Wie fremdartig die Welt doch in dieser Ecke aussieht: Texas, New Mexico. Eine Mondlandschaft. Warum hat sich überhaupt jemand gefunden, der sich in diesem Landstrich niederlassen wollte? Weite braune Plateaus, kein Gras, nur verdrehte, struppige, schmierige graugrüne Pflanzen. Kahle, purpurfarbene Berge, zackig und scharf ragen sie am herben, blauen Horizont wie erodierte Zähne hoch. Ich dachte immer, die Berge im Westen seien höher, als das hier zu sehen war. Timothy, der schon überall gewesen ist, erklärt, daß die wirklich hohen Berge in Colorado, Utah und Kalifornien stehen; diese hier seien nur Hügel, so fünfzehnhundert bis zweitausend Meter hoch. Das verwunderte mich; denn der höchste Berg östlich des Mississippi ist der Mount Mitchell in North Carolina, und der ist 2037 Meter hoch. Deswegen habe ich einmal eine Wette verloren, als ich zehn war, und ich werde es nie vergessen. Der höchste Berg, den ich vor dieser Reise je gesehen hatte, war der Mount Washington in New Hampshire, knapp 2000 Meter hoch. Meine Eltern hatten mich dorthin mitgenommen in jenem Jahr, in dem wir nicht in die Catskills gefahren waren. (Ich hatte damals gewettet, der Mount Washington sei der höchste, und hatte falsch gelegen.) All die Berge hier sind fast genauso hoch und sollen nur Hügel sein. Der Mount Washington erhob sich damals wie ein Riesenbaum in den Himmel, als sei er bereit, herabzustürzen und mich zu zerschmettern. Natürlich hat man hier eine viel weitere Aussicht, die Landschaft ist nach allen Seiten offen. Hier wird sogar ein Berg in dieser immensen Aussicht zum Zwerg.
Die Luft ist klar und frisch, der Himmel unvergleichlich blau und wolkenleer. Dies ist das Land der Apokalypse: Ich bin bereit, irgendwo aus den „Hügeln“ den Schall von Trompeten zu hören. Und wunderbar wird der Klang von Trompeten hervorströmen, durch die Gräber der Erde erklingen, um vorzubereiten die Ankunft des Herrn. Jawohl. Und der Tod wird gelähmt sein. Dreißig, vierzig Meilen trennen hier die Städte voneinander, und wir sehen nur Kaninchen, Rehe und Eichhörnchen. Die Städte selbst wirken neu: Tankstellen, Motels in Reih und Glied, kleine viereckige Aluminiumhäuser, die so aussehen, als könne man sie an einen Wagen hängen und mit ihnen woanders hinfahren. (Wahrscheinlich ist das sogar möglich.) Außerdem sind wir an zwei Pueblos vorbeigekommen, sechs- oder siebenhundert Jahre alt, und wir werden mehr zu sehen bekommen. Die Vorstellung, aufrichtige Indianer zu treffen, die einfach so überall in der Gegend herumspazieren, sprengt meinen manhattanbeeinflußten Verstand. In den Technicolor-Filmen, die ich jahrelang jeden Samstagnachmittag in den Kinos der Dreiundsiebzigsten Straße und am Broadway sah, gab es Indianer in Hülle und Fülle. Aber die beeindruckten mich nicht, und in meiner coolen Kinderweisheit wußte ich, daß es sich bei ihnen nur um Puertoricaner oder vielleicht Mexikaner handelte, die man mit Federn herausgeputzt hatte. Wirkliche Indianer waren Schnee aus dem neunzehnten Jahrhundert, sie waren alle ausgestorben vor langer Zeit, keiner war mehr übriggeblieben, außer dem auf dem Fünf-Cent-Stück, mit dem Büffel auf der Rückseite. Und wann hat man eigentlich zum letztenmal so ein Fünf-Cent-Stück gesehen? (Wann hat man zum letztenmal einen Büffel gesehen?) Indianer waren archaisch, Indianer waren ausgestorben. Ich persönlich stellte die Indianer in eine Reihe mit den Mastodons, dem Tyrannosaurus Rex, den Sumerern und den Karthagern. Aber jetzt bin ich im Wilden Westen, zum erstenmal in meinem Leben, und der plattgesichtige, lederfarbene Mann, der uns mittags das Bier im Laden verkaufte, war ein Indianer, der rundliche, dicke Junge, der uns den Tank füllte, war ein Indianer; und diese elenden Hütten, die auf der anderen Seite des Rio Grande stehen, werden von Indianern bewohnt, obwohl man über den Luftziegeldächern einen Wald von Fernsehantennen sehen kann. Guck mal, Indianer, Dick! Mensch da, die riesigen Kakteen! Da, Jane, sieh, der Indianer fährt einen Volkswagen! Sieh nur, wie scharf Ned den Indianer überholt! Hör nur, wie der Indianer hupt!
Ich glaube, unser Engagement für dieses Abenteuer ist wieder gestiegen, seit wir den Rand der Wüste erreicht haben. Zumindest bei mir ist das so. Dieser fürchterliche Tag der Zweifel, an dem wir durch Missouri gefahren sind, scheint jetzt so weit zurückzuliegen wie die Dinosaurier. Ich weiß jetzt (Woher weiß ich das? Wieso kann ich so etwas sagen?), daß das, was wir im Ödland Arizonas zu finden hoffen, wahr ist, und daß wir, wenn wir nur standhaft bleiben, dafür mit dem belohnt werden, was wir erstreben. Oliver weiß das auch. Eine unheimliche, verrückte Beharrlichkeit ist in den letzten paar Tagen in ihm erwacht. Natürlich steckte diese Tendenz zur Zwangsvorstellung schon immer in ihm, aber er hat zunächst einmal gut daran getan, sie zu verbergen. Jetzt sitzt er zehn bis zwölf Stunden täglich am Steuer, muß gewaltsam am Weiterfahren gehindert werden und macht nur allzu deutlich, daß ihm nichts wichtiger ist, als unser Ziel zu erreichen und uns den Vorschriften der Hüter der Schädel zu unterwerfen. Sogar unsere ungläubigen Thomasse finden ihren Glauben wieder. Ned treibt zwischen völliger Zustimmung und totaler Ablehnung hin und her, wie immer. Und oft genug bezieht er beide Positionen gleichzeitig; er verhöhnt uns, stichelt uns, und trotzdem studiert er Landkarten und Entfernungsangaben, als hätte ihn ebenso die Ungeduld gepackt. Ned ist der einzige Mensch, den ich kenne, der fähig ist, einen Morgengottesdienst zu besuchen und um Mitternacht eine Schwarze Messe, und der trotzdem keinen Widersinn darin sieht, seine Sympathien auf beide Messen gleich zu verteilen. Timothy bleibt weiterhin neutral, der brillante Spötter, er verwahrt sich dagegen, daß er seine entrückten Freunde nur verarscht, indem er an dieser Pilgerfahrt teilnimmt — aber wieviel von seinem Gehabe mag nur Oberfläche sein, ist Zurschaustellung aristokratischer Gelassenheit? Wahrscheinlich mehr, als man ahnt, glaube ich. Timothy hat weniger Anlaß als der Rest von uns, metaphysischen Lebensverlängerungen nachzulaufen, denn sein eigenes Leben bietet ihm, so wie es jetzt eingerichtet ist, eine unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten — seine finanziellen Quellen bieten ihm genau das, was man von ihnen erwartet. Aber Geld ist nicht alles, und man kann damit auch nicht die Lebenserwartung von siebzig Jahren überschreiten, selbst wenn man Fort Knox geerbt hat. Ihn lockt die Vision vom Haus der Schädel, glaube ich. Er ist scharf darauf.
Sobald wir unser Ziel erreichen, morgen oder übermorgen, werden wir, so glaube ich, zu der zusammenstehenden Vierergemeinschaft verwachsen sein, die das Buch der Schädel einen Fruchtboden nennt, was soviel wie eine Gruppe von Kandidaten bedeutet. Ich hoffe es jedenfalls. War doch im letzten Jahr — oder? —, als soviel Wind über diese Studenten aus dem Mittelwesten gemacht wurde, die einen Selbstmordbund geschlossen hatten? Ja. Ein Fruchtboden kann als philosophische Antithese zum Selbstmordbund angesehen werden. Beide stellen eine Manifestation von Fremdartigkeit gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft dar. Ich verabscheue die Ekelhaftigkeit eurer Welt ganz und gar, sagte das Mitglied des Selbstmordbundes; deshalb entscheide ich mich für den Tod. Ich verabscheue die Ekelhaftigkeit eurer Welt ganz und gar, sagt das Mitglied des Fruchtbodens; deshalb entscheide ich mich, nie zu sterben, in der Hoffnung, einmal bessere Zeiten zu sehen.