Oliver sagte: „Das war damals, an jenem Tag, Anfang September, als mein Freund Karl und ich auf die Jagd gingen, nur wir zwei. Wir suchten den ganzen Morgen im struppigen Unterholz nördlich der Stadt nach Tauben und Rebhühnern, aber wir fanden nur Staub. Dann traten wir aus dem Wald heraus und sahen vor uns einen See, eigentlich war es mehr ein Weiher, und uns war heiß, und wir schwitzten, denn noch war der Sommer nicht vorbei. Also haben wir unsere Gewehre abgelegt und unsere Kleider auch und sind baden gegangen. Später saßen wir nackt auf einem großen, flachen Stein, ließen uns trocknen und hofften, daß einige Vögel vorbeifliegen würden, so daß wir sie ohne aufzustehen abschießen konnten — paff. Karl war damals fünfzehn und ich vierzehn. Ich war größer als er, weil ich schon voll ausgewachsen war, und im Frühjahr hatte ich ihn überholt. Karl war mir noch vor wenigen Jahren so reif und groß erschienen, aber jetzt wirkte er neben mir klein und schmächtig. Lange Zeit sprachen wir auf dem Felsen kein Wort, und dann, als ich gerade daran dachte vorzuschlagen, wir sollten uns anziehen und weitergehen, da drehte Karl sich zu mir hin, und er hatte einen eigentümlichen Blick in den Augen. Ich bemerkte, daß er meinen Körper betrachtete, und da besonders die Leistengegend. Und dann sagte Karl etwas über Mädchen, wie doof sie seien, was sie für dämliche Geräusche machten, wenn man sie bumste, wie satt er es habe, ihnen jedesmal zärtliche Sachen sagen zu müssen, bevor sie einen ranließen, wie sehr ihn ihre trägen, schlaffen Titten langweilen, ihr Make-up, ihr Gekichere, wie sehr es ihn auf die Palme brachte, ihnen eine Cola kaufen zu müssen, ihrem Getratsche zuzuhören und so weiter. Ich lachte und sagte: ‚Nun, Mädchen haben ihre Macken, aber ohne läuft die Chose nicht, oder?’ Und Karl sagte: ‚Nein, das stimmt nicht.’
In diesem Moment war ich noch sicher, er wollte mich auf den Arm nehmen, und sagte deshalb: ‚Ich hatte noch nie großes Verlangen, Kühe oder Schafe zu ficken, Karl. Oder vielleicht bist du auch gerade dabei, es mit Enten zu treiben.’ Karl schüttelte den Kopf und machte einen unwilligen Eindruck. ‚Ich rede nicht davon, Tiere zu ficken’, sagte er in einem Tonfall, in dem man sonst zu kleinen Kindern spricht. ‚So ein Scheiß ist ja nur was für Beknackte. Ich versuche dir nur zu erklären’, sagte er, ‚daß es eine Möglichkeit gibt, sich ein Vergnügen zu bereiten, die gut und sauber ist, und man braucht keine Weiber dazu. Man muß sich dabei nicht bei den Weibern einschleimen und den ganzen Scheiß machen, den sie von einem verlangen. Weißt du nicht, was ich meine? Es ist eine einfache, eine ehrliche, eine saubere Sache, alle Karten liegen auf dem Tisch. Und jetzt möchte ich dir mal was erklären, und verdamme es nicht, bevor du es nicht ausprobiert hast.’ Ich wußte noch immer nicht, was er wollte, teils, weil ich noch zu naiv war, und teils, weil ich nicht wahrhaben wollte, daß er das meinte, was ich glaubte, er meine es. Ich grunzte unverbindlich, was Karl fälschlicherweise so verstand, er solle fortfahren; denn er streckte die Hand aus und legte sie auf meinen Körper, ziemlich weit oben auf dem Oberschenkel. ‚He, Moment mal’, sagte ich. Und er sagte: ‚Verdamme es nicht, bevor du es nicht ausprobiert hast, Oliver.’ Er redete mit leiser, eindringlicher Stimme weiter, die Worte purzelten nur so aus ihm heraus, und er erklärte mir, daß Weiber eigentlich nur Tiere seien, und er wolle sich sein Leben lang von ihnen fernhalten. Und selbst wenn er heiratete, würde er seine Frau nie anpacken, außer, um Kinder zu machen. Auf der anderen Seite hoffte er, daß er, solange seine Leidenschaft anhalte, er diese streng auf der Basis der Männerbeziehung halten wolle, denn das sei ehrlich und richtig. ‚Du gehst mit Männern auf die Jagd’, sagte er, ‚du spielst mit Männern Karten, du besäufst dich mit Männern, du redest mit Männern über Sachen, über die du mit Frauen nie reden würdest; Männern gegenüber kannst du wirklich deine Seele öffnen, warum nicht auch mit Männern Sex machen?’
Und so erklärte er mir die ganze Sache, sprach sehr schnell und gab mir nie die Gelegenheit, auch nur ein Wort einzuwerfen; so wie er es erklärte, schien es vernünftig und logisch zu sein. Seine Hand lag auf mir, lag in einer kaum mehr zweideutigen Weise auf meinem Oberschenkel, so wie man vielleicht jemandem die Hand auf die Schulter legt, während man ihm etwas erklärt, ohne sich bei dieser Berührung etwas zu denken. Und Karl ließ die Hand rauf und runter fahren, rauf und runter, und redete immer noch wie ein Wasserfall, während die Hand meinem Schwanz immer näher kam. Und der Schwanz wurde hart, Eli, und ich wurde geil, Eli. Das war es ja, was mich so verwunderte, daß ich geil wurde. Er wurde hart. Über uns ein wolkenloser blauer Himmel, und kein Mensch im Umkreis von fünf Meilen. Ich wagte es nicht, an mir hinabzublicken, so sehr schämte ich mich dessen, von dem ich wußte, daß es sich dort unten tat. Das war wie eine Offenbarung für mich, daß ein anderer Junge mich so scharf machen konnte. ‚Laß es uns nur einmal probieren’, sagte Karl, ‚nur einmal. Und wenn es dir nicht gefällt, Oliver, werde ich dich mit diesem Thema nie mehr belästigen. Aber du darfst es nicht verdammen, bevor du es nicht ausprobiert hast, verstehst du?’ Ich wußte nicht, was ich ihm darauf antworten sollte, und ich wußte nicht, wie ich ihn dazu bewegen sollte, seine Hand von mir zu nehmen. Schließlich ruckte die Hand noch weiter nach oben, hoch und noch höher, und — sieh mal, Eli, ich meine, ich will nicht zu deutlich werden, sollte dich dieses Thema verlegen machen, dann brauchst du das nur zu sagen …“
„Sag es so, wie du meinst, es sagen zu müssen, Oliver.“
„Seine Hand fuhr höher und höher, bis sie sich fest um meinen … um meinen Schwanz schloß, Eli, er packte wirklich meinen Penis, hielt mich da so, wie das Mädchen machen. Und wir beide lagen nackt an diesem kleinen See, in dem wir eben noch geschwommen hatten, am Waldrand. Und seine Worte strömten durch meinen Kopf, während er mir erklärte, daß auch wir beide es miteinander machen könnten. ‚Ich kenne mich da aus’, sagte er. ‚Mein Schwager hat mir das beigebracht. Du mußt wissen, er haßt meine Schwester. Sie sind erst drei Jahre verheiratet, und schon kann er sie nicht ausstehen, wie sie riecht, wie sie sich dauernd die Nägel feilt, alles an ihr. Und eines Abends hat er zu mir gesagt, laß mich dir mal was Tolles zeigen, Karl. Und er hatte recht, es war wirklich toll. Also, laß mich dir auch etwas Tolles zeigen, Oliver. Und danach sagst du mir, was dir besser gefallen hat, mein Weg oder der von Christa Henrichs, meiner oder der von Judy Beecher.’“
Im Zimmer roch es streng nach Schweiß. Olivers Sprechweise war abgehackt und scharf; jede Silbe wurde mit der Wucht eines Wurfpfeils herausgestoßen. Seine Augen glänzten, das Gesicht war verzerrt. Er schien in einer Art Trance zu sein. Wenn das da vor mir nicht Oliver gewesen wäre, hätte ich geglaubt, er sei stoned. Dieses Bekenntnis schien ihn ungeheuer viel inneren Schweiß zu kosten; das war schon von dem Moment an klar gewesen, als er hereingekommen war: zusammengepreßte Kiefer, verschlossene Lippen, und er hatte auf erschreckende Weise aufgewühlt gewirkt, wie ich ihn vorher nur selten gesehen hatte. Planlos und zögernd hatte er von dieser Spätsommer-Geschichte in den Wäldern von Kansas, als er noch ein Junge war, zu reden begonnen. Als die Geschichte im Fluß war, hatte ich versucht, ihren Verlauf vorauszusehen und ihr Ende zu erraten. Ich vermutete, daß er Karl offensichtlich hereingelegt hatte. Hatte er Karl die Freundschaft aufgekündigt? Oder hatte er ihm Munition geklaut, als Karl ihm gerade den Rücken zuwandte? Hatte er Karl nach einem Streit erschossen und dem Sheriff erzählt, es sei ein Unfall gewesen? Aber keine von diesen Möglichkeiten schien mir überzeugend. Auf den eigentlichen Verlauf seiner Erzählung war ich nicht vorbereitet: die wandernde Hand, die geschickte Verführung. Der ländliche Background — Gewehre, wilde Spiele, Wälder hatte mich zu falschen Schlüssen verleitet. Meine einfältige Vorstellung vom Aufwachsen in Kansas hatte keinen Platz für homosexuelle Abenteuer und andere Sachen, die für mich eigentlich ein Merkmal städtischer Dekadenz waren. Aber hier war Karl, der kräftige Jägersmann, der sich den unschuldigen jungen Oliver packte, und hier war auch ein älterer Oliver, der sich vor mir wand und nach den richtigen Worten aus seinem Innern suchte. Die Wortwahl wurde weniger krampfhaft; Oliver ließ sich vom Fluß seiner eigenen Erzählung mitreißen. Und obwohl seine Pein nicht nachließ, wurde die Geschichte farbiger, als hätte er den masochistischen Ehrgeiz, mir diese Episode zu eröffnen. Unerbittlich rollte die Geschichte voran, nach Olivers Gusto mit Details verziert. Er beschrieb mir seine jungfrauenhafte Schüchternheit, sein Unwohlsein, sein stufenweises Unterliegen vor Karls ernstgemeinten Spitzfindigkeiten, der kritische Moment, als seine unsichere Hand endlich Karls Körper erreicht hatte. Oliver verheimlichte mir nichts. Ich hörte, daß Karl nicht beschnitten war, und für den Fall, daß ich mit solchen anatomischen Besonderheiten nicht vertraut gewesen wäre, erklärte mir Oliver die Erscheinungsform eines unbeschnittenen Glieds im erschlafften und im erigierten Zustand. Er erzählte mir auch von den manuellen Liebkosungen und seiner Einführung in orale Vergnügungen. Schließlich vermittelte er mir dann eine ausführliche Beschreibung von zwei jungen, kräftigen, männlichen Körpern, die sich bis zur Kopulation am Rande des Weihers wälzten. Biblische Furcht beherrschte seine Worte: Er hatte etwas Abscheuliches getan, er hatte sich mit den Sünden Sodoms besudelt, er hatte sich bis in die siebte Generation hinein verdorben, und das alles an dem einen Nachmittag mit seinem knabenhaften Vergnügen. „Schon gut“, wollte ich sagen, „schon gut, Oliver, also hast du es mit deinem Freund gemacht, warum denn so eine große Megillah daraus machen? Im Grunde deines Wesens bist du doch immer noch ein Hetero, oder? Jeder stellt doch mit anderen Jungen in seiner Jugend irgendeinen Blödsinn an, und schon Kinsey hat vor langer Zeit gesagt, daß von drei Männern mindestens einer in seiner Jugend einen Orgasmus mit einem …“ Aber ich sagte kein Wort. Dies war Olivers große Stunde, und ich wollte ihm nicht dazwischenpfuschen. Dies war sein großes Trauma, dies war der fieberäugige Dämon, der ihn plagte, und er ließ alles heraus, um von mir inspiziert zu werden. Er stand jetzt vor einem kritischen Moment. Prächtig ausstaffiert, führte mich seine Erzählung zum schlußendlichen Orgasmus. Dann setzte er sich zurück, verbraucht, verstört, das Gesicht erschlafft, die Augen stumpf. Vermutlich wartete er auf meinen Urteilsspruch. Was sollte ich ihm sagen? Wie konnte ich ihn verurteilen? Ich sagte nichts.
„Was geschah danach?“ fragte ich schließlich.
„Wir sind schwimmen gegangen, haben uns gesäubert, angezogen und sind auf die Jagd nach wilden Enten gegangen.“
„Nein, ich meine mit danach, was aus Karl und dir geworden ist.“
„Auf dem Weg zurück zur Stadt“, sagte Oliver, „erklärte ich Karl, daß, falls er mir nochmals in dieser Weise zu nahe treten würde, ich ihm seinen verdammten Schädel einschlagen würde.“
„Und?“
„Er ist mir nie mehr zu nahe getreten. Ein Jahr später fälschte er sein Alter, trat bei den Marines ein und kam in Vietnam um.“ Oliver sah mich abwartend an, offensichtlich erwartete er eine weitere Frage, eine, von der er sicher war, daß sie unausweichlich von mir gestellt würde. Aber ich hatte keine Fragen mehr. Die blanke Unlogik, die Irrelevanz von Karls Tod hatte für meinen Geschmack den Fluß der Erzählung unterbrochen. Es folgte eine lange Pause. Ich kam mir blöd vor und wußte nichts zu sagen. Dann sagte Oliver: „Das war das einzige Mal in meinem Leben, daß ich überhaupt eine Erfahrung mit Schwulen gemacht habe. Absolut das einzige Mal. Du glaubst mir doch, Eli, oder?“
„Natürlich glaube ich dir.“
„Das ist auch gut so. Denn es ist die reine Wahrheit. Es gab nur dieses Mal mit Karl, als ich vierzehn war, und das war alles. Weißt du, ein Beweggrund für mich zuzustimmen, daß ein Schwuler bei uns einzog, war der eines Tests, um festzustellen, ob ich dadurch noch erregt würde, wohin meine eigentlichen Neigungen tendieren, um herauszubekommen, ob das, was ich an jenem Tag mit Karl tat, nur ein einmaliges Vorkommen war, ein Zufall, oder ob es mir wieder passieren könnte, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab. Nun, die Gelegenheit war natürlich da. Aber ich weiß genau, daß du weißt, daß ich es nie mit Ned getrieben habe. Das weißt du doch, oder? Die Frage einer körperlichen Beziehung ist einfach nie zwischen Ned und mir aufgekommen.“
„Natürlich.“
Seine Augen starrten mich wieder wild an.
Er sagte: „Es gibt höchstens noch eines, was ich zu sagen hätte.“
„Dann schieß los, Oliver.“
„Nur eines, eine Fußnote. Aber sie beinhaltet das Wesentliche an dieser Geschichte, weil sie die Schuld in mir lokalisiert. Schuld hat mit dem, was ich tat, nichts zu tun, Eli. Sie liegt darin begründet, was ich dabei gefühlt habe.“ Er kicherte nervös. Und wieder eine Pause. Er wandte seinen Blick von mir ab. Ich glaube, er wünschte sich, ganz allein gelassen zu werden und diese Beichte schon vor fünf Minuten beendet zu haben. Nach etlichen Minuten sagte er: „Ich werde es dir erzählen. Es hat mir Spaß gemacht, Eli, mit Karl. Es war wirklich super. Mein ganzer Körper schien dabei aufzubrechen. Es ist vielleicht das großartigste Erlebnis meines Lebens gewesen. Ich habe es nie ein zweites Mal probiert, weil ich wußte, daß so etwas falsch ist. Aber ich wollte es immer. Ich will es immer noch. Ich wollte es immer.“ Er zuckte. „In jeder Sekunde meines Lebens mußte ich dagegen ankämpfen, und erst vor kurzem ist mir klar geworden, wie stark ich eigentlich dagegen ankämpfen muß. Das ist alles. Das ist die ganze Geschichte, Eli, bitte sehr. Und mehr habe ich nicht zu sagen.“