ihn widerrufen.“
„Nun gut“, sagte er. „Widerrufe, pack deinen Kram zusammen und hau ab.“ Nackt ausgestreckt lag er auf seinem Kinderbett und stahl mir damit die Show; ich hatte Eli noch nie so bestimmt gesehen, so gutaussehend. Plötzlich war er überraschenderweise zu einer respektablen Persönlichkeit geworden. Er sagte: „Nun, Timothy? Du bist für dein Handeln verantwortlich. Niemand hält dich auf. Bei Sonnenuntergang könntest du schon in Phoenix sein.“
„So eilig ist es mir nicht. Ich wollte dieses Problem mit euch dreien diskutieren, zu einer Art rationalen Verstehens kommen. Niemand will irgend jemand anderen niederknüppeln, aber wir alle stimmen darin überein, daß …“
„Wir haben darin übereingestimmt, hierherzukommen“, sagte Eli. „Und wir haben darin übereingestimmt, die Sache einmal auszuprobieren. Eine weitere Diskussion ist also nicht nötig. Du kannst gehen, wann immer du willst, solange du natürlich im Kopf behältst, welchen Gefahren du uns durch eine solche Tat aussetzt.“
„Das ist Erpressung.“
„Ich weiß.“ Seine Augen blitzten auf. „Wovor hast du Angst, Timothy? Oder bereitet dir die Vorstellung Sorgen, wirklich das ewige Leben zu erlangen? Bricht dir eine kreatürliche Angst das Rückgrat, Mann? Stellst du dir dich vor, wie du von Jahrhundert zu Jahrhundert gehst, festgebunden am Rad des Schicksals, unfähig, dich davon zu befreien? Was erschreckt dich mehr, Timothy: das Leben oder das Sterben?“
„Du Arschwichser.“
„Du bist im falschen Zimmer“, sagte Eli. „Geh raus, zweite Tür links, und frag da nach Ned.“
„Ich bin hierhergekommen, um ernsthaft zu reden. Ich wollte keine Witzchen hören und keine Drohungen und keine persönlichen Beleidigungen. Ich wollte nur wissen, wie lange du, Oliver und Ned vorhabt, hierzubleiben.“
„Wir sind doch gerade erst angekommen. Es ist noch zu früh, um über ein Verschwinden zu reden. Würdest du mich bitte entschuldigen?“
Ich verließ sein Zimmer. Ich drehte mich im Kreis, und wir beide wußten das. Und Eli hatte mir ein paarmal schmerzhafte Nadelstiche versetzt, an Stellen, von denen ich nicht angenommen hatte, dort so verwundbar zu sein.
Beim Abendessen begegnete er mir so, als sei überhaupt nichts gewesen.
Und was jetzt? Soll ich hier einfach sitzen und warten und mich wundern? Ehrlich, lange halte ich das hier nicht mehr aus. Ich bin ganz einfach nicht der Typ für ein Leben im Kloster, ganz abgesehen von der Frage des Buches der Schädel und dem, was es vielleicht anzubieten hat. Man muß für solche Sachen genormt sein: Man muß die Fähigkeit zum Entsagen in den Genen haben, eine Spur von Masochismus. Ich muß versuchen, das Eli und Oliver bewußt zu machen. Die beiden Verrückten, die beiden unsterblichkeitssüchtigen Trottel. Sie würden hier glatt zehn oder zwanzig Jahre bleiben, Unkraut jäten, sich bei den Übungen das Kreuz verrenken, in die Sonne starren, bis sie erblinden, gepfefferten Matsch essen — und wären trotzdem davon überzeugt, dies sei der richtige Weg, das ewige Leben zu erlangen. Eli, der mir immer verrückt und neurotisch vorkam, aber unter der Oberfläche ziemlich gescheit, scheint mir jetzt endgültig ausgeflippt zu sein. Seine Augen wirken befremdlich, starr und grimmig, wie die von Oliver: psychotische Augen, schreckliche Augen. In Eli geht etwas vor. Von Tag zu Tag erhält er mehr Kraft, nicht nur muskelmäßig nimmt er zu, er scheint auch an moralischer Stärke zu gewinnen, an Inbrunst, an Dynamik: Er hat sich dieser Sache verschrieben und läßt jeden wissen, daß er niemandem erlauben wird, sich zwischen ihn und sein Ziel zu stellen. Für Eli ist das eine ganz neue Haltung. Manchmal glaube ich, er entwickelt sich zu einer Art Oliver — eine schmächtige, dunkle, behaarte, jiddische Ausgabe von Oliver. Oliver selbst natürlich hält seinen Mund geschlossen und arbeitet im Haushalt für zehn, und bei den körperlichen Übungen verbiegt er sich zu einer Brezel, bloß um den Bruder auszustechen. Sogar Ned scheint sich dem Glauben zuzuwenden. Von ihm kommen keine spitzen Bemerkungen mehr, keine kleinen, zynischen Bonmots. Morgens sitzen wir da und hören Bruder Miklos zu, wie er viel Garn senilen Gebabbels spinnt, bei dem höchstens ein Satz von sechsen einen Sinn ergibt. Und Ned sitzt da wie ein Sechsjähriger, dem man vom Weihnachtsmann erzählt, sein Gesicht ist vor Aufregung verzerrt, er schwitzt, kaut an den Nägeln, nickt und schluckt alles. Weiter so, Bruder Miklos! Atlantis, jawohl, und der Cro-Magnon-Mensch, na klar doch, und die Azteken, und was sonst noch kreucht und fleucht, Klatschmarsch bitte, jawohl, ich glaube alles. Und dann sitzen wir am Mittagstisch, und dann meditieren wir auf dem kalten Steinboden, jeder für sich natürlich, und dann gehen wir nach draußen und schwitzen uns für die Brüder auf den verdammten Feldern ab. Schluß damit, ich hab’ die Schnauze voll davon. Heute habe ich meine Chance verpaßt, aber in ein oder zwei Tagen werde ich noch einmal zu Eli gehen und versuchen, ob ich ihn nicht zur Vernunft bringen kann. Aber viel Hoffnung habe ich dabei nicht.
Eli erschreckt mich neuerdings ein wenig.
Ich wünschte mir, er hätte diese Bemerkung nicht gemacht, von wegen, wovor ich mehr Angst hätte: dem Neunten Mysterium oder dem ewigen Leben. Ich wünschte mir wirklich, er hätte diese Bemerkung mir gegenüber unterlassen.