Sooft ich auch in Gedanken die kleine Szene mit Bruder Antony wiederholt habe, ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Wollte er mich hochnehmen? War seine Unkenntnis nur geschauspielert? Oder hat er nur ein Wissen vorgegeben, über das er in Wahrheit gar nicht verfügt? War es das schelmische Lächeln des Eingeweihten oder ein plumper Bluff?
Es konnte ja sein, so sagte ich mir, daß sie das Buch der Schädel unter einem anderen Namen kennen. Oder daß sie im Verlauf der Wanderung von Spanien über Mexiko nach Arizona ihren theologischen Symbolismus fundamental umgestellt hatten. Ich war überzeugt, trotz der dunklen Antwort des Bruders, daß dieser Ort der direkte Nachfolger des Katalonischen Klosters sei, in dem das Manuskript, das ich entdeckt hatte, geschrieben worden war.
Ich nahm ein Bad. Das angenehmste Bad meines Lebens, das Ultimative an Bad, der Höhepunkt. Ich entstieg der prächtigen Wanne und stellte fest, daß meine Kleider verschwunden waren, und die Tür war verschlossen. Ich zog abgenutzte, ausgefranste Shorts an, die sie mir hingelegt hatten. (Sie?) Und ich wartete. Und wartete. Und wartete. Nichts zu lesen, nichts zu begucken, außer der schönen Steinmaske eines glotzäugigen Schädels, eine Mosaikarbeit, eine Unmenge von kleinen Steinchen aus Jade, Muscheln, Obsidian und Türkis, eine Kostbarkeit, ein Meisterwerk. Ich überlegte, ob ich ein zweites Bad nehmen sollte, bloß um die Zeit rumzukriegen. Dann öffnete sich meine Tür — ich hörte weder einen Schlüssel noch das Klicken eines Schlosses —, und jemand trat ein, der auf den ersten Blick wie Bruder Antony aussah. Der zweite Blick bewies mir, daß es sich um jemand anderen handelte: eine Spur größer, die Schulter eine Idee enger zusammen, die Haut um einen Ton heller, aber ansonsten die gleiche untersetzte, derbe, pseudopicassoide Gestalt. Mit einer seltsam ruhigen Stimme sagte er: „Ich bin Bruder Bernard. Bitte folgen Sie mir.“
Der Gang schien sich noch auszuweiten, während wir ihn durchquerten. Wir liefen immer weiter, Bruder Bernard an der Spitze, meine Augen starrten die meiste Zeit wie gebannt auf seine merkwürdig hervortretende Wirbelsäule. Mit nackten Füßen auf dem glatten Steinboden, ein angenehmes Gefühl. Geheimnisvolle Türen aus wertvollem Holz verschlossen zu beiden Seiten des Gangs: Zimmer, Zimmer, Zimmer, Zimmer. Millionenwerte an grotesken mexikanischen Artefakten hingen an den Wänden. Alle Götter des Alptraums starrten eulenhaft auf mich herab. Man hatte das Licht eingeschaltet, und ein sanfter gelber Glanz strömte von weitstrahlenden, schädelförmigen Leuchtern, wiederum der Hang zum Melodramatischen. Als wir uns dem Vorderteil des Gebäudes näherten, dem U-Bogen, warf ich einen Blick über Bruder Bernards rechte Schulter und bemerkte zu meiner Verwunderung kurz eine unzweifelhaft weibliche Gestalt, etwa zehn bis fünfzehn Meter vor mir. Ich sah, wie sie aus der letzten Tür dieses Schlafkammerflügels schritt, ohne Eile überquerte sie meinen Weg — sie schien zu schweben und verschwand zum Hauptteil des Gebäudes hin: eine kleine, schlanke Frau, die eine Art Minikleid mit Trägern trug, das kaum die Hüften bedeckte, aus einem weichen, plissierten, weißen Material. Ihr Haar war dunkel und glänzend, südländisches Haar, und hing locker bis zu ihren Schultern herab. Ihre Haut war tief gebräunt und bot damit einen starken Kontrast zu ihrem weißen Kleid. Ihre Brüste schoben sich groß heraus; mir blieb kein Zweifel über ihr Geschlecht. Ihr Gesicht konnte ich nicht deutlich erkennen. Mich überraschte, daß es im Schädelhaus sowohl Schwestern als auch Brüder gab, aber vielleicht war sie nur ein Dienstmädchen, denn der Ort mußte ja peinlich sauber gehalten werden. Ich wußte, daß es keinen Zweck hatte, Bruder Bernard danach zu fragen; er hüllte sich in Schweigen wie andere Leute in einen Panzer.
Er geleitete mich in einen großen Raum, der zeremoniellen Zwecken diente, offensichtlich war es aber nicht derselbe, in dem Bruder Antony uns begrüßt hatte, denn ich entdeckte kein Anzeichen für eine Falltür, die zum Tunnel führte. Auch der Springbrunnen hier schien eine andere Form zu haben: höher, eher eine Tulpenform, obwohl die Figur, durch die das Wasser floß, der im anderen Raum sehr ähnelte. Durch das halboffene Dach sah ich den schrägen Lichteinfall des späten Nachmittags. Die Luft war heiß, aber nicht so stickig wie zuvor.
Ned, Oliver und Timothy hatten sich bereits eingefunden, jeder von ihnen mit Shorts bekleidet, alle drei wirkten angespannt und unsicher. Oliver hatte den ihm eigentümlichen starren Gesichtsausdruck, den er in großen Streßsituationen immer zeigt. Timothy bemühte sich blasiert zu wirken, scheiterte aber dabei. Ned blinzelte mir kurz und abrupt zu, vielleicht als Glückwunsch, vielleicht spöttisch.
Ungefähr ein Dutzend Brüder befanden sich ebenfalls in diesem Raum.
Sie schienen alle aus der gleichen Vorlage gestanzt: Wenn sie schon nicht im wörtlichen Sinn Brüder waren, so mußten sie doch zumindest Vettern sein. Keiner von ihnen war größer als ein Meter siebzig, manche sogar nur ein Meter sechzig oder noch kleiner. Alle kahl. Tonnenbrust. Tiefgebräunt. Haltbar aussehend. Nackt bis auf diese Shorts. Einer, den ich als Bruder Antony zu erkennen glaubte — er war es auch —, trug einen kleinen grünen Anhänger auf der Brust; drei von den anderen trugen ähnliche Anhänger, aber aus einem dunklen Stein, vielleicht Onyx. Die Frau, die mir unterwegs begegnet war, befand sich nicht in diesem Raum.
Bruder Antony wies mich an, mich zu meinen Gefährten zu begeben. Ich stellte mich direkt neben Ned. Schweigen. Anspannung. Ein plötzlicher Impuls, laut loszulachen, den ich mit Mühe unterdrücken konnte. Welch eine absurde Situation! Wie kamen sich diese wichtigtuerischen Männlein eigentlich vor? Mit diesem leeren Gehabe um Totenschädel, mit diesem Ritual der Gegenüberstellung? Ruhig studierte uns Bruder Antony, als richte er über uns. Kein anderes Geräusch als unser Atemholen und das gefällige Geplätscher des Springbrunnens. Etwas ernste Musik aus dem Hintergrund, bitte, Maestro: Mors stupebit et natura, cum resurget creatura, judicandi responsura. Tod und Leben stehen verwundert da, wenn alle Schöpfung wiederaufersteht, um dem letzten Richter zu antworten. Um dem letzten Richter zu antworten. Und bist du unser letzter Richter, Bruder Antony? Quando Judex est venturus, euneta stricte discussurus! Wird er niemals sprechen? Müssen wir auf ewig zwischen Geburt und Tod verbleiben, Gebärmutter und Grab? Ah! Sie befolgen die Schrift! Einer der bedeutungsloseren Brüder, ohne Anhänger, geht zu einer Nische in der Wand und nimmt ein schmales Buch heraus, vorzüglich in glitzerndes rotes Saffianleder eingebunden, und reicht es Bruder Antony. Ohne daß es erwähnt wird, weiß ich, um welches Buch es sich handeln muß. Liber scriptus proferetur, in quo totum continetur. Der geschriebene Text wird gebracht werden, in dem alles enthalten ist. Unde mundus judicetur. Sobald es an der Zeit ist, die Welt zu richten. Was soll ich sagen? Du König von unermeßlicher Majestät, der jene erretten wird, die gerettet werden sollen, rette mich, o Born der Gnade! Bruder Antony sah mich direkt an. „Das Buch der Schädel“, sagte er sanft, ruhig, volltönend, „findet in diesen Tagen nur wenige Leser. Wie konnte es geschehen, daß ihr ihm begegnet seid?“
„Ein altes Manuskript“, sagte ich, „verlegt und vergessen in einer Universitätsbibliothek. Durch mein Studium … eine zufällige Entdeckung … die Neugierde verführte mich zur Übersetzung …“
Der Bruder nickte. „Und dann seid ihr zu uns gekommen? Wie geschah das?“
„Ein Zeitungsartikel“, antwortete ich. „Etwas über die Abbildungen, den Symbolismus — wir wollten es einmal ausprobieren, hatten gerade Ferien und dachten, fahren wir doch mal hin und sehen nach, ob … ob …“
„Ja“, sagte Bruder Antony, ohne weitere Fragen zu stellen. Ein ruhiges Lächeln. Er sah mir gerade ins Gesicht, wartete offensichtlich darauf, daß ich fortfuhr. Wir waren vier. Wir hatten das Buch der Schädel gelesen, und wir waren vier. Ein formeller Antrag schien jetzt angebracht. Exaudi orationem meam, ad te omnis caro ve niet. Mir wollte kein Wort über die Lippen kommen. Ich stand stumm in diesem unbegrenzten Ansturm des Schweigens und hoffte, daß Ned die Worte herauspressen würde, die mir in der Kehle steckten, daß Oliver sie sagen würde, vielleicht sogar Timothy. Bruder Antony wartete. Er wartete auf mich, er würde, wenn nötig, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten, bis zu den Posaunen des Jüngsten Gerichts. Rede! Rede! Rede!
Ich redete und hörte meine eigene Stimme, als würde ich als Zuhörer daneben stehen, als würde ich mich auf einem Tonband hören. „Wir vier die wir das Buch der Schädel gelesen haben, die wir das Buch der Schädel gelesen und verstanden haben — wünschen gehorsamst … wünschen uns der Prüfung zu stellen. Wir vier … wir vier bieten uns an … als Kandidaten … wir vier bieten uns als …“ Ich stockte. War meine Übersetzung korrekt? Würde er meine Übersetzung verstehen? „Als ein Fruchtboden“, sagte ich.
„Als ein Fruchtboden“, sagte Bruder Antony.
„Ein Fruchtboden. Ein Fruchtboden. Ein Fruchtboden“, sagten die Brüder im Chor.
Wie belebt die Szene jetzt geworden war! Ja, plötzlich sang ich den Tenor in Turandot, schrie es heraus, nach den fatalen Geheimnissen befragt zu werden. Auf widersinnige Weise schien die Szene theatralisch, ein albernes und übertriebenes Schauspielstückchen, das entgegen aller Vernunft in einer Welt ablief, in der Signale von Satelliten aus dem Orbit empfangen wurden, langhaarige Burschen hinter Pot her waren und die Schlagstöcke der Gestapo-Polizisten in fünfzig amerikanischen Städten die Köpfe von Demonstranten zerschmetterten. Wie konnten wir hier stehen und Totenschädel und Fruchtböden besingen? Aber noch merkwürdigere Merkwürdigkeiten standen uns bevor. Unheilschwanger nickte Bruder Antony dem zu, der ihm das Buch gebracht hatte, und der verschwand wiederum in der Nische. Jetzt entnahm er ihr eine massive, sorgfältig auf Glanz gebrachte Steinmaske; er reichte sie Bruder Antony, der sie sich übers Gesicht stülpte; da trat einer der Brüder mit Anhänger nach vorne, um am Hinterkopf eine Schnur festzubinden. Die Maske bedeckte Bruder Antonys Gesicht von der Oberlippe ab aufwärts. Sie verlieh ihm das Aussehen eines lebenden Totenschädels; Antonys kühle, klare Augen leuchteten mir aus den steinernen Augenhöhlen entgegen. Das war wohl zu erwarten gewesen.
Er sagte: „Ihr seid euch der Bedingungen bewußt, die im Neunten Mysterium enthalten sind?“
„Ja“, sagte ich. Bruder Antony wartete: Er bekam eine zustimmende Antwort von Ned, Oliver und zurückhaltend von Timothy.
„Ihr stellt euch dieser Prüfung nicht leichtfertig, sondern im Bewußtsein der Gefahren und auch der Belohnung. Ihr unterstellt euch ganz und gar und ohne innere Einschränkungen. Ihr seid hierhergekommen, um ein Sakrament zu empfangen, und nicht, um Spaß zu haben. Ihr gebt euch vollständig der Bruderschaft hin und ganz besonders den Hütern. Seid ihr dazu bereit?“
Ja, ja, ja und schließlich — ja.
„Kommt zu mir. Legt die Hände auf die Maske.“ Wir berührten sie, vorsichtig, als fürchteten wir einen elektrischen Schlag von dem kalten grauen Stein. „Es gab nicht viele Jahre, in denen ein Fruchtboden zu unserer Gemeinschaft stieß“, sagte Bruder Antony. „Wir schätzen eure Anwesenheit und übermitteln euch unseren Dank, daß ihr hierhergekommen seid. Aber jetzt muß ich euch sagen, falls eure Motive, zu uns zu kommen, nicht ernsthafter Natur waren, daß ihr dieses Haus nicht verlassen dürft, bis eure Prüfung beendet ist. Unsere Ordnung zwingt zum Schweigen. Sobald die Prüfung beginnt, gehört euer Leben uns, und wir erlauben das Verlassen dieses Grundstücks nicht. Das ist das Neunzehnte Mysterium, von dem ihr nichts gelesen haben könnt: Falls einer von euch verschwindet, so fällt das Leben der drei Verbliebenen in unsere Hand. Ist euch das völlig klar? Wir können keinen Gedankenumschwung zulassen, und ihr werdet euch gegenseitig bewachen, in dem Bewußtsein, daß, wenn ein Verräter unter euch ist, der Rest ohne Ausnahme sterben muß. Jetzt ist noch der Zeitpunkt für eine Umkehr. Wenn ihr diesen Bedingungen nicht zustimmen könnt, so nehmt die Hände von der Maske, und wir lassen euch vier in Frieden ziehen.“
Ich schwankte. So etwas hatte ich nicht erwartet: Bestrafung mit dem Tod, wenn man mitten in der Prüfung abhaute! War das ernst gemeint? Was, wenn wir nach einigen Tagen herausfanden, daß sie uns überhaupt nichts von Wert anzubieten hatten? Wir wären trotzdem verpflichtet hierzubleiben. Monat um Monat um Monat, bis sie uns schließlich mitteilten, daß unsere Prüfung beendet sei — und wir wieder freigelassen würden? Diese Bedingungen schienen untragbar, fast hätte ich meine Hand weggezogen. Aber ich erinnerte mich rechtzeitig daran, daß ich ja hierhergekommen war, um meinen Glauben zu demonstrieren, um ein inhaltsloses Leben in der Hoffnung aufzugeben, ein bedeutungsvolles dafür zu erlangen. Ja, ich gehöre euch, Bruder Antony, bedingungslos. Ich ließ meine Hand auf der Maske. Und überhaupt, wie wollten diese Männlein uns daran hindern, wenn wir uns entschlossen hinauszugehen? Das hier war doch auch nicht mehr als ein Theaterdonner-Ritual, wie die Steinmaske, wie der Chorgesang. Das versöhnte mich wieder. Ned schien auch seine Zweifel zu haben; heimlich beobachtete ich ihn und sah, wie seine Finger kurz zuckten, aber sie blieben dort. Olivers Hand rührte sich zu keinem Moment auf der Maske von der Stelle. Timothy schien am meisten zu zögern; er blickte mürrisch drein, starrte uns an und den Bruder, bekam Schweißausbrüche, hob schließlich für etwa drei Sekunden die Finger. Aber dann preßte er sie mit einer Geste von Scheiß-drauf-was-soll’s so fest auf die Maske, daß der Druck Bruder Antony nahezu taumeln ließ. Vollbracht. Wir hatten unser Pfand gegeben. Bruder Antony entfernte seine Maske. „Ihr werdet jetzt mit uns zu Abend essen“, sagte er, „und morgen früh geht es los.“