Vielleicht habe ich mich wegen des Anhalters zu blöde angestellt. Ich weiß es nicht. Im Nachhinein verwirrt mich der ganze Vorfall. Normalerweise sind mir meine Motive immer klar, offen liegen sie vor mir. Aber dieses Mal war es anders. Ich habe Ned wirklich angebrüllt und angemacht. Warum? Eli nahm mich dafür später in die Mangel und erklärte mir, daß es nicht meine Sache sei, mich in Neds freie Entscheidung einzumischen, irgend jemandem zu helfen. Ned hatte am Steuer gesessen und damit das Kommando. Sogar Timothy, der mir doch den Rücken bei diesem Vorfall gestärkt hatte, sagte mir später, daß er meine Reaktion für überzogen hielt. Der einzige, der sich an diesem Abend nicht dazu äußerte, war Ned. Aber ich wußte genau, daß Ned sich innerlich stark damit beschäftigte.
Warum habe ich so reagiert, frage ich mich. Ich war sicher nicht dermaßen in Eile, zum Schädelhaus zu kommen. Selbst wenn der Anhalter uns fünfzehn Minuten von unserer Zeit genommen hätte, na und? Scheiß auf eine Viertelstunde, wenn einen die Ewigkeit erwartet. Es war also nicht der Zeitverlust, der mich so hatte ausklinken lassen. Und es war auch nicht der Unsinn über Charles Manson. Ich weiß, daß es tiefer gelegen haben muß.
Blitzartig war mir diese Intuition gekommen, als Ned den Wagen abbremste, um den Hippie aufzulesen. Der Hippie ist ein Schwuler, hatte ich gedacht. Genau diese Worte: Der Hippie ist ein Schwuler. Ned hat ihn bestellt, sagte ich mir, indem er irgendwelche PSI-Fähigkeiten eingesetzt hat, die Leute seines Schlages zu haben scheinen. Ned hat ihn direkt auf den Highway bestellt, Ned wird ihn auflesen und heute abend mit ins Motel nehmen. Ich will mir selbst nichts vormachen, genau das war es, woran ich gedacht habe. Und daneben hatte die Vorstellung von Ned und dem Anhalter gestanden, wie sie zusammen im Bett liegen, sich küssen, keuchen, herumwälzen, sich abtasten und eben all das tun, was Schwulen Spaß macht, wenn sie zusammen sind. Aber ich hatte wirklich keinen Grund, diese Vorstellung ernst zu nehmen. Der Hippie war nicht mehr und nicht weniger als ein Hippie gewesen, wie fünf Millionen andere auch: barfüßig, lange, verdreckte Haare, Fellweste, Röhrenjeans. Warum hatte ich geglaubt, er sei schwul? Und selbst wenn er schwul gewesen ist, was soll’s? Haben Timothy und ich nicht auch in New York und Chikago Mädchen aufgerissen? Warum sollte dann Ned nicht versuchen, auch etwas für seinen Geschmack zu finden? Was habe ich gegen Homosexuelle? Schließlich ist einer meiner Zimmergenossen einer, oder nicht? Sogar einer meiner besten Freunde! Ich wußte, wie es um Ned bestellt ist, als er in unsere Gruppe kam. Ich habe mich nicht darum gekümmert, solange er mir keine Avancen machte. Ich mochte Ned als Person, und seine sexuellen Vorlieben waren mir schnurzpiepegal. Warum also dieser plötzliche Anfall von Bigotterie auf dem Highway? Denk mal darüber nach, Oliver. Denk ruhig mal darüber nach.
Vielleicht warst du eifersüchtig, was? Wie sieht es denn mit dieser Möglichkeit aus, Oliver? Vielleicht wolltest du nicht, daß Ned sich mit jemand anderem abgibt? Was hältst du davon, diesen Gedankengang mal eben auszuloten?
Gut, gut. Ich weiß, daß er Interesse an mir hat. Hatte er schon immer. Dieser markante Blick in seinen Augen, wenn er mich ansieht, diese verträumte Sehnsucht — ich weiß genau, was das zu bedeuten hat. Nicht, daß Ned sich mir je genähert hat. Davor hat er Angst — Angst, eine angenehme, ganz nützliche Freundschaft mutwillig zu zerstören, indem er über die Stränge schlägt. Aber trotzdem hegt er Wünsche in dieser Richtung. Bin ich denn der Anstandswauwau, wenn ich ihm weder das zugestehe, was er von mir will, noch daß er dasselbe von dem Hippie bekommt? Welch eine blöde Situation. Aber ich muß die ganze Sache gründlich durchdenken: meinen Zorn, als Ned den Wagen abbremste. Das Geschrei. Die Hysterie. Offensichtlich ist irgend etwas in mir erwacht. Ich werde wohl länger darüber grübeln müssen. Ich muß die wahren Zusammenhänge finden. Das erschreckt mich. Denn ich könnte dabei etwas über mich entdecken, von dem ich gar nichts wissen will.