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Der Canton Market war in Texas seit 1850 Tradition. An jedem Wochenende vor dem ersten Montag des Monats versammelten sich Kaufleute, Sammler, Flohmarkthändler und Schaulustige aus einem Umkreis von mehreren hundert Meilen, um drei Tage lang um allen möglichen Krimskrams zu feilschen. Diese alte, tief verwurzelte Tradition war mittlerweile natürlich vollständig von den Prolonomaden vereinnahmt.

Oscar, Greta und Kevin fanden sich als Teil einer Autoschlange wieder, die sich der Behelfssiedlung näherte. In Kevins gemieteter Schrottkarre fügten sie sich unauffällig in den Verkehr ein: Tankwagen, Sattelschlepper, Zigeunerwohnwagen, winterlich vermummte Tramper am Straßenrand.

Oscar war zu Greta auf den Rücksitz geklettert, damit sie gegenseitig ihre Verletzungen versorgen konnten. Gretas Hände waren noch immer gefesselt, und Oscars Kopfwunde war gerade so eben verschorft. Sie saßen nebeneinander, während Kevin ein am Straßenrand erstandenes Sandwich mampfte und die beschlagene Windschutzscheibe freiwischte.

Gegenseitig ihre Verletzungen zu versorgen, war ein langwieriger, intimer Vorgang. Er umfasste das zärtliche Aufknöpfen von Hemden, vor jähem Schmerz angehaltenen Atem, mitfühlendes Zungeschnalzen und das extrasanfte Abtupfen mit antiseptischen Salben. Sie hatten beide so viel eingesteckt, dass sie unter normalen Umstände medizinische Versorgung und ein paar Tage Ruhe gebraucht hätten.

Vom Betäubungsgas hatten sie Schwindel und Kopfschmerzen zurückbehalten, die sich mit Schläfen- und Stirnmassage und behutsamen Küssen nur teilweise kurieren ließen.

Greta nahm ihre Schmerzen mit stoischer Gelassenheit hin. Sie nötigte ihm ihre persönliche Katerkur auf: sechs Aspirin, vier Acetaminophen, drei gehäufte Löffel Zucker und vierzig Mikrogramm rezeptfreie Lysergsäure. Sie ließ sich nicht davon abbringen, dass diese Mischung sie wieder ›aufpeppen‹ würde.

Gegen Abend bogen sie vom verstopften Highway ab und rasten über einen obskuren Feldweg Richtung Osten. Nach einer Weile hielten sie an und warteten. Binnen Stundenfrist stieß Yosh Pelicanos zu ihnen, der einen Mietwagen mit Satellitennavigation fuhr.

Pelicanos hatte an alles gedacht. Er hatte Laptops, Geldkarten, einen Verbandskasten, zwei Koffer voller Kleider, Spraypistolen aus Plastik, neue Telefone und nicht zuletzt einen nagelneuen Bolzenschneider von einem Meter Länge mitgebracht.

Kevin verfügte über die größte Erfahrung mit Polizeifesseln. Daher machte er sich mit dem Bolzenschneider an Gretas Handfesseln zu schaffen, während sich Oscar in Pelicanos’ geräumigem und piekfeinem Mietwagen umzog.

»Ihr seht aus wie Zombies. Ihr wisst hoffentlich, was ihr tut«, sagte Pelicanos düster. »Im Labor ist die Hölle los.«

»Wie wird unser Team mit der Krise fertig?« fragte Oscar, sich vorsichtig das Haar von der Platzwunde über dem Ohr abrasierend.

»Also, ein paar sind beim Streikkomitee, andere haben sich im Hotel eingeigelt. Wir können das Labor noch ungehindert betreten und verlassen, aber das wird nicht so bleiben. Die Laborpolizei wird versuchen, den Streik zu brechen. Die Polizei von Buna und die County-Sheriffs treiben sich am Hotel herum, und Gretas Komitee traut sich nicht, den Hochsicherheitstrakt zu verlassen… Die haben uns ganz schön am Wickel, Oscar. Unsere Leute sind völlig konfus. Es geht das Gerücht, ihr wärt Kriminelle, ihr hättet uns im Stich gelassen. Die Moral ist unter dem Nullpunkt.«

»Und wie hat die üble Nachrede eingeschlagen?«

»Also, dass ihr euch abgesetzt habt, das hat Wirkung gezeigt. Wenn’s um Sex geht, ist das ja auch nicht anders zu erwarten. Ich meine, im Grunde haben wir mit dem Outing doch ständig gerechnet. Es sind Fotos im Umlauf, die dich und Greta in dieser Bruchbude in Holly Beach zeigen.«

»Die Staatspolizei von Louisiana hat uns fotografiert«, seufzte Oscar. »Ich hab’s geahnt.«

»Der Sex-Skandal ist noch nicht bis in die seriöse Presse vorgedrungen. Ich hatte Dutzende von Anrufen, aber die Reporter können die Story nicht bestätigen. Das ist eine typische Sexgeschichte. Im Labor nimmt das niemand ernst. In Buna weiß bereits jeder, dass du mit Greta schläfst. Nein, der Veruntreuungsvorwurf wiegt da schon schwerer. Das ist todernst. Das Geld ist nämlich wirklich weg.«

»Wie viel hat er gestohlen?« fragte Oscar.

»Alles! Das Labor ist pleite. Das ist schlimm. Mehr als nur schlimm. Das geht über einen finanziellen Bankrott weit hinaus, denn auch sämtliche gespeicherten Daten sind zerstört. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Selbst die Backups wurden unlesbar gemacht. Das Computersystem kann nicht mal mehr addieren, es kann nicht updaten, es spuckt bloß Unsinn aus. Das ist die totale finanzielle Lobotomie.«

»Amerikanische Infokriegsviren«, meinte Oscar. »Die Huey im Luftwaffenstützpunkt erbeutet hat.«

»Klar, das musste was Militärisches sein.« Pelicanos nickte. »Damit wurden schon Regierungen gestürzt. Die Laborcomputer hatten keine Chance.«

»Wie lange wird es dauern, bis sie wieder laufen?«

»Das soll wohl ein Scherz sein. Kann ich etwa zaubern?« Pelicanos war ernstlich verletzt. »Ich bin bloß der Buchhalter! Ich kann doch nicht den Schaden reparieren, der bei einem militärischen Netzangriff entstanden ist! Außerdem glaube ich, dass ich überwacht wurde. Jede einzelne Datei, die ich in den vergangenen Monaten geöffnet habe, wurde ganz gezielt zerstört. Ich glaube, die haben sogar meinen Laptop angezapft – haben irgendwas eingebaut. Ich kann meinem persönlichen Rechner nicht mehr trauen. Nicht mal mehr auf meine gespeicherten Daten ist Verlass.«

»Na schön, Yosh, ich hab’s kapiert, das fällt nicht in dein Fach. Aber wer kennt sich damit aus? Wer kann uns helfen?«

Pelicanos überlegte angestrengt. »Also, zunächst einmal brauchst du ein großes Spezialistenteam von Computerforensikern, die den beschädigten Programmcode Zeile für Zeile durchgehen… Nein, vergiss es. Die Schäden aufzuspüren und zu lokalisieren würde Jahre dauern. Das würde ein Vermögen kosten. Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht, die Labordateien können wir abschreiben, die sind verloren. Billiger wäre es, das ganze Computersystem von einer Klippe ins Meer zu schmeißen und ganz von vorn anzufangen.«

»Ich glaube, jetzt hab ich’s begriffen«, sagte Oscar. »Huey hat die Laborfinanzen irreparabel geschädigt. Er hat ein staatliches Labor mit einer Netzattacke ruiniert, bloß um seine Leute vom Korruptionsverdacht reinzuwaschen. Das ist ungeheuerlich. Das ist entsetzlich. Der Mann hat kein Gewissen. Also, zumindest wissen wir jetzt, woran wir sind.«

Pelicanos seufzte. »Nein, Oscar, es ist noch viel, viel schlimmer. Die Leute von den Spin-offs sind seit jeher Hueys beste Verbündete. Sie wussten, dass sie gleich als nächste auf Gretas Entlassungsliste standen, daher haben sie heute Nacht rebelliert. Die Spin-off-Bande hat zum Gegenschlag ausgeholt. Sie haben das Spin-off-Gebäude abgesperrt und verbarrikadiert und feiern eine Rund-um-die-Uhr-Schredder-Orgie. Sie stehlen sämtliche Daten, derer sie habhaft werden können, und alles andere vernichten sie. Wenn sie fertig sind, werden sie geschlossen zu Hueys brandneuen Labors in Louisiana überlaufen. Und die anderen versuchen sie zum Mitkommen zu überreden.«

Oscar nickte, ließ die Neuigkeiten auf sich wirken. »Okay. Das ist Vandalismus. Behinderung der Justiz. Diebstahl und Zerstörung staatlicher Daten. Industriespionage. Die Spin-off-Leute sollten ausnahmslos festgenommen und die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.«

Pelicanos lachte trocken. »Als ob das so einfach wäre.«

»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Oscar. »Weil die Entführung nämlich gescheitert ist. Die taktische Initiative liegt wieder bei uns. Huey kennt unseren Aufenthaltsort nicht. Zumindest den sind wir los.«

»Und weiter? Wo sollen wir jetzt hin? Nach Boston? Washington?«

»Tja…« Oscar rieb sich das Kinn. »Hueys nächste Schritte liegen auf der Hand, nicht wahr? Er wird das Laboratorium ebenso zerschmettern wie die Luftwaffenbasis. Wegen der Infokriegsattacke haben wir kein Geld mehr. Schon bald werden die Arbeitsmaterialien und das Essen knapp werden… Dann lässt er eine Prolostreitmacht anrücken, die die herrenlose Einrichtung besetzt, und dann ist alles gelaufen.«

»Ja, so sieht es aus.«

»Er ist kein Übermensch, Yosh. Also, das nehme ich zurück – ich bin mir ziemlich sicher, dass Huey tatsächlich ein Übermensch ist. Aber er hat einen Fehler gemacht. Andernfalls würden Greta und ich jetzt in irgendeinem trostlosen Sumpf in einem Privatgefängnis schmachten.«

Gretas Handfesseln lösten sich mit einem so lauten Knacken, dass es selbst im Freien zu hören war. Greta öffnete die Wagentür, stieg aus Kevins Schrottkarre aus, streckte den verkrampften Rücken und lockerte die Schultern. Während Kevin den Bolzenschneider im Kofferraum verstaute, gesellte sie sich zu Oscar und Pelicanos. Sie blickte durch Pelicanos’ Wagenfenster und massierte sich die Handgelenke.

»Wie geht es weiter?« fragte sie.

»Das Überraschungsmoment liegt auf unserer Seite«, sagte Oscar. »Und das müssen wir nach Kräften ausnutzen.«

»Wann kann ich wieder ins Labor zurück? Ich möchte liebend gern wieder zurückkehren.«

»Das wirst du auch. Aber unsere Rückkehr muss von Pauken und Trompeten begleitet sein. Wir müssen das Labor angreifen und gewaltsam zurückerobern.«

Pelicanos starrte Oscar an, als habe dieser den Verstand verloren. Greta massierte sich mit ernster, besorgter Miene die eiskalten Arme.

»Das lässt sich schon eher hören!« erklärte Kevin und boxte in die Luft.

»Es ist machbar«, sagte Oscar. Er öffnete die Wagentür und trat in den kalten Winterwind hinaus. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber überlegt mal. Greta ist nach wie vor die amtierende Direktorin. Die Laborpolizisten sind keine Elitekämpfer, sondern bloß Beamte.«

»Man kann von den Laborangestellten nicht verlangen, dass sie die Polizei angreifen«, entgegnete Greta. »Das werden sie nicht tun. Das wäre ungesetzlich, unmoralisch, unethisch, unprofessionell… und außerdem höchst gefährlich, hab ich Recht?«

»Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, Greta, dass deine Wissenschaftler liebend gern ein paar Cops zusammenschlagen würden, aber ich verstehe, was du meinst. Es würde viel zu lange dauern, diese harmlosen Intellektuellen so weit zu bringen, dass sie handgreiflich werden. Mein kleines Team von Politprofis, das sind auch nicht gerade erfahrene anarchistische Straßenkämpfer. Aber wenn es uns nicht gelingt, die Ordnung im Labor wiederherzustellen, und zwar heute noch, dann ist deine Verwaltung zum Untergang verurteilt. Und das Labor auch. Deshalb müssen wir ein Risiko eingehen. Diese Krise verlangt nach äußerster Entschlossenheit. Wir müssen das Labor in unsere Gewalt bringen. So wie die Dinge liegen, brauchen wir ein paar harte, revolutionäre Desperados.« Oscar holte tief Luft. »Also lasst uns zum Flohmarkt fahren und ein paar Schläger anheuern.«

Pelicanos’ properen Wagen ließen sie aus Sicherheitsgründen stehen und zwängten sich stattdessen in Kevins nicht zugelassene Schrottkarre. Dann fuhren sie los.

Die erste Herausforderung war eine Straßenblockade der Moderatoren, südlich von Canton. Die texanischen Prolos musterten sie neugierig. Oscars Hut war verrutscht und verbarg den Kopfverband nur notdürftig. Kevin war unrasiert und zappelig. Greta hatte die Arme verschränkt, damit man ihre wundgescheuerten Handgelenke nicht sah. Pelicanos sah aus wie ein Bestattungsunternehmer.

»Kommt ihr aus ‘nem anderen Bundesstaat?« fragte der Moderator, ein sommersprossiger halbwüchsiger Weißer mit blauem Plastikhaar, Kopfhörer, acht Halsketten mit Holzperlen, Handy und hirschlederner Fransenjacke. Die Beine steckten von den Knien abwärts in monströsen Eskimostiefeln aus flauschigem Plastik.

»Ja!« antwortete Kevin, begleitet von verschiedenen Geheimzeichen.

Der Moderator beobachtete amüsiert Kevins Verrenkungen. »Schon mal in Texas gewesen?«

»Wir haben vom Flohmarkt in Canton gehört«, versicherte ihm Kevin. »Der ist berühmt.«

»Könnte ich bitte fünf Dollar Parkgebühr haben?« Der Moderator steckte das Plastikgeld ein und pappte ihnen eine Plakette auf die Windschutzscheibe. »Folgt einfach den Piepsern von dem Aufkleber, der führt euch bis zum Parkplatz. Viel Spaß auf dem Markt!«

Sie fuhren langsam in das Städtchen ein. Canton war eine durchschnittliche osttexanische Stadt mit bescheidenen zwei- und dreistöckigen Gebäuden: Lebensmittelläden, Krankenhäuser, Kirchen, Restaurants. Auf den Straßen wimmelte es von seltsam gekleideten Passanten. Die gewaltigen Prolohorden machten einen äußerst gut organisierten Eindruck; sie ignorierten gelassen die Verkehrsampeln, bewegten sich aber grüppchen- und stoßweise, ein Volkstanz der Massen.

Kevin parkte auf einer winterbraunen Weide unter einer weit ausladenden Pinie. Sie stiegen aus. Die Sonne schien, doch es wehte ein unangenehmer Nordwind. Sie schlossen sich einer kleinen Gruppe an und näherten sich dem Rand des Marktes.

Das weitläufige Marktgelände wurde dominiert von den hoch aufragenden, in Zellbauweise errichteten Plastiktürmen. Allerlei zusammengebastelte Fluggeräte summten wie Mückenschwärme umher. Die größten Unterkünfte waren gewaltige polarisierte Zirkuszelte aus eigenartig riechender transparenter Plastikplane, die über hohe Masten gespannt war.

Kevin erstand von einem Deckenverkäufer vier Ohrclips. »Hier, legen Sie die an.«

»Warum?« fragte Greta.

»Vertrauen Sie mir, ich kenne mich an solchen Orten aus.«

Oscar klemmte sich den Clip ans linke Ohrläppchen. Das Gerät gab ein leises, wortloses Gebrabbel von sich, ähnlich dem Geplapper eines Dreijährigen. Solange er sich mit der Menge bewegte, blieb das Geplapper unverändert, eine eigentümlich beruhigende Begleitung, etwa wie der eingebildete Freund eines Kindes. Doch jedesmal, wenn er sich dem allgemeinen Strom entgegenstellte – wenn ihm irgendein Hinweis entgangen war –, wurde die Ohrfessel lästig. Hielt er den Verkehr lange genug auf, brüllte sie ihn an.

Irgendwo überwachte ein Rechner den Fluss der Menschen und kontrollierte sie mit sanften Hinweisen. Nach kurzer Zeit vergaß Oscar das leise Geplapper einfach; er nahm es nur noch unbewusst wahr. Die nonverbale, kindliche Nörgelei war so beharrlich, dass man sich leicht daran gewöhnte. Schon bald wichen sie Menschenansammlungen automatisch aus, noch ehe diese in Sichtweite kamen. Alle trugen Ohrclips, daher verteilte der Rechner die Menschen wie einen Schwarm Schmetterlinge.

Das Marktgelände wimmelte zwar von Menschen, doch die Menge bewegte sich erstaunlich flüssig. Vor den Imbissbuden standen kurze, geordnete Schlangen. Die Toiletten waren nicht blockiert. Es gingen keine Kinder verloren.

»Ich versuche mal jemanden aufzutreiben, mit dem wir ernsthaft reden können«, verkündete Kevin. »Wenn ich ein Treffen arrangiert habe, melde ich mich über Handy.« Er wandte sich um und humpelte davon.

»Ich helfe Ihnen«, sagte Oscar und schloss zu ihm auf.

Kevin wandte sich mit verkniffener Miene um. »Bin ich nun für Ihre Sicherheit verantwortlich oder nicht?«

»Natürlich sind Sie das.«

»Das ist eine Frage der Sicherheit. Wenn Sie mir helfen wollen, passen Sie auf Ihre Freundin auf. Sorgen Sie dafür, dass sie nicht schon wieder verschütt geht.«

Es ärgerte Oscar, dass Kevin ihn zur Persona non grata erklärte. Andererseits hatte er Verständnis für Kevins Vorbehalte – schließlich war Oscar als Einziger unter den vielen tausend Besuchern mit einem teuren Anzug samt passendem Hut und Schuhen bekleidet. Oscar war verdächtig auffallend.

Er blickte sich über die Schulter zum. Greta war bereits verschwunden.

Bald darauf machte er Pelicanos aus, und nach vier quälenden Minuten hatten sie Greta gefunden. Sie war zu einem Freigelände mit Zelten und Tischen geschlendert, die mit einem erstaunlichen Durcheinander von gebrauchten Elektronikteilen bepackt waren.

»Warum machst du dich selbstständig?« fragte er.

»Ich hab mich nicht selbstständig gemacht. Du bist verschwunden.« Sie wühlte in einer flachen Messingschale mit nichtleitenden Sonden.

»Wir müssen beieinander bleiben, Greta.«

»Ich vermute, das lag an meinem kleinen Freund«, erwiderte sie und fasste sich an den Ohrclip. »Daran bin ich nicht gewöhnt.« Sie schlenderte mit funkelnden Augen zum nächsten Tisch, der mit Kisten voller bunter Kabel, Planscheiben, Stapelboxen und Adaptern bepackt war.

Oscar besah sich einen Karton mit Elektrogeräten. Die meisten waren aus gebrochen weißem Plastik, manche aber offenbar von den Nomaden hergestellt. Diese waren aus gepresstem Gras. Die behandelte Zellulose war leicht, aber fest und hatte eine körnige Oberfläche, wie Müsliriegel.

Greta war hingerissen, und auch Oscar vermochte sich der Faszination der Waren nicht zu entziehen. Er hatte gar nicht gewusst, wie fortschrittlich die Herstellungsweise der Nomaden war. Er blickte den Gang entlang. Sie waren vollständig umgeben vom Müll der amerikanischen Computer- und Phonoindustrie, völlig wertloser Plunder, der mit alten Werbesprüchen beklebt war. »Neu im Angebot: Strata VIe und XIIe!« Da gab es völlig veraltete Firmenprogramme, für die kein Mensch mehr Verwendung hatte. Stapel von Tintenpatronen für nicht mehr existente Drucker. Unergonomische Mäuse und Joysticks, die einem auf Dauer garantiert die Handgelenksehnen ruinieren würden… Und riesige Mengen Software, deren fiktiver ›Wert‹ aufgrund des verlorenen Wirtschaftskriegs implodiert war.

Das war aber noch nicht alles. Wirklich merkwürdig dabei war, dass die Nomadenproduzenten diesen Dschungel alten Plunders so energisch infiltrierten. Sie bastelten neue, funktionale Objekte daraus, die kein Müll mehr waren, sondern unheimliche Parodien von kommerziellem Müll, geschaffen mit neuen, nichtkommerziellen Methoden. Was früher einmal aus teurem, glänzendem Kunststoff bestanden hatte, bestand nun aus gehäckseltem Stroh und Papier. Den Platz der Angestellten hatten arbeitslose Fanatiker mit billiger Ausrüstung, komplizierten Netzwerken und aller Zeit der Welt eingenommen. Ehemals teure und nun ökonomisch wertlose Geräte wurden nach und nach durch fast identische Geräte ersetzt, die ebenfalls nichtkommerziell, aber dennoch brandneu waren.

An einem Tisch, wo Funkwanzen feilgeboten wurden, herrschte reger Betrieb. Ein Mann und eine Frau mit Turmfrisuren und Gesichtsbemalung boten stolz das ganze Sortiment der Abhörindustrie feil: Körperkabel, Schwanenhalstaschenlampen, Kabelklemmen, Erdungsvorrichtungen, Sauger, Zahnstocher und Pinzetten und zahlreiche Schachteln mit fingernagelgroßen Abhörwanzen. Wer, wenn nicht die beschäftigungslosen Nomaden, konnte sich das Vergnügen leisten, geduldig zu lauschen, zu sammeln und saftige mitgeschnittene Gesprächsfetzen zu verkaufen? Oscar besah sich eine Schaumstoffbox mit Sechskantschraubenschlüsseln, die mit Kameraaugen ausgestattet waren.

»Nehmen wir uns mal eine anderen Reihe vor«, drängte Greta, mit funkelnden Augen und wirrem Haar. »Da drüben gibt es medizinische Geräte!«

Sie wechselten in das Reich der untoten Geräte über. Hier gab es haemostatische Pinzetten, chirurgische Scheren, Gefäßklammern, verschweißte Plastikhandschuhe aus der Zeit von AIDS. Greta betrachtete fasziniert die Knochenschrauben und Tupfer, die spottbilligen chinesischen Vergrößerungsbrillen und die kleinen vakuumverschlossenen Kanister mit sterilem Silikonfett.

»Ich brauche Bargeld«, meinte Greta plötzlich. »Leih mir was.«

»Was hast du denn? Du kannst diesen Plunder nicht kaufen. Du kennst doch nicht mal die Herkunft.«

»Deshalb will ich ihn ja kaufen.« Sie musterte ihn stirnrunzelnd. »Hör mal, ich war Chef der Ausrüstungsabteilung. Wenn die hier Proteinsequenzierer anbieten, dann will ich wissen, was es damit auf sich hat.«

Sie wandte sich an den Verkäufer, der vor seinem aufgeklappten Laptop saß und kichernd selbst gezeichnete Comics betrachtete. »Hallo, Mister. Wie viel kostet das Cytometer?«

Der Provinzler sah vom Bildschirm auf. »Meinen Sie das da?«

»Funktioniert das Gerät?«

»Keine Ahnung. Summt aber ganz ordentlich, wenn man den Stecker reinsteckt.«

Pelicanos tauchte auf. Er hatte eine gebrauchte Jacke gekauft – eine scheußliche Sportjacke aus unverwüstlichem schwarzem und purpurfarbenem Gore-Tex.

»Danke, Yosh«, sagte Greta und zog die bauschige Jacke an. Als sie das hässliche Ding bis ans Kinn geschlossen hatte, wurde sie zu einem integralen Bestandteil der örtlichen Szenerie. Sie wirkte jetzt normal, wie eine gewöhnliche ärmliche Unterschicht-Shopperin.

»Ich wünschte, Sandra wäre hier«, sagte Pelicanos ruhig. »Sandra würde es hier gefallen. Das heißt, wenn unsere Probleme nicht wären.«

Oscar war zu angespannt, um zu shoppen. Er machte sich um Kevin Sorgen. Er bemühte sich, einen Notfallplan auszutüfteln für den Fall, dass Kevin keinen nützlichen Kontakt herstellen konnte oder gar verschwand.

Greta hingegen schlenderte mit wahrer Begeisterung an den Ständen entlang. Die Schmerzen und Sorgen hatte sie hinter sich gelassen. In jedem Wissenschaftler steckt ein Hardware-Junkie.

Doch nein, so einfach war es nicht. Greta war in ihrem Element. Oscar wurde jäh bewusst, was es bedeuten würde, mit Greta verheiratet zu sein. Ausrüstungsteile auszusuchen war Teil ihrer Arbeit, und die Arbeit ging ihr über alles. Das alltägliche Zusammenleben mit einer engagierten Wissenschaftlerin würde voller Momente wie diesem sein. Er würde pflichtschuldigst hinterdreinzotteln, um den Anschluss nicht zu verlieren, und sie würde ihre ganze Aufmerksamkeit Dingen widmen, die er niemals verstehen würde. Ihre Beziehung zur materiellen Welt war gänzlich anders geartet als die seine. Sie liebte Geräte, aber sie hatte keinen Geschmack. Es würde eine Qual sein, mit einer Wissenschaftlerin ein Zuhause einzurichten. Er würde sich mit billigem und hässlichem Geschirr abfinden müssen.

Sein Handy läutete. Kevin war dran.

Oscar befolgte die Anweisungen und gelangte nach einer Weile zu dem Zelt, das Kevin ihm beschrieben hatte. Das Zelt war schwer zu verfehlen. Es handelte sich um eine längliche Kuppel aus bunter Fallschirmspringerseide, worin ein Zweimann-Leichtflugzeug, sechs Fahrräder und zahlreiche Feldbetten untergebracht waren. Hunderte bunter Schnüre aus Chemglowfolie hingen von den Zeltnähten bis auf Schulterhöhe herab. Ein Dutzend Prolos saßen auf weißen Plastikteppichen. Fünf von ihnen waren damit beschäftigt, eine Zeitung zu erstellen.

Kevin plauderte gerade mit einem Mann, den er als ›General Burningboy‹ vorstellte. Burningboy war in den Fünfzigern, hatte einen langen, graumelierten Bart und einen schmutzigen Cowboyhut auf dem Kopf. Der Nomadenguru trug mit kunstvollen Stickereien verzierte Jeans, einen weiten handgestrickten Pullover und alte Militärschnürstiefel. Drei elektronische Haftverschonungsfesseln zierten seine behaarten Handgelenke.

»Hallo«, sagte der Prologeneral. »Willkommen in Canton Market. Setzen Sie sich auf den Boden.«

Oscar und Greta nahmen auf dem Teppich Platz. Kevin saß bereits und hatte die Schuhe ausgezogen. Er massierte sich geistesabwesend die müden Füße. Pelicanos nahm nicht an der Unterredung teil, sondern wartete in diskreter Entfernung. Er war ihr Mann für den Notfall.

»Ihr Freund hat mir soeben viel Geld gegeben, bloß um mir eine Stunde meiner Zeit abzukaufen«, bemerkte Burningboy. »Hat mir eine erstaunliche Geschichte aufgetischt. Aber wenn ich Sie mir so ansehe…« Er musterte Oscar und Greta nachdenklich. »Ja, das könnte hinhauen. Ich schätze, ich kauf ihm seine Story ab. Was also kann ich für Sie tun?«

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte Oscar.

»Ich hab’s geahnt.« Der General nickte. »Normale Leute bitten uns erst dann um einen Gefallen, wenn alle anderen Stricke reißen. Sowas passiert uns ständig – aus heiterem Himmel tauchen irgendwelche reichen Idioten auf. Haben immer komische Vorstellungen davon, was wir für sie tun können. Haben einen genialen Plan, der nur vom sprichwörtlichen Abschaum in die Tat umgesetzt werden kann. Zum Beispiel sollen wir ihnen helfen, Heroin herzustellen… Oder Aluminiumprofile zu verkaufen.«

»Wir haben nichts dergleichen im Sinn, General. Sie sollten sich meinen Vorschlag erst einmal anhören.«

Der General schlug die Beine übereinander. »Das mag Sie vielleicht wundern, Mr. Valparaiso, aber selbst wertlose Untermenschen wie wir sind mit ihrem eigenen Leben beschäftigt! Heute ist der erste Marktmontag. Wir stecken hier mitten in einer größeren Veranstaltung. Ich muss mir ein paar ernsthafte Gedanken machen, zum Beispiel über… Abwässer. Binnen drei Tagen kommen hier hunderttausend Leute her. Comprende?« Burningboy streichelte sich den Bart. »Wissen Sie überhaupt, wen Sie hier vor sich haben? Ich bin kein Magier, Mann. Ich komme nicht wie der Dschinn aus der Flasche, bloß weil Sie mich brauchen. Ich bin ein Mensch. Ich habe meine eigenen Probleme. Man nennt mich jetzt ›General‹… Dabei war ich früher mal ein leibhaftiger Bürgermeister! Ich wurde zweimal zum Bürgermeister von Port Mansfield, Texas, gewählt. Eine hübsche kleine Strandgemeinde – bis sie irgendwann fortgespült wurde.«

Eine ältere Frau in einem Fransenkleid betrat das Zelt. Sie machte zwei Knoten in eine herabhängende Chemglowschnur, dann ging sie wortlos wieder hinaus.

Der General nahm den Faden wieder auf. »Verstehen Sie, mein Sohn – und Dr. Penninger« – er nickte Greta höflich zu –, »wir sind alle Helden unserer eigenen Geschichte. Sie erzählen mir, Sie hätten da ein großes Problem – verdammt noch mal, wir haben alle große Probleme.«

»Lassen Sie uns drüber reden«, sagte Oscar.

»Ich habe einen ausgezeichneten Karriereratschlag für euch Überflieger. Weshalb gebt ihr Clowns nicht einfach auf? Macht einfach Schluss! Lasst alles sausen, macht euch auf die Socken! Macht euch das Leben etwa Spaß? Habt ihr eine Gemeinschaft? Wisst ihr überhaupt, was wahre Gemeinschaft ist? Gibt es eine Menschenseele, der ihr armen Schweine wirklich vertrauen könnt? Antworten Sie nicht! Ich kenne die Antwort nämlich schon. Sie beide sind jämmerliche Versager. Sie sehen aus, als hätten die Coyoten Sie gefressen und anschließend von einer Klippe geschissen. Und jetzt stecken Sie in einer Krise und wollen, dass ich Ihnen helfe… Scheiße, Leute wie Sie stecken ständig in der Krise. Sie sind die Krise. Wann wollen Sie endlich aufwachen? Ihr System funktioniert nicht. Ihre Wirtschaft funktioniert nicht. Ihre Politiker funktionieren nicht. Nichts, was Sie anfangen, funktioniert. Sie sind erledigt.«

»Im Moment«, sagte Oscar.

»Mister, Sie werden es niemals schaffen. Sie haben einen ernsthaften Schuss vor den Bug bekommen. Sie sind verschwunden, Sie haben Ihren Besitz verloren. Sie sind vom Antlitz der Erde gefegt worden. Und wissen Sie was? Hier gibt es eine weiche Landung. Nur zu, steigen Sie aus! Verbrennen Sie Ihre Kleider! Zünden Sie Ihre beschissenen Diplome an! Schmeißen Sie Ihre Ausweise weg! Wissen Sie, dass Sie einen kläglichen, jämmerlichen Anblick bieten? Ein nettes, reizendes, begabtes Paar… Hören Sie, es ist noch nicht zu spät für Sie beide, ein neues Leben anzufangen! Im Moment sind Sie menschliche Wracks, aber Sie könnten Lebenskünstler sein, wenn Sie wüssten, wozu das Leben gut ist.«

Greta ergriff das Wort. »Aber ich muss unbedingt ins Labor zurück.«

»Ich hab’s versucht«, sagte Burningboy und hob beide Hände. »Wenn Sie mir ernsthaft zugehört hätten und meinen guten Rat beherzigen würden, dann wären Ihre Probleme auf der Stelle behoben. Sie könnten heute Abend Currysuppe mit uns essen und würden wahrscheinlich auch einen Fick finden. Aber nein, auf den alten Burningboy hört ja niemand. Ich bin viel, viel älter als Sie und habe mehr im Leben gesehen als Sie, aber was weiß ich schon? Ich bin bloß ein strohdummer Idiot in komischen Klamotten, der irgendwann im Kittchen landen wird. Und zwar deshalb, weil irgendein reicher Yankee von außerhalb will, dass er eine kriminelle Handlung begeht.«

»General, erlauben Sie, dass ich Sie ins Bild setze«, sagte Oscar. Er tat es. Burningboy hörte ihm mit erstaunlicher Geduld zu.

»Okay«, sagte Burningboy schließlich. »Nehmen wir mal an, wir gehen da rein und räumen in dieser Riesenglaskuppel voller Wissenschaftler auf. Ich muss zugeben, das ist eine reizvolle Vorstellung. Wir Moderatoren sind ausgesprochen nette, friedliche Leute, nichts als Liebe und Sonnenschein. Vielleicht könnten wir Ihnen zuliebe sowas tun. Aber was springt für uns dabei raus?«

»Geld«, sagte Oscar.

Burningboy gähnte. »Als wenn uns das weiterbringen würde.«

»Das Labor ist selbstversorgend. Da drinnen gibt es Nahrung und Unterkünfte«, meinte Greta.

»Ja, klar – solange wir Ihnen genehm sind. Anschließend geben Sie uns den Laufpass.«

»Seien wir realistisch«, sagte Oscar. »Sie sind ein Pöbelhaufen. Wir brauchen ein paar tüchtige Schlägertypen, um unserem Streik Nachdruck zu verleihen. Daran ist nichts Ungewöhnliches, nicht wahr? Das kann doch nicht so schwer sein.«

»Sie hätten es mit untergeordneten, verängstigten Cops zu tun«, meinte Greta. »Übrigens sind sie kaum bewaffnet.«

»Mann, wir versorgen uns selbst und haben eigene Unterkünfte. Was uns fehlt, sind Einschusslöcher. Oder ein Haufen aufgebrachter Bundespolizisten, die es auf uns abgesehen haben.«

Oscar überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er hatte es hier mit Leuten zu tun, die sich von grundlegend anderen Werten leiten ließen. Die Moderatoren waren radikale Dropouts – aber sie waren Menschen, und deshalb musste es möglich sein, an sie heranzukommen. »Ich kann Sie berühmt machen«, sagte er.

Burningboy schob sich den Hut in den Nacken. »Ach ja? Wie?«

»Ich kann Ihnen eine umfangreiche Netzberichterstattung garantieren. Ich bin Profi, das kriege ich hin. Das Labor ist sehr bekannt. Dr. Penninger ist Nobelpreisträgerin. Hier geht es um einen größeren politischen Skandal. Die Lage ist dramatisch. Da steckt noch viel mehr dahinter, das hat mit Bambakias’ Hungerstreik zu tun und mit dem Angriff der Regulatoren auf den Luftwaffenstützpunkt. Wenn die Moderatoren die Ordnung in einer bedrohten staatlichen Einrichtung wiederherstellen würden, bekämen sie eine ausgezeichnete Presse. Das wäre das genaue Gegenteil von dem, was die Regulatoren gemacht haben.«

Burningboy langte nachdenklich in seine Jacke. Er holte drei kleine Stangen hervor, die aussahen, als bestünden sie aus bunter Kreide. Er legte sie auf einen polierten Schleifstein, zückte ein Taschenmesser und zerdrückte die Stangen, bis nur noch ein feines Pulver übrigblieb.

Dann seufzte er schwer. »Es gefällt mir nicht, dass ich darauf anspringe, bloß weil ein Gauner wie Sie zufällig weiß, dass wir Moderatoren die Regulatoren auf dem Kieker haben.«

»Natürlich weiß ich das, General. Das ist schließlich eine allgemein bekannte Tatsache, oder nicht?«

»Wir lieben die Regulatoren wie unsere Brüder und Schwestern. Mit Ihnen haben wir nichts gemeinsam. Abgesehen davon, dass… Nun, die Moderatoren benutzen ein Moderatorennetzwerk. Und die Regulatoren verwenden ein Regulatoreninterface, mit Regulatorensoftware und Regulatorenprotokollen. Ich bezweifle, dass ein ignorantes Arschloch wie Sie begreift, welche politischen Probleme das mit sich bringt.«

»Ich begreife das«, sagte Kevin, der bislang geschwiegen hatte.

»Früher sind wir mit den Regulatoren gut ausgekommen. Das ist ein zivilisierter Stamm. Aber diese Cajun-Idioten bilden sich weiß Gott was auf ihre Gentechnik und auf den Umstand ein, dass Green Huey sie unterstützt… Haben angefangen, andere Leute herumzukommandieren, werben unsere Topleute ab, und wenn Sie mich fragen, machen diese Voodoo-Trommel-Freaks viel zu viel Aufhebens um Gas und Gifte…«

Oscar setzte unbarmherzig nach. »General, ich bitte Sie nicht, die Regulatoren anzugreifen. Ich bitte Sie bloß, das zu tun, was die Regulatoren bereits getan haben, und zwar aus besseren Motiven heraus und unter erheblich günstigeren Umständen.«

General Burningboy teilte das Pulver in drei Linien und streifte sie nacheinander in ein kleines Glas mit gelbem Fett ab. Er rührte das Fett mit dem Zeigefinger um, dann rieb er es sich sorgfältig hinter die Ohren.

Er blinzelte. »Okay«, meinte er schließlich. »Ich setze hier meine persönliche Ehre auf bloßes Hörensagen hin aufs Spiel, aber was soll’s. Man nennt mich ›General‹, weil ich mir im Laufe der Jahre hohe Vertrauensratings erarbeitet habe, aber offen gesagt, liegt mir die Bürde meines Amtes im Moment schwer im Magen. Ich hätte nicht übel Lust, alles hinzuschmeißen. Und deshalb werde ich Euch drei reichen Flaschen einen sehr, sehr großen Gefallen tun. Ich werde Euch fünf Platoons ausleihen.«

»Fünfzig Moderatorenschläger?« fragte Kevin interessiert nach.

»Genau. Fünf Platoons, fünfzig Leute. Ich will nicht behaupten, dass sie das Labor gegen einen staatlichen Gegenangriff verteidigen könnten, aber einnehmen können sie es zweifellos.«

»Verfügen diese Männer über die erforderliche Disziplin, um die Ordnung in dieser Einrichtung zu gewährleisten?« fragte Oscar.

»Ich spreche nicht von Männern, Mann. Das sind junge Mädchen. Früher haben wir mal junge Männer geschickt, wenn’s hart auf hart ging, aber hey, junge Männer sind besonders harte Burschen. Junge Männer töten Menschen. Wir haben uns in einer Alternativgesellschaft eingerichtet, wir können es uns nicht leisten, als mordende Marodeure dazustehen. Die Mädchen behalten eher einen kühlen Kopf, wenn’s um urbane Sabotage geht. Außerdem kommen sie mit geringeren Strafen davon, wenn sie mal geschnappt werden.«

»Ich möchte nicht undankbar erscheinen, General, aber ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen der Ernst der Lage klar ist.«

»Nein«, sagte Greta. »Junge Mädchen sind prima.«

»Ich denke, ich mache Sie mal mit einigen unserer Kommandantinnen bekannt. Dann können Sie Taktik und Bewaffnung absprechen.«


Oscar fuhr in einem getürkten Kirchenbus nach Buna zurück, der vollgestopft war mit drei Platoons der Nomadensoldatinnen. Er hätte auch mit Kevin mitfahren können, hatte es aber vorgezogen, sich ein Bild von den Kämpferinnen zu machen.

Beim Anblick vierzehn- bis siebzehnjähriger Mädchen fiel es schwer zu glauben, dass man eine paramilitärische Eingreiftruppe vor sich hatte, welche in der Lage sein sollte, die Polizeikräfte zu schlagen. Doch in einer von Überwachungstechniken infizierten Gesellschaft mussten Milizen notgedrungen seltsame Formen annehmen. Diese Mädchen waren nahezu unsichtbar, weil niemand mit ihnen rechnete.

Die Mädchen waren körperlich fit und sehr still. Sie wirkten wie Turnerinnen und reisten in kleinen Gruppen. Die Platoons wurden in Einsatzgruppen von je fünf Personen aufgeteilt, die von älteren Frauen koordiniert wurden. Diese Platoon-Sergeants wirkten so harmlos, dass man meinte, sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun.

Sie alle wirkten harmlos aufgrund ihrer Kleidung. Die Nomadenweiber hatten die schauerliche Straßenkleidung aus Leder und Plastik zu Hause gelassen. Nun trugen sie kleine Hüte, orthopädische Schuhe und schlecht sitzende geblümte Kleider. Ihre Tätowierungen hatten die jungen Soldatinnen sorgfältig mit hautfarbenem Wachs abgedeckt. Sie hatten sich das Haar frisiert. Sie trugen helle, moderne Jacken und gemusterte Leggings, die sie wahrscheinlich in einer bewachten Wohngegend aus einer Mall entwendet hatten. Die Moderatorenstreitmacht ähnelte einer Hockeymannschaft auf der Jagd nach Schoko-Milchshakes.

Als die Busse und deren Insassen erfolgreich die Ostschleuse passiert hatten, war die Einnahme des Labors nurmehr eine Frage der Zeit. Oscar beobachtete fassungslos, wie das erste Platoon einen Polizeiwagen angriff und zerstörte.

Zwei Polizisten in einem Wagen bewachten die Schleusen des Hochsicherheitstrakts, in dem Gretas Streikkomitee in düsterer Stimmung der Räumung harrte. Ohne Vorwarnung fasste sich das jüngsten der fünf Mädchen an den Kopf und stieß ein markerschütterndes Geschrei aus. Die Polizisten stiegen verdutzt aus und eilten dem Mädchen zu Hilfe. Sie gerieten in ein unsichtbares Gewirr von Stolperdrähten, die ihre Stiefel aneinanderzurrten. Es stank nach verbranntem Plastik. Als die Polizisten zu Boden gingen, beschossen zwei andere Mädchen sie mit Spraypistolen und klebten sie am Boden fest.

Ein zweites Platoon sammelte sich, stürzte den kleinen Polizeiwagen um und nahm die Monitore und das Armaturenbrett auf Webvideo auf.

Auf sein Drängen hin führte Kevin persönlich den Angriff auf die Polizeistation an. Kevins Beitrag bestand darin, eine weibliche Schalterbeamtin in ein Gespräch zu verwickeln, während dreißig plappernde und kichernde junge Frauen das Gebäude betraten. Lächelnde Polizisten, die sehen wollten, was da los war, wurden aus kürzester Entfernung mit einem Netz gefangen. Mundtot gemacht, blind und nach Atem ringend waren sie leichte Beute für ausgebildete Kämpferinnen, die sie bei den Handgelenken packten, ihnen gegen die Knöchel traten und sie erstaunlich kraftvoll zu Boden warfen. Anschließend wurden sie mit Handschellen gefesselt.

Binnen vierzig Minuten hatten die Moderatoren die staatliche Forschungseinrichtung erobert. Die Streitmacht der fünfzig Mädchen war nicht zu schlagen. Um halb sieben war die Aktion abgeschlossen.

Gleichwohl war es zu einem taktischen Fehler gekommen. Der Sicherheitsdirektor des Labors war weder an seinem Arbeitsplatz noch zu Hause. Das Platoon, das ihn hatte festnehmen sollen, traf dort lediglich seine überraschte Frau und zwei Kinder an.

Es stellte sich heraus, dass der Sicherheitschef mit seiner Geliebten in einer Bar Bier trank. Junge Mädchen konnten keine Bar betreten, ohne aufzufallen. Sie versuchten, ihn ins Freie zu locken, fielen in der schlechten Beleuchtung aber über den falschen Mann her und fesselten ihn. Der Sicherheitschef entging der Festnahme.

Zwei Stunden später fand man ihn wieder. Er hatte sich in einem Einsatzfahrzeug im Keller des Gebäudes für Sicherheit am Arbeitsplatz eingeschlossen und schwang drohend ein Handy und ein Gewehr.

Oscar ging zu ihm, um zu verhandeln.

Oscar stellte sich vor die Plastikstoßstange des gedrungenen Dekontaminationsfahrzeugs. Er winkte fröhlich zur Windschutzscheibe aus Panzerglas hinein, zeigte seine leeren Hände vor und rief den Polizeichef über eines der Standardtelefone des Laboratoriums an.

»Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte der Mann. Oscar erinnerte sich, dass er Mitchell S. Karnes hieß.

»Tut mir leid, Chief Karnes, aber das war ein Notfall. Die Lage ist jetzt unter Kontrolle. Niemandem geschieht etwas.«

»Ich soll mich um Notfälle kümmern«, sagte der Sicherheitschef.

»Sie und Ihre Leute waren der Notfall. Da Direktor Penninger gestern entführt wurde, haben Sie und Ihre Mannschaft ihr Vertrauen wohl verspielt. Das Labor ist jedenfalls wieder in der Hand der rechtmäßigen Autoritäten. Sie und Ihre Leute werden solange, bis sich die Lage wieder normalisiert hat, von Ihren Aufgaben befreit und eingesperrt.«

»Was reden Sie denn da? Sie können mich nicht entlassen. Dazu haben Sie kein Recht.«

»Also, dessen bin ich mir bewusst, Chief. Aber das ändert nichts an Ihrer Lage. Schauen Sie sich nur uns beide an. Ich stehe hier draußen und versuche, vernünftig mit Ihnen zu reden, während Sie sich mit einem Gewehr in einem gepanzerten Fahrzeug eingeschlossen haben. Wir sind beide erwachsene Menschen, also lassen Sie uns vernünftig sein. Die Krise ist vorbei. Lege Sie das Gewehr weg und kommen Sie raus.«

Karnes blinzelte. Er hatte eine Menge getrunken und war sich des Ernstes der Lage noch nicht vollständig bewusst. »Hören Sie, was Sie da sagen, ist völlig verrückt. Ein Arbeitsstreik ist eine Sache. Computerviren eine andere. Ein Netzkrieg ist wiederum etwas anderes. Das hier aber ist ein bewaffneter Umsturz. Man wird Sie festnehmen. Man wird Sie alle festnehmen.«

»Mitch, in dem Punkt bin ich ganz Ihrer Meinung. Ich bin Ihnen sogar ein Stück voraus. Ich bin bereit, mich den Behörden zu überstellen, sobald wir wissen, wer diese Behörden sind. Früher oder später werden sie hier auftauchen; auf lange Sicht wird sich alles klären. Aber bis dahin, Mitch, sollten Sie sich normal verhalten, okay? Alle Ihre Kollegen befinden sich in Gewahrsam. Wir haben die Krise im Griff. Das ist machbar. Wir lassen Ihnen was zu essen bringen, es gibt Doughnuts, Kaffee und Freibier. Wir spielen Binokel miteinander und tauschen Kriegserlebnisse aus. Wir beabsichtigen sogar, Besuche der Ehepartner zuzulassen.«

»Oscar, Sie können mich nicht festnehmen. Das ist ungesetzlich.«

»Mitch, beruhigen Sie sich. Sie haben es mit Dr. Penninger zu tun, mit der werden Sie sich doch einigen können! Klar können Sie auf das Prinzip pochen, wenn Sie unbedingt wollen. Aber was haben Sie davon, wenn Sie die ganze Nacht mit einem geladenen Gewehr in dem Wagen sitzen bleiben? Das ändert doch nichts. Es ist vorbei. Kommen Sie raus.«

Karnes stieg aus. Oscar holte ein Paar Handfesseln hervor, betrachtete die Plastikriemen, zuckte die Achseln und steckte sie wieder ein. »Die brauchen wir nicht, was meinen Sie? Wir sind erwachsene Menschen. Gehen wir.«

Karnes schloss sich ihm an. Sie verließen den Keller und gingen nebeneinander unter dem Kuppeldach her. Die Wintersterne schienen durchs Glas. »Ich habe Sie noch nie gemocht«, sagte Karnes. »Ich habe Ihnen von Anfang an misstraut. Trotzdem wirkten Sie immer ganz vernünftig.«

»Ich bin vernünftig.« Oscar klopfte dem Polizisten auf die Fliegerjacke. »Ich weiß, im Moment ist alles ein wenig durcheinander, Chief, aber ich glaube immer noch ans Gesetz. Ich muss bloß herausfinden, was es bedeutet.«


Nachdem er den ehemaligen Polizeichef in sicheren Gewahrsam genommen hatte, beriet Oscar sich mit Kevin und Greta in der requirierten Polizeistation. Die Nomadenmädchen hatten ihre niedliche Infiltrationskleidung abgelegt und wirkten nun authentischer: Sie trugen Webgürtel, Schlagstöcke und gekürzte Kampfanzüge. »Haben Sie die interne Verlautbarung bereits veröffentlicht?«

»Natürlich«, antwortete Kevin. »Ich habe sämtliche Telefone des Labors gleichzeitig angerufen, und Greta hat live gesprochen. Ihre Erklärung wurde gut aufgenommen, Oscar. Sie klang richtig…« – er zögerte – »beruhigend.«

»Beruhigend ist gut. Morgen hängen wir neue Plakate auf und erklären den Streik für beendet. Die Leute brauchen diese symbolischen Verschnaufpausen. ›Der Streik ist beendet.‹ Eine solche Ankündigung nimmt eine Menge Druck weg.«

Kevin ließ sich voller Begeisterung aus dem Ledersessel des Polizeichefs kippen und kroch auf allen vieren zu einem Schränkchen. Es war vollgestopft mit Telekommunikationsteilen, ein verstaubter Wald bunter Glasfaserleiter. »Ein hübsches altes Telefonsystem haben die hier! Es ist völlig verwanzt, aber einheitlich aufgebaut; es verfügt über zahllose coole alte Features, die nie jemand benutzt hat.«

»Warum wirkt das alles so schmutzig und vernachlässigt?« fragte Oscar.

»Ach, ich musste die Schränke umdrehen, um an die Kabel zu kommen. Ich hatte noch nie eine so totale Kontrolle über eine Schaltzentrale. Wenn ich ein paar Wochen hier verbringen könnte, würde es hier ticken wie ein Uhrwerk.« Kevin richtete sich auf, wischte sich den Staub von den Fingern. »Ich glaube, ich ziehe mal besser eine Polizeiuniform an. Hat jemand was dagegen, dass ich von nun an in Uniform rumlaufe?«

»Wozu soll das gut sein?« fragte Oscar.

»Also, die Nomadenmädchen tragen Uniformen. Und ich bin jetzt der Sicherheitschef, nicht wahr? Wie soll ich unseren Leuten Anweisungen geben, wenn ich selbst keine Uniform trage? Mit einem richtig coolen Polizeihut.«

Oscar schüttelte den Kopf. »Das ist die Frage, Kevin. Jetzt, da wir das Labor zurückerobert haben, müssen wir die kleinen Hexen so schnell wie möglich loswerden.«

Kevin und Greta wechselten Blicke. »Darüber haben wir uns gerade unterhalten.«

»Die Mädchen sind wirklich gut«, sagte Greta. »Wir haben das Labor zurückerobert, ohne dass jemand getötet wurde. Es ist immer gut, wenn ein Umsturz ohne Tote vonstatten geht.«

Kevin nickte eifrig. »Wir brauchen nach wie vor eine Streitmacht, Oscar. Im Spin-off-Gebäude hat sich eine gefährliche Bande von Huey-Contras eingeigelt. Deren Widerstand müssen wir an Ort und Stelle brechen! Das heißt, wir müssen schwere, nichttödliche Waffen einsetzen – Schwammpeitschen, Tränengas, Ultraschall-Megaphone… Mann, das wird ganz schön haarig.« Kevin rieb sich die Hände.

»Greta, hör nicht auf ihn. Wir können es uns nicht leisten, diese Leute ernsthaft zu verletzen. Wir haben das Labor wieder in unsere Gewalt gebracht, deshalb müssen wir uns auch verantwortungsbewusst verhalten. Wenn uns die Huey-Anhänger Ärger machen, werden wir reagieren wie eine ganz normale Behörde. Wir verkleben die Türen, unterbrechen ihre Telefon- und Computerleitungen und hungern sie aus. Eine Überreaktion wäre ein schwerer Fehler. Von nun an müssen wir bedenken, welchen Eindruck wir in Washington machen.«

Gretas Miene verdüsterte sich. »Ach, zum Teufel mit Washington! Die bringen doch nichts zuwege. Die können uns nicht schützen. Ich bin ihr Geschwätz leid.«

»Warte einen Moment!« sagte Oscar verletzt. »Ich bin aus Washington. Ich habe was zuwege gebracht.«

»Ja, du bist die einzige Ausnahme.« Sie massierte sich verärgert die mageren Handgelenke. »Nach dem gestrigen Vorfall weiß ich, womit ich es zu tun habe. Ich mache mir keine Illusionen mehr. Wir können niemandem vertrauen außer uns selbst. Kevin und ich werden die Schleusen einnehmen und die ganze Anlage dichtmachen. Oscar, ich möchte, dass du dich zurückziehst. Du solltest zurücktreten, ehe Washington dich feuert.« Sie stieß ihm ihre spinnenartigen Finger entgegen. »Nein, ehe man dich einlocht. Oder dich unter Amtsanklage stellt. Oder dich kidnapped. Oder dich einfach umbringt.«

Er blickte sie bestürzt an. Sie verlor die Kontrolle. Die Haut an ihren Wangen und an der Stirn war so straff gespannt wie bei einer frisch geschälten Zwiebel. »Greta, lass uns einen kleinen Spaziergang an der frischen Luft machen, was meinst du? Du bist erschöpft. Wir sollte uns mal vernünftig über die Lage unterhalten.«

»Kein Gerede mehr. Ich will mich nicht mehr länger verarschen lassen. Ich will mich nicht wieder unter Gas setzen und fesseln lassen. Da müssten sie schon mit Panzern anrücken.«

»Schatz, niemand verwendet mehr Panzer. Panzer sind zwanzigstes Jahrhundert. Die Behörden brauchen keine bewaffneten Streitkräfte mehr einzusetzen. Diese Phase hat die Gesellschaft überwunden. Wenn man uns hier vertreiben will, wird man…«

Oscar brach unvermittelt ab. Bislang hatte er sich noch keine Gedanken über die Optionen gemacht, welche den Behörden zur Verfügung standen. Die Optionen der Behörden wirkten auf den ersten Blick nicht sonderlich vielversprechend. Greta Penninger – und ihre Verbündeten – hatten soeben ein gepanzertes biologisches Labor erobert. Die Anlage war explosionsgeschützt und mit einem Labyrinth unterirdischer Räume ausgestattet. Hier lebten Hunderte höchst fotogener Tierarten, die eine Nahrungsquelle darstellten und als potenzielle Geiseln dienen konnten. Die Anlage verfügte über eine eigene Wasserversorgung, eine eigene Stromversorgung, sogar über eine eigene Atmosphäre. Finanzielle Drohungen und Embargos hätten keine Wirkung, denn das Finanzsystem hatten bereits die Computerviren lahmgelegt.

Die Anlage war von der Außenwelt völlig abgeriegelt. Gretas Westentaschenrevolutionäre hatten die Informationshoheit. Sie verfügten über die Produktionsmittel und über eine loyale, aufgebrachte Bevölkerung, welche der Außenwelt heftiges Misstrauen entgegenbrachte. Sie hatten eine mächtige Festung erobert.

Greta wandte sich an Kevin. »Wann können wir die beschissenen Prolohandys wegschmeißen und wieder unser eigenes Telefonsystem benutzen?«

»Also, zunächst muss ich mich vergewissern, dass es hundertprozentig sicher ist«, meinte er hilfsbereit. »Wie viele Programmierer können Sie mir zur Verfügung stellen?«

»Ich werde unter dem Personal nach Telekommunikationsspezialisten suchen lassen. Können Sie mir hier in der Polizeistation ein Büro einrichten? Ich werde wahrscheinlich viel Zeit hier verbringen.«

Kevin grinste verwegen. »Hey, Sie sind der Boss, Dr. Penninger!«

»Ich muss mal eine Pause machen«, wurde Oscar bewusst. »Vielleicht sollte ich mich mal richtig ausschlafen. Das war wirklich ein nervenaufreibender Tag.« Die beiden beachteten ihn nicht. Sie waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Oscar verließ das Polizeigebäude.

Als er durch die dunklen Parkanlagen zum hoch aufragenden Hochsicherheitstrakt stapfte, wurde er von jäher Erschöpfung überwältigt. Auf einmal kamen ihm die Erfahrungen des Tages völlig verrückt vor. Er war entführt, unter Gas gesetzt und mit Bomben angegriffen worden; er hatte Hunderte von Meilen in trostlosen, ramponierten Fahrzeugen zurückgelegt; er hatte eine unheilvolle Allianz mit einer mächtigen Bande sozialer Outcasts geschmiedet; man hatte ihn verleumdet, der Unterschlagung und der Flucht über die Staatsgrenze beschuldigt… Er hatte eine Gruppe von Polizisten eingesperrt; er hatte einen bewaffneten Flüchtling zur Aufgabe überredet… Und nun taten sich seine Gelegenheitsgeliebte und sein gefährlich unausgeglichener Sicherheitschef zusammen, um hinter seinem Rücken Ränke zu schmieden.

Das war schlimm. Das war katastrophal Aber es konnte noch schlimmer kommen. Denn morgen war auch noch ein Tag. Morgen würde er eine massive PR-Offensive starten müssen, um sein Vorgehen irgendwie zu rechtfertigen.

Auf einmal wurde ihm klar, dass er es nicht schaffen würde. Die Last war erdrückend. Es war einfach zu viel. Er befand sich in einem Zustand psychischer Überlastung. Er hatte am ganzen Körper blaue Flecken; er war hungrig, müde, überreizt und traumatisiert; sein Nervensystem vibrierte von abgestandenem Adrenalin. Gleichwohl hatte er in seinem tiefsten Inneren ein gutes Gefühl, was die Ereignisse des Tages anging.

Er hatte sich selbst übertroffen.

Wohl wahr, ihm war ein böser Schnitzer unterlaufen, und er war entführt worden. Anschließend aber hatte er sämtliche Situationen und alle sich entwickelnden Krisen mit erstaunlicher Selbstsicherheit erfolgreich gemeistert. Jeder einzelne Schritt war in dem Moment richtig, jede Entscheidung inspiriert gewesen. Es waren einfach zu viele gewesen. Er ähnelte einem Eiskunstläufer, der eine endlose Abfolge von Dreifach-Axeln vollführte. Irgendwann musste irgendetwas reißen.

Auf einmal verspürte er ein Bedürfnis nach Schutz. Nach physischem Schutz. Nach verschlossenen Türen und lang anhaltender Stille.

Ins Hotel zu gehen kam nicht infrage. Dort warteten Menschen, Fragen und Probleme. Dann also der Hochsicherheitstrakt.

Er stapfte in die Schleuse des Hochsicherheitstrakts, die nun von zwei älteren Nomadensergeants bewacht wurde, die Nachtschicht hatten. Die verkleideten Omas unterhielten sich mit Fadenspielen, wozu sie aus chemisch behandeltem Schwamm hergestellte Jo-Jos verwendeten. Oscar grüßte die Frauen unbeholfen und betrat die leeren Gänge des Hochsicherheitstrakts.

Er suchte nach einem Ort, wo er sich verstecken konnte. Ein Geräteschrank wäre ideal. Er musste nur noch eine Sache klären, bevor er sich entspannte und völlig aus dem Leim ging. Er brauchte seinen Laptop. Dieser Gedanke hatte etwas ausgesprochen Tröstliches: sich mit einem Laptop in einen abgeschlossenen Schrank zurückziehen. Dies war eine instinktive Reaktion auf eine unerträgliche Krise: so hatte er es schon im Alter von sechs Jahren gehalten.

In Gretas Labor hatte er einen Ersatzlaptop deponiert. Er schlich sich hinein. Das ehemalige Streikzentrum, einstmals steril und jungfräulich, war nun gezeichnet von politischen Winkelzügen – es war schmutzig, voller verstreuter Papiere, Nahrungsreste, Flaschen, Abfall. Der ganze Raum stank nach Panik. Oscar fand den Laptop, halb unter einem Stapel Videobänder und Kataloge vergraben. Er zog ihn hervor und klemmte ihn sich unter den Arm. Gott sei Dank.

Sein Telefon läutete. Reflexhaft meldete er sich. »Ja?«

»Welch ein Glück! Gleich beim ersten Versuch ist der Seifenverkäufer dran! Wie geht’s denn so, Soapy? Alles unter Kontrolle?«

Es war Green Huey. Oscars Herz setzte einen Schlag aus, als er jäh wieder munter wurde. »Ja, danke der Nachfrage, Gouverneur.«

Wie in aller Welt war es Huey gelungen, ins interne Telefonsystem einzudringen? Kevin hatte ihm versichert, die Verschlüsselung sei nicht zu knacken.

»Es macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus, dass ich so spät noch anrufe, mon ami.«

Oscar setzte sich langsam auf den Laborboden, lehnte sich mit dem Rücken an einen Metallschrank. »Keineswegs, Euer Exzellenz. Stets zu Diensten.«

»Das ist gut für Sie, Soapy! Ich will Ihnen mal sagen, wo ich im Moment gerade bin. Ich fliege in einem gottverdammten Helikopter über dem Sabine River und sehe mir die Folgen eines gottverdammten Luftangriffs an.«

»Was Sie nicht sagen, Sir.«

»Ja, ICH SAGE ES!« kreischte Huey. »Diese Hurensöhne haben meine Leute plattgemacht! Schwarze Hubschrauber mit Raketen und Automatikwaffen, die am Boden befindliche amerikanische Zivilisten ermorden! Das war ein gottverdammtes Massaker!«

»Gab es viele Tote, Gouverneur? Ich meine, abgesehen von Ihrem unglückseligen französischen U-Boot?«

»ZUM TEUFEL, ja, es gab Tote!« brüllte Huey. »Wie sollte es keine geben? Im Wald beiderseits der Flussufer hat es von Regulatoren gewimmelt. Lauter Totalausfälle! Zu viele Agenten verderben den Brei! Ein absoluter Fehlschlag! Verdammt noch mal, ich habe niemals angeordnet, dass diese Bürohengste Sie und das geniale Frauenzimmer in einen gottverdammten Krankenwagen stecken sollen!«

»Wirklich nicht, Euer Exzellenz?«

»Zum Teufel, nein! Die sollten geduldig warten und Sie ergreifen, wenn Sie sich beide zu einem heißen Date aus dem Labor geschlichen hätten. In diesem Zusammenhang hätte eine Entführung Sinn gemacht. Das Problem bei den Nomaden ist, dass man sie nicht unter Kontrolle hat. Das habe ich nicht gewollt, mein Junge, das war nicht meine Absicht! Ich wollte Ihnen bloß was zeigen, mehr nicht. Wir drei, Sie und ich und Ihr Liebchen, hätten die Füße hochlegen und uns an Cocktails mit bunten Schirmchen drin laben können. Wir hätten einen Wissenschaftsgipfel veranstalten, wir hätten alle Probleme ausbügeln sollen.«

Oscar kniff seine brennenden, geröteten Augen zusammen. »Dem Entführungsteam passierte unterwegs jedoch ein Missgeschick. Sie kamen zu spät zum Treffpunkt. Das Empfangskomitee war nervös geworden. Als die Regierungsstreitmacht eintraf, kam es zu einem heftigen Schlagabtausch.«

Huey schwieg.

Oscars Stimme schwang sich empor; die Worte prasselten wie Maschinengewehrfeuer auf Huey nieder. »Gouverneur, ich hoffe, Sie glauben mir, wenn ich sage, dass ich den Vorfall mehr bedaure als Sie. Ich sehe ein, dass es für Sie politisch vorteilhaft gewesen wäre, wenn Ihre Agenten uns bei einem skandalträchtigen Rendezvous ergriffen hätten. Uns wären kaum Möglichkeiten geblieben, und der Schachzug hätte sehr positive Auswirkungen für Sie gehabt. Aber sehen wir den Tatsachen ins Gesicht. Sie können eine Labordirektorin und einen Senatsangestellten nicht einfach entführen. Das ist gegen die Spielregeln. Kommandounternehmen sind politisch töricht. Selbst im realen Leben zahlen sie sich nur selten aus.«

»Ha! Also, Sie waren mit Ihrem Kommandounternehmen anscheinend erfolgreich.«

»Gouverneur, als ich vor zwei Monaten hierher gekommen bin, lag es mir denkbar fern, dieses Labor mit Waffengewalt zu erobern. In Anbetracht der Umstände blieb mir allerdings keine andere Wahl. Vergegenwärtigen Sie sich unsere Lage. Sie wird wesentlich geprägt von äußeren Faktoren. Es geht nicht mehr bloß um Sie und mich und Senator Bambakias und die streikenden Wissenschaftler und Ihre Fünfte Kolonne im Labor. Das war bereits eine äußerst komplizierte Lage! Jetzt aber sind auch noch staatliche Eingreiftruppen, semikompetente Regulatorenschläger, bewaffnete Teenager, Computerattacken und Verleumdungspropaganda im Spiel… Alles gerät völlig außer Kontrolle!« Seine Stimme überschlug sich. Er riss das Telefon vom Gesicht weg.

Dann drückte er es sich wieder ans Ohr, als handelte es sich um die Mündung eines Revolvers. »Das wird mich meine Senatskarriere kosten. Vielleicht ist es kleinlich von mir, das zu erwähnen, aber ich habe die Arbeit gemocht. Ich bedaure das. Ganz persönlich.«

»Mein Sohn, das verstehe ich. Beruhigen Sie sich. Ich weiß, was eine aussichtsreiche Senatskarriere für einen jungen Mann wie Sie bedeuten kann. So bin ich schließlich selbst in die Politik geraten, verstehen Sie? Ich habe für Dougal als Stabschef gearbeitet, als er das Labor erbaut hat.«

»Gouverneur, wie konnte es so weit kommen? Warum wollen Sie unbedingt schlauer sein als ich? Wir sind beide clever. Wir versuchen uns gegenseitig gegen alle Vernunft zu übertölpeln. Weshalb haben Sie mich nicht angerufen und mich um eine Unterredung gebeten? Ich hätte mich mit Ihnen getroffen. Ich hätte verhandelt. Und zwar mit Freuden.«

»Nein, das hätten Sie nicht. Ihr Senator hätte das nicht gedeckt.«

»Ich hätte ihm nichts davon gesagt. Ich hätte mich auf jeden Fall mit Ihnen getroffen. Sie sind ein wichtiger Mann. Ich muss mit den wichtigen Leuten reden, sonst erreiche ich nie etwas.«

»Dann ist der arme Kerl fertig«, seufzte Huey. »Sie geben einen Scheißdreck auf den alten Bambakias, Sie agieren hinter seinem Rücken. Der arme, alte Bombast… Ich hatte nie was gegen ihn; Mann, ich liebe die liberalen Yankee-Eierköpfe, die nicht mal ihre Fahrräder richtig abstellen können! Warum, zum Teufel, musste er sich mit mir wegen dieser beschissenen Geldgeschichten anlegen? Das habe ich ihm nicht verziehen! Ich kann es nicht haben, wenn mir ein frischgebackener Senator, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, ans Bein pinkelt. Ein Hungerstreik, du meine Güte – Scheiße, ich hab ihn schließlich nicht zum Hungern gezwungen! Er ist reich, er kann sich doch ein Essen im Restaurant leisten. Er hat völlig den Verstand verloren! Sie sind ein kluger Junge, Sie müssen das von Anfang an gewusst haben.«

»Ich wusste, dass er ein Idealist ist.«

»Wie sind Sie ausgerechnet auf ihn verfallen?«

»Er war als Einziger bereit, mich als Wahlkampfleiter einzustellen«, sagte Oscar.

Huey grunzte. »Aha! Ich verstehe! Jetzt blicke ich durch. Ich hätte mir denken können, dass Sie dahinterstecken, denn Sie haben wahres Format. Aber warum, zum Teufel, haben Sie ihn auf mich gehetzt? Wer sind Sie eigentlich? Was, zum Teufel, haben Sie in meinem Lieblingslabor verloren? Sie wissen ja nicht mal, was die da machen. Sie haben überhaupt keine Vorstellung davon, was die wert sind!«

»Ich habe so meine Vermutungen«, sagte Oscar. »Es bedeutet Ihnen sehr viel, und es ist eine Menge Geld wert.«

»Hören Sie, ich brauche das Labor. Ich brauche diese Leute. Klar tut sich da was Besonderes. Sonst hätte ich keinen solchen Wirbel veranstaltet. Ich wollte Ihnen das Ding demonstrieren. Das hätte alles verändert.«

»Gouverneur, versuchen Sie nicht, mich hinters Licht zu führen. Greta und ich wären in irgendeiner Salzmine vor der Küste verschwunden, wo Sie und Ihre Industriespione an Neuraltechnik arbeiten. Sie stehen vor einem großen Durchbruch, deshalb sind Sie so gereizt, und es hat etwas mit Willensbeeinflussung zu tun. Wir hätten uns in brave Zombies verwandelt. Wir wären Ihre zahmen Haustiere geworden und hätten zu all Ihren Vorschlägen Ja und Amen gesagt. Das ist der ultimate Netzangriff: die Zerrüttung des menschlichen Nervensystems.«

Huey brach in verblüfftes Gelächter aus. »Was? Für wen halten Sie mich eigentlich, für Mao Tse-Tung? Willenlose Roboter kann ich nicht gebrauchen! Ich brauche intelligente Leute, so viele intelligente Leute, wie ich kriegen kann! Sie begreifen überhaupt nichts!«

»Was genau ist mir denn nun entgangen?«

»Sie haben mich vergessen, Mann! Ich liebe meinen Staat! Ich liebe meine Leute! Klar, Sie verachten Louisiana, Mr. Harvard Business Boy – es ist korrupt, es ist heiß, es steht zur Hälfte unter Wasser, es ist ein karges Land, vergiftet von Pestiziden und Luftverschmutzung, nichts als Gas und Öl, das Ihr Yankees im Winter verbrennen könnt. Die Hälfte der Bevölkerung spricht die falsche gottverdammte Sprache, aber verdammt noch mal, hier leben immer noch Menschen! Meine Leute haben Seele, sie haben Geist, das sind authentische, reale Menschen! Wir sind nicht wie der Rest der USA, wo die Menschen zu krank und schockiert und zu müde sind und zu gut überwacht werden, um für eine anständige Zukunft zu kämpfen.«

Huey hustete heftig und brüllte dann weiter in den Hörer. »Man bezeichnet mich als ›Ganovengouverneur‹ – also, was bleibt mir denn anderes übrig? Diese ganzen ›Notstandsausschüsse‹ – die sind völlig illegal, repressiv und verfassungswidrig! Schauen Sie sich doch mal den neuen Präsidenten an! Dem sitzt der Finger am Abzug verdammt locker – und das ist Ihr bester Mann! Dieser Mann will mich aus meinem Parlamentsgebäude vertreiben – Scheiße, der Präsident würde mich gern beseitigen! Mein Leben ist bedroht! Ständig suche ich den Himmel ab, damit ich nicht von gottverdammten Röntgenlasern wie eine Fritte gebraten werde! Und Sie – Sie glauben, ich wollte Nobelpreisträger einer Lobotomie unterziehen! Nobelpreisträger! Sind Sie ebenso meschugge wie Ihr Boss? Allmächtiger Gott, weshalb sollte ich das tun? Was hätte ich davon?«

»Gouverneur, wenn Sie mir das alles früher gesagt hätten, wären wir vielleicht zu einer Einigung gekommen.«

»Warum, zum Teufel, hätte ich Ihnen irgendwas sagen sollen? Sie haben keinen Einfluss! Sie zählen nicht! Soll ich etwa vor jedem hergelaufenen Senatsangestellten die Hosen runterlassen? Sie sind ein politischer Albtraum, Mann – ein Spieler ohne Geschichte und Machtbasis, der aus dem gesellschaftlichen Abseits kommt! Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte alles wunderbar geklappt! Der Stützpunkt wäre pleite gegangen. Die Leute wären friedlich abgezogen. Und ich hätte sie für einen Appel und ein Ei aufgelesen.«

Kevin betrat das Labor. Er trug eine schlecht sitzende Uniform und sah aus, als habe er schlimme Fußschmerzen. »Einen Moment, Gouverneur«, sagte Oscar. Er legte die Hand aufs Mikrofon. »Kevin, wie haben Sie mich gefunden?«

»In die Telefone sind Positionsmelder eingebaut.«

Oscar würgte das Telefon mit der Faust. »Das haben Sie nie erwähnt.«

»Das brauchten Sie nicht zu wissen.« Kevin runzelte die Stirn. »Oscar, hören Sie. Wir müssen zum Medienzentrum gehen, und zwar sofort. Der Präsident der Vereinigten Staaten ist dran.«

»Oh.« Oscar nahm die Hand vom Mikrofon. »Entschuldigen Sie, Gouverneur. Ich kann die Unterhaltung jetzt nicht fortsetzen – ich muss einen Anruf des Präsidenten entgegennehmen.«

»Um diese Zeit?« brüllte Huey. »Schläft denn niemand mehr?«

»Auf Wiederhören, Gouverneur. Danke für Ihren Anruf.«

»Warten Sie! Warten Sie! Bevor Sie eine Dummheit machen, sollten Sie wissen, dass Sie immer noch zu mir kommen und mit mir reden können. Bevor alles außer Kontrolle gerät… sollten wir beim nächstenmal vorher reden.«

»Schön zu wissen, dass diese Option besteht, Euer Exzellenz.«

»Hören Sie, Mann! Noch was! Als Gouverneur von Louisiana bin ich ein großer Förderer der Genindustrie. Ich habe überhaupt kein Problem mit Ihrem persönlichen Hintergrund!«

Oscar legte auf. Seine Nerven summten wie ein defekter Transformator. Seine Augen brannten, und er hatte den Eindruck, als schwanke die Wand. Er legte Kevin den Arm um die Schulter. »Was machen Ihre Füße, Kevin?«

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ich bin ziemlich benommen.« Er nieste. Er hatte Herzklopfen.

»Müssen die Allergien sein«, meinte Kevin. »Jeder, der im Hochsicherheitstrakt arbeitet, bekommt Allergien. Eine Art Berufskrankheit.«

Kevins Geschwätz war Lichtjahre entfernt. »Äh… was haben Sie gesagt, Kevin?«

»Das Verständnis der Risiken am Arbeitsplatz ist für eine gefahrlose Berufsausübung unerlässlich, Mann.«

Oscar hatte nicht den Eindruck, dass er an den Folgen einer Allergie zu leiden hatte. Eher fühlte es sich an wie eine verschleppte Gehirnerschütterung. Oder vielleicht handelte es sich auch um die Nachwirkungen des militärischen Betäubungsgases. Oder um eine nahende böse Grippe. Es war schlimm. Sehr schlimm. Er fragte sich, ob er es überleben würde. Sein Herz setzte plötzlich aus und schlug dann so leicht und schnell, als sei in seinem Brustkasten eine Motte eingeschlossen. Er stolperte und wäre beinahe gestürzt.

»Ich glaube, ich brauche einen Arzt.«

»Klar, Mann, später. Sobald Sie mit dem Präsidenten gesprochen haben.«

Oscar blinzelte mehrmals hintereinander. In seinen Augen schwammen Tränen. »Ich kann nicht mal mehr richtig sehen.«

»Nehmen Sie ein paar Antihistamine. Hören Sie, Mann – Sie können jetzt nicht schlappmachen, der Präsident will Sie sprechen! Kapiert? Sie haben das große Los gezogen. Wenn es Ihnen nicht gelingt, ihn wegen der Schießerei am Sabine River zu beruhigen, bin ich erledigt. Dann kann ich den Böser-Weißer-Terroristenrap anstimmen, gleich neben meinem Dad. Und Sie und Dr. Penninger, für Sie dürfte es ebenfalls verdammt ernst werden. Okay? Sie müssen das wieder hinbiegen.«

»Stimmt«, sagte Oscar und straffte sich. Kevin hatte völlig Recht. Dies war der entscheidende Moment seiner Laufbahn. Der Präsident wartete. Er durfte nicht versagen. Und dabei hatte er Herzflimmern.

Kevin geleitete ihn durch die Schleuse des Hochsicherheitstrakts. Dann löste er ein monströses Telefon vom Gürtel und rief ein Taxi, worauf zwölf leere Wagen gleichzeitig eintrafen. Kevin wählte einen aus, und sie fuhren zum Medienzentrum. Einen Aufzug hoch. Kevin führte ihn in einen grünen Raum, wo Oscar zunächst den Kopf unter einen Wasserhahn hielt. Er hatte stark abgebaut. Auf Brust und Hals hatte er scharlachroten Ausschlag. Seine Hände zitterten heftig. Seine Haut war straff gespannt und prickelte. Gleichwohl stellte der kalte Wasserschwall auf den Nacken seine schlangenhafte Wachsamkeit wieder her.

»Haben Sie einen Kamm?« fragte Oscar.

»Sie brauchen keinen Kamm«, entgegnete Kevin. »Der Präsident hat über ein Kopfdisplay angerufen.«

»Was?« meinte Oscar. »Virtuelle Realität? Sie machen Witze! Sowas klappt doch nicht.«

»In sämtlichen staatlichen Laboratorien wurde VR installiert. Eine Initiative zur Förderung der Übertragung mit hoher Bandbreite, gestartet vor einer Million Jahren. Im Keller des Weißen Hauses gibt es eine VR-Anlage.«

»Wissen Sie überhaupt, wie man mit dem Ding umgeht?«

»Scheiße, nein! Ich musste die halbe Belegschaft aus dem Bett holen, bis ich jemanden gefunden hatte, der das Gerät booten konnte. Jetzt hat sich hier ein größeres Publikum versammelt. Die wissen alle, dass der Präsident anruft. Wissen Sie, wie lange es her ist, dass ein Präsident von der Anlage Notiz genommen hat?«

Oscar rang nach Atem, starrte in den Spiegel, bemühte sich, seinen Herzschlag zu beruhigen. Dann ging er ins Studio hinüber, wo man ihm ein Behältnis überstülpte, das an den Helm eines Tiefseetauchers erinnerte.

Der Präsident spazierte gerade am Fuße der majestätischen purpurfarbenen Rocky Mountains durch bernsteinfarbenes Getreide. Nach einem Moment der Desorientierung erkannte Oscar den Hintergrund wieder. Er stammte von einem der Wahlkampfplakate von Two Feathers.

Leonard Two Feathers war alles andere als der schönheitschirurgisch aufbereitete Gegenwartspolitiker. Der Präsident hatte große, flache Wangenknochen, eine Adlernase, einen Banktresor von einem Mund. Langes, schwarz-graues Haar floss ihm über die Schultern. Wie üblich trug er eine Fransenjacke aus Hirschleder. Die schwarzen, schlauen Augen des Präsidenten standen so weit auseinander wie die eines Hammerhais.

»Mr. Valparaiso?« sagte der Präsident.

»Ja? Guten Abend, Mr. President.«

Der Präsident musterte ihn schweigend. Offenbar nahm er Oscar als körperloses, in Schulterhöhe schwebendes Gesicht wahr.

»Wie ist die Lage in Ihrem Labor? Sind Sie wohlauf, Sie und die Direktorin, Dr. Penninger?«

»Soweit, so gut, Sir. Wir haben das Gelände dichtgemacht. Wir wurden Opfer eines schweren Computerangriffs, der unser Finanzsystem ruiniert hat, deshalb mussten wir die meisten Telefon- und Computerleitungen unterbrechen. Wir haben noch interne Probleme mit einer Gruppe Unzufriedener, die ein Gebäude besetzt haben. Aber gegenwärtig ist unsere Lage stabil.«

Der Präsident ließ das Gehörte einsinken. Er kaufte ihm die Geschichte ab. Aber sie machte ihn nicht glücklich. »Beantworten Sie mir eine Frage, junger Mann. Was haben Sie mir da eingebrockt? Weshalb waren ein französisches U-Boot und dreihundert Cajun-Guerillas nötig, um Sie und irgendeine Neurologin zu kidnappen?«

»Gouverneur Huguelet wollte mit uns sprechen. Er will diese Anlage haben, Mr. President. Er verfügt über starke irreguläre Einsatzkräfte. Er verfügt über mehr Einsatzkräfte, als er zu kontrollieren vermag.«

»Also, die Anlage kann er nicht haben.«

»Nein, Sir?«

»Nein, er kann sie nicht haben – und Sie auch nicht. Und zwar weil sie dem Land gehört, verdammt noch mal! Was denken Sie sich eigentlich? Sie können doch keine Moderatorenmiliz anheuern und ein staatliches Laboratorium einnehmen! Das gehört nicht zu Ihrem Berufsbild! Sie sind ein Wahlkampfmanager mit einem Auftrag. Sie sind nicht Davy Crockett!«

»Mr. President, ich bin völlig Ihrer Meinung. Aber uns bot sich keine andere realistische Option. Green Huey stellte ganz offensichtlich eine Gefahr dar. Er hat sich mit einer ausländischen Macht verbündet. Er beherrscht seinen Bundesstaat vollkommen, und jetzt startet er auch noch paramilitärische Aktionen jenseits der Staatsgrenze. Was blieb mir anderes übrig? Mein Sicherheitschef hat Ihre für die nationale Sicherheit zuständige Dienststelle so rasch wie möglich informiert. In der Zwischenzeit habe ich im Rahmen meiner Möglichkeiten gehandelt.«

»Welcher Partei gehören Sie an?« fragte der Präsident.

»Ich bin Demokrat, Sir.«

Der Präsident überlegte. Er selbst gehörte der Sozialpatriotischen Bewegung an, den ›Sozpats‹. Die Sozpats waren die führende Fraktion des Linken Traditionsblocks, dem auch die Sozialdemokraten, die Kommunisten, die Partei ›Macht für das Volk‹, das ›Arbeitende Amerika‹ und die alte und verbrauchte Demokratische Partei angehörten. Der Linke Traditionsblock hatte in letzter Zeit weniger unter ideologischen Auseinandersetzungen zu leiden gehabt als in früheren Zeiten. Daher war es ihm mit knappem Vorsprung gelungen, den Präsidenten zu stellen.

»Das heißt, Sie arbeiten für Senator Bambakias aus Massachusetts?«

»Ja, Sir.«

»Was haben Sie in ihm gesehen?«

»Ich mochte ihn. Er besitzt Phantasie und ist nicht korrupt.«

»Also«, sagte der Präsident, »ich bin kein seelisch kranker Senator. Ich bin zufällig Ihr Präsident. Ich bin Ihr vereidigter Präsident, und ich habe naive, unerfahrene Mitarbeiter, die sich von schnell redenden Gaunern mit verwandtschaftlichen Beziehungen zu weißen, rassistischen Gangstern leicht beschwatzen lassen. Wegen Ihnen bin ich nun ein Präsident, der bedauerlicherweise Schuld daran hat, dass mehrere Dutzend Menschen verletzt und getötet wurden. Einige von ihnen waren ausländische Spione. Die meisten aber waren Landsleute.« Trotz seines zur Schau getragenen Bedauerns machte der Präsident den Eindruck, als sei er bereit, jederzeit wieder zu töten.

»Mr. Valparaiso, ich möchte, dass Sie mir aufmerksam zuhören. Mir bleiben noch drei bis vier Wochen, dann habe ich mein politisches Kapital aufgezehrt. Dann ist der Honeymoon vorbei, und man wird gnadenlos über mich herfallen. Wie jeder amerikanische Präsident in den vergangenen zwanzig Jahren werde auch ich mit Anwälten zu tun haben, mit der Verfassung, mit Palastrevolutionen, Enthüllungsskandalen, Finanzskandalen und Notstandsintrigen. Das alles möchte ich überleben. Aber ich habe kein Geld, denn das Land ist pleite. Ich kann dem Kongress nicht trauen, und den Notstandsausschüssen schon gar nicht. Ich kann meinem eigenen Parteiapparat nicht trauen. Ich bin der Oberbefehlshaber der Nation, aber ich kann mich nicht einmal auf die Streitkräfte verlassen. Somit bleibt mir nur ein Mittel, meine Präsidentenmacht auszuüben. Meine geheimen Eingreiftruppen.«

»Ja, Mr. President.«

»Meine geheimen Eingreiftruppen sind schießwütig! Sie haben soeben in der Dunkelheit der Nacht einen Haufen Leute abgeknallt, aber wenigstens sind sie keine Politiker, daher tun sie, was man ihnen sagt. Und da sie geheim sind, gibt es sie offiziell gar nicht. Daher hat sich der Vorfall offiziell nicht ereignet. Wenn also alle beteiligten Parteien den Mund halten, kann man mich für das Massaker an der Grenze von Louisiana auch nicht zur Rechenschaft ziehen. Können Sie mir folgen?«

»Ja, Sir.«

»Ich möchte, dass Sie morgen als Erstes von ihrem Senatsposten zurücktreten. Ein solches Ding wie das von gestern Nacht können Sie sich als Kongressangestellter nicht erlauben. Vergessen Sie den Senat und vergessen Sie ihren bedauernswerten Freund, den Senator. Sie sind ein Pirat. Sie können diese Sache nur überleben, wenn Sie meinem Stab für Nationale Sicherheit beitreten. Und das werden Sie auch tun. Von nun an arbeiten Sie für den Präsidenten. Sie werden mir Bericht erstatten. Ihr neuer Titel lautet ›Wissenschaftlicher Berater des Nationalen Sicherheitsrates ‹.«

»Ich verstehe, Sir. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, das ist eine gute Lageeinschätzung.« Er würde den Job auf jeden Fall annehmen. Damit hätte er sich aus Bambakias’ innerem Zirkel gelöst; außerdem bliebe ihm monatelange mühsame Arbeit im Wissenschaftsausschuss erspart. Das war, als verliere er zwei Gehirnlappen auf einmal. Dennoch würde er natürlich alles stehen und liegen lassen, um für den Präsidenten zu arbeiten. Schließlich bedeutete dies, in einen viel höheren Machtzirkel aufzusteigen – in einen Machtzirkel, wo ringsum die Optionen blühten wie Edelweiss. »Ich danke Ihnen für das Angebot, Mr. President. Es ist mir eine Ehre. Ich nehme Ihr Angebot mit Freuden an.«

»Sie haben sich aufgeführt wie ein Cowboy. Das war schlimm. Sehr schlimm. Aber von jetzt an sind Sie mein Cowboy. Und um sicherzustellen, dass es zu keinen unvorhergesehen Ereignissen mehr kommt, schicke ich Ihnen ein Elite-Fallschirmjägerregiment, um das Laboratorium zu sichern. Es wird morgen gegen siebzehn Uhr eintreffen.«

»Ja, Mr. President.«

»Mein Stab wird den Soldaten eine vorbereitete Erklärung mitgeben, welche die Direktorin vor der Kamera verlesen soll. Damit die Zuständigkeiten von nun an geklärt sind. Das ist also Ihr Marschbefehl, erteilt vom Oberkommandierenden der Streitkräfte. Sie sorgen dafür, dass die Anlage nicht Gouverneur Huguelet in die Hände fällt. Sie schützen die Daten vor ihm, sie halten das Personal von ihm fern, Sie riegeln die Anlage solange hermetisch ab, bis ich weiß, worauf der kleine Mann so versessen ist. Wenn Sie erfolgreich sind, hole ich Sie ins Weiße Haus. Scheitern Sie, gehen wir beide mit Pauken und Trompeten unter. Aber Sie werden als Erster untergehen, und es wird sehr ungemütlich für Sie werden, denn ich werde auf Sie drauffallen. Haben wir uns verstanden?«

»Jawohl, Mr. President.«

»Willkommen in der wunderbaren Welt der Exekutive.« Der Präsident verschwand. Das bernsteinfarbene Weizenfeld wogte unentwegt weiter.


Mit großer Mühe befreite man Oscar aus der VR-Vorrichtung. Er war umringt von zweihundert Personen.

»Und?« meinte Kevin, ein Mikrofon schwenkend. »Was hat er gesagt?«

»Er hat mich eingestellt«, verkündete Oscar. »Von nun an gehöre ich dem Nationalen Sicherheitsrat an.«

Kevin riss die Augen auf. »Tatsächlich?« Oscar nickte. »Der Präsident gibt uns Rückendeckung! Er schickt Truppen, um uns zu schützen!«

Tosender Jubel brach los. Die Anwesenden konnten es nicht fassen. Ihre Reaktion hatte einen hysterischen Unterton; Farce, Tragödie, Triumph; sie waren vor Freude außer sich. Sie herzten einander und brüllten in ihre Telefone.

Kevin schaltete das Mikro aus und warf es beiseite. »Hat er sich auch über mich geäußert?« erkundigte er sich besorgt. »Ich meine, darüber, dass ich ihn vergangene Nacht aufgeweckt habe und all das?«

»Das hat er, Kevin. Er hat Sie ausdrücklich erwähnt.«

Kevin wandte sich seiner Nachbarin zu, die zufällig Lana Ramachandran war. Lana hatte gerade geduscht und war in Bademantel und Pantoffeln ins Medienzentrum geeilt. »Der Präsident hat mich zur Kenntnis genommen!« erklärte ihr Kevin und richtete sich zu voller Größe auf; plötzlich wirkte er wie geadelt. »Er hat mich erwähnt! Ich bin keine Null! Der Präsident nimmt mich ernst.«

»Mein Gott, Sie sind wirklich ein hoffnungsloser Fall!« entgegnete Lana und biss die Zähne zusammen. »Wie konnten Sie das dem armen Oscar bloß antun?«

»Was denn?«

»Schauen Sie ihn sich doch an, Dummkopf! Er hat Nesselausschlag.«

»Das ist kein Ausschlag«, widersprach Kevin und musterte Oscar forschend. »Das ist eher eine Hitzewallung oder sowas.«

»Und die Beule am Kopf? Sie sollten ihn schützen, Sie Idiot! Stattdessen bringen Sie ihn um! Er ist doch auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut!«

»Nein, ist er nicht«, entgegnete Kevin verletzt. Sein Telefon läutete. Er ging dran. »Ja?« Während er zuhörte, wurde seine Miene immer länger.

»Dieser bescheuerte Pseudopolizist«, knurrte Lana. »Oscar, was ist mit Ihnen? Sagen Sie was. Lassen Sie mich mal Ihren Puls fühlen.« Sie ergriff sein Handgelenk. »Mein Gott! Ihre Haut ist so heiß!«

Lanas Bademantel klaffte auf. Oscar betrachtete eine runzlige braune Brustwarze und wurde dabei von jäher sexueller Erregung erfasst. Er war außer Kontrolle. »Ich muss mich hinlegen«, sagte er.

Lana sah ihn an, biss sich auf die Lippen. Ihre braunen Rehaugen standen voller Tränen. »Weshalb sagen Sie mir nicht, wie es um Sie steht? Armer Oscar! Niemand kümmert sich um Sie.«

»Könnte ich vielleicht einen Schluck Eiswasser haben?« murmelte er.

Lana entdeckte seinen Hut und setzte ihn Oscar auf. »Ich bringe Sie hier raus.«

»Oscar!« rief Kevin. »Das Südtor ist offen! Das Labor wird angegriffen! Von mehreren hundert Nomaden!«

Oscar antwortete wie aus der Pistole geschossen. »Handelt es sich um Regulatoren oder Moderatoren?« Die Worte waren allerdings unverständlich. Seine Zunge war auf einmal angeschwollen. Sie war aufgedunsen und riesengroß. Es war, als habe er zwei Zungen im Mund.

»Was sollen wir tun?« fragte Kevin.

»Lassen Sie ihn in Ruhe! Lassen Sie ihn!« kreischte Lana. »Jemand muss mir helfen, ihn rauszuschaffen! Er braucht Hilfe.«


In der Laborklinik wurde Oscar vom Personal die übliche Mischung aus Verwirrung und höflicher Besorgnis entgegengebracht. Er wies zahlreiche Krankheitssymptome auf, die sich freilich nicht genau diagnostizieren ließen, da sein Stoffwechsel sich von dem anderer Menschen unterschied. Er hatte hohes Fieber, Herzrasen, Hautausschlag und einen stark erhöhten Blutdruck. Angesichts seines einzigartigen medizinischen Hintergrunds war es schwer, die richtige Behandlung zu finden.

Gleichwohl taten ihm ein ordentlicher Kopfverband, eine Eispackung und ein paar Stunden Ruhe ausgesprochen gut. Schließlich fiel er in einen heilsamen Schlaf. Er erwachte gegen Mittag, noch immer erschöpft und arg mitgenommen, aber doch wieder Herr seiner selbst. Er setzte sich im Krankenbett auf, trank einen Schluck Tomatensaft und sah sich auf dem Laptop an, was es Neues gab. Kevin war nicht zugegen. Lana hatte darauf bestanden, dass ihn das Team in Ruhe ließ.

Um eins vernahm Oscar plötzlich das Geschnatter von Besuchern. Vier langhaarige, mit Stiefeln bekleidete Nomaden platzten in sein Zimmer. Der Erste war General Burningboy. Seine drei jüngeren Begleiter wirkten ausgesprochen furchteinflößend – sie trugen Kriegsbemalung, blickten finster drein und waren sehr muskulös.

Der General hatte ihm einen großen Blumenstrauß mitgebracht. Stechpalme, gelbe Narzissen und Mistelzweige. Die Symbolik der Blumen lag auf der Hand.

»Na, wie geht’s?« meinte Burningboy, schnappte sich eine Vase und ließ deren Inhalt zu Boden fallen. »Hab gehört, Ihnen ging’s schlecht, da wollte ich mit meinen Jungs mal vorbeischauen und Sie ein bisschen aufmuntern.«

Oscar musterte die Eindringlinge nachdenklich. Er freute sich, sie zu sehen. Es half seiner Moral auf die Beine, so rasch wieder gefragt zu sein. »Das ist nett von Ihnen, General. Nehmen Sie doch Platz.«

Burningboy setzte sich ans Fußende des Betts, das unter seinem Gewicht bedrohlich quietschte. Seine drei Begleiter ignorierten die beiden Stühle und hockten sich schweigend auf den Boden. Der älteste lehnte sich mit dem Rücken fest gegen die Tür.

»Nicht ›General‹. Corporal. Ich bin jetzt Corporal Burningboy.«

»Wie kam es zu der Degradierung?«

»Ganz einfach. Indem ich fünfzig Mädchen in diese Anlage geschickt habe, habe ich meine Netzwerkreputation und meine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Diese jungen Frauen haben Väter, Mütter, Brüder und Schwestern – sogar schon Freunde. Ich habe diese kleinen Schätzchen in Gefahr gebracht und trage die Verantwortung dafür. Und das hat meine Glaubwürdigkeit so ziemlich aufgebraucht. Die jahrelange Mühe – alles umsonst! Jetzt bin ich nichts weiter mehr als ein kleines Arschloch.«

Oscar nickte. »Ich nehme an, das hat etwas mit Ihren Vertrauensservern und den Nomadennetzwerken zu tun.«

»Ja. So ist es.«

»Es scheint mir absurd, dass Sie herabgestuft wurden, obwohl der paramilitärische Einsatz doch erfolgreich war.«

»Nun ja…« Burningboy blinzelte. »Ich könnte vielleicht einen Teil des verlorenen Ansehens zurückgewinnen – wenn es mir gelänge, zu beweisen, dass wir Moderatoren einen Nutzen aus der ganzen riskanten Unternehmung ziehen.«

»Aha.«

»Bislang springt für uns nicht das Geringste dabei heraus, von den schlaflosen Nächten der besorgten Familien unserer tapferen Kriegerinnen einmal abgesehen.«

»Corporal, Sie haben Recht. Ich schließe mich Ihrer Analyse an. Ihre Hilfe war von unschätzbarem Wert, und wir haben uns bislang nicht erkenntlich gezeigt. Ich stehe zu unserer Schuld. Auf mein Wort ist Verlass. Ich möchte, dass Sie glücklich sind, Corporal Burningboy. Sagen Sie mir, was Sie haben wollen.«

Burningboy wandte sich lächelnd an einen seiner Begleiter. »Habt ihr das gehört? Eine wundervolle Ansprache, nicht wahr? Hast du alles mitgeschnitten?«

»Positiv«, knurrte der Nomade.

Burningboy drehte sich wieder zu Oscar herum. »Ich meine, mich an gewisse Versprechungen erinnern zu können, die besagten, dass wir eine gute Presse bekommen und als die Ritter und Paladine der staatlichen Ordnung dastehen und unsere Rivalen, die Regulatoren, in Verlegenheit bringen würden… Nicht, dass ich auch nur einen Moment an Ihrem Ehrenwort zweifeln würde, Mr. Präsidentenberater, aber ich habe mir gedacht, vierhundert Moderatoren in der Anlage wären vielleicht ein… wie habe ich mich noch gleich ausgedrückt?«

»Du hast von einem Anreiz gesprochen«, meinte Schläger Nummer zwei.

»Genau. Ein Anreiz.«

»Also schön«, sagte Oscar. »Die Anlage befindet sich in Ihrer Gewalt. Ihre Kämpferinnen haben sie heute Nacht eingenommen; und jetzt haben Sie sie mit mehreren hundert Leuten besetzt. Das war nicht Teil unserer Vereinbarung, aber ich habe Verständnis für Ihre Motive. Ich hoffe, Sie haben auch für meinen Standpunkt Verständnis. Ich habe heute Nacht mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gesprochen. Er hat mir gesagt, er will Truppen schicken.«

»Ach ja?«

»Ja. Er hat mir eine Elitebrigade Fallschirmjäger versprochen, die heute Nachmittag hier eintreffen sollen. Vielleicht möchten Sie Ihre Entscheidungen ja noch einmal überdenken.«

»Mann, das ist typisch Two Feathers«, seufzte Burningboy. »Ich will damit nicht sagen, der alte Geronimo hätte Sie tatsächlich angelogen oder so, aber für solche Dinge ist er berüchtigt. Wir Moderatoren haben in Colorado eine lange Geschichte, und als Two Feathers dort noch Gouverneur war, meinte er immer, er würde die Nationalgarde holen und die so genannte Ordnung wiederherstellen… Hin und wieder hat er es auch tatsächlich getan, um uns zu verunsichern. Aber bloß weil Two Feathers Kriegsbemalung trägt, heißt das noch lange nicht, dass es auch Krieg gibt.«

»Dann wollen Sie also behaupten, der Präsident werde keine Truppen entsenden?«

»Nein. Ich sage bloß, dass wir nicht abrücken werden, bevor sich diese so genannten Truppen blicken lassen. Vielleicht werden wir nicht einmal dann abrücken. Ich weiß nicht, ob Sie sich über die Lage im Klaren sind, schließlich sind Sie aus Massachusetts, nicht wahr. Aber wir Moderatoren haben ein paar Absprachen mit dem Gouverneur von Colorado getroffen. Genau genommen schuldet er uns ein paar Gefallen.«

»Das ist eine interessante Feststellung, Corporal.«

»Wir Nomaden treiben uns gern an Orten rum, wo außer uns niemand überleben kann. Deshalb sind wir bisweilen ganz nützlich. Und so war es auch, als Wyoming kürzlich in Flammen stand.«

»Ich verstehe.« Oscar überlegte. »Warum erzählen Sie mir das?«

»Sir, weil ich jemandem, dem es schlecht geht, nicht gern zusetze… Aber offen gesagt sind Sie der Einzige, dem ich diese Dinge erzählen kann. Sie scheinen mir so ziemlich der Einzige zu sein, der dafür infrage kommt. Ich meine, soeben hat uns Ihre so genannte Direktorin den Kopf gewaschen. Die Frau hört einfach nicht zu. Sie hat keine Ahnung, wie die Menschen leben! Wir haben ihr erklärt, dass wir jetzt das Heft in der Hand halten und dass sie uns auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist und so weiter, aber sie nimmt es uns einfach nicht ab. Sie wartet einfach, bis ich den Mund zumache, und dann hält sie mir einen bescheuerten Vortrag über intellektuelle Freiheit und die Segnungen des Wissens und weiß der Himmel was noch alles… Die ist wirklich seltsam. Sie verhält sich seltsam, sie sieht seltsam aus, sie ist eine seltsame kleine Hexe. Dann haben wir versucht, mit Ihrem so genannten Polizeichef zu reden… Was ist das für ein Typ?«

»Was meinen Sie damit, Corporal?«

Burningboy wand sich unbehaglich, war aber entschlossen, die Sache zu Ende zu bringen. »Nicht, dass ich was gegen Anglos hätte! Ich meine, klar gibt es brave, ordentliche, gesetzestreue Anglos. Aber schauen Sie sich doch bloß mal die Statistik an! Die Kriminalitätsrate für Schreibtischverbrechen schlägt bei den Anglos alle Rekorde! Und was die Gewaltbereitschaft angeht – Mann, Weiße sind die gewalttätigste ethnische Gruppe in ganz Amerika. All diese Kreuzigungen, die Bombenanschläge und die Amokläufer… die armen Schweine kriegen’s einfach nicht in den Griff.«

Oscar überlegte einen Moment. Es verletzte ihn jedesmal, wenn jemand über die Eigenheiten ›der Weißen‹ sprach. So etwas wie ›Weiße‹ gab es einfach nicht. Dieses Stereotyp war ebenso ein Konstrukt wie der Begriff ›Hispanos‹. Überall sonst auf der Welt war ein Peruaner ein Peruaner und ein Brasilianer ein Brasilianer – bloß in Amerika gab es diese mehrsprachige, multinationale Gruppe, deren Angehörige als ›Hispanos‹ bezeichnet wurden. Oscar selbst wurde zumeist für einen ›Hispano‹ gehalten, wenngleich sich seine ethnische Herkunft am besten als ›nichtmenschlichen Ursprungs‹ charakterisieren ließ.

»Sie sollten meinen Freund Kevin näher kennen lernen«, sagte er. »Kevin ist etwas ganz Besonderes.«

»Okay. Klar. Es gefällt mir, wenn jemand zu seinen Freunden steht«, meinte Burningboy. »Und deshalb bin ich jetzt hier, Oscar. Sie sind hier der einzige Mensch, mit dem man vernünftig reden kann. Sie sind der Einzige, der überhaupt kapiert, was läuft.«

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