Ich bemühte mich, fröhlich zu sein und nicht zu maulen, aber manchmal wird es auch dem Stärksten zu viel. Dieser Zug heute mittag durch die Wüste zum Beispiel. Man muß schon einen starken Hang zum Masochismus haben, um sich auf so etwas einzulassen, auch wenn es dadurch zehntausend Jahre Lebensverlängerung gibt. Aber das ist doch alles blanker Unsinn. Das einzige Reale ist die Hitze. Ich schätze, fünfunddreißig Grad und mehr, vielleicht sind es sogar vierzig Grad hier draußen. Der April hat noch nicht begonnen, und wir befinden uns schon in einem Hochofen. Das ist die berühmte trockene Hitze von Arizona, von der man schon soviel gehört hat: Natürlich ist es dort heiß, aber es ist trockene Hitze, und man spürt sie gar nicht. Scheiße, ich spüre sie. Die Jacke ist herunter, das Hemd offen, und trotzdem brate ich. Wenn ich nicht meine verflucht empfindliche Haut hätte, würde ich auch das Hemd ausziehen, aber dann werde ich verbrühen. Oliver hat sein Hemd schon ausgezogen, und er ist viel blasser als ich; vielleicht verbrennt seine Haut nicht, eine bäuerliche Haut, eine Kansas-Haut. Jeder Schritt kostet Anstrengung. Wie weit müssen wir überhaupt noch laufen? Fünf Meilen? Zehn?
Der Wagen liegt schon weit hinter uns. Zwölf Uhr dreißig haben wir jetzt, und losgegangen sind wir um zwölf, vielleicht um Viertel nach. Der Weg ist kaum einen halben Meter breit und manchmal noch schmaler. Dann gibt es Stellen, wo der Weg überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Dort müssen wir springen und uns den Weg durch das Bodenholz bahnen. Wir geben ganz das Bild von vier geistesgestörten Navahos ab, die immer noch hinter Custers Armee her sind. Sogar die Eidechsen lachen uns aus. Herr im Himmel, mir ist es schleierhaft, wie hier draußen auch nur ein Wesen überleben kann, wo die Eidechsen und Pflanzen in Grund und Boden gekocht werden müssen. Der Boden besteht nicht eigentlich aus Erdreich, aber es ist auch nicht direkt Sand. Es ist eher etwas Trockenes, Krümliges, das leise, krachende Geräusche macht, sobald wir darauftreten. Die Stille hier draußen verstärkt das Geräusch ungemein. Die Stille macht einem Angst. Und wir haben noch kein Wort miteinander gewechselt. Eli stürmt uns voran, als habe er den heiligen Gral vor Augen. Ned grummelt und brummelt: Er ist nicht sehr kräftig, und eine Tour wie diese reibt ihn auf. Oliver, der Schlußmann, hat sich wie üblich ganz in sich selbst verschlossen. Man könnte ihn genausogut für einen Astronauten halten, der über den Mond marschiert. Gelegentlich durchbricht Ned das Schweigen, um uns etwas über die hiesige Flora zu erzählen. Ich hätte nie gedacht, daß er sich so viel aus Pflanzen macht. Man sieht hier nur wenige von den beeindruckenden Riesenkakteen, den Saguaros; obwohl ich ein paar entdeckt habe, fünfzehn bis zwanzig Meter hoch, ein gutes Stück vom Weg entfernt. Worauf man allerdings zu Tausenden stößt, sind seltsame Dinger, so knapp zwei Meter hoch, mit einem knorrigen, grauen, holzartigen Stamm und zahllosen herunterbaumelnden Stacheltrauben und grünem, beulenartigem Zeugs. Kettenfrucht-Cholla nennt Ned sie und warnt uns, ihnen zu nahe zu kommen. Die Stacheln sind sehr scharf. Also meiden wir sie; aber es gibt hier noch eine Cholla-Art, die Teddybär-Chollas, vor der man sich nicht so leicht in acht nehmen kann. Teddybär-Chollas sind hinterhältige Burschen. Kleine, stummelartige Pflanzen, höchstens fünfzig Zentimeter hoch und übersät von Tausenden flaumartiger, strohfarbener Stacheln; man braucht eine Teddybär-Cholla nur einmal schief anzusehen, und schon springen die Stacheln hoch und stechen einen. Das kann ich beschwören. Meine Stiefel sind über und über von Stacheln bedeckt. Die Teddybären brechen leicht, und einzelne Stücke fallen ab und rollen irgendwohin. Überall liegen sie herum, eine ganze Reihe direkt auf dem Weg. Ned sagt, daß jedes einzelne Stück eines Tages Wurzeln treiben und eine eigenständige neue Pflanze wird. Wir müssen bei jedem Schritt aufpassen, nicht auf solch ein Teil zu treten. Leider kann man so ein Stück Teddybär nicht einfach beiseite kicken, wenn es einem im Weg liegt. Ich habe das mal versucht, und der Kaktus stach sich im Stiefel fest. Als ich mich bückte, um ihn abzustreifen, waren meine Fingerspitzen sein nächstes Ziel. Hundert Nadeln stachen gleichzeitig auf mich ein. Es brannte wie Feuer. Ich schrie. Kein sonderlich gelassenes Geschrei. Ned mußte den Kaktus wegbrechen, er benutzte dazu zwei Zweige. Meine Finger brennen immer noch. Dunkle, winzige Pünktchen, die tief in mein Fleisch gebohrt sind. Ob sie wohl zu Entzündungen führen werden? Daneben findet man hier noch eine ganze Reihe anderer Kakteenarten: Kugelkaktus, Stachelfrucht und sechs oder sieben andere Arten, deren Namen noch nicht einmal Ned kennt. Und richtige Bäume mit Blättern und Dornen, Mesquiten und Akazien. Alle Pflanzen verhalten sich feindlich. Faß mich nicht an, sagen sie, faß mich nicht an, oder es wird dir leid tun. Ich wünschte, ich könnte woanders sein. Aber wir laufen immer weiter. Ich würde Arizona für die Wüste Sahara hergeben und sogar noch halb New Mexico als Draufgabe. Wie lange noch? Wieviel heißer kann es noch werden? Scheiße. Scheiße. Scheiße. Scheiße.
„Heh! Seht mal, da!“ Eli deutet auf etwas. Links vom Weg, halb versteckt von einem gelben Chollatrieb: ein großer, runder Stein, so groß wie der Rumpf eines Mannes, ein dunkler, grober Stein, der sich in Gewebe und Zusammensetzung vom örtlichen schokoladenfarbigen Sandstein abhebt. Das muß schwarzer Vulkanfels sein, Basalt, Granit, Grünstein oder sonst was in der Richtung. Eli läßt sich davor nieder, hebt ein Stück Holz auf und schiebt den Kaktus herunter. „Seht ihr?“ sagte er. „Die Augen? Die Nase?“ Er hat recht. Große tiefe Augenhöhlen lassen sich erkennen. Ein großes, dreieckiges, herausgemeißeltes Loch, die Nasenmuschel. Und direkt am Erdboden eine Reihe immenser Zähne, der Oberkiefer, der in die sandige Erde beißt.
Ein Schädel.
Er sieht aus, als sei er tausend Jahre alt. Wir entdeckten Spuren von weiterer künstlerischer Bearbeitung, Brauendämme, Wangenknochen und andere Züge; aber an den meisten hat der Zahn der Zeit genagt. Trotzdem ein Schädel. Unverwechselbar ein Schädel. Ein Wegweiser, der uns sagt, daß das, was wir suchen, nicht mehr allzuweit den Weg hinab liegt — oder er warnt uns vielleicht, daß hier die letzte Möglichkeit zum Umkehren sei. Eli bleibt eine ganze Weile stehen und untersucht den Schädel. Ned. Oliver. Beide davon fasziniert. Eine Wolke zieht über uns hinweg, taucht den Stein in Schatten und verändert unsere Sicht seiner Konturen; es sieht jetzt so aus, als hätten sich die leeren Augen mit Leben gefüllt und starrten uns an. Die Hitze wird zuviel für mich. Eli sagt: „Wahrscheinlich ist er präkolumbianisch. Sie haben ihn aus Mexiko mitgebracht, könnte ich mir vorstellen.“ Wir blicken nach vorn in den Hitzedunst. Drei große Saguaros, wie Säulen, versperren uns die Aussicht. Wir müssen zwischen ihnen hindurch. Und dahinter? Das eigentliche Schädelhaus. Zweifellos. Unvermittelt frage ich mich, was ich überhaupt hier mache, wie ich mich überhaupt jemals diesem Irrwitz anschließen konnte. Was zuerst wie ein Scherz aussah, wie ein Jux, scheint jetzt plötzlich allen real geworden zu sein.
Niemals sterben müssen. Oh, was für eine Scheiße! Wie soll so etwas denn möglich sein. Wir werden Tage damit verschwenden, das herauszufinden. Die Abenteuer von Mondsüchtigen. Schädel auf der Straße. Kakteen. Hitze. Durst. Zwei müssen sterben, wenn zwei leben wollen. Der ganze mystische Quatsch, den Eli von sich gab, hat sich für mich in dieser Halbkugel aus grobem schwarzem Gestein summiert, die so fest, so unübersehbar dort liegt. Ich habe mich einer Sache angeschlossen, die jenseits meines Horizonts liegt, und in ihr können große Gefahren für mich liegen. Aber von jetzt an gibt es kein Zurück mehr.