18. Kapitel Eli

Sie hatten ganz richtig gehandelt, dieses erschütternde und runzelige Terrain als Standort für das Schädelhaus auszusuchen. Altertümliche Kulte benötigen einfach eine Umgebung von Geheimnis und romantischer Abgelegenheit, wenn sie sich gegen die krachenden, klingenden Resonanzen des skeptizistischen, materialistischen zwanzigsten Jahrhunderts behaupten wollen. Eine Wüste ist dafür ideal. Hier ist der Himmel auf schmerzhafte Weise blau, der Boden besteht nur aus einer dünnen, verbrannten Kruste über einem Felsmassiv, die Pflanzen und Bäume sehen verdreht aus, dornig und bizarr. An Orten wie diesem scheint die Zeit stillzustehen. Hier können die alten Götter gedeihen. Die moderne Welt kann hier nicht eindringen und nichts durcheinanderbringen, wir überleben die alten Götter, und die alten Gesänge tönen gegen den Himmel, unbehelligt vom Gebrüll des Verkehrslärms und dem Klappern der Maschinen. Als ich Ned von diesem Eindruck erzählte, widersprach er. Die Wüste sei nur eine Theaterkulisse und hohl, sagte er, etwas zum Campen. Und für solche Überbleibsel aus dem Altertum wie die Hüter der Schädel, sei der beste Platz das Herz einer geschäftigen Großstadt, wo der Kontrast zwischen ihrer Art und unserer Welt am deutlichsten werde. Zum Beispiel ein unauffälliges Haus im Osten, 63. Straße, wo die Priester selbstgefällig ihren Riten nachgehen könnten, zwischen Kunstgalerien und Hundesalons. Eine weitere Möglichkeit, schlug er vor, sei ein einstöckiges Gebäude aus Stein und Glas, eine Fabrikhalle auf einem Vorort-Industriegelände, wo vorher Klimaanlagen und andere Büroausstattungen hergestellt worden sind. Kontrast ist alles, sagte Ned, das Mißverhältnis die Essenz. Das Geheimnis der Kunst liege darin begründet, einen sinnvollen Widerspruch herauszuarbeiten, und was sei die Religion anderes als eine Kunstkategorie? Aber ich glaube, Ned wollte mich wie gewöhnlich auf den Arm nehmen. Wie dem auch sei, ich kann mit seinen Thesen von Kontrast und Gegensätzlichkeit nicht warm werden. Diese Wüste hier, dieses trockene Ödland, ist der ideale Standort für das Hauptquartier derer, die nicht sterben werden.

Als wir von New Mexico in den Süden Arizonas gelangten, ließen wir damit die letzten Spuren des Winters hinter uns. Noch in Albuquerque war die Luft frisch, sogar kalt gewesen, aber hier sind die klimatischen Verhältnisse einfach angenehmer. Das Land senkte sich, als wir an der mexikanischen Grenze nach Phoenix abbogen. Die Temperatur stieg sprunghaft an, von 10 auf 25 Grad oder sogar noch höher. Die Berge wurden niedriger und sahen aus, als seien sie aus Bröckchen rotbrauner Erde gemacht, die zu Klumpen zusammengepreßt und mit Klebstoff überzogen worden waren. Ich stellte mir vor, ich könnte mit dem Finger ein tiefes Loch in solche Erde bohren. Sanfte, verletzliche, abfallende Hügel, die praktisch nackt waren. Wie eine Mars-Landschaft. Auch die Vegetation war hier anders. Statt an dunklen Unterholzflächen und knorrigen, kleinen Pinien fuhren wir jetzt an ausgebreiteten Riesen-Kakteen vorbei, die wie Phalli aus dem braunen, schuppigen Boden sprossen. Ned spielte für uns den Botaniker. Das sind Saguaros, sagte er, diese Kakteen mit den großen Armen, die größer als Telefonmasten sind. Und jene struppigen, stachelbewehrten, blaugrünen, blattlosen Bäume, die so aussehen, als stammten sie von einem anderen Planeten, heißen Palo Verde. Und diese knorrigen, emporgereckten Bündel von zusammenhängenden hölzernen Ästen werden Ocotillo genannt. Ned kennt sich sehr gut im Südwesten aus. Für ihn ist es eine Art zweite Heimat, nachdem er vor ein paar Jahren einige Zeit in New Mexico verbracht hat. Aber Ned fühlt sich überhaupt überall wie zu Hause. Er spricht gern von der internationalen Schwulen-Bruderschaft. Wo er auch hinkommt, er kann sicher sein, Unterkunft und Freunde von seiner Art zu finden. Manchmal beneide ich ihn. Vielleicht wird der ganze Wahnsinn, als Schwuler in einer normalen Gesellschaft zu leben, von dem Wissen um Plätze aufgewogen, an denen man immer willkommen ist, einzig und allein aus dem Grund, weil man zum gleichen Stamm gehört. Mein Volk ist bei weitem nicht so gastfreundlich.

Wir überquerten die Grenze nach Arizona und sausten nach Phoenix. Eine Zeitlang wurde die Landschaft wieder gebirgiger, das Gelände wirkte nicht mehr so, als sei das Betreten verboten. Hier war das Land der Indianer — der Pimas. Wir konnten einen Blick auf den Coolidge-Damm werfen; Erinnerungen an den Erdkundeunterricht. Als wir hundert Meilen östlich von Phoenix waren, begannen schon Plakattafeln, uns einzuladen — nein, zu befehlen —, in einem der Motels der Stadt abzusteigen. „Verbringen Sie einen wunderbaren Urlaub im Tal der Sonne.“ Die Sonne brannte hier bereits am späten Nachmittag auf uns nieder. Unverrückbar hing sie über der Windschutzscheibe und schleuderte rotgoldene Pfeile in unsere Augen. Oliver fuhr wie ein Roboter, setzte eine glitzernde Sonnenbrille mit silbernem Gestell auf und machte weiter. Wir rasten durch eine Stadt, die Miami hieß. Kein Strand und keine Weiber im Nerz. Der Himmel war jetzt purpurn und rosa von Rauch, den die Schornsteine ausstießen. Die Luft roch nach Auschwitz. Was wurde hier nur verbrannt? Kurz vor der eigentlichen Stadt entdeckten wir den riesigen grauen Wall einer stillgelegten Kupfermine, der wie ein Schlachtschiff aussah; ein großer Hügel, aufgeschüttet aus dem Abraum vieler Jahre. Gegenüber davon, auf der anderen Seite des Highways, stand ein riesiges, protziges Motel, wahrscheinlich für diejenigen erbaut, die scharf darauf sind, die Vergewaltigung des Erdbodens aus nächster Nähe bewundern zu können. Hier wird Mutter Natur kremiert. Angeekelt rasten wir weiter, durch unbesiedeltes Land. Saguaro, Palo Verde, Ocotillo. Wir rauschten durch einen langen Gebirgstunnel. Verloren das unbewohnte Land. Die Schatten wurden länger. Hitze, Hitze, Hitze. Und dann ganz plötzlich die Tentakel städtischen Lebens, die sich vom immer noch entfernten Phoenix aus erstreckten: Vorstädte, Einkaufszentren, Tankstellen, Verkaufsbuden mit indianischen Souvenirs, Motels, Neonlicht, Imbißstuben, die Tacos, Vanillesoße, Hot Dogs, Brathähnchen und Roastbeef-Sandwiches anbieten. Oliver ließ sich zum Anhalten überreden, und wir genehmigten uns Tacos unter unheimlichen gelben Straßenlampen. Und weiter. Graue Klötze von immensen, fensterlosen Behördengebäuden flankieren die Straße. Hier ist das Geld zu Hause, hier wohnt der Überfluß. Ich war Fremder in einem fremdartigen Land, ein armer, verwirrter, entfremdeter Jid von der Upper West Side, der an Kakteen und Palmen vorbeihuschte. So weit weg von zu Hause. Diese flachen Ansiedlungen, diese glitzernden einstöckigen Bankgebäude aus grünem Glas und mit psychedelischen Plastikzeichen. Pastellfarbene Häuser mit grünem und rosafarbenem Stuck. Ein Land, in dem Schnee unbekannt ist. Amerikanische Flaggen flattern. Friß es oder hau ab, Kerl! Hauptstraße, Mesas, Arizona. Die Testfarm der Universität von Arizona liegt direkt am Highway. Weit entfernte Berge leuchten in der blauen Dämmerung. Jetzt befinden wir uns auf dem Apache Boulevard in der Stadt Tempe. Räder quietschen, eine Kurve. Und unvermittelt sind wir in der Wüste. Keine Straßen, keine Plakattafeln, nichts: Niemandsland. Dunkle, klumpige Formen zu unserer Linken: Hügel und Berge. Weit vorn Mastlichter. Nach wenigen weiteren Minuten endet das Ödland; wir haben Tempe verlassen, Phoenix erreicht und befinden uns jetzt auf der Van-Buren-Straße. Geschäfte, Häuser, Motels. „Fahr weiter, bis wir im Zentrum sind“, sagte Timothy. Anscheinend besitzt seine Familie eine größere Beteiligung an einem der Motels in der City; dort wollen wir absteigen. Noch zehn Minuten Fahrt durch eine Gegend voller Secondhand-Buchläden und Mietgaragen (fünf Dollar die Nacht), dann sind wir in der City. Wolkenkratzer, zehn oder zwölf Stockwerke: Banken, ein Zeitungshaus, große Hotels. Die Hitze ist unglaublich, fast vierzig Grad. Jetzt haben wir erst Ende März; wie mag das Wetter erst im August sein? Hier steht unser Motel. Vor dem Eingang eine Kamelstatue. Eine große Palme. Eine enge, wenig freizügige Eingangshalle. Timothy meldet uns an. Wir nehmen eine Suite. Hinten, zweiter Stock. Ein Swimmingpool. „Wer hat Lust zu schwimmen?“ fragte Ned. „Und danach ein mexikanisches Abendessen“, sagte Oliver. Unsere Gehirne quellen über. Immerhin sind wir jetzt in Phoenix. Haben fast unser Ziel erreicht. Morgen schwärmen wir nach Norden aus, um die Zufluchtsstätte der Hüter der Schädel zu finden.

Jahre scheinen seit dem Beginn unserer Unternehmung vergangen zu sein. Der kurze, unauffällige, zufällig entdeckte Hinweis in der Sonntagszeitung. Ein „Kloster“ in der Wüste, nicht weit von Phoenix entfernt, wo zwölf oder fünfzehn „Mönche“ eine sehr eigene Form sogenannten Christentums praktizieren. „Sie kamen vor ungefähr zwanzig Jahren aus Mexico, und man nimmt an, daß sie zur Zeit von Cortez aus Spanien nach Mexico gekommen sind.

Sie versorgen sich selbst, bleiben lieber unter sich und ermutigen Besucher nicht, zu kommen. Trotzdem begegnen sie jedem herzlich und gesittet, der sich in ihre isolierte, von Kakteen umringte Zuflucht verirrt. Der Baustil ist merkwürdig, eine Kombination aus mittelalterlichem Christentum und etwas, das aztekischen Motiven ähnelt. Das vorherrschende Symbol, welches dem Kloster ein eigentümliches, sogar groteskes Erscheinungsbild gibt, ist der menschliche Totenschädel. Überall Schädel, grinsend und düster, als Relief oder in sonstigen dreidimensionalen Darstellungen. Ein langer Fries von Schädeldarstellungen scheint nach dem Muster hergestellt worden zu sein, das man in Chichen Itzá auf Yukatán finden kann. Die Mönche sind hager und kräftig, ihre Haut ist gebräunt und gehärtet von der Wüstensonnenstrahlung und dem Wind. Seltsam, sie wirken gleichzeitig alt und jung. Der einzige, mit dem ich sprechen konnte, weigerte sich, seinen Namen zu nennen, mochte dreißig oder dreihundert Jahre alt sein; es war unmöglich, dies zu entscheiden …“

Nur durch Zufall entdeckte ich diese Meldung, als ich die Reisebeilage der Zeitung überflog. Nur ein Zufall, daß etwas von dieser merkwürdigen Sache — ein Fries voller Schädel, alte und doch junge Gesichter sich in meinem Bewußtsein hielt. Und genauso der reine Zufall, daß ich einige Tage später auf das Manuskript des Buches der Schädel in der Universitäts-Bibliothek stieß.

Unsere Bibliothek hat ein Archiv, ein Lagerhaus voller auserlesener Stücke und Kuriosa, Manuskriptreste, Apokryphen und Raritäten, die bisher niemand einer Übersetzung für wert befunden hatte, geschweige denn einer Entschlüsselung, Klassifizierung oder Analyse. Ich glaube, jede größere Universität verfügt über ein ähnliches Repositorium, angefüllt mit einer Vielfalt von Dokumenten, die durch Stiftungen oder eine Ausgrabungsexpedition in ihren Besitz gelangten und nun auf eine gelegentliche (in zwanzig Jahren, in fünfzig?) genaue Untersuchung durch die Gelehrten warten. Unser Repositorium ist weiträumiger angelegt als die meisten anderen, vielleicht, weil drei Generationen von Bibliothekaren hungrig und habsüchtig für ein Imperium gesammelt haben. Sie häuften die Schätze des Altertums schneller an, als ein ganzes Bataillon Gelehrter mit dem Zuwachs fertig werden konnte. In einem solchen System werden bestimmte Sachen ungeordnet beiseite gelegt, hinweggeschwemmt vom Strom der Neuerwerbungen. Bald sind sie verborgen, vergessen und verwaist. Deshalb befinden sich bei uns ganze Regale, die vollgestopft sind mit sumerischen und babylonischen Keilschrift-Dokumenten, die meisten von ihnen wurden während der gefeierten Ausgrabungen 1902-1905 in Mesopotamien zutage gefördert; wir besitzen tonnenweise ungeöffnete Papyrusrollen aus den späteren ägyptischen Dynastien; kiloweise liegt dort Material aus den Synagogen des Irak, nicht nur Thorarollen, sondern auch Hochzeitsurkunden, Gerichtsurteile, Pachtbriefe und Gedichte; wir verfügen über beschriftete Stöcke aus Tamariskenholz aus den Höhlen von Tun-huang, ein vernachlässigtes Geschenk von Aurel Stein, das schon ziemlich lange dort liegt, wir besitzen Truhen voller Gemeindeverzeichnisse aus den miefigen Urkundenräumen der alten Yorkshire-Burgen; wir haben Bruchstücke und Streifen der präkolumbianischen mexikanischen Handschriften, stapelweise finden sich bei uns Hymnen und Meßgesänge von Klöstern in den Pyrenäen aus dem vierzehnten Jahrhundert. Wer weiß, vielleicht enthält unsere Bibliothek auch den Schlüssel, um die Geheimnisse der Schriften aus Mohenjo-daro zu enträtseln, oder sie führt das Lehrbuch für etruskische Grammatik von Kaiser Claudius, unkatalogisiert mögen dort die Memoiren von Moses oder das Tagebuch von Johannes dem Täufer zu finden sein. Diese Entdeckungen werden, wenn überhaupt, von anderen Bummlern in den dämmrigen, staubigen Lagertunneln unter dem Hauptgebäude der Bibliothek gemacht werden. Aber ich bin derjenige gewesen, der das Buch der Schädel gefunden hat.

Gesucht habe ich nicht danach. Ich hatte ja noch nie davon gehört. Unter der Hand verschaffte ich mir die Erlaubnis, die Lagergewölbe zu betreten, um eine Sammlung von Manuskripten katalanischer mystischer Verse aus dem dreizehnten Jahrhundert zu suchen, die wahrscheinlich der Antiquitätenhändler Jaime Maura Gudiol aus Barcelona 1893 vermacht hatte. Professor Vasquez Ocaña, mit dem ich bei einigen Übersetzungen aus dem Katalanischen zusammenarbeiten sollte, hatte von dem Schatz von Maura von seinem Professor vor dreißig oder vierzig Jahren gehört. Und er konnte sich vage daran erinnern, sich mit ein paar dieser Schriften befaßt zu haben. Während ich die abgegriffenen Katalogkarten, die noch mit der Sepiatinte des neunzehnten Jahrhunderts beschriftet waren, durchsuchte, hatte ich bald insoweit Erfolg, als ich herausfand, wo in diesen Lagergewölben die Maura-Sammlung zu finden sein sollte. Ich begab mich auf die Suche. Ein dunkler Raum; versiegelte Kisten; unübersehbare Mengen von Aktenordnern; ich hatte kein Glück. Hustend und schluckend weiter durch den Staub. Die Finger schwarz, das Gesicht verschmiert. Noch eine Kiste wird untersucht, dann geben wir’s auf. Und dann: ein fester, roter Papierband, der ein hübsch illustriertes Manuskript auf Blättern aus feinstem Schreibpergament enthielt. Reich ausgeschmückter Titel: Liber Calvarium. Das Buch der Schädel. Ein Titel, der einen nicht losläßt, geheimnisvoll und romantisch. Ich schlug es auf. Elegante, einzigartige Buchstaben in einer klaren, festen Handschrift aus dem zehnten oder elften Jahrhundert. Die Sprache war nicht direkt Latein, sondern eher ein lateinisiertes Katalanisch, das ich automatisch übersetzte: Vernehmt dies, o Hochwohlgeborener: Wir bieten Euch das ewige Leben an. Die verdammt seltsamste Einleitung, die mir je untergekommen war. Hatte ich mich vertan? Nein. Wir bieten Euch das ewige Leben an. Auf der Seite befand sich ein Textstück, der Rest war nicht so einfach zu entziffern wie die Einleitung. Entlang dem unteren Seitenrand und auf der linken Hälfte befanden sich acht wunderbar gemalte menschliche Schädel. Jeder einzelne wurde vom nächsten durch eine Säulenkette und ein romanisches Gewölbe getrennt. Nur ein Schädel besaß noch seinen Unterkiefer. Einer war seitlich umgekippt. Aber alle grinsten, und das Böse lauerte in ihren dunklen Augenhöhlen; Schädel nach Schädel schien vom Grab aus zu sagen: Es würde dir guttun, das zu lernen, was wir bereits entdeckt haben.

Ich ließ mich auf einer Kiste, die alte Pergamente enthielt, nieder und blätterte das Manuskript rasch durch. Zwölf Seiten oder so und alle mit grotesken Grabsymbolen verziert — gekreuzte Schenkelknochen, umgekippte Grabsteine, ein körperloses Becken oder zwei, und Schädel, Schädel, Schädel, Schädel. Den Text an Ort und Stelle zu übersetzen war mir unmöglich; viele Wörter waren zu obskur, waren weder Latein noch Katalanisch, sondern irgendeine verträumte, zuckende Zwischensprache. Doch die Essenz des Textes wurde mir schnell klar. Er war an irgendeinen Prinzen adressiert, stammte vom Abt eines Klosters und enthielt eigentlich die Aufforderung an den Prinzen, dem Weltlichen zu entsagen, um teilzunehmen an den „Mysterien“ der Klosterordnung. Die Ordnung der Mönche, sagte der Abt, sei eigentlich darauf ausgerichtet, den Tod zu vertreiben, womit er nicht etwa den Triumph der Seele in der nächsten Welt meinte, sondern eher den Sieg der Körper in dieser Welt. Wir bieten Euch das ewige Leben an. Reflexion, geistige und physische Exerzitien, richtige Ernährung und so weiter — dies waren die Tore, durch die man zum ewigen Leben gelangen konnte.

Nach einer Stunde Schweiß und Plackerei hatte ich folgendes herausbekommen:

„Das Erste Mysterium lautet wie folgt: So wie der Schädel unter dem Gesicht liegt, so lieget der Tod entlang dem Lebensstrang. Aber, o Hochwohlgeborener, darin besteht kein Paradoxon, denn der Tod ist der Begleiter des Lebens, das Leben ist der Vorbote des Todes. Wenn aber jemand durch das Gesicht den darunterliegenden Schädel erreichen und sich ihm freundlich erweisen kann, so kann dieser (unentzifferbar) …“

„Das Sechste Mysterium lautet wie folgt: Da unsere Gabe ewig verschmäht werden wird, darum müssen wir unter den Menschen ewig als Flüchtlinge leben, so müssen wir von Ort zu Ort fliehen, von den Höhlen des Nordens zu den Höhlen des Südens, und so ist es mir in den Hunderten von Jahren meines Lebens ergangen und in den Hunderten von Jahren meiner Vorgänger …“

„Das Neunte Mysterium lautet wie folgt: Der Preis eines Lebens ist immer ein Leben. Wisset, o Hochwohlgeborene, daß die Ewigkeit durch Auslöschung im Lot gehalten wird, und deshalb müssen wir Euch ersuchen, das geforderte Lot ohne Falsch aufrechtzuerhalten. Zweien von Euch gestatten wir, in unsere Gemeinde aufgenommen zu werden. Aber zwei fallen der ewigen Dunkelheit anheim. Da wir im Leben täglich sterben, sollen wir durch das Sterben ewig leben. Ist einer unter Euch, der zugunsten seiner Brüder in der Viererfigur auf die Unsterblichkeit verzichten will, so daß sie die Erkenntnis der Bedeutung der Selbstaufgabe erringen können? Und ist einer unter Euch, den zu opfern seine Kameraden bereit sind, so daß sie die Erkenntnis der Bedeutung des Ausschlusses erfassen können? Laßt die Opfer sich selbst erwählen. Laßt sie den Wert ihres Lebens nach dem Wert ihres Abgangs erwägen.“

Und mehr noch stand da, insgesamt achtzehn Mysterien und eine Zusammenfassung, die allerdings absolut unverständlich war.

Ich war wie besessen. Es war die ungeheure Faszination des Textes, die mich gefangenhielt, seine düstere Schönheit, sein reichhaltiger Zierat, sein gonghafter Rhythmus — und noch gar nicht die plötzliche Verbindung zu diesem Kloster in Arizona. Natürlich konnte ich das Manuskript nicht nach Hause mitnehmen. Aber ich ging nach oben, arbeitete mich wie Banquos schreckliches Gespenst aus den Gewölben empor und beantragte zum Studium einen Studienraum zwischen den Regalen. Dann ging ich nach Hause und badete. Ned gegenüber erwähnte ich nichts von meiner Entdeckung, obwohl er bemerkte, daß mich etwas intensiv beschäftigte. Dann kehrte ich zur Bibliothek zurück, versehen mit Papier, Stiften und meinen eigenen Wörterbüchern. Das Manuskript wartete auf dem mir zugeteilten Schreibtisch bereits auf mich. Bis zweiundzwanzig Uhr, so lange wie die Bibliothek geöffnet hatte, mühte ich mich in meiner schlechtbeleuchteten Zelle ab. Jawohl, ohne Zweifel behaupteten diese Spanier, den Weg zur Erlangung der Unsterblichkeit zu kennen. Der Text selbst führte keine weiteren Anhaltspunkte über ihre Methoden an, sondern beharrte lediglich darauf, daß sie damit erfolgreich seien. Eine ganze Menge Symbolik über den Schädel unter dem Gesicht war enthalten; für einen Kult, der so am Leben orientiert war, waren diese Mönche doch ziemlich stark von der Darstellung des Grabes fasziniert. Vielleicht war dies die notwendige Unstimmigkeit, der schreiende Widerspruch, wie er Ned bei seinen ästhetischen Theorien so wichtig war. Der Text machte klar, daß einige dieser schädelanbetenden Mönche, wenn nicht sogar alle, schon Jahrhunderte überlebt hatten. (Vielleicht sogar Jahrtausende? Eine doppeldeutige Passage im Sechzehnten Mysterium deutet eine Herkunft aus einer Zeit vor den Pharaonen an.) Ihre Langlebigkeit brachte ihnen schließlich den Mißmut der um sie herum wohnenden Sterblichen ein, von Bauern, Schäfern und Baronen; sehr oft hatten sie ihr Hauptquartier woanders aufgeschlagen, ständig auf der Suche nach einem Ort, an dem sie in Ruhe und Frieden ihren Riten nachgehen konnten.

Drei Tage harter Arbeit, und ich hatte eine ziemlich genaue Übersetzung von 85 Prozent des Textes vor mir liegen und ein grobes, zur Weiterarbeit ausreichendes Verständnis von dem Rest. Das meiste davon schaffte ich aus eigener Kraft, obwohl ich Professor Vasquez Ocaña bei einigen wirklich komplizierten Wendungen konsultierte. Allerdings verriet ich ihm nichts von der wahren Natur des Projekts. (Wenn er fragte, ob ich den Aufbewahrungsort der Maura Guidol gefunden hätte, antwortete ich immer ausweichend.) Zu diesem Zeitpunkt hielt ich die ganze Sache noch immer für ein hübsches Märchen. Als Junge hatte ich Lost Horizon gelesen. Ich erinnerte mich an Shangri-La, das geheime Kloster im Himalaya, die Mönche übten sich in Yoga und atmeten reine Luft, dieser wunderbare Schock, der in dem Satz „Daß sie immer noch leben, Vater Perrault“ steckte. Natürlich nimmt man solches Zeugs nicht ernst. Ich nahm mir vor, meine Übersetzung in, na, sagen wir, Speculum zu veröffentlichen, mit einem angemessenen Kommentar über den im Mittelalter weitverbreiteten Glauben an die Unsterblichkeit, mit Verweisen auf den Mythos um Priester John, auf Sir John Mandeville und auf die Erzählungen Alexanders. Die Bruderschaft der Schädel, die Hüter der Schädel, deren Hohepriester, die Prüfung, die von vier Kandidaten gleichzeitig begonnen werden muß, nur zwei von ihnen dürfen überleben, der Hinweis auf antike Geheimnisse, an denen Jahrtausende vorübergezogen sind — warum nicht, das hier hätte ja auch genausogut ein altes Märchen sein können, das Scheherazade erzählt hat, oder? Ich nahm die große Mühe auf mich, sorgfältig Burtons Ausgabe von Tausend und eine Nacht durchzugehen, alle sechzehn Bände, weil ich vermutete, die Mauren hätten dieses Märchen von den Schädeln im achten oder neunten Jahrhundert nach Katalonien gebracht. Nichts. Was ich da auch gefunden hatte, es war kein Fragment nach Motiven aus den Arabischen Nächten. Vielleicht dann aus der Periode Karls des Großen? Oder ein romanisches Lügenmärchen, von dem man bislang noch nichts wußte? Ich wühlte mich durch unhandliche Verzeichnisse der mythologischen Leitgedanken des Mittelalters. Nichts. Ich versuchte es noch früher. Innerhalb einer Woche wurde ich zum Experten der gesamten Literatur von Langlebigkeit und Unsterblichkeit. Tithonus, Methusalem, Gilgamesch, der Uttarakurus und der Jambu-Baum, der Fischer Glaukus, die Unvergänglichkeit des Taoismus, jawohl, die gesamte Bibliographie. Und dann ging der Kronleuchter auf, fielen die Groschen gleich reihenweise, ein Schrei, der die studentischen Hilfskräfte aus allen Ecken zusammenrennen ließ. Arizona! Mönche, die von Mexiko gekommen waren und davor von Spanien nach Mexiko gekommen waren!

Der Fries der Schädel! Ich suchte wie ein Wilder den Artikel in der Beilage der Sonntagszeitung. Las ihn wie im Delirium. Ja. „Überall Schädel, grinsend und düster, als Relief oder in sonstigen dreidimensionalen Darstellungen. Die Mönche sind hager und kräftig … Der einzige, mit dem ich sprechen konnte … mochte dreißig oder dreihundert Jahre alt sein; es war unmöglich, dies zu entscheiden.“ Daß Sie immer noch leben, Vater Perrault. Meine verwirrte Seele fuhr zurück. Konnte ich an so etwas glauben? Ich, der Skeptiker, der Spötter, der Materialist, der Pragmatiker? Unsterblichkeit? Ein uralter Kult? Die Hüter der Schädel weilen zwischen Kakteen? Die ganze Angelegenheit kein Mythos des Mittelalters, keine Legende, sondern wirklich eine beständig fortlaufende Einrichtung, die sogar bis in unsere automatisierte Welt vorgedrungen war, eine Einrichtung, die ich sogar mit eigenen Augen sehen konnte, sobald ich nur Lust hatte, den Ausflug dorthin zu unternehmen und als Kandidat der Unsterblichkeit die Prüfung zu machen. Eli Steinfeld lebt, um das Morgengrauen des sechsunddreißigsten Jahrhunderts zu erblicken. Das sprengte jegliche Vorstellungskraft. Ich weigerte mich, mehr als einen merkwürdigen Zufall in der Übereinstimmung von Manuskript und Zeitungsartikel zu sehen. Dann, nach erneuten Überlegungen, schaffte ich es, die Annahme der Weigerung zu verweigern und die Tatsache selbst zu akzeptieren. Es war notwendig, einen Akt des Glaubens zu vollziehen, den ersten, den ich je zustande brachte, um die Sache anzunehmen. Ich zwang mich zuzugeben, daß durchaus Mächte existieren könnten, die außerhalb des gegenwärtigen Wissenschaftsverständnisses lagen. Ich nötigte mich, die bisherige Gewohnheit abzulegen, alles Unbekannte abzulehnen, solange nicht hieb- und stichfeste Beweise dafür vorlagen. Ich fühlte mich willig und glücklich auf einer Stufe mit den Ufologen, den Atlantis-Gläubigen, der Scientology-Sekte, den Anhängern der Meinung, daß die Erde eine Scheibe sei, den Forteans, den Makrobiotikern, den Astrologen, mit der ganzen Unmenge von Abergläubigen, in deren Gesellschaft ich mich bislang nicht sonderlich wohlgefühlt hatte. Zum Schluß glaubte ich, ich glaubte fest daran, obwohl ich die Möglichkeit nicht ausschloß, alles könne ein Irrtum sein. Ich glaubte. Dann erzählte ich Ned davon und nach einer Weile auch Oliver und Timothy. Hielt ihnen den Köder unter die Nase. Wir bieten euch das ewige Leben an. Und jetzt sind wir in Phoenix. Palmen, Kakteen, das Kamel vor dem Motel: Hier sind wir also. Morgen startet die letzte Phase unserer Suche nach dem Haus der Schädel.

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