Und wenn dort gar kein Schädelhaus liegt? Und wenn wir am Ende des Weges nur einen Wall aus undurchdringlichen Stacheln und Dornen finden? Ich glaube, irgendwie habe ich das erwartet. Die ganze Expedition lediglich ein weiterer Fehlschlag, ein weiteres Fiasko für Eli, den Schmeggege. Der Schädel am Wegrand, der sich als trügerischer Beweis erweisen würde, das Manuskript als Traummärchen, der Zeitungsartikel als Betrug, das X auf unserer Karte nichts als ein blöder Scherz. Vor uns nur Kakteen und Mesquiten, ein dürres Ödland, der Arsch einer Wüste, in der noch nicht einmal Schweine sich so weit erniedrigen würden, hier hinzuscheißen. Was würde ich dann sagen? Ich würde mich in tiefster Demut an meine drei erschöpften Kameraden wenden und sagen: „Meine Herren, ich bin betrogen, und ihr seid in die Irre geführt worden. Wir sind einem Hirngespinst nachgelaufen.“ Ein reumütiges, dürftiges Lächeln würde meine Mundwinkel umspielen. Und dann würden sie mich schweigend und sachlich ergreifen, weil ich die ganze Zeit über gewußt habe, daß es zu einem solchen Ende kommen mußte. Und sie würden mich entkleiden, mir einen hölzernen Pflock ins Herz treiben, mich an einen hochaufragenden Saguero nageln, mich zwischen den flachen Felsen zu Tode quetschen, sie würden mir Chollas auf den Augen zerreiben, mich bei lebendigem Leib verbrennen, mich bis zum Hals in einem Ameisenhügel vergraben, mich mit ihren Fingernägeln kastrieren und dabei feierlich singen: Schmeggege, Schlemihl, Schlemazel, Schmendrick, Schlep! Geduldig werde ich die wohlverdiente Strafe auf mich nehmen. Demütigungen sind mir nicht fremd. Ein Desaster kann mich nicht erschrecken.
Demütigung? Desaster? Wie beim Fiasko mit Margo? Mein letztes größeres Debakel. Es tut immer noch weh. Letzten Oktober, Semesteranfang, regnerische, neblige Nacht. Wir hatten erstklassigen Shit, angeblich Roter Panamese, den Ned seinen Worten zufolge durch Beziehungen zum homosexuellen Underground erhalten hatte. Die Pfeife machte die Runde, Timothy, Ned und ich; Oliver hielt sich natürlich davon fern und schlürfte andächtig irgendeinen billigen Rotwein. Ein Quartett von Rasoumovski wurde im Hintergrund von der Platte gespielt. Tapfer erhob es sich über dem Trommelwirbel des Regens. Als wir high waren, entdeckten wir ein geheimnisvolles Geräusch bei Beethoven, ein zweiter Cellist schien auf unerklärliche Weise zu den Musikern zu stoßen, an einigen Stellen sogar eine Oboe, ein transzendentales Fagott unterhalb der Streicher. Ned hatte noch untertrieben — der Pott war super. Und irgendwie fühlte ich mich gedrängt, kam auf den Redetrip, auf den Bekennertrip, wollte mich ausschütten und sagte plötzlich zu Timothy, am allermeisten würde ich es bedauern, daß ich in meinem ganzen Leben noch nie mit einer gebumst hätte, die ich als wirklich tolle Frau ansehen würde.
Timothy, teilnahmsvoll und besorgt, fragte mich, wer für mich denn eine wirklich tolle Frau sei. Ich schwieg und ging in Gedanken die zur Wahl stehenden Möglichkeiten durch. Ned wollte helfen und schlug Raquel Welch, Cathérine Deneuve und Lainie Kazan vor. Schließlich stieß ich mit bewundernswerter Unbekümmertheit hervor: „Ich halte Margo für ein wirklich tolles Mädchen.“ Timothys Margo. Timothys arische Göttin, die goldene Schickse. Nachdem ich es ausgesprochen hatte, fühlte ich, wie eine rasche Folge von kurzen Dialogpassagen in meinem cannabisvernebelten Hirn widerhallte, und dann kehrte sich die Zeit so um, wie das eben unter dem Einfluß von Shit vorkommt, daß ich mein ganzes Auftreten als Schauspiel erlebte, jeder Satz kam prompt aufs Stichwort. Timothy fragte mich ganz ernsthaft, ob ich auf Margo abfahren würde. Ich versicherte ihm genauso ernsthaft, daß dem so sei. Jetzt wollte er wissen, ob ich mich weniger unzulänglich und mehr erfüllt fühlen würde, wenn ich mit ihr schlafen könnte. Zögernd antwortete ich ihm jetzt, während ich mich fragte, worum es eigentlich bei diesem Stück ging, mit vagen Umschreibungen und dem einzigen Erfolg, daß ich ihn erstaunlicherweise sagen hörte, er würde alles für morgen abend arrangieren. Was arrangieren, fragte ich. Margo, sagte er. Er würde mich mit Margo zusammenbringen, dies sei ein Akt christlicher Nächstenliebe.
„Und wird sie wirklich …“
„Natürlich wird sie. Sie findet dich reizend.“
„Wir finden dich alle reizend, Eli.“ Das kam von Ned.
„Aber ich kann doch nicht … sie kann doch nicht … wie … was …“
„Ich werde sie dir leihen“, sagte Timothy wie ein großzügiger Fürst. Der große Herr, der einen Akt nobler Großzügigkeit tätigt. „Ich kann meine Freunde doch nicht frustriert und voll unerfüllten Verlangens herumlaufen lassen. Morgen um zwanzig Uhr, bei ihr. Ich sage ihr, daß sie dich erwarten soll.“
„Das riecht nach Verarschung“, sagte ich und wurde immer mürrischer. „Das ist zu einfach. Zu unwirklich.“
„Sei kein Arsch. Sieh es als stellvertretende Erfahrung an. Wie wenn man ins Kino geht, nur ist es hier entschieden intimer.“
„Und vor allem greifbarer“, sagte Ned.
„Ich glaube, du willst mich auf den Arm nehmen“, erklärte ich.
„Großes Pfadfinder-Ehrenwort! Sie gehört dir!“
Er begann, Margos Vorzüge im Bett zu beschreiben, ihre besonderen erogenen Zonen, die kleinen intimen Zeichen, auf die sie beide abfuhren. Mein Geist begann sich auf die Sache einzustellen, er flog höher und höher, ich mußte ganz fürchterlich lachen und begann damit, Timothys Beschreibungen mit eigenen schmutzigen Vorstellungen zu ergänzen. Klar, als ich ein oder zwei Stunden später wieder auf dem Teppich stand, war ich mir sicher, daß Timothy mich verarscht hatte, und das ließ mich in einen tiefen Abgrund stürzen. Denn ich war mir immer dessen bewußt gewesen, daß die Margos dieser Welt nicht für mich gemacht sind. Die Timothys konnten sich ihren Weg durch eine ganze Armee von Margos bumsen, aber ich würde nie eine von ihnen abkriegen. In Wahrheit himmelte ich Margo aus der Ferne an. Der Prototyp einer Schickse, die Blüte arischer Weiblichkeit, schlank und langbeinig, ein paar Zentimeter größer als ich (es sieht nach viel mehr aus, wenn das Mädchen größer als man selbst ist!), seidiges, goldiges Haar, schelmische, blaue Augen, eine leichte Stupsnase, große, lebendige Lippen. Ein kräftiges Mädchen, ein lebendiges Mädchen, ein Star beim Basketball (selbst Oliver schätzte ihre Fähigkeiten auf dem Spielfeld), eine begabte Studentin, alles in allem ein gemeiner und schmerzender Witz. Warum? Weil sie so erschreckend war, einen mit ihrer Perfektheit erstarren ließ; sie war eines jener fehlerlosen weiblichen Geschöpfe, die unsere Oberschicht so massenweise produziert, die geboren werden, um gelassen über Landhäuser zu herrschen oder mit ihrem Pudel über die Second Avenue zu flanieren. Margo für mich? Meinen schwitzigen, haarigen Körper auf ihren legen? Mit meinem stoppeligen Kinn über ihre seidige Haut schaben? Ja, wenn Frösche sich mit Kometen paaren. Für sie mußte ich eine grobe, schmierige Erscheinung sein, der jämmerliche Repräsentant einer niederen Rasse. Jeder Verkehr zwischen uns mußte etwas Widernatürliches sein, wie die Legierung von Silber und Blech, die Mischung von Alabaster und Holzkohle, so verbannte ich die ganze Angelegenheit aus meinem Kopf. Aber beim Mittagessen erinnerte Timothy mich an meine Verabredung. Das ist unmöglich, sagte ich und gab ihm sechs in rascher Eile geborene Entschuldigungen — Studium, ein Referat, eine schwierige Übersetzung und so weiter. Er wischte meine kraftlosen Versuche, Zeit zu gewinnen, einfach beiseite. So um zwanzig Uhr in ihrem Apartment, sagte er. Wie eine Woge stieg der Schrecken in mir hoch. „Ich kann nicht“, beharrte ich. „Du machst sie zur Hure, Timothy. Was erwartest du denn von mir? Soll ich einfach rein, den Reißverschluß für meinen Schwengel öffnen und auf sie draufspringen? Das klappt doch nie. Du kannst ein Märchen nicht wahr werden lassen, bloß wenn du mit deinem Zauberstab wedelst.“ Timothy zuckte die Achseln.
Ich nahm an, damit sei die Sache erledigt. Oliver mußte an diesem Abend zum Basketball-Training. Ned ging ins Kino. Um halb acht verschwand auch Timothy. Muß noch in die Bibliothek, sagte er, um zehn bin ich wieder da. Ich war allein in unserer Wohnung, und war natürlich auf nichts gefaßt. Beschäftigte mich mit meinen Unterlagen. Um zwanzig Uhr drehte sich ein Schlüssel im Türschloß. Margo trat ein. Ein hinreißendes Lächeln, wie geschmolzenes Gold. Ich dagegen: Panik, Verwirrung. „Ist Timothy da?“ fragte sie, während sie beiläufig die Tür hinter sich abschloß. Mein Herz donnerte. „Bibliothek“, platzte es aus mir heraus. „Um zehn zurück.“ Nirgendwo ein Versteck für mich. Margo schmollte. „Ich war mir ganz sicher, ihn hier zu finden. Nun, da hat er eben Pech gehabt. Bist du sehr beschäftigt, Eli?“ Ein funkelndes Zwinkern der blauen Augen. Sie ließ sich lässig auf der Couch nieder.
„Ich sitze hier an einer Arbeit“, sagte ich, „über die unregelmäßigen Formen des Verbs …“
„Wie interessant! Möchtest du gerne rauchen?“
Ich verstand. Sie hatten alles eingefädelt. Eine Verschwörung mit dem Ziel, mich glücklich zu machen, ob ich nun wollte oder nicht. Ich fühlte mich bevormundet, benutzt, angeschmiert. Sollte ich sie hinauskomplimentieren? Nein, du Schmendrick, sei kein Esel. Sie gehört dir für zwei Stunden. Zur Hölle mit der Moral! Das Ziel rechtfertigt die Mittel. Hier ist deine Chance, eine zweite kriegst du nicht. Ich stolperte auf die Couch zu. Eli stolperte, jawohl! Sie hielt zwei dicke Joints, die kunstvoll zusammengerollt waren. Cool zündete sie einen an, nahm einen tiefen Zug und reichte ihn mir. Mein Handgelenk zitterte, fast hätte ich mit dem brennenden Ende des Joints ihren Arm berührt, während ich ihn unbeholfen von ihr nahm. Strammer Stoff; ich hustete; sie klopfte mir auf den Rücken. Schlemihl. Schlep. Sie inhalierte, und ihre Augen blitzten mich mit einem „Oh, Wow!“ an. Der Pott bewirkte bei mir allerdings nichts; ich war zu angespannt, und das Adrenalin in mir brannte die ganze Wirkung weg, bevor sie sich entfalten konnte. Der Gestank meines Schweißes wurde mir bewußt. Schnell war der Joint heruntergebrannt. Margo, die bereits stoned aussah, bot den zweiten an. Ich schüttelte den Kopf. „Später“, sagte ich.
Sie erhob sich und lief im Zimmer herum. „Es ist furchtbar heiß hier drin, meinst du nicht?“ Welch ein Klischee! Ein gewitztes Mädchen wie Margo hätte sich leicht etwas Besseres ausdenken können. Sie streckte sich, gähnte. Sie trug enge weiße Hosen und ein knappes Oberteil, der blasse, gelbbraune Nabel lag frei. Offensichtlich trug sie keinen BH und keinen Slip: die kleinen Hügel ihrer Brustwarzen waren zu erkennen, und die lange Hose, die sich hauteng um ihren kleinen Po spannte, enthüllte in verräterischer Weise das Fehlen von Unterwäsche. Oh, Eli, du voyeuristischer Teufel, du höflicher und geschickter Begutachter weiblichen Fleisches. „So heiß hier drin“, sagte sie stoned-verträumt. Weg mit dem Oberteil. Schenkt mir ein entschuldigendes Lächeln, als wolle sie sagen: wir sind doch alte Freunde und brauchen uns um blöde Tabus keine Gedanken zu machen, warum sollten Brüste tabuisierter sein als Ellenbogen? Ihre Brüste waren mittelgroß, voll, hochstehend, wunderbar fest, zweifellos die großartigsten Brüste, die ich je gesehen hatte. Ich suchte nach Wegen, sie zu betrachten, ohne dabei aufzufallen. Im Kino ist so etwas einfacher: Dort gibt es keine Ich-Du-Beziehung zu dem, was auf der Leinwand vor sich geht. Sie begann ihr Horoskop zusammenzustellen, wahrscheinlich um mich zu beruhigen. Viel Geschwafel über die Konjunktion der Planeten im soundsovielten Haus. Ich konnte nur nachplappern, statt eine richtige Antwort zu geben. Sanft wechselte sie aufs Handlesen über: Das war ihr neuester Fimmel, die Geheimnisse der Handlinien. „Die Zigeunerinnen betrügen ihr Publikum nur“, sagte sie überzeugt. „Aber das bedeutet nicht, daß die Grundidee der Substanz entbehrt. Weißt du, dein ganzes zukünftiges Leben ist in deinen DNS-Molekülen programmiert, und die bestimmen das Aussehen deiner Handfläche. Komm, laß mich mal sehen.“ Indem sie meine Hand nahm, zog sie mich neben sich auf die Couch hinunter. Ich kam mir vor wie ein Idiot, praktisch als männliche Jungfrau, so wie ich mich aufführte, wenn nicht sogar darin, was die praktische Erfahrung anging, als einer, dem man das Offensichtliche noch erklären muß. Margo beugte sich tief über meine Handfläche; es kitzelte. „Das hier, siehst du, das ist die Lebenslinie — oh, die ist aber lang, sie ist sogar sehr lang!“ Verstohlen und heimlich warf ich einige Blicke auf ihre Brüste, während sie noch immer ihre Handlesenummer abzog. „Und das“, sagte sie, „ist der Venusberg. Siehst du die Linie, die hier zustößt? Sie sagt mir, daß du ein Mann von gewaltiger Leidenschaft bist, aber du unterdrückst sie, du verdrängst überhaupt eine ganze Menge. Ist das nicht so?“ Also gut. Ich mache bei deinem Spielchen mit, Margo. Mein Arm umfaßt flugs ihre Schultern, während die Hand nach ihren Brüsten tastet. „Oh, ja, Eli, ja, ja!“ Jetzt konnte der Amateur mal zeigen, was in ihm steckte. Die Körper im Clinch; ein schwülstiger Kuß. Ihre Lippen teilten sich, und ich tat, was von mir erwartet wurde. Aber ich fühlte keine Leidenschaft, weder eine gewaltige noch sonst eine. Das Ganze kam mir formell vor, wie ein Standardtanz, wie etwas, das von außerhalb programmiert wurde. Ich konnte mich nicht hineinsteigern in die ganze Vorstellung, mit Margo zu bumsen. Unwirklich, irreal, unwirklich. Selbst als sie meinem Zugriff entschlüpfte und die Hose auszog, wobei spitze Hüftknochen, ein strammer, jungenhafter Po und festanliegende gelbe Locken zum Vorschein kamen, verspürte ich keine Begierde. Sie lächelte mich an, nickte mir zu, lud mich ein. Für sie hatte diese Affäre nicht mehr apokalyptischen Charakter als ein Händeschütteln oder ein Küßchen auf die Wange. Für mich wälzten sich die Galaxien um. Wie einfach hätte ich es mir doch machen können: Hose runter, auf sie drauf, rein damit, Hüften schwingen lassen, oh, ah, oh, ah, he, wow, super! Ich litt zu sehr an diesem Sex auf Bestellung; ich beschäftigte mich zu sehr mit der Vorstellung von Margo als einem unerreichbaren Symbol weiblicher Perfektion, um mitzukriegen, daß Margo ja sehr wohl erreichbar und gar nicht so perfekt war — die blasse Narbe einer Blinddarmentfernung; schwache Zeichen von Spannung an den Hüften, die letzten Folgen von Speck der Vorpubertät; die Schenkel eine Spur zu schmal.
Aber ich überwand mich; ja, ich zog mich aus, und ja, wir tollten im Bett herum, und ja, ich bekam keinen hoch, und ja, Margo leistete mir Hilfe, und zuletzt triumphierte die Lust über den Verdruß, mein Schwanz wurde hart und pulsierte, und dann warf ich mich wie ein wilder Bulle aus der Pampa auf sie, packte zu, enterte sie, erschreckte sie mit meiner Wildheit, vergewaltigte sie eigentlich, nur um den Docht im kritischen Moment vor dem letzten Einsatz erlöschen zu sehen, und dann oh, ja, Pfusch über Pfusch, Schande über Schande, Margo abwechselnd erschreckt, belustigt und bekümmert. Schließlich kam ich dann noch. Aber diesmal war in wenigen Augenblicken alles vorbei. Es folgten die Zuckungen der Selbstvorwürfe und die große Abschlaffe. Ich konnte es nicht ertragen, sie anzusehen. Ich rollte mich weg, verbarg mich im Plumeau, schmähte mich, schmähte Timothy, schmähte D. H. Lawrence. „Kann ich was für dich tun?“ fragte sie und streichelte meinen verschwitzten Rücken. „Bitte geh“, sagte ich. „Bitte. Und sag zu niemandem ein Wort.“ Aber natürlich hat sie. Alle haben es erfahren. Meine Unbeholfenheit, meine absurde Inkompetenz, meine sieben Variationen der Ungewißheit, die schließlich ihren Höhepunkt in den sieben Arten der Impotenz finden. Eli, der Schmeggege, verschenkt seine große Chance mit dem wahnsinnigsten Mädchen, das er je zu fassen kriegt. Ein weiterer Vorfall in der langen Reihe seiner liebevoll arrangierten Fiaskos. Und das nächste stand schon bereit, hier, wo wir uns durch die Kaktuslandschaft schlugen, um die ultimate Enttäuschung zu finden. Und die drei hätten am Ende unserer Tour sagen können: „Nun, was hätten wir von Eli auch anderes erwarten sollen?“ Aber das Schädelhaus war wirklich da.
Der Weg führte uns über eine sanfte Neigung in ein noch dichteres Dickicht aus Chollas und Mesquiten, bis wir ganz plötzlich an eine breite, freie Sandfläche gelangten. Von links nach rechts dehnte sich eine Reihe schwarzer Basaltschädel aus, ganz ähnlich dem, den wir ein gutes Stück zurück entdeckt hatten. Aber sie waren viel kleiner, etwa von der Größe eines Basketballs, und in Intervallen von vielleicht einem halben Meter in den Sand gesetzt. Jenseits der Schädelreihe, vielleicht fünfzig Meter dahinter, sahen wir das Schädelhaus, das sich wie eine Sphinx aus der Wüste erhob: ein richtiges, großes einstöckiges Gebäude mit flachem Dach und grobkörnigen gelbbraunen Wänden voller Stuck. Sieben Säulen aus weißem Stein dekorierten die fensterlose Fassade. Dadurch wirkte sie sehr schlicht und wurde nur von einem rundum laufenden Fries am Giebel durchbrochen: Schädel, die ihr linkes Profil zeigten und wenig einladend wirkten. Eingesunkene Wangen, eine höhlenartige Nasenmuschel, große, runde Augenhöhlen. Die Münder standen mit einem scheußlichen Grinsen offen. Die langen, scharfen Zähne, sorgfältig herausgearbeitet, schienen bereitzustehen, um plötzlich zuzuschnappen. Und die Zungen — eine wirklich satanische Idee, Totenschädel mit Zungen! —, die Zungen waren zu eleganten, greulichen S-Kurven verdreht, ihre Spitzen schoben sich nur gerade durch die Zähne hinaus und zuckten wie die gespaltene Zunge einer Schlange. Dutzende dieser vielfältigen Schädel, offensichtlich alle nach dem gleichen Vorbild, eingefroren in der gleichen Miene, einer nach dem anderen verschwanden sie allmählich um die Ecken des Gebäudes aus dem Sichtfeld; sie waren vom gleichen alptraumhaften Aussehen, wie ich sie in den meisten präkolumbianischen Kunstwerken entdeckte. Sie würden besser dorthin passen, dachte ich, wo sie als Begrenzung für einen Altar dienten, auf dem lebende Herzen mit Obsidianmessern aus zuckenden Oberkörpern geschnitten wurden.
Das Gebäude hatte eine U-Form mit zwei langen, untergeordneten Flügeln, die sich hinter dem Hauptteil ausstreckten. Ich entdeckte keine Türen. Aber vielleicht fünfzehn Meter vor der Fassade ließ sich im Zentrum der freien Fläche der Eingang zu einem steinernen Gewölbe sehen: Gähnend tat er sich auf, dunkel und mysteriös, wie das Tor zur Unterwelt. Sofort wurde mir klar, daß dies der Durchgang sein mußte, der ins Schädelhaus führte. Ich ging darauf zu und spähte hinein. Nur Dunkelheit innen. Durften wir es wagen einzudringen? Sollten wir nicht warten, bis jemand herauskam und uns hineinrief? Aber niemand ließ sich sehen, und die Hitze wurde unerträglich. Ich fühlte, wie meine Haut auf Nase und Wangen steif wurde und anschwoll, rot und glänzend als Zeichen des Sonnenbrands, nachdem die Blässe des Winters einen halben Tag lang dieser Wüstensonne ausgesetzt worden war. Wir starrten einander an. Das Neunte Mysterium hämmerte in meinem Kopf, wahrscheinlich auch in den Köpfen der anderen. Wir können zwar alle hinein, aber nicht alle wieder heraus. Wer sollte weiterleben, wer sterben? Ich entdeckte, daß ich unbewußt Kandidaten für den Tod bestimmte, meine Freunde ausbalancierte, rasch Oliver und Timothy dem Tod übergab und dann davor zurückfuhr, um dieses allzu eilige Urteil noch einmal zu überprüfen, tauschte Ned für Oliver aus, Oliver für Timothy, Timothy für Ned, mich für Timothy, Ned für mich, Oliver für Ned, diesen mit jenem, unschlüssig, unbestimmbar. Mein Glaube an das Buch der Schädel ist nie stärker gewesen. Meine Gewißheit, an der Schwelle zur Unendlichkeit zu stehen, ist nie klarer und gleichzeitig erschreckender gewesen. „Los“, sagte ich heiser, meine Stimme kickste, und ich trat unsicher ein paar Schritte nach vorn. Eine steinerne Treppe führte steil in das Gewölbe hinein. Zwei Meter unter der Erde fand ich mich in einem dunklen Tunnel wieder, breit, aber mit niedriger Decke, höchstens anderthalb Meter hoch. Die Luft war kühl. Im fahlen Licht konnte ich Verzierungen an den Wänden erkennen: Schädel, Schädel, Schädel. Kein einziges christliches Symbol war irgendwo in diesem sogenannten Kloster zu erkennen, nur die Todessymbolik war allgegenwärtig. Von oben rief Ned: „Wie sieht’s da unten aus?“ Ich beschrieb den Tunnel und sagte ihnen, sie sollten mir folgen. Und sie stiegen herab, scharrend und unsicher: Ned, Timothy, Oliver. Geduckt ging ich weiter. Die Luft wurde immer kühler. Bald konnten wir überhaupt nichts anderes mehr erkennen als den purpurfarbenen Dämmerschein vom Eingang. Ich versuchte, meine Schritte zu zählen. Zehn, zwölf, fünfzehn. Sicher befanden wir uns jetzt unter dem Gebäude. Urplötzlich lag vor mir eine glänzende steinerne Barriere, ein einzelner Felsblock, der den Tunnel rundum ausfüllte. Erst im letzten Moment entdeckte ich ihn, als mir ein kalter Glanz in diesem fahlen Licht ins Auge fiel. Ich hielt inne, bevor ich auf ihn aufprallen konnte. Eine Sackgasse? Ja, ganz sicher, und im nächsten Moment würden wir hinter uns das Krachen eines zwanzig Tonnen schweren Steinbrockens hören, der auf den Eingang zum Tunnel herabgelassen worden war. Dann würden wir in der Falle sitzen, einem Hunger- oder Erstickungstod preisgegeben, während das Getöse vom Lachen der Mönche in unseren Ohren dröhnte. Aber nichts derart Melodramatisches geschah. Probeweise preßte ich eine Handfläche gegen den kalten Stein, der uns den Weg versperrte, und der Effekt hätte aus Disneyland sein können, ein wunderbarer Hokuspokus — der Stein machte Platz, schwang sich sanft von mir weg. Er war perfekt ausbalanciert: Die leichteste Berührung genügte, um ihn zu öffnen. Das paßte ja haargenau, dachte ich, daß wir auf diese operettenhafte Weise das Haus der Schädel betreten sollten. Ich war auf melancholische Posaunen, Baßhörner und einen Chor aus Baßstimmen gefaßt, der hinter uns ein Requiem intonierte: Pietatis fons, me salva, gratis salvas salvandos qui, majestatis tremendae rex. Über uns eine Öffnung. Mit gebeugten Knien krochen wir darauf zu. Wieder Stufen. Hinauf. Einer nach dem anderen kamen wir in einem riesigen, viereckigen Raum heraus, dessen Wände aus kiesigem blassem Sandstein bestanden. Es gab kein Dach, nur ungefähr ein Dutzend dicker schwarzer Balken, die in Intervallen von etwa einem Meter angebracht waren und so das Sonnenlicht und die stickige Hitze einließen. Der Boden des Raums bestand aus purpurgrünem Schiefer, die Oberfläche war irgendwie ölig und poliert. In der Mitte befand sich ein faßähnlicher Springbrunnen aus grünem Jade, von dem sich eine ungefähr einen Meter hohe menschliche Figur erhob; der Kopf der Figur war ein Totenschädel, aus dessen Kiefern sich unaufhörlich ein dünner Wasserstrom ergoß und ins darunterliegende Bassin plätscherte. In den vier Ecken des Raumes standen hohe Steinstatuen im Maya- oder Aztekenstil, die Männer mit geschwungener, abgebogener Nase, dünnen, grausamen Lippen und immensen Ohren-Ornamenten dargestellt. Gegenüber dem Ausgang aus dem unterirdischen Gewölbe befand sich eine Tür, in deren Rahmen ein Mann so bewegungslos stand, daß ich ihn zuerst ebenfalls für eine Statue hielt. Als wir alle vier in dem Raum versammelt waren, sagte der Mann mit tiefer, volltönender Stimme: „Guten Tag! Ich bin Bruder Antony.“
Er war klein, untersetzt, kaum mehr als ein Meter sechzig groß und trug nur eine Hose aus grobem Drillich, die ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Seine Haut war tief gebräunt, eine Farbe fast wie Mahagoni, und das Gewebe schien aus sehr feinem Leder zu sein. Sein breiter, hochstirniger Schädel war völlig kahl, noch nicht einmal um die Ohren herum befand sich eine Spur von Haarwuchs. Sein Hals war kurz und dick, die Schultern waren breit und kraftvoll, die Brust war athletisch, Arme und Beine waren wahrhaft muskelbepackt: Er machte ganz den Eindruck von überwältigender Kraft und Gesundheit. Seine ganze Erscheinung und seine Ausstrahlung von Qualifikation und Macht erinnerte mich auf ganz außergewöhnliche Weise an Picasso: ein kleiner, kräftiger, zeitloser Mensch, der alles ertragen kann. Ich hatte keine Vorstellung, wie alt er wohl sein mochte. Ganz sicher nicht mehr jung, aber auch weit entfernt von der Schwäche des Alters. Fünfzig? Sechzig? Ein rüstiger Siebziger? Seine Alterslosigkeit war das verwirrendste an ihm. Er schien von der Zeit gänzlich unberührt, überhaupt keine Abnutzungserscheinungen: So, dachte ich, muß ein Unsterblicher aussehen.
Er lächelte freundlich, zeigt dabei große, lückenlose Zahnreihen und sagte: „Ich bin ganz allein hier, um Sie zu begrüßen. Wir erhalten nur selten Besuch und erwarten ihn deshalb auch nie. Die anderen Brüder arbeiten auf den Feldern und werden vor der Nachmittagsandacht nicht zurückkehren.“ Er sprach ein perfektes Englisch in einer eigentümlich leblosen, akzentfreien Art, einen IBM-Akzent, um es einmal so zu umschreiben. Seine Stimme war fest und wie Musik, seine Worte kamen gelassen und selbstsicher. „Bitte, seien Sie willkommen, solange, wie Sie bleiben wollen. Wir haben die Möglichkeit, Gäste unterzubringen, und laden Sie ein, hier bei uns in unserer Zufluchtsstätte zu wohnen. Beabsichtigen Sie, länger als einen Nachmittag zu bleiben?“
Oliver starrte mich an. Timothy. Ned. Ich war also der Sprecher. Ein eigenartiger Geschmack in meiner Kehle. Die Absurdität, die blanke Lächerlichkeit dessen, was ich sagen sollte, kam mir zu Bewußtsein und versiegelte meine Lippen. Ich spürte, wie meine sonnenverbrannten Wangen von der Schamröte überzogen wurden. Kehre um und fliehe, kehre um und fliehe, kreischte eine Stimme zwischen meinen Ohren. Zurück in das Kaninchenloch. Lauf. Lauf. Lauf, solange du noch kannst. Ich zwang eine einzige, heisere Silbe heraus:
„Ja.“
„In diesem Fall erhalten Sie Zimmer. Wollen Sie mir bitte folgen?“
Er verließ den Raum. Oliver warf mir einen aufgebrachten Blick zu. „Sag’s ihm!“ flüsterte er scharf.
Sag’s ihm. Sag’s ihm. Sag’s ihm. Na los, Eli, sag’s. Was kann dir schon passieren? Schlimmstenfalls wirst du ausgelacht. Das ist doch nichts Neues für dich, oder? Also sag’s ihm. Das jetzt ist der Moment, an dem alles zusammenläuft, die Rhetorik, die selbstbetrügerische Übertreibung, die ganzen intensiven philosophischen Debatten, alle Zweifel und Gegenzweifel, die ganze Fahrt. Jetzt bist du da. Du glaubst, daß es der richtige Ort ist. Also sag’s ihm.
Bruder Antony, der Olivers Flüstern mitbekommen hatte, blieb stehen und drehte sich zu uns um. „Ja?“ sagte er mild.
Verwirrt suchte ich nach Worten, bis ich schließlich die richtigen fand. „Bruder Antony, Sie müssen nämlich wissen — daß wir alle das Buch der Schädel gelesen haben …“
Peng.
Der unerschütterlich gleichmütige Gesichtsausdruck des Bruders geriet für einen Moment ins Wanken. Kurz bemerkte ich das Zucken von — Überraschung? Verwirrung? Ratlosigkeit? — in seinen rätselhaften dunklen Augen. Aber sehr schnell gewann er die Kontrolle über sich zurück. „In der Tat?“ sagte er, die Stimme wieder so fest wie vorher. „Das Buch der Schädel? Was ist das für ein merkwürdiger Name! Ich frage mich, was ist das Buch der Schädel?“ Die Frage war rhetorisch gemeint. Er bedachte mich mit einem hellen, kurzlebigen Lächeln, wie der Strahl eines Leuchtturms, der nur einen Moment lang den dichten Nebel durchschneidet. Aber wie der scherzende Pilatus blieb er nicht da, um uns zu antworten. Ruhig ging er nach draußen und bedeutete uns mit einem kurzen Fingerschnippen, daß wir ihm folgen sollten.