Die Brüder lieben uns. Kein anderer Begriff kommt der Sache näher. Sie versuchen, eine Pokermiene aufzusetzen, ernst auszusehen, priesterlich und unnahbar, aber sie können einfach nicht ihre Freude über unsere Anwesenheit verbergen. Wir beleben sie. Wir haben sie aus einer Ewigkeit ständig sich wiederholender harter Arbeit errettet. Seit Unzeiten hatten sie hier keine Neuen mehr, haben sie kein neues, junges Blut auf ihrem Grund gehabt; sie sind eben eine geschlossene Gesellschaft von Brüdern, insgesamt fünfzehn, die ihrer Bestimmung nachgeht, auf den Feldern arbeitet und die Hausarbeit erledigt. Und jetzt sind wir hier, um durch das Ritual der Erneuerung geführt zu werden, und das ist etwas Ungewohntes für sie, und sie lieben uns, weil wir gekommen sind.
Alle nehmen sie an unserer Aufklärung teil. Bruder Antony wacht über unsere Meditationen und geistigen Exerzitien. Bruder Bernard leitet uns bei den körperlichen Übungen an. Bruder Claude, der Küchenbruder, überwacht unsere Diät. Bruder Miklos unterrichtet uns allumfassend in der Geschichte der Bruderschaft und verschafft uns in seiner doppeldeutigen Art die richtigen Hintergrundinformationen. Bruder Javier ist der Beichtvater, der uns in einigen Tagen durch die Psychotherapie führen wird, die ein zentraler Teil der ganzen Prüfung zu sein scheint. Bruder Franz, der Arbeitsbruder, zeigt uns, welchen Pflichten wir nachzukommen haben: Holz hacken und Wasser holen. Jeder andere Bruder hat ebenfalls seine feste Aufgabe, aber wir hatten bis jetzt noch keine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Es gibt hier auch eine unbekannte Anzahl von Frauen, vielleicht drei oder vier, vielleicht ein ganzes Dutzend. Wir bemerken sie nur am Rande, hier und da ein flüchtiger Blick. Jedesmal sehen wir sie nur in einiger Entfernung, wenn sie von einem Zimmer zum anderen gehen, um irgendeinem geheimnisvollen Privatauftrag nachzukommen. Sie sehen uns niemals an. Wie die Brüder sind auch die Frauen alle gleich bekleidet: in kurzen weißen Kinderkleidchen statt abgenutzten blauen Shorts. Die, die ich gesehen habe, hatten alle langes, schwarzes Haar und große Brüste; auch Timothy, Eli und Ned haben noch keine schlanken Blondinen oder Rothaarige gesehen. Sie sind sich untereinander alle sehr ähnlich, deshalb bin ich mir auch nicht sicher, wie viele es eigentlich sind; ich weiß nie, ob die Frauen, die ich gerade sehe, andere sind oder dieselben. Am zweiten Tag hier fragte Timothy Bruder Antony nach ihnen, aber er bekam die höfliche Antwort, daß es verboten sei, einem Mitglied der Bruderschaft eine direkte Frage zum Prüfungsablauf zu stellen; zur rechten Zeit würden wir die richtigen Antworten erhalten, versprach uns Bruder Antony. Und damit mußten wir uns zufriedengeben.
Jeder Tag erwartete uns mit einem vollen Programm. Wir stehen mit der Sonne auf; da es keine Fenster gibt, sind wir in dieser Frage auf Bruder Franz angewiesen, der im Morgengrauen durch die Schlafraumabteilung läuft und an die Türen klopft. Die erste Pflicht ist ein Bad. Dann gehen wir zu den Äckern hinaus und arbeiten eine Stunde. Die Brüder versorgen sich selbst mit Nahrungsmitteln in einem Garten, der etwa zweihundert Meter hinter dem Gebäude liegt. Ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem pumpt Wasser aus irgendeiner tiefen Quelle; seine Errichtung muß ein Vermögen gekostet haben, so wie der Bau des Schädelhauses mindestens zwei Vermögen gekostet haben muß; aber ich vermute, daß die Bruderschaft ungeheuer reich ist. Wie Eli einmal erklärte, wird jede fortbestehende Organisation, die ihre Anlagen drei- oder vierhundert Jahre lang zu fünf oder sechs Prozent verzinst, am Ende ganze Kontinente besitzen. Die Brüder pflanzen Getreide, Kräuter und eine ganze Reihe von genießbaren Früchten, Beeren, Wurzeln und Nüssen an; ich habe meistens keine Ahnung, was das für Pflanzen sind, die wir so liebevoll reinigen und betreuen, und ich vermute, daß es sich hauptsächlich um exotische Pflanzen handelt. Reis, Bohnen, Korn und darmblähende Früchte wie zum Beispiel Zwiebeln sind hier verboten. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß Weizen hier nur am Rande geduldet, als etwas angesehen wird, daß zwar ohne Wert, aber irgendwie doch notwendig ist: Er wird erst strengstens fünfmal gesiebt und zehnmal gemahlen, begleitet von besonderen Meditationen, bevor man daraus Brot bäckt. Die Brüder verzehren kein Fleisch, und wir dürfen das auch nicht, solange wir hier verweilen. Fleisch scheint hier als Quelle destruktiver Gelüste angesehen zu werden. Salz ist verbannt. Pfeffer ist verboten, genauer gesagt, der schwarze Pfeffer. Chilipfeffer dagegen liegt innerhalb des Erlaubten, und die Brüder sind ganz verrückt danach und verzehren ihn auf vielfältige Weise wie die Mexikaner — als frischen Pfeffer, getrocknete Schoten, Pulver, eingemacht etc. etc. etc. Das Zeugs, das hier gepflanzt wird, ist sehr scharf. Eli und ich sind Gewürz-Freaks, und wir benutzen den Chili sehr großzügig, auch wenn er uns manchmal die Tränen in die Augen treibt. Aber Timothy und Oliver, die milde Kost gewohnt sind, kommen damit überhaupt nicht zurecht. Ebenso beliebt sind hier Eier. Draußen steht ein Hühnerstall voll fleißiger Hennen, und in allen möglichen Formen erscheinen Eier dreimal am Tag auf dem Tisch. Die Brüder stellen auch einige milde Kräuterliköre her, unter der Aufsicht von Bruder Maurice, dem Destillierbruder.
Nach der Stunde Feldarbeit ruft uns ein Gong zusammen; wir begeben uns auf unsere Zimmer, um erneut zu baden, und dann ist Frühstückszeit. Die Mahlzeiten werden in einem der Versammlungsräume aufgetischt, auf einer eleganten Steinbank. Die Speisenfolge wird nach geheimen Prinzipien zusammengestellt, in die man uns bislang noch nicht eingeweiht hat; anscheinend haben Farbe und Form dessen, was wir zu uns nehmen, genausoviel mit der Planung der Zusammenstellung wie der Nährwert zu tun. Wir essen Eier, Suppen, Brot, Gemüsebrei und so weiter, die nach Belieben mit Chili verfeinert werden; zu trinken gibt es Wasser, eine Art Weizenbier und abends Gewürzlikör, und nichts anderes. Oliver, der Steaks gewohnt ist, beklagte sich sehr häufig über den Fleischmangel. Ich habe es zuerst auch vermißt, aber mittlerweile habe ich mich völlig an diese merkwürdige Kost gewöhnt, Eli übrigens auch. Timothy murmelt nur etwas in sich hinein und kippt einen Likör nach dem anderen. Mittags am dritten Tag hatte er zuviel Bier getrunken und bekotzte den wunderbaren Schieferboden. Bruder Franz wartete, bis er fertig war, reichte dann ein Tuch und befahl ihm wortlos, seinen Dreck wegzumachen. Die Brüder mögen Timothy nicht, vielleicht fürchten sie ihn auch, denn er ist mindestens einen Kopf größer als sie alle und übertrifft den schwersten von ihnen sicher um neunzig Pfund. Den Rest von uns aber lieben sie, wie ich bereits erwähnte, und auf eine abstrakte Weise lieben sie auch Timothy.
Nach dem Frühstück steht die Morgenmeditation bei Bruder Antony an. Er spricht kaum, sondern bringt uns lediglich mit ein paar Worten den geistigen Zusammenhang nahe. Wir versammeln uns im anderen langen Flügel des Gebäudes, der dem Schlafraumflügel gegenüberliegt. Dieser hier dient zur Gänze klösterlichen Funktionen. Statt der Schlafräume findet man hier Kapellen, insgesamt achtzehn, vermutlich korrespondierend mit den Achtzehn Mysterien; die Kapellen sind genauso beeindruckend nüchtern wie die anderen Räume, und sie enthalten eine Reihe von überwältigenden künstlerischen Meisterwerken. Die meisten sind präkolumbianisch, aber einige von den Kelchen und Bildhauerarbeiten sehen sehr nach europäischem Mittelalter aus, und es gibt einige seltsame Objekte (aus Elfenbein? Knochen? Stein?), die für mich absolut unidentifizierbar sind. Auf dieser Seite des Gebäudes befindet sich auch eine umfangreiche Bibliothek, die vollgestopft ist mit Büchern und Raritäten, wenn der Blick über die Regale streift; denn im Moment ist es uns verboten, diesen Raum zu betreten, obwohl seine Tür nie verschlossen wird. Bruder Antony trifft sich mit uns in der Kapelle, die dem Versammlungstrakt am nächsten liegt. Bis auf die allgegenwärtige Totenschädelmaske ist sie völlig leer. Er kniet nieder; wir knien nieder; er legt den kleinen Jadeanhänger von seiner Brust ab, der, was nicht überrascht, die Form eines Totenschädels hat, und legt ihn vor uns auf den Boden, als Fokus für unsere Meditationen. Als Oberbruder ist Bruder Antony der einzige, der einen Jadeanhänger trägt. Aber auch Bruder Miklos, Bruder Javier und Bruder Franz sind berechtigt, ähnliche Anhänger aus poliertem braunem Stein zu tragen — ich tippe auf Obsidian oder Onyx. Diese vier sind die Hüter der Schädel, eine besondere Gruppe innerhalb der Bruderschaft. Was Bruder Antony von uns anzuschauen verlangt, ist paradox, den Schädel unter dem Gesicht, die Gegenwart des Todessymbols unter unseren lebenden Masken. Durch eine Übung in „innerer Vision“ sollen wir uns vom Todesimpuls befreien, indem wir die Macht des Totenschädels absorbieren, ganz verstehen und schließlich endgültig zerstören. Ich weiß nicht, inwieweit einer von uns in diesem Bemühen bereits Erfolg hatte; was uns sonst noch verboten ist, ist der Vergleich unserer Fortschritte. Ich bezweifle, daß Timothy in Meditation sehr gut ist. Oliver ist ganz offensichtlich gut; er starrt auf den Jade-Totenschädel mit der Intensität eines Wahnsinnigen, überströmt ihn, umzingelt ihn, und ich glaube, sein Geist tritt hervor und in den Schädel ein. Aber bewegt er sich in die richtige Richtung? Eli hat sich vor einiger Zeit bei mir darüber beklagt, welche Schwierigkeiten er hat, mittels Drogen die höchsten Grade mystischer Erfahrung zu erreichen; sein Verstand ist zu lebendig, zu sprunghaft und hat mehrere Trips selbst zunichte gemacht, da er hin und her stieß, anstatt sich zu beruhigen und ins All treiben zu lassen. Ich glaube, er hat auch hier draußen Schwierigkeiten sich zu konzentrieren. Er wirkt angespannt und ungeduldig während unserer Meditationssitzungen, er scheint sich mit Gewalt dazu zu zwingen, dazu treiben zu wollen, in einen Bereich zu gelangen, den er eigentlich nicht erreichen kann. Was mich betrifft, so genieße ich unsere tägliche Stunde mit Bruder Antony; das Paradoxon mit dem Totenschädel korrespondiert natürlich gerade mit meiner Vorliebe für Irrationalität, und ich glaube, es bereitet mir wirkliches Vergnügen, obwohl ich mir natürlich der Möglichkeit bewußt bin, daß ich mich lediglich selbst betrüge. Ich würde gern den Grad meiner Fortschritte, soweit vorhanden, mit Bruder Antony diskutieren, aber solche selbstsüchtigen Anfragen sind uns momentan nicht erlaubt. Somit knie ich nieder und starre jeden Tag auf den kleinen grünen Schädel und treibe meine Seele voran und führe meinen immerwährenden inneren Kampf zwischen angerostetem Zynismus und unterwürfigem Glauben.
Sobald unsere Stunde mit Bruder Antony beendet ist, gehen wir wieder auf die Felder. Wir rupfen Unkraut, streuen Düngemittel aus — natürlich nur organischen Dung — und setzen Keimlinge ein. Oliver ist hierbei der Beste von uns. Er hat immer versucht, seine Farmkindheit zu verdrängen, aber jetzt, ganz plötzlich, prahlt er damit, genauso wie Eli mit seinem jiddischen Vokabular prahlt, obwohl er seit seiner Bar Mitzwah nicht mehr in einer Synagoge gewesen ist. Das Meine-Abstammung-ist-besser-als-deine-Syndrom und Olivers Abstammung ist die ländlich-landwirtschaftliche. Deshalb erledigt er das Hacken und Graben mit vorbildlichem Schwung. Die Brüder versuchen, ihn zur Mäßigung anzuhalten; ich glaube, seine Energie erschreckt sie, aber gleichzeitig machen sie sich auch darüber Sorgen, er könne einen Hitzschlag bekommen; Bruder Leon, der Arztbruder, hat mehrere Male mit Oliver darüber gesprochen und ihm erklärt, daß die Vormittagstemperaturen schon zwischen dreißig und fünfunddreißig Grad lägen und im weiteren Tagesverlauf noch höher stiegen. Trotzdem rackert sich Oliver immer weiter ab. Ich halte dieses ganze Herummachen im Boden für seltsam und kaum nachvollziehbar. Es entspricht dieser Zurück-zur-Natur-Romantik, die, wie ich glaube, im Herzen von allen intellektuellen Nur-Stadtmenschen bohrt. Vorher habe ich keine anstrengendere manuelle Tätigkeit ausgeübt als die Masturbation. Somit ist die tägliche Feldarbeit nicht nur zermürbend, sondern auch etwas, das über meine Vorstellung geht, aber ich zwinge mich verbissen durch meine Arbeit. Das steht schon mal fest. Elis Beziehung zur Farmarbeit ähnelt der meinen stark, aber er geht da intensiver, romantischer heran; er redet davon, daß er dadurch physische Erneuerung von Mutter Erde erlange. Und Timothy, der natürlich mit seinen eigenen Händen noch nie mehr getan hat, als sich die Schnürsenkel zuzubinden, geht mit der vornehmen Haltung eines Landedelmanns an die Arbeit — noblesse oblige sagt er mit jeder seiner matten Bewegungen. Er arbeitet, wie die Brüder es ihm aufgetragen haben, aber er läßt dabei keinen Zweifel offen, daß er sich nur deshalb dazu herabläßt, seine Finger schmutzig zu machen, weil ihm ihr kleines Spiel Spaß macht. Nun, graben tun wir alle, wenn auch jeder auf seine Weise.
Gegen zehn Uhr wird es unangenehm heiß, und wir verlassen die Felder, alle bis auf drei Farmerbrüder, deren Namen ich noch nicht kenne. Sie verbringen zehn bis zwölf Stunden täglich draußen; vielleicht eine Art Buße? Wir anderen, sowohl Brüder als auch Fruchtboden, begeben uns auf unsere Zimmer und baden ein weiteres Mal. Dann versammeln wir vier uns im anderen Flügel zu unserer täglichen Sitzung mit Bruder Miklos, dem Geschichtsbruder.
Miklos ist ein kompakt und kräftig gebauter kleiner Mann mit Armen wie Oberschenkeln und Oberschenkeln wie Baumstämmen. Er macht den Eindruck noch älter als die anderen Brüder zu sein, obwohl ich zugebe, daß es sich paradox anhört, einen Komparativ wie „älter“ bei einer Gruppe von zeitlosen Wesen zu gebrauchen.
Er spricht mit einem schwachen, unidentifizierbaren Akzent, und seine Gedankenabläufe sind alles andere als linear: Er schweift ab, wandert herum, gleitet völlig unerwartet von einem Thema ins andere. Ich glaube, daß das Absicht ist und daß sein Verstand eher subtil und unergründlich ist als senil und undiszipliniert. Vielleicht ist es ihm im Verlauf der Jahrhunderte zu langweilig geworden, bloß aufeinanderfolgende Gedankengänge zu verfolgen; ganz sicher würde es mir so ergehen.
Zwei Themen bringt er uns nahe: den Ursprung und die Entwicklung der Bruderschaft und die Geschichte des Begriffs der menschlichen Langlebigkeit. Beim ersten Thema ist er am schwersten faßbar, oder anders ausgedrückt, er zeigt uns nie eine stringente Linie auf. Wir sind sehr alt, sagt er immer wieder, sehr alt, sehr alt, und ich kann dann nie genau sagen, ob er die Brüder oder die Bruderschaft selbst meint, wahrscheinlich beide; vielleicht sind ja einige Brüder schon von Anfang an dabei, haben ein Leben hinter sich, das nicht nur Jahrzehnte oder Jahrhunderte, sondern ganze Jahrtausende umfaßt. Bruder Miklos deutet prähistorische Ursprünge an: die Höhlen in den Pyrenäen, Dordogne, Lascaux, Altamira, eine geheime Bruderschaft von Schamanen, die noch aus der Zeit des Erwachens der Menschheit stammt. Doch was davon wahr ist und was ins Reich der Fabel gehört, kann ich genausowenig sagen wie, ob die Rosenkreuzler ihren Ursprung wirklich von Amenhotep IV. ableiten können. Aber wenn der Bruder spricht, habe ich die Vision von verrauchten Höhlen, flackernden Fackeln, halbnackten Künstlern, die nur das Fell eines wolligen Mammuts um den Bauch gebunden haben und helle Farbstoffe an die Wände schmieren, und Medizinmännern, die rituell das Schlachten von Auerochs und Rhinozeros durchführen. Und die Schamanen wispern, hocken sich zusammen und flüstern, erzählen sich gegenseitig: Wir werden nicht sterben, Brüder, wir werden weiterleben, den Aufstieg Ägyptens aus den Überschwemmungen des Nils beobachten, die Geburt von Sumer, wir werden leben, um Sokrates, Caesar, Jesus und Konstantin zu sehen, und ja, wir werden immer noch vorhanden sein, wenn der schreckliche Pilz mit der Helligkeit einer Sonne über Hiroshima aufsteigt und wenn die Männer aus dem Metallschiff die Leiter hinunterklettern, um die Oberfläche des Mondes zu betreten. Doch hat Miklos wirklich nur das erzählt, oder habe ich das nur im Dunst der Mittagswüstenhitze geträumt? Alles ist so obskur; alles entgleitet, zerschmilzt und zerläuft, wenn sein labyrinthartiger Wortschwall sich um sich selbst dreht, verdreht, tanzt und verwickelt. Und siebartig und umschreibend erzählt er uns von einem verlorenen Kontinent, einer untergegangenen Zivilisation, der das Wissen der Bruderschaft entsprang. Und wir starren ihn an, mit großen Augen, tauschen untereinander kurze, erstaunte Blicke aus, wissen nicht, ob wir aus skeptizistischer Verachtung kichern oder vor Aufregung keuchen sollen. Atlantis! Wie hat Miklos das bloß angestellt, in unsere Hirne diese Bilder zu zaubern: ein glitzerndes Land aus Gold und Kristall, breite belaubte Alleen, hohe, weißwandige Gelände, leuchtende Kutschen, begnadete Philosophen in wallenden Roben, die Instrumente einer vergessenen Wissenschaft aus Messing, die Aura des wohltätigen Schicksals, das gellende Getöse einer fremdartigen Musik, die in Hallen von großen Tempeln, die unbekannten Göttern gewidmet sind, ein Echo wirft. Atlantis? Wie schmal ist doch der Grat, den wir zwischen Märchen und Blödsinn errichten! Ich habe nie gehört, daß Miklos den Namen auch nur ausgesprochen hat, aber er brachte mir Atlantis schon am ersten Tag in den Sinn, und mittlerweile wächst in mir die Überzeugung, daß ich damit richtig liege, daß er tatsächlich für die Bruderschaft eine Herkunft aus Atlantis beansprucht. Was haben diese Totenschädelembleme auf der Fassade des Tempels zu bedeuten? Und was diese juwelenbesetzten Schädel, die als Ringe oder Anhänger in der Großen Stadt getragen werden? Wer sind diese Missionare in den rotbraunen Roben, die über das Festland zu den Ansiedlungen in den Bergen ziehen? Sie verwirren die Mammutjäger mit ihren Blitzen und Pistolen, halten den heiligen Totenschädel hocherhoben und rufen den Höhlenbewohnern zu, zu Boden zu sinken und sich hinzuknien. Und die Schamanen in den bemalten Höhlen, die an ihren funkensprühenden Feuern zusammenhocken, flüstern, geben nach, gewähren den strahlenden Fremden größte Achtung, verbeugen sich, küssen den Totenschädel und vergraben ihre eigenen Idole: die fettschenkligen Venusfiguren und die zurechtgeschnittenen Knochensplitter. Das ewige Leben gewähren wir euch, sagen die Neuankömmlinge, und sie zeigen eine leuchtende Tafel, auf der Bilder von ihrer Stadt, von Türmen, Kutschen, Tempeln und Juwelen schwimmen. Und die Schamanen nicken, sie kriechen mit dem Bauch auf dem Boden und gießen Wasser auf ihre heiligen Feuer. Sie tanzen, klatschen in die Hände und unterwerfen sich; sie unterwerfen sich, starren auf die leuchtende Tafel, töten das fett gewordene Mastodon und bieten ihren Gästen ein Festmahl in Brüderlichkeit an. Und so fängt alles an: die Allianz zwischen Inselleuten und Bergbewohnern in jenen Tagen. So hat es begonnen: der Fluß des Schicksals über das eisbedeckte Festland, das Erwachen, die Weitergabe des Wissens. Wenn dann das Erdbeben kommt, wenn der Vorhang weit auseinanderreißt und die Säulen wackeln und ein schwarzes Leichentuch über der Welt hängt, wenn die Prachtstraßen und Türme von der aufgebrachten See verschluckt werden, wird etwas weiterleben, wird etwas in den Höhlen überleben: die Geheimnisse, die Riten, der Glaube, der Totenschädel, der Totenschädel, der Totenschädel! War es so, Miklos? Und hat es sich so abgespielt, vor zehn-, fünfzehn- oder zwanzigtausend Jahren, in einer Vergangenheit, die abzustreiten wir es vorziehen. Welch eine Wonne, in jener Morgendämmerung gelebt zu haben! Und du lebst immer noch, Bruder Miklos? Du bist zu uns von Altamira gekommen, von Lascaux, selbst vom untergegangenen Atlantis, du und Bruder Antony und Bruder Bernard und alle anderen, ihr habt Ägypten überlebt, die Caesaren, habt dem Totenschädel eure Achtung bewiesen, habt alles durchgemacht, habt Reichtum angesammelt, den Acker bestellt, seid von Land zu Land gezogen, von den glücklichen Höhlen zu den neuentstandenen neolithischen Dörfern, von den Bergen zu den Flüssen, über den ganzen Erdball, nach Persien, nach Rom, nach Palästina, nach Katalonien, habt die Sprachen gelernt, sobald sie aufgekommen sind, habt mit den Leuten gesprochen, eure Tempel und Klöster gebaut, habt Isis, Mithra, Jehova und Jesus eure Referenz erwiesen, diesem Gott und jenem, habt alles absorbiert, allem widerstanden, habt das Kreuz über den Totenschädel gestellt, als das Kreuz gerade in Mode war, seid zu Meistern in der Frage des Überlebens geworden, habt euch gelegentlich durch die Aufnahme eines Fruchtbodens mit frischem Blut versorgt, habt immer neues Blut verlangt, obwohl euer eigenes niemals gerinnt. Und dann? Ihr seid nach Mexiko gezogen, nachdem Cortez dessen Bevölkerung für euch unterworfen hat. Hier war ein Land, das die Macht des Todes verstand, hier war ein Ort, wo der Totenschädel immer regiert hatte, vielleicht ist er dorthin, genau wie in euer Land, von den Inselleuten gebracht worden, hmm? Missionare aus Atlantis auch in Cholula und Tenochtitlan, die dort den Kult der Todesmaske verbreitet haben? Ein fruchtbarer Boden, zumindest ein paar Jahrhunderte lang. Aber ihr besteht auf einer konstanten Erneuerung, und so seid ihr weitergezogen, habt eure Beute mitgenommen, eure Masken, eure Totenschädel, eure Statuen und eure paläolithischen Schätze; seid nach Norden gezogen, in das neue Land, das leere Land, das Herz der Wüste der Vereinigten Staaten, das Land der Bombe, das Land der Schmerzen. Und mit dem angewachsenen Eifer eures Alters habt ihr ein neues Haus der Schädel gebaut, was, Miklos, und hier sitzt du, und hier sitzen wir. Ist es so gewesen? Oder habe ich mir das alles nur eingebildet, habe ich deine vagen und trüben Worte zu einem fröhlichen, selbsttäuschenden Tagtraum zusammenfließen lassen? Woher soll ich das wissen? Woher soll ich das jemals wissen? Ich habe nur deine Worte, die schleierhaft, taumelnd und fliehend in meinem Verstand sind. Und ich kann das sehen, was mich umgibt, diese Verseuchung eures vorherrschenden Symbols durch die aztekische, christliche und atlanteische Brille. Und ich kann mich nur fragen, Miklos, wie kommt es, daß du immer noch hier sitzt, so das Mammut schon längst die Weltbühne verlassen hat? Und ich frage mich: Bin ich ein Idiot oder ein Prophet?
Der andere Bereich, den Bruder Miklos uns nahebringen soll, ist weniger verkümmert, eher bereit, ergriffen zu werden und nicht aus der Reihe zu tanzen. Er umfaßt eine Übung in Lebensverlängerung, in der Miklos lässig durch Zeit und Raum streift, auf der Suche nach Ideen, die möglicherweise erst lange nach ihm die Welt betraten. Um einen Anfang zu machen — warum soll man sich überhaupt gegen den Tod wehren, fragt er uns. Ist der Tod nicht eine natürliche Sache, eine wünschenswerte Erlösung von der harten Arbeit, ein Ziel, das jeder Gottesfürchtige sich wünschen muß? Der Schädel unter unserem Gesicht erinnert uns daran, daß alle Lebewesen zu ihrer Zeit abtreten müssen, keines bildet eine Ausnahme: Warum dann überhaupt diesem universalen Willen trotzen? Aus Staub bist du geworden, und Staub sollst du wieder werden, was? Alles Fleisch soll miteinander vergehen; wir verschwinden wieder wie ein Staubkorn, und für jedermann muß die Vorstellung schrecklich sein, es existiere etwas, das unauslöschbar ist. Aber was geben wir uns mit solcher Philosophie ab? Wenn es unsere Bestimmung ist abzuleben, muß es dann nicht auch unser Wunsch sein, den Zeitpunkt unseres Todes hinauszuschieben? Miklos’ Fragen sind rhetorisch gemeint. Mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzen wir vor diesem muskelbepackten Berg an Jahren und wagen nicht, den Rhythmus seiner Gedanken zu stören. Er sieht uns an, ohne zu sehen. Was, so fragt er, was, wenn jemand wirklich den Tod auf unbestimmte Zeit zurückdrängen oder ihn zumindest in eine ferne Zukunft verbannen könnte? Natürlich muß man dazu die eigene Gesundheit und Kraft pflegen: Man kann diesen Lohn doch nicht erringen, wenn man ein Klappergestell geworden ist, alt und sabbernd, brabbelnd und rheumatisch, eine museumsreife Ansammlung von Zerfallserscheinungen. Denkt an Tithonus, der die Götter um Erlösung vor dem Tode bat und mit der Unsterblichkeit belohnt wurde, aber nicht mit der ewigen Jugend; grau und verwelkt liegt er in einem versiegelten Raum und wird immer älter, eingeschlossen in der Beengtheit seines vergänglichen und verführten Fleisches. Nein, wir müssen sowohl nach der Langlebigkeit als auch nach Lebenskraft streben.
Und dann gibt es jene, gibt Bruder Miklos zu bedenken, die solche Fragestellungen verachten und sich gegen eine passive Akzeptierung des Todes wehren. Er erinnert uns an Gilgamesch, der vom Tigris zum Euphrat zog, um die dornige Pflanze der Ewigkeit zu suchen und sie an eine hungrige Schlange verlor. Gilgamesch, wohin gehst du? Das Leben, welches du suchst, sollst du nicht finden; denn als die Götter die Menschheit erschufen, versahen sie sie mit dem Tod, aber das Leben selbst behielten sie. Denkt an Lukrez, sagte der Bruder und bemerkte dann, daß es sinnlos sei, der Lebensverlängerung nachzustreben, denn wie viele Jahre man auch durch solche Aktivitäten erringen könne, sie seien nichts im Vergleich zu den Ewigkeiten, die wir als Tote verbringen müßten. Durch die Lebensverlängerung können wir kein Jota von der Dauer unseres Todes abziehen oder abschaben … Wir mögen darum kämpfen und bleiben, aber wenn unsere Zeit gekommen ist, müssen wir gehen, ganz egal, wie viele Generationen wir im Laufe unseres Lebens gesehen haben, uns erwartet der gleiche ewige Tod.
Und Marc Aurel: Auch wenn du dreitausend Jahre lang leben solltest oder genauso viele Jahrzehntausende, denke immer daran, daß kein Mensch ein anderes Leben verlieren kann als sein eigenes … Das längste und das kürzeste Leben laufen auf dasselbe hinaus … alles, was die Ewigkeit betrifft, hat eine Form und dreht sich im Kreis … es spielt überhaupt keine Rolle, ob ein Mensch alles in einhundert oder zweihundert Jahren erfahren kann oder in einer unbegrenzten Zeitspanne. Und von Aristoteles will ich ein Wort im Herzen bewahren: Deshalb befinden sich alle Dinge auf der Erde zu jeder Zeit in einem Stadium des Kreislaufs: Sie entstehen und vergehen wieder … sie können niemals ewig währen, wenn sie gegensätzliche Ideen enthalten.
Soviel Rauheit. Solcher Pessimismus. Akzeptiere es, unterwirf dich, ergib dich, sterbe; sterbe, sterbe, sterbe!
Was sagt die jüdisch-christliche Überlieferung? Der Mensch, der aus einer Frau geboren wurde, hat nur einige Tage zur Verfügung, und diese sind voller Unbilden. Er blüht auf wie eine Blume und wird ebenso abgeschnitten: Er ist nicht mehr als ein Schatten und kann nicht von Dauer sein. Wissen, daß seine Tage vorbestimmt sind, die Zahl seiner Monate begrenzt ist und er beladen ist mit Pflichten, denen er nicht entkommen kann. Die traurige Weisheit des Hiob, die er auf härteste Weise erlangte. Was sagt uns Paulus? Für mich gehört das Leben Christus, und das Sterben ist ein Gewinn. Sollte das Fleisch von Leben erfüllt sein, so hat das für mich den Sinn, fruchtbare Arbeit zu leisten. Und doch weiß ich nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Ich stehe wie gespalten vor beiden Möglichkeiten. Mein Wunsch strebt danach, abzuleben und an der Seite von Christus zu sein, denn das will mir weitaus besser erscheinen. Aber, mahnt Bruder Miklos, müssen wir solche Belehrungen annehmen? (Er gibt uns zu verstehen, daß Paulus, Hiob, Lukrez, Mark Aurel, Gilgamesch allesamt Nachzügler gewesen seien, noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, hoffnungslos postpaläolithisch; und wieder einmal gewährt er uns einen kurzen Einblick in die dunklen Höhlen, als er zu seinem Thema über die auerochsenreiche Zeit des Paläolithikums kommt.) Nun entsteigt Miklos plötzlich diesen Niederungen der Verzweiflung, und über einen weiten Bogen eines Rückkreislaufs befinden wir uns wieder beim Vortrag über die Annalen der Langlebigkeit. All die gewaltigen Namen, die Eli uns in den Wintermonaten dauernd vorbetete, als wir immer tiefer in dieses Abenteuer stürzten, eine lange, einsame, geliebte, ausdauernde Reise, vorbei an Adam und Eva, von Pontius zu Pilatus. Und Miklos zeigt uns die Inseln der Gesegneten, das Land der Hyperboräer, das keltische Land der Jugend, das Land Yima der Perser und sogar Shangri-La. (Wisset, schreit der alte Fuchs, ich war ein Zeitgenosse, ich war dabei!) Und der Bruder schleudert uns Ponce de Leons undichten Brunnen entgegen und Glaukus, den Fischer, der die Kräuter, die am Rand des Sees wachsen, kennt und mit der Unsterblichkeit grün wird. Miklos bedenkt uns mit den Fabeln aus Herodots Werk, den Uttarakurus- und den Jambu-Baum, schüttelt hundert leuchtende Mythen vor unseren verwirrten Ohren, so daß wir aufschreien möchten, Hierher! Komm her, Ewigkeit! und uns vor dem Totenschädel niederknien. Dann wechselt er wieder, führt uns in einen Möbius-Tanz, treibt uns in die Höhlen zurück, läßt uns das Beißen eiskalter Winde spüren, den frostigen Kuß aus dem Pleistozän. Dann packt er uns an den Ohren, dreht uns nach Westen und läßt uns die heiße Sonne sehen, die über Atlantis scheint, schiebt uns weiter auf unserem Weg voran, wir stolpern, wir kriechen, dem Meer entgegen, den Ländern des Sonnenuntergangs entgegen, den untergegangenen Wundern von Atlantis entgegen und daran vorbei, nach Mexiko zu seinen dämonenhaften Göttern, seinen Totenschädel-Göttern, zum boshaften Huitzilopochtli und dem schrecklichen, schlangengleichen Coatlicue, zu den roten Altaren von Tenochtitlan, zum enthäuteten Gott, zu all den Paradoxen vom Leben-im-Tod und Tod-im-Leben, und der gefiederte Schlangengott lacht und schüttelt seinen Klapperschwanz, klick-klick, und wir stehen vor dem Schädel, vor dem Schädel, vor dem Schädel, und ein großer Gong hallt durch unseren Verstand, aus den Labyrinthen in den Pyrenäen, wir trinken das Blut der Ochsen aus Altamira, wir tanzen mit den Mammuts in Lascaux, wir hören die Tambourine der Schamanen, wir knien nieder, wir berühren den Stein mit unserer Stirn, wir reichen Wasser, wir weinen, wir schaudern unter dem Widerhall der Trommeln aus Atlantis, die über dreitausend Meilen Ozean mit der Verzweiflung des unvermeidlichen Untergangs hämmern, und die Sonne steigt auf, und ihr Licht wärmt uns, und der Schädel lächelt, und die Arme öffnen sich, und das Fleisch gewinnt die Oberhand, und die Niederlage des Todes ist offensichtlich, aber damit ist die Stunde auch zu Ende, und Bruder Miklos verschwindet und läßt uns blinzelnd und taumelnd und in Verwirrung zurück; allein; allein, allein, allein. Bis morgen.
Von der Geschichtsstunde aus gehen wir zum Mittagessen. Eier, Brei mit Chili, Bier und dickes, dunkles Brot. Nach dem Essen eine Stunde privater Meditation, jeder in seinem Zimmer, wo wir uns verzweifelt darum bemühen, einen Zusammenhang in all dem zu finden, was man uns in den Kopf geschüttet hat. Dann ertönt der Gong und ruft uns wieder zur Arbeit auf den Feldern. Jetzt hat die Nachmittagshitze ihren Höhepunkt erreicht, und sogar Oliver hält sich zurück: Wir bewegen uns nur langsam, säubern den Hühnerstall, setzen Samen ein und unterstützen die unermüdlichen Farmerbrüder, die fast den ganzen Tag gearbeitet haben. Zwei Stunden vergehen damit; die ganze Bruderschaft arbeitet Seite an Seite, alle bis auf Bruder Antony, der allein im Haus der Schädel bleibt. (Zu einer solchen Zeit sind wir hier angekommen.) Endlich werden wir von der Plackerei erlöst. Verschwitzt und ausgeglüht von der Sonne torkeln wir auf unsere Zimmer, baden ein weiteres Mal und ruhen uns, jeder für sich, aus, bis es Zeit für das Abendessen ist.
Dann eine weitere Mahlzeit. Die übliche Anordnung. Nach dem Abendbrot helfen wir bei den Aufräumungsarbeiten. Kurz vor Sonnenuntergang gehen wir mit Bruder Antony, und an den meisten Abenden begleiten uns vier oder fünf von den anderen Brüdern, zu einem niedrigen Hügel westlich vom Schädelhaus; dort vollführen wir den Ritus des Sonnenatemtrinkens. Dazu muß man sich in einer eigentümlichen und höchst unbequemen Weise mit verschränkten Beinen niederlassen — eine Kombination aus dem Lotussitz und der Stellung des Sprinters beim Start — und direkt in den roten Ball der untergehenden Sonne starren. Und erst in dem Moment, wo wir befürchten, ein Loch in die Netzhaut gebrannt zu bekommen, dürfen wir die Augen schließen und über das Farbspektrum meditieren, das von der Sonnenscheibe zu uns strömt. Wir werden darin unterrichtet, uns darauf zu konzentrieren, dieses Spektrum in unseren Körper fließen zu lassen, den es durch die Lider betritt und das sich dann durch Knochenhöhlen und Nase in Kehle und Brust ausbreitet. Zum Schluß sollen sich die Sonnenstrahlen im Herzen niederlassen und Wärme und Licht erzeugen.
Wenn wir zu echten Adepten geworden sind, sollen wir angeblich in der Lage sein, die eingezogene Strahlung auf jeden Teil des Körpers zu verteilen, der gerade einer besonderen Stärkung bedarf — die Nieren oder die Genitalien oder die Bauchspeicheldrüse oder was auch immer. Die Brüder, die neben uns auf dem Hügel hocken, sind wahrscheinlich gerade in eine solche Verteilung vertieft. Wieviel Wert solch eine Übung hat, kann ich beim besten Willen nicht entscheiden. Wissenschaftlich gesehen, kann ich dabei nicht die Spur eines Nutzens erkennen, aber Eli beharrte schon von Anfang an darauf, daß das Leben mehr zu bieten habe, als die Wissenschaft behauptet, und falls die Techniken der Langlebigkeit hier auf metaphorischen und symbolischen Rückbesinnungen auf den Metabolismus beruhen, die zu empirischen Wechseln im Körpermechanismus führen, dann könnte es für uns von außerordentlicher Wichtigkeit sein, den Sonnenatem zu trinken. Die Brüder zeigen uns nicht ihre Geburtsurkunden; wir müssen uns dieser Operation, wie wir alle wissen, aus purem Glauben unterziehen.
Wenn die Sonne endgültig versunken ist, begeben wir uns in einen der größeren Versammlungsräume, um der letzten Verpflichtung des Tages nachzukommen: der Gymnastiksitzung mit Bruder Bernard. Nach dem Buch der Schädel ist es für die Verlängerung des Lebens von essentieller Bedeutung, den Körper geschmeidig zu halten. Nun, das ist natürlich nichts Neues, aber trotzdem enthält die Technik der Bruderschaft, den Körper geschmeidig zu halten, einen besonderen mystisch-kosmologischen Aspekt. Wir beginnen mit Atemübungen, deren Bedeutung uns Bruder Bernard in seiner üblichen lakonischen Art erklärt hat; sie haben etwas mit der Wiederherstellung der Beziehungen zum Universum der Phänomene zu tun, so daß sich bei einem der Makrokosmos innen und der Mikrokosmos draußen befindet, glaube ich jedenfalls, aber ich hoffe, daß ich nähere Erläuterungen darüber im Verlauf dieser Veranstaltungen bekomme. Außerdem gibt es eine ganze Menge esoterischen Gequatsches, die Entwicklung des „inneren Atems“ betreffend, aber offensichtlich wird es für uns als nicht so dringlich angesehen, das jetzt schon zu verstehen. Nun, wie dem auch sei, wir lassen uns nieder und bemühen uns energisch, den eigenen Körper durchzulüften, pumpen allen Unrat aus unseren Lungen und saugen gute, saubere, von den Geistern gebilligte Nachtluft ein; nach einer langen Periode des vollen Ein- und Ausatmens machen wir weiter mit Übungen zum Luftanhalten, die uns begeistern und schwindlig machen, bis wir zu befremdlichen Atemtransportmanövern kommen, durch die wir lernen sollen, unsere eingeatmete Luft zu allen möglichen Teilen unseres Körpers zu dirigieren, ganz ähnlich dem, was wir vorher mit dem Sonnenlicht gemacht haben. Das ist ganz schön anstrengend, aber die Durchlüftung beschert einem ein Gefühl unbeschwerten Glücks: Unser Kopf fühlt sich ganz beschwingt an, wir werden optimistisch und versichern uns gegenseitig wie selbstverständlich, daß wir auf dem richtigen Weg zum ewigen Leben sind. Vielleicht sind wir das auch, wenn Sauerstoff Leben und Kohlendioxid Tod bedeutet.
Sobald Bruder Bernard zu dem Schluß kommt, daß wir uns in ein Stadium der göttlichen Gnade geatmet haben, fangen wir mit dem Winden und Krümmen an. Diese Übungen ändern sich jeden Abend, als verfüge der Bruder über ein unbegrenztes Repertoire, das sich über tausend Jahrhunderte entwickelt hat. Setzt euch mit übereinandergeschlagenen Beinen hin, die Hacken auf dem Boden, verhakt die Hände über dem Kopf und berührt mit den Ellenbogen fünfmal rasch den Boden. (Au!) Berührt mit der linken Hand das linke Knie, hebt die rechte Hand über den Kopf und atmet zehnmal tief ein. Wiederholt das Ganze mit der rechten Hand zum rechten Knie, linke Hand nach oben. Jetzt beide Hände hoch über den Kopf, schreit und laßt dabei den Kopf nach oben schnellen, bis ihr hinter geschlossenen Augen Sterne sehen könnt. Steht auf, legt die Hände an die Hüften, dreht euch heftig zur Seite, bis der Rumpf in einem Neunzig-Grad-Winkel gebogen ist, erst nach links, dann nach rechts. Steht auf einem Bein und hebt das Knie des anderen ans Kinn. Hüpft herum wie von der Tarantel gestochen. Und so weiter, noch viele Sachen, für die wir im Moment noch nicht gelenkig genug sind: Fuß um den Kopf wickeln, Arme nach innen beugen, mit übereinandergeschlagenen Beinen aufstehen und wieder hinsetzen. Wir geben unser Bestes, was allerdings in Bruder Bernards Augen nie gut genug ist; wortlos gemahnt er uns durch die Geschmeidigkeit seiner eigenen Bewegung an das große Ziel, auf das wir zustreben. Ich bin darauf vorbereitet, daß wir eines Tages lernen, zum Gewinn des ewigen Lebens sei es absolut notwendig, die Kunst zu beherrschen, den eigenen Ellenbogen in den Mund zu stecken; wenn du das nicht kannst, ist das aber bitter, Junge, und du bist dazu verdammt, am Wegesrand zu vertrocknen.
Bruder Bernard läßt uns bis zum Rand der Erschöpfung schuften. Er selbst macht jede Übung mit, die er von uns verlangt, läßt keine einzige Biegung oder Beugung aus und zeigt bei seinen Verrenkungen keinerlei Überanstrengung. Unser Bester bei diesen Leibesübungen ist Oliver, unser schlechtester Eli; dennoch geht Eli mit einem erschreckenden plumpen Enthusiasmus an die Sache, den man nur noch bewundern kann.
Endlich werden wir entlassen, gewöhnlich liegen neunzig Minuten Anstrengung hinter uns. Für den Rest des Abends haben wir Freizeit, aber von dieser Freiheit machen wir keinen Gebrauch; zu diesem Zeitpunkt können wir nur noch ins Bett fallen, was wir auch tun, denn allzubald schon werden das Morgengrauen und Bruder Franz mit seinem herzlichen rat-tat-tat an die Tür kommen. Deshalb wird jetzt zu Bett gegangen. Ich schlafe tief, so tief wie noch nie zuvor.
So läuft unsere tägliche Routine ab. Was hat das alles zu bedeuten? Verjüngen wir uns hier? Werden wir hier älter? Wird das leuchtende Versprechen des Schädelbuches für einige von uns erfüllt werden? Ergibt irgend etwas von dem, was wir jeden Tag machen, einen Sinn? Die Totenschädel an den Wänden geben mir keine Antwort. Das Lächeln der Brüder ist undurchdringlich. Wir diskutieren nicht untereinander. Während ich noch in meinem asketischen Zimmer herumlaufe, höre ich den paläolithischen Gong in meinem eigenen Kopf: klang, klang, klang, wart’s ab, wart’s ab. Und wie ein Damoklesschwert hängt das Neunte Mysterium über uns.