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Oscar zog Klebeband von einer gelben Rolle ab und wickelte es um einen Betonblock. Er schwenkte einen Handscanner über dem Block und aktivierte das Klebeband. Es ging auf ein Uhr morgens zu. Der Wind, der aus dem finsteren Pinienwald wehte, war feucht und unangenehm, doch Oscar arbeitete angestrengt, und das garstige Wetter war ihm gerade recht.

»Ich bin ein Eckstein«, verkündete der Betonblock.

»Schön für dich«, knurrte Oscar.

»Ich bin ein Eckstein. Bewegen Sie mich fünf Schritte nach links.«

Oscar überging die Bemerkung und umwickelte rasch noch sechs weitere Blöcke mit Klebeband. Über jedem Stein schwenkte er den Scanner, dann trug er den letzten Block beiseite, um die nächste Reihe abzuschließen.

Als er die beschuhten Hände darum legte, warnte ihn der Stein: »Bauen Sie mich noch nicht ein. Nehmen Sie erst den Eckstein.«

»Klar«, meinte Oscar. Das Bausystem beherrschte ein sehr begrenztes Fachvokabular. Bedauerlicherweise hörte das System nicht sonderlich gut. Die in das Sprechband eingebetteten winzigen Mikrofone waren weit weniger effektiv als die daumennagelgroßen Lautsprecher. Gleichwohl fiel es schwer, einem Betonblock, der mit solcher Gewandheit und Autorität sprach, die Antwort schuldig zu bleiben. Die Betonblöcke hörten sich an wie Franklin Roosevelt.

Bambakias hatte dieses Bausystem entwickelt. Wie viele Entwicklungen des Architekten war auch dieses System sehr funktional, steckte dabei aber voller Manieriertheiten. Oscar hatte volles Vertrauen zu dem System, ein pragmatischer Glaube, der auf Erfahrung gründete. Oscar hatte auf vielen von Bambakias’ Baustellen wie ein Maultier geschuftet. Bislang hatte noch niemand Alcott Bambakias’ Vertrauen gewonnen oder in seinen engsten Kreis Eingang gefunden, ohne dass er sich zuvor krumm gemacht hätte.

Körperliche Arbeit war das A und O in Bambakias’ intellektuellem Salon. W. Alcott Bambakias hatte zahlreiche unorthodoxe Überzeugungen, doch ganz vorne rangierte der unbedingte Glaube, dass Speichellecker und schlechte Künstler leicht ermüdeten. Wie viele Angehörige der modernen Oberschicht neigte auch Bambakias zu großzügigen Gesten und schleuderte gerne Golddukaten unters Volk. Seine Großzügigkeit zog Parasiten an, doch der ›Sommersoldaten und Schönwetterpatrioten‹, wie er sie nannte, entledigte er sich dadurch, dass er ihnen wiederholt äußerste körperliche Anstrengungen abverlangte. »Das macht Spaß«, verkündete Bambakias dann mit einem breiten Grinsen und krempelte sich die maßgeschneiderten Hemdsärmel hoch. »Da bekommen wir Ergebnisse zu sehen.«

Bambakias war kein Tagelöhner. Er war ein reicher Intellektueller, und seine Frau war eine bekannte Kunstsammlerin. Und aus eben diesen Gründen empfand das Paar ein perverses Vergnügen dabei, sich in der Öffentlichkeit Blasen und Sehnenzerrungen zuzuziehen und dabei zu schwitzen wie die Schweine. Das gefurchte, aber angenehme Gesicht des Architekten strahlte vor Noblesse-oblige wie ein Hundert-Watt-Strahler, wenn er in seinen Edeloveralls und mit Rückenstütze zu Werke ging. Seine elegante Gemahlin schleppte mit masochistischem Vergnügen Baumaterial, wobei ihre wie gemeißelt wirkenden Gesichtszüge die grimmige Entschlossenheit eines bügelnden Supermodels widerspiegelten.

Oscar war in Hollywood aufgewachsen. Das Poseurhafte bei den Bambakias hatte ihn nie gestört. Die Markenanzüge mit passendem Hut und Cape, die maßgeschneiderten Kleider, die glamourösen Wohltätigkeitsveranstaltungen in Boston – derlei Dinge übten auf Oscar eine wohltuend heimelige Wirkung aus. Das Konstruktionssystem machte es auf jeden Fall wieder wett. Das System spiegelte keine falschen Tatsachen vor – es funktionierte tadellos. Beliebig viele Leute konnten mitmachen. Das System bot für jeden Platz. Es war sowohl ein Netzwerk als auch ein Lebensstil, es gründete in digitaler Kommunikation und mündete in die steinharte Realität von Wänden und Böden. Es war trostreich, mit einem solchen System zu arbeiten, denn es löste seine Versprechen ein und führte stets zu Ergebnissen.

Das texanische Hotel beispielsweise war eine rein virtuelle Konstruktion, lauter Einsen und Nullen, eingeschlossen in einem Chip. Gleichwohl strebte das Hotel heftig danach, Wirklichkeit zu werden. Es würde sehr schön werden, und es war bereits sehr smart. Es vermochte sich mit gutem Zureden aus einem Haufen Rohmaterial zu konkretisieren. Es würde ein gutes Hotel werden. Es würde der Gegend und der Stadt gut tun. Es würde Wind und Regen abhalten. Menschen würden darin wohnen.

Oscar schleppte den selbsternannten Eckstein zur Südwand. »Hier gehöre ich her«, erklärte der Stein. »Bedecken Sie mich mit Mörtel.«

Oscar nahm eine Kelle zur Hand. »Ich bin das Werkzeug für den Mörtel«, piepste die kleine Kelle fröhlich. Oscar beschmierte die raue Oberfläche des Steins mit dicker grauer Paste. Eigentlich war dies kein richtiger Mörtel, aber das Polymer war ebenso billig und funktionierte viel besser, deshalb hatte man die Bezeichnung beibehalten.

Oscar wuchtete den Betonblock auf die hüfthohe Mauer. »Nach rechts«, drängte der Block. »Nach rechts, nach rechts, nach rechts… Nach links… Wieder zurück… Drehen Sie mich, drehen, drehen, drehen… Gut! Und jetzt scannen Sie mich.«

Oscar hob den Scanner an der Plastikschnur hoch und schwenkte ihn über dem Block. Der Scanner überprüfte die Positionierung des Blocks, dann piepste er zufrieden.

Oscar war bereits seit zwei vollen Stunden mit Mauern beschäftigt. Er war einfach mitten in der Nacht zur Baustelle marschiert, hatte sich eingeloggt, das System gebootet und dort weitergemacht, wo die Mannschaft am Abend aufgehört hatte.

Diese spezielle Wand durfte nicht mehr viel höher werden. Schon bald müssten sie sich um die Installationsarbeiten kümmern. Oscar hasste das Verlegen von Rohren, das stets die meisten Probleme bereitete. Die Installationsarbeiten waren eine uralte Technik, kein Plug-and-Play, niemals so leicht wie alles, was mit Computern zu tun hatte. Wenn es an die Installationen ginge, würde Bambakias’ Konstruktionssystem klugerweise passen. Alle höheren Funktionen würden solange erlöschen, bis die Rohre verlegt waren.

Oscar nahm den Hut ab und presste sich die beschuhten Hände auf die eiskalten Ohren. Morgen würde er bestimmt Rückenschmerzen und Muskelkater haben. Dies wäre aber eine seiner kleineren Sorgen.

Oscar trat unter einen paraboloiden Scheinwerfer, um nach den Versandkisten voller Installationsmaterial zu suchen. Der Scheinwerfer schwenkte auf der Stange herum, der Lichtkegel folgte Oscars Schritten. Er kletterte auf eine mächtige Kabelrolle, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Der Lichtkegel stieg mit ihm in die Höhe und fiel auf das zertrampelte Wintergras. Auf einmal bemerkte Oscar einen Fremden, eingemummt in eine dick gefütterte Jacke und mit einem Wollhut auf dem Kopf. Der Fremde stand unter einer Pinie auf dem geborstenen Gehsteig und blickte durch den Sicherheitszaun aus orangefarbenem Plastik.

Bambakias’ Baustellen zogen stets Neugierige an. Nur wenige Neugierige aber kamen um ein Uhr morgens, in Dunkelheit und Kälte. Aber anscheinend gab es sogar im kleinen Buna ein Nachtleben. Wahrscheinlich war der Bursche bloß betrunken.

Oscar legte die beschuhten Hände trichterförmig um den Mund. »Möchten Sie mir vielleicht helfen?« Das war die übliche Einladung auf Bambakias’ Baustellen. Das gehörte zum Spiel. Es war erstaunlich, wie viele selbstlose, tatkräftige Freiwillige sie auf diese Weise dauerhaft angeworben hatten.

Der Fremde zwängte sich unbeholfen durch eine Lücke im orangefarbenen Maschendrahtzaun und trat ins Scheinwerferlicht.

»Willkommen auf der Baustelle unseres zukünftigen Hotels! Waren Sie schon einmal hier?«

Stummes Kopfschütteln.

Oscar kletterte von der Kabelrolle hinunter. Er hob eine Schachtel mit vakuumisolierten Handschuhen auf und brachte sie dem Fremden. »Probieren Sie die mal an.«

Der Fremde – eine Frau – zog die bloßen, spinnenartigen Hände aus den Jackentaschen. Oscar blickte überrascht in das vom Hut beschattete Gesicht. »Dr. Penninger! Guten Morgen.«

»Mr. Valparaiso.«

Oscar wählte ein geschmeidiges, extra-großes Paar aus, dessen biegsame Plastikfinger mit Noppen besetzt waren. Er hatte an diesem Abend nicht mit Gesellschaft gerechnet, geschweige denn mit einem hochrangigen Mitglied des Verwaltungsrats. Es verblüffte ihn, Greta Penninger unter diesen Umständen zu begegnen, doch es hätte keinen Sinn gehabt zu zögern. »Probieren Sie die Handschuhe mal an, Doktor… Sehen Sie das gelbe Band an den Knöcheln? Das sind Lokalisierer, damit das Konstruktionssystem ständig über die Position Ihrer Finger Bescheid weiß.«

Dr. Penninger zog die Handschuhe an, verdrehte die schmalen Handgelenke wie ein Chirurg beim Händewaschen.

»Sie brauchen einen Helm, eine Rückenstütze und Schuhkappen. Knieschützer wären auch nicht schlecht. Wenn es Ihnen recht ist, logge ich Sie jetzt in das System ein.«

Oscar suchte eine Weile in den Ausrüstungsstapeln und zog einen Helm und Schuhkappen mit Klettverschluss hervor. Greta Penninger legte beides wortlos an.

»Gut so«, sagte Oscar. Er reichte ihr eine Plastikschnur mit einem kugelschreiberförmigen Handscanner daran. »Und jetzt, Doktor, möchte ich Sie mit unserer Bauphilosophie bekannt machen. Wie Sie sehen, ist unser System sehr flexibel und simpel. Der Computer weiß zu jedem Zeitpunkt über die Position jeder einzelnen markierten und initialisierten Komponente Bescheid. Das System verfügt zudem über komplette Algorithmen, um das Gebäude aus Einzelteilen zusammenzufügen. Es gibt zahllose Wege, zum Ziel zu gelangen, daher kommt es vor allem darauf an, die gemeinsamen Anstrengungen zu koordinieren und den Überblick zu wahren. Dank der verteilten, parallelen Montagerechner…«

»Entschuldigen Sie, aber ich hab’s schon kapiert. Ich haben Ihnen zugeschaut.«

»Oh.« Oscar verkniff sich weitere Bemerkungen. Er schob seinen Plastikhelm in den Nacken und musterte sein Gegenüber. Sie scherzte nicht. »Dann kümmern Sie sich um den Mörtel, während ich die Blöcke schleppe. Kommen Sie damit zurecht?«

»Sicher.«

Dr. Penninger machte sich daran, mit der geschwätzigen Kelle das Bindemittel aufzutragen. Die einzelnen Komponenten plapperten munter vor sich hin, während Dr. Penninger schwieg und das Arbeitstempo durch ihre Mithilfe mehr als verdoppelte. Dr. Penninger legte sich richtig ins Zeug. Es war mitten in der Nacht, kein Mensch war unterwegs, es war einsam, windig und knapp über Null Grad, doch die Wissenschaftlerin machte wirklich Ernst. Sie schuftete wie ein Pferd. Wie ein Dämon.

Bei Oscar gewann die Neugier Oberhand. »Weshalb sind Sie um diese Zeit hergekommen?«

Dr. Penninger richtete sich auf, die Kelle in der noppenumschlossenen Hand. »Jetzt habe ich gerade frei. Ich bin immer bis um Mitternacht im Labor.«

»Ich verstehe. Also, ich freue mich über Ihren Besuch. Sie sind eine gute Arbeiterin. Danke für Ihre Hilfe.«

»Keine Ursache.« Sie musterte ihn forschend durch den Scheinwerferkegel hindurch. Hätte er sie attraktiv gefunden, wäre ihm der Blick prickelnd vorgekommen.

»Sie sollten uns mal tagsüber besuchen, wenn die ganze Mannschaft bei der Arbeit ist. Die Koordination der Einzelkomponenten und die Teamarbeit sind der Schlüssel zur verteilten Realisierung. Das Gebäude entsteht an mehreren Stellen zugleich, als ob es kristallisierte. Das ist ein interessanter Anblick.«

Sie führte die beschuhte Hand ans Kinn und musterte die Mauer. »Meinen Sie nicht, jetzt wären bald die Installationen fällig?«

Oscar war überrascht. »Seit wann beobachten Sie mich schon?«

Ihre Schultern hoben sich kurz unter der dicken Jacke. »Das sieht man doch.« Oscar wurde bewusst, dass er sie enttäuscht hatte. Sie hatte mit einer intelligenteren Bemerkung gerechnet.

»Machen wir eine Pause«, sagte er. Oscar war sich bewusst, dass er es mit Greta Penningers phänomenalem IQ nicht aufnehmen konnte. Er hatte sich natürlich über ihren Werdegang kundig gemacht; Dr. Greta Penninger hatte stets bestechende Noten erzielt und als Beste abgeschnitten. Gleichwohl war Intelligenz vielgestaltig. Er war sich ziemlich sicher, sie durch einen Themenwechsel ablenken zu können.

Er trat hinter die unregelmäßige Mauer aus Betonblöcken, wo unter einer aufgespannten Plastikplane in einem alten Fass ein Feuer brannte. Er hatte Rückenschmerzen. Vielleicht hatte er sich zu viel zugemutet.

»Gedörrtes Cajun-Rindfleisch? Die Mannschaft ist ganz wild auf das Zeug.«

»Gern. Warum nicht.«

Oscar reichte ihr einen Streifen höllisch scharf gewürztes Fleisch, grub seine Zähne in einen weiteren schwärzlichen Fleischbrocken. Er schwenkte eine Hand. »Im Moment sieht es hier chaotisch aus, aber stellen Sie sich mal vor, wie es fertig aussehen wird.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen… Ich hätte nie gedacht, dass Ihr Hotel so elegant werden würde. Ich hätte einen Fertigbau erwartet.«

»Aber das ist ein Fertigbau. Die Pläne werden bloß vom Rechner an die örtlichen Gegebenheiten angepasst. Daher ist das fertige Gebäude stets ein Original. Aus dem Stapel Träger dort drüben wird in Kürze das Schutzdach vor dem Eingang entstehen…. Der Innenhof kommt hierhin, wo wir gerade stehen, und unmittelbar hinter der Eingangsloggia liegt dann die Pergola…. In den beiden langgestreckten Flügeln werden die Gästezimmer und der Speisesaal untergebracht, im ersten Stock die Bibliothek, verschiedene Balkons und der Wintergarten.« Oscar lächelte. »Ich hoffe doch, Sie werden uns mal besuchen, wenn wir hier fertig sind. Sich ein Zimmer mieten. Ein Weilchen bleiben. Gut essen.«

»Ich glaube, das kann ich mir nicht leisten.« Mit umwölkter, düsterer Miene.

Was in aller Welt hatte die Frau nur vor? Im bläulichen Lichtschein wirkten Dr. Penningers weit auseinanderliegende schokoladebraune Augen unterschiedlich groß… aber das war vielleicht eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die eigentümlichen Lichtverhältnisse, ihre ungezupften Brauen und die Spannung, die an ihren Augenlidern abzulesen war. Sie hatte ein großes, kantiges Kinn, eine vorspringende Oberlippe mit einem auffallenden Grübchen, einen langen, sehnigen Hals und machte den Eindruck, als sei sie seit sechs Jahren nicht mehr an der Sonne gewesen. Sie wirkte ausgesprochen eigenwillig, wie eine ausgeprägte Persönlichkeit. Und bei näherem Hinsehen verstärkte sich dieser Eindruck eher noch.

»Sie wären selbstverständlich mein Ehrengast«, erwiderte er. »Ich möchte Sie nämlich einladen.«

Das funktionierte. In Dr. Penningers hutgewärmtem Kopf machte es Klick. Plötzlich hatte er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Warum haben Sie mir Blumen geschickt?«

»Buna ist eine gute Stadt für Blumen. Ich wusste, dass Sie nach den Sitzungen einen Blumenstrauß brauchen würden.« Roter Mohn, Petersilie und Mistelzweige – er vermutete, dass sie den Blumencode kannte. Aber vielleicht lebte sie ja auch so weltabgewandt, dass sie nicht einmal einen Blumencode zu deuten verstand. Nun, das wäre auch nicht weiter schlimm gewesen. Es war eine sehr geistreiche Botschaft gewesen, aber vielleicht hatte es ja auch Vorteile, wenn sie ihr entgangen war.

»Warum haben Sie mir diese Mails mit den vielen Fragen geschickt?« Dr. Penninger ließ nicht locker.

Oscar legte den Rest des gepfefferten Fleischbrockens weg und breitete die Arme aus. »Ich brauche ein paar Antworten. Ich habe Sie bei den langen Sitzungen studiert. Sie haben mir wirklich gefallen. Sie waren die Einzige, die ihre Beiträge auf den Punkt gebracht hat.«

Sie musterte das abgestorbene Gras zu ihren Füßen. »Die Sitzungen sind unglaublich öde, finden Sie nicht?«

»Ja, das stimmt.« Er lächelte dreist. »Anwesende natürlich ausgenommen.«

»Die Sitzungen sind schlimm. Richtig schlimm. Sie sind fürchterlich. Ich hasse Verwaltungsarbeit. Alles, was damit zusammenhängt.«

Sie blickte auf, das eigentümliche Gesicht von Abscheu verzerrt. »Wenn ich so dasitze und dem Geplapper zuhöre, habe ich das Gefühl, das Leben entgleitet mir.«

»Hmmm!« Oscar schenkte aus einer ramponierten Kühlbox zwei Becher ein. »Hier, probieren Sie mal dieses sportliche Pseudozitronengetränk.« Er zog eine zusammengefaltete Plane ans Feuerfass, darauf bedacht, sich nicht zu verbrennen. Er setzte sich.

Dr. Penninger ließ sich achtlos auf die Knieschoner fallen. »Ich kann nicht mal mehr richtig denken. Sie lassen es einfach nicht zu. Ich bemühe mich, bei diesen Sitzungen wach zu bleiben, aber es geht einfach nicht. Sie lassen nicht zu, dass ich irgendetwas ausrichte.« Sie probierte vorsichtig von dem gelben Gesöff in dem biologisch abbaubaren Becher, dann stellte sie den Becher ins Gras. »Dabei hab ich mir so viel Mühe gegeben, der Himmel ist mein Zeuge.«

»Wie hat es Sie eigentlich in den Verwaltungsrat verschlagen?«

»Ach«, stöhnte sie, »es wurde halt eine Stelle frei. Nachdem Senator Dougal gescheitert war, musste der für die Geräte Verantwortliche zurücktreten… Der Verwaltungsrat hat mich wegen dem Nobelpreisunsinn gefragt, und das Neuro-Team meinte, ich müsse den Posten annehmen. Wir brauchen die Laborausrüstung. Die halten uns zu kurz, die begreifen einfach nicht, dass wir bestimmte Dinge brauchen. Sie wollen uns nicht einmal verstehen.«

»Das wundert mich eigentlich nicht. Mir ist aufgefallen, dass die Buchhaltung des Labors nicht den staatlichen Anforderungen genügt. Offenbar hat es bei der Beschaffung Unregelmäßigkeiten gegeben.«

»Ach, das ist nicht mal die halbe Wahrheit«, sagte sie.

»Nein?«

»Nein.«

Oscar beugte sich auf der zusammengefalteten Plane langsam vor. »Und was ist die ganze Wahrheit?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, meinte sie und schlang mürrisch die Arme um die Schienbeine. »Und zwar weil ich nicht weiß, weshalb Sie das wissen wollen. Oder was Sie mit Ihrem Wissen anfangen würden.«

»Also gut«, sagte Oscar und richtete sich wieder auf. »Das verstehe ich. Sie sind sehr vorsichtig und korrekt. Ich an Ihrer Stelle würde mich genauso verhalten.« Er erhob sich.

Die Rohrleitungen bestanden aus laminiertem PVC von der Farbe getrockneten Tangs. Berechnet und hergestellt worden waren sie in Boston, und sie machten einen ebenso komplizierten Eindruck wie ein chinesisches Puzzle, das sich nur mit großem Rechenaufwand verstehen ließ.

»Sie sind geschickt mit dem Mörtel, aber die Installationen sind wirklich schwierig«, sagte Oscar. »Ich würde Ihnen keinen Vorwurf machen, wenn Sie jetzt gehen würden.«

»Ach, das macht nichts. Ich muss erst wieder um sieben im Labor sein.«

»Wann schlafen Sie überhaupt?«

»Ach, ich brauche nicht viel Schlaf. Etwa drei Stunden reichen mir.«

»Merkwürdig. Ich brauche auch nicht viel Schlaf.« Er kniete neben der Kiste mit den Installationsteilen nieder. Dr. Penninger drückte ihm eine Blechschere in die Hand, mit dem Griff voran.

»Danke.« Er schnitt drei schwarze Packbänder durch. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Ich hatte hier einen schweren Stand, ganz allein bei einem Gruppenprojekt. Aber die Arbeit hat eine therapeutische Wirkung auf mich.« Er stemmte den Deckel der Kiste ab und warf ihn beiseite. »Ich habe es nämlich meistens schwer in meinem Beruf.«

»In Ihren Akten steht was anderes.« Sie hatte die Arme verschränkt. Der Wollhut war ihr in die Stirn gerutscht.

»Dann haben Sie also ein paar Nachforschungen über mich angestellt.«

»Ich bin sehr neugierig.« Sie zögerte.

»Schon gut, das tut heutzutage doch jeder. Ich war schon als Kind eine Berühmtheit. Mein Leben ist gut dokumentiert, daran bin ich gewöhnt.« Er lächelte säuerlich. »Wenngleich Sie sich durch eine flüchtige Netzrecherche wohl kaum einen umfassenden Eindruck von meiner einnehmenden Persönlichkeit verschaffen können.«

»Wäre ich so flüchtig vorgegangen, wäre ich jetzt wohl kaum hier.«

Oscar schaute überrascht hoch. Sie erwiderte unerschrocken seinen Blick. Sie hatte nach Plan gehandelt. Sie verfolgte bestimmte Absichten. Sie hatte sich alles vorher auf Millimeterpapier zurechtgelegt.

»Wollen Sie wissen, weshalb ich mitten in der Nacht auf der Baustelle bin, Dr. Penninger? Meine Freundin hat mich verlassen.«

Sie ließ diese Information einsinken. Die Rädchen in ihrem Kopf drehten sich so rasch, dass er sie beinahe schwirren hörte. »Ach«, sagte sie. »Das ist bedauerlich.«

»Sie hat unser Haus in Boston verlassen, sie hat mich sitzen gelassen. Sie geht in die Niederlande.«

Ihre Brauen hoben sich unter der Krempe. »Ihre Freundin ist zu den Niederländern übergelaufen?«

»Nein, nicht übergelaufen! Sie hat dort einen Job angenommen, sie ist Journalistin. Jedenfalls ist sie fort.« Er blickte in die Kiste voller Installationsmaterial. »Das war ein schwerer Schlag für mich, das hat mich umgehauen.«

Der Anblick des Durcheinanders von Holzteilen und Rohren, die in dem billigen Plastiknest lagen, erfüllte Oscar mit wahrhaft existenziellem Ekel. Er richtete sich auf. »Wissen Sie was? Es war ganz allein meine Schuld. Das kann ich nicht leugnen. Ich habe sie vernachlässigt. Wir haben beide unsere Karriere verfolgt. Sie war unter den Berühmtheiten an der Ostküste zu Hause; solange wir noch gemeinsame Interessen hatten, waren wir ein gutes Paar…« Er hielt inne und versuchte, ihre Reaktion einzuschätzen. »Soll ich Sie wirklich damit belasten?«

»Wieso nicht? Ich verstehe das. Manchmal klappt es einfach nicht. Liebe und Wissenschaft… ›Die Chancen stehen gut, aber was ist der Lohn?‹« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, dass Sie ledig sind. Haben Sie denn niemanden?«

»Nichts Dauerhaftes. Ich bin ein Workaholic.«

Oscar fand diese Informationen ermutigend. Mit vom Ehrgeiz Besessenen empfand er eine instinktive Verbundenheit. »Ich möchte Sie was fragen, Greta. Wirke ich einschüchternd auf Sie?« Er fasste sich an die Brust. »Mache ich anderen Leuten Angst? Bitte seien Sie offen.«

»Soll ich wirklich offen sein?«

»Ja.«

»Man sagt mir immer, ich sei zu offen.«

»Nur zu, ich kann’s vertragen.«

Sie reckte das Kinn. »Ja, Sie wirken einschüchternd. Die Leute sind vor Ihnen auf der Hut. Niemand weiß, was Sie wirklich von uns wollen oder was Sie im Labor überhaupt treiben. Wir rechnen alle mit dem Schlimmsten.«

Er nickte wissend. »Das ist ein Wahrnehmungsproblem, wissen Sie. Ich tauche bei Ihren Sitzungen auf und habe eine kleine Mannschaft mitgebracht, und schon brodelt die Gerüchteküche. Aber eigentlich sollte niemand Angst vor mir haben – weil ich einfach nicht wichtig genug bin. Ich bin bloß ein Senatsangestellter.«

»Ich habe an Anhörungen des Senats teilgenommen. Und ich habe von anderen Anhörungen gehört. Dabei geht es bisweilen ziemlich rau zu.«

Er rückte ein Stück näher an sie heran. »Also gut – ja, es könnte sein, dass man in Washington eines Tages ein paar harte Fragen stellen wird. Aber diese Fragen werde nicht ich stellen. Ich verfasse lediglich die Berichte.«

Sie zeigte sich davon unbeeindruckt. »Wie war das eigentlich mit dem Air Force-Skandal in Louisiana? Hatten Sie damit nicht eine Menge zu tun?«

»Was, damit? Das ist doch bloß Politik! Man sagt, ich hätte die Senatorenwahl beeinflusst – aber Einfluss ist was anderes. Bis ich Alcott Bambakias begegnet bin, war ich lediglich für den Stadtrat tätig. Der Senator ist der Mann mit Ideen und einer Botschaft. Ich war bloß der Wahlkampftechniker.«

»Hmmm. Mit Technikern kenne ich mich aus. Ich kenne nicht viele Techniker, die Multimillionäre sind wie Sie.«

»Ach, das… Ja, ich bin wohlhabend, aber verglichen mit dem, was mein Vater in seiner Glanzzeit besessen hat, oder mit dem Vermögen des Senators… Ich habe Geld, aber von wahrem Reichtum würde ich nicht sprechen. Ich kenne richtig reiche Leute, aber ich spiele einfach nicht in deren Liga.« Oscar nahm ein langes grünes Rohr aus der Kiste, betrachtete mit sorgenvoller Miene die Kniestücke, dann legte er es wieder hinein. »Es wird windig… Ich habe keine Lust mehr weiterzumachen. Ich glaube, ich gehe zurück zur Kuppel. Vielleicht ist ja noch jemand auf, und wir können eine Runde pokern.«

»Ich bin mit dem Wagen da«, sagte sie.

»So.«

»Wer dem Verwaltungsrat angehört, der bekommt auch einen Wagen. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit.«

»Das wäre nett. Schalten Sie die Automatik aus und lassen Sie mich steuern.« Er nahm den Helm und die Knieschützer ab. Er legte die gepolsterte Arbeitsjacke ab und stand nun hutlos im langärmligen Hemd da; der kalte Wind schnitt in die Feuchte seiner Achselhöhlen. Er schaltete die Alarmanlage ein, dann gingen sie zum Auto.

Auf dem Gehsteig blieb er stehen. »Warten Sie einen Moment.«

»Ja?«

»Wir scheinen ja ganz gut miteinander auszukommen. Aber es könnte sein, dass Ihr Wagen verwanzt ist.«

Sie strich sich das windzerzauste Haar aus der Stirn und schaute skeptisch drein. »Warum sollte man mich abhören?«

»Weil es so billig und so leicht ist. Also beantworten Sie mir bitte eine Frage, bevor wir einsteigen. Seien Sie ganz offen. Wissen Sie über mein persönliches Vergangenheitsproblem Bescheid?«

»Ihr Vergangenheitsproblem? Ich weiß, dass Ihr Vater Filmschauspieler war…«

»Tut mir leid. Ich hätte das Thema nicht ansprechen dürfen. Ich bin heute wirklich unmöglich. Es war nett, dass Sie heute Abend die Baustelle besucht haben, aber Sie haben mich auf dem falschen Fuß erwischt. Ich sollte Sie damit nicht behelligen. Sie gehören dem Verwaltungsrat an, und ich arbeite für den Senat… Hören Sie, wenn unsere Lebensumstände anders wären… Und wenn wir wirklich Zeit für unsere persönlichen Probleme hätten…«

Sie zitterte. Sie war groß und mager und richtiges Wetter nicht mehr gewohnt; sie hatte in Dunkelheit und Kälte schwer gearbeitet, und jetzt war ihr kalt. Der schneidende Nachtwind zerrte an seinen Ärmeln. Auf einmal fühlte er sich eigentümlich zu ihr hingezogen. Sie war zu groß, sie war zu mager, sie war schlecht gekleidet und hatte ein merkwürdiges Gesicht und eine schlechte Haltung, sie war acht Jahre älter als er. Sie hatten nichts gemeinsam wie andere Leute, eine Beziehung wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Mit ihr eine Beziehung einzugehen, das wäre so gewesen, als ließe er sich mit einem seltenen Tier auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns ein. Vielleicht war das der Grund, weshalb er sie so gerne berührt hätte. »Doktor, ich weiß Ihre Gesellschaft zu schätzen, aber ich halte es für besser, wenn Sie allein zurückfahren. Wir sehen uns bei den Verwaltungsratssitzungen wieder. Ich möchte noch eine Menge wissen.«

»Sie werden doch wohl nicht von mir erwarten, dass ich nach allem, was Sie gesagt haben, allein wegfahre. Jetzt muss ich es wissen. Steigen Sie ein.«

Sie öffnete die Wagentür, und sie zwängten sich beide hinein. Es war ein schlichter Kleinwagen, ein Laboratoriumswagen, der natürlich keine Heizung hatte. Ihr Atem schlug sich an den Scheiben nieder.

»Ich glaube, eigentlich wollen Sie es gar nicht wissen. Das ist eine ziemlich seltsame Geschichte. Eine schlimme Geschichte. Schlimmer als Sie meinen mögen.«

Sie rückte den Hut zurecht und hauchte sich auf die Finger. »Diese Dinger haben niemals eine Heizung. Weil man damit nicht aus der Kuppel hinausfahren soll. Gleich wird’s warm. Erzählen Sie mir doch einfach, was Sie glauben erzählen zu können. Dann entscheide ich, ob ich mehr erfahren möchte.«

»Also gut.« Er zögerte. »Um mit dem Anfang anzufangen, ich bin ein Adoptivkind. Logan Valparaiso war nicht mein leiblicher Vater.«

»Nein?«

»Nein, er hat mich im Alter von drei Jahren adoptiert. Wissen Sie, damals arbeitete Logan gerade an einem internationalen Thriller über illegale Adoptionsfarmen. Adoptionsfabriken. Das war damals ein großer Skandal. Das ganze Ausmaß der Hormon- und Pestizidvergiftung wurde allmählich bekannt. Viele Männer waren unfruchtbar. Daher boomte der Adoptionsmarkt. Der Markt für Fruchtbarkeitskliniken natürlich auch. Die Nachfrage war plötzlich riesig, und das wurde von allerlei unappetitlichen Leuten, von Quacksalbern, Profiteuren und Mitläufern ausgenutzt…«

»Ich erinnere mich gut daran.«

»Plötzlich gab es viele Offshore-Babyfarmen, Embryofarmen. Die Leute waren erfinderisch. Das war ein ziemlich gutes Thema für einen Actionfilm. Also schlüpfte mein Dad in die Rolle eines Law-and-Order-Guerillas. Er spielte einen knallharten Burschen mexikanischer Abstammung, der Abtreibungskliniken in die Luft jagt, von der Regierung angeheuert wird und schließlich im Auftrag des Geheimdienstes Embryofarmen zerstört…«

Jedesmal, wenn er diese Geschichte erzählte, schwang sich seine Stimme zu einem hasserfüllten, winselnden Klageton empor. Und dies passierte auch jetzt, während die Wagenfenster allmählich beschlugen. Unbeabsichtigt ging er von seiner gewohnten schnellen Sprechweise zu etwas Extremerem über, einer Art von chronischem Geschnatter. Darauf musste er wirklich mal genauer achten. Er achtete darauf, er beobachtete sich, so gut er es vermochte, aber er konnte einfach nichts dagegen tun. »Ich will mich wirklich nicht weiter über den Film auslassen, aber ich musste ihn mir als Kind etwa vierhundertmal ansehen… Dazu die ganzen Schnellkopien und geschnittenen Szenen… Jedenfalls identifizierte Logan sich stark mit seiner Rolle, und er und seine dritte Frau hatten damals eine gute Beziehung, wie es mit Logans Ehen eben so ging. Und so verfiel er darauf, aus Gründen der persönlichen Entwicklung sowie als PR-Gag ein echtes Opfer einer richtigen Embryofabrik zu adoptieren.«

Dr. Penninger hörte schweigend zu.

»Und dieses Kind war ich. Die Eizelle, der ich entstamme, wurde auf dem Unfruchtbarkeitsschwarzmarkt verkauft und landete schließlich in einer kolumbianischen Embryofabrik. Die Fabrik gehörte der Mafia, das heißt, man kaufte oder stahl menschliche Eizellen, befruchtete sie und bot sie dann zu Schwarzmarktpreisen zur Implantation an. Doch es gab Qualitätsprobleme. Die gesundheitliche Probleme für die Kundinnen nach sich zogen. Ganz zu schweigen von den Gerichtsverfahren und ethischen Auseinandersetzungen, wenn mal jemand was ausplapperte. Also fingen die Gauner an, fertige Produkte in gemieteten Gebärmüttern herzustellen, um die Kinder nach der Geburt auf konventionellere Weise adoptieren zu lassen… Diese Geschäftsidee funktionierte aber auch nicht. Die Leihmütter waren einfach zu langsam, und es waren viele einheimische Frauen beteiligt, die sie verraten oder erpressen oder sich dagegen sträuben konnten, das Kind nach der Geburt abzugeben. Daher beschlossen sie, die Embryos in vitro zu züchten. Sie besorgten sich eine Reihe von Retorten, doch sie waren nicht besonders gut darin, denn zu dem Zeitpunkt hatten sie bereits das meiste Arbeitskapital verloren. Gleichwohl bekamen sie genug Klondaten aus Experimenten mit Säugetieren in die Hand, um einen ernsthaften Versuch mit menschlichen Zellen zu starten. Und so bin ich zur Welt gekommen.«

»Ich verstehe.« Sie setzte sich gerade hin, legte die Hände auf den Lenker und holte tief Luft. »Bitte fahren Sie fort, das ist wirklich hochinteressant.«

»Also, sie versuchten, mich und die anderen Produkte zu verkaufen, aber die Geschäftskosten waren einfach zu hoch, und die Fehlerrate war gewaltig, und dann brach auch noch der Markt zusammen, als sich herausstellte, dass sich die Spermaschäden der unfruchtbaren Männer billiger beheben ließen. Als das Testikelproblem behoben war, war die Luft aus dem Babymarkt raus. Ich war noch kein Jahr alt, als man sie an die Weltgesundheitsbehörde verpfiff, und dann stürmte eine europäische Blauhelmbrigade das Gelände und schloss die Anlage. Wir wurden alle konfisziert. Ich landete in Dänemark. Das sind meine frühesten Erinnerungen, dieses dänische Waisenhaus… Ein Waisenhaus mit angeschlossener Klinik.«

Er hatte diese Geschichte schon viele Male erzählt, weit häufiger, als es ihm recht war. Mittlerweile konnte er sie herunterrasseln, doch gegen das damit einhergehende Grauen und das Lampenfieber kannte er noch immer kein Gegenmittel. »Die meisten Produkte schafften es einfach nicht. Man hatte uns bereits geschädigt, als wir retortenreif gemacht wurden. In Kopenhagen wurde ich einer Genanalyse unterzogen, und es stellte sich heraus, dass man den größten Teil der Introns von der Zygoten DNS entfernt hatte. Sie haben sich nämlich gedacht, das Produkt würde sich in der Retorte als widerstandsfähiger erweisen, wenn sie überflüssige DNS aus dem menschlichen Genom herausschneiden würden… Die Labortypen waren alle Medizinstudenten ohne Studienabschluss oder aus dem Gesundheitsdienst entlassen worden. Außerdem waren sie ständig high von synthetischem Kokain, mit dem die südamerikanische illegale Genindustrie ebenfalls Geschäfte machte…«

Er räusperte sich und bemühte sich, langsamer zu sprechen. »Aber um wieder auf meine persönliche Geschichte zurückzukommen, da war dieser dänische Blauhelmkommandant, der den Einsatz in Kolumbien geleitet hatte, und der wurde schließlich oberster technischer Berater bei dem Film meines Vaters. Der dänische Kommandant und mein Vater wurden Trinkkumpane auf dem Set, und als mein Vater seinen Adoptionswunsch erwähnte, dachte sich der Däne natürlich: ›Warum nicht eins der Kinder, die ich befreit habe?‹ Und er setzte in Kopenhagen ein paar Hebel in Bewegung. Und so bin ich in Hollywood gelandet.«

»Ist das alles auch wahr?«

»Ja.«

»Dürfte ich Sie ins Labor mitnehmen und eine Gewebeprobe entnehmen?«

»Hören Sie, Gewebe ist bloß Gewebe. Zum Teufel mit dem Gewebe! Die Wahrheit ist umfassender als mein Gewebe. Die Wahrheit ist, dass es Vorurteile gegen solche wie mich gibt. Ich verstehe das nur zu gut. Ich kann problemlos einen Wahlkampf organisieren, aber ich glaube nicht, dass ich mich selber wählen würde. Weil ich nicht wüsste, ob ich mir trauen könnte. Ich bin wirklich anders. In meiner DNS sind große Teile nicht einmal menschlichen Ursprungs.«

Er breitete die Arme aus. »Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele nennen. Ich schlafe nicht. Ich habe ständig leicht erhöhte Temperatur. Ich bin schnell herangewachsen – und das nicht bloß deshalb, weil ich meine Kindheit auf der Schnellspur von L. A. verbracht habe. Ich bin jetzt achtundzwanzig, die meisten Leute halten mich für Mitte dreißig. Ich bin steril – ich werde niemals eigene Kinder haben –, und ich hatte dreimal Leberkrebs. Zum Glück kann man Krebs mittlerweile gut behandeln, aber ich nehme noch immer angiogene Inhibitoren und Wachstumsblocker und muss dreimal monatlich Antitumorpillen schlucken. Was die anderen acht Kinder betrifft, die mit mir zusammen befreit wurden – fünf von ihnen sind in jungen Jahren an Organkrebs gestorben, und die anderen drei… also, die sind Dänen. Drei identische dänische Frauen mit – lassen Sie es mich mal so ausdrücken – einem sehr problematischen Privatleben.«

»Sind Sie sicher, dass Sie das alles nicht erfunden haben? Das ist eine faszinierende Geschichte. Haben Sie wirklich eine erhöhte Körpertemperatur? Haben sie sich jemals einer Positronentomografie unterzogen?«

Er blickte sie nachdenklich an. »Also, Sie nehmen das wirklich gut auf. Ich meine, die meisten Leute, denen ich diese Geschichte erzähle, durchlaufen eine Art Schockstadium…«

»Ich bin keine Medizinerin, und die Genetik ist nicht mein eigentliches Arbeitsgebiet. Aber Ihre Geschichte schockiert mich nicht. Sie erstaunt mich natürlich, und ein paar Dinge würde ich wirklich gern im Labor bestätigen, aber…« Sie suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Vor allem bin ich fasziniert.«

»Wirklich?«

»Das war ein grundlegender Verstoß gegen die wissenschaftliche Ethik. Ein Verstoß gegen die Helsinki-Konvention sowie gegen mindestens acht weitere Regeln für den Umgang mit Menschen. Sie sind offenbar ein sehr tapferer und tüchtiger Mensch, sonst hätten Sie diese Kindheitstragödie nicht so gut überwunden und wären nicht so erfolgreich gewesen.«

Oscar schwieg. Auf einmal brannten ihm die Augen. Er hatte schon viele unterschiedliche Reaktionen auf sein Vergangenheitsproblem erlebt. Vor allem Reaktionen von Frauen – weil er meistens nur bei Frauen gezwungen war, alles zu beichten. Eine Geschäftsbeziehung ließ sich beginnen und beenden, ohne sich zu outen; eine sexuelle Beziehung nicht. Er war mit allen möglichen Reaktionen vertraut. Bestürzung, Entsetzen, Spott, Mitgefühl oder auch nur ein Achselzucken oder Kopfschütteln. Gleichgültigkeit. Meistens machte ihnen die Wahrheit auf lange Sicht zu schaffen.

Noch nie aber hatte eine Frau so reagiert wie Greta Penninger.


Oscar ging mit seiner Sekretärin Lana Ramachandran im Park hinter den schrägen weißen Mauern der Genfragmentierungsklinik spazieren. Der Park grenzte an die Angestelltenwohnungen, daher hielten sich hier auch Kinder auf. Aufgrund des ständigen Geschreis konnte man sich hier unterhalten, ohne befürchten müssen, abgehört zu werden.

»Schicken Sie ihr keine Blumen mehr ins Wohnheim«, sagte Oscar. »Sie ist nie dort. Sie schläft so gut wie nie.«

»Wo soll ich sie dann hinschicken?«

»Ins Labor. Dort hält sie sich meistens auf. Und drücken wir ruhig ein wenig auf die Tube – Schluss mit den Stiefmütterchen und Zinnien. Nehmen wir lieber gleich Tuberosen.«

»Noch keine Tuberosen!« meinte Lana erschrocken.

»Sie wissen schon, was ich meine. Außerdem braucht sie etwas zu essen. Sie ernährt sich nicht richtig – das sehe ich. Und später kleiden wir sie neu ein. Aber da müssen wir uns erst heranarbeiten.«

»Aber wie sollen wir überhaupt an sie herankommen? Dr. Penninger arbeitet im Hochsicherheitstrakt«, sagte Lana. »Das ist Gefahrenzone 4, mit eigenen Schleusen. Und die Wände sind zweieinhalb Meter dick.«

Er zuckte die Achseln. »Tauchen Sie die Blumen in flüssigen Stickstoff. Schweißen Sie sie in Plastik ein. Was immer nötig ist.«

Seine Sekretärin stöhnte. »Oscar, was ist mit Ihnen? Haben Sie den Verstand verloren? Es kann Ihnen mit dieser Frau doch unmöglich ernst sein. Ich kenne Ihren Typ mittlerweile recht gut, und sie ist überhaupt nicht Ihr Typ. Außerdem habe ich mich ein wenig umgehört – Dr. Penninger ist niemandes Typ. Sie werden sich bloß eine Enttäuschung einhandeln.«

»Okay, vielleicht habe ich ja einen Narren an ihr gefressen.«

Lana litt sichtlich Qualen. Sie wollte nur das Beste für ihn. Sie war ziemlich humorlos, dafür aber sehr tüchtig. »Sie sollten das nicht tun. Das ist nicht klug. Sie sitzt im Verwaltungsrat, sie trägt hier Verantwortung. Und Sie gehören dem Überwachungsausschuss des Senats an. Das ist ein Interessenkonflikt.«

»Das ist mir egal.«

Lana wusste nicht mehr weiter. »Warum tun Sie das? Ich kann einfach nicht begreifen, wie Sie mit der Journalistin zusammenleben konnten. Sie hat über den Wahlkampf berichtet! Man hätte da einen großen Skandal draus machen können. Und davor diese verrückte Architektin… und davor dieser Nichtsnutz aus der Stadtverwaltung von Boston. Das ist ja schon zwanghaft.«

»Hören Sie, Lana, seit Sie mich kennen, wissen Sie auch, dass mein Liebesleben problematisch ist. Ich habe moralische Grundsätze. Ich weigere mich, mit jemandem aus dem Team etwas anzufangen. Verstehen Sie? Das wäre schlimm, das wäre sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, so etwas ähnliches wie Inzest. Aber hier stehe ich, und die Vergangenheit ist Vergangenheit. Greta Penninger hat hier Karriere gemacht, sie kennt sich hier richtig gut aus. Außerdem langweilt sie sich, und ich weiß, dass ich ihr nahe kommen kann. Wir haben eine Menge gemeinsam. Ich glaube, wir könnten einander helfen.«

»Ich geb’s auf! Männer werd ich nie verstehn. Sie wissen überhaupt nicht, was Sie wollen, hab ich Recht? Selbst wenn das Glück unmittelbar vor Ihnen stünde und um Ihre Aufmerksamkeit betteln würde, wüssten Sie nicht, was Sie damit anfangen sollten.«

Lana war zu weit gegangen. Oscar sammelte sich und blickte sie finster an. »Hören Sie, Lana, wenn Sie ein Glück für mich finden, das wirklich zu mir passt – ich betone, zu mir –, dann schreiben Sie mir ein Memo. Okay? Und in der Zwischenzeit regeln Sie das bitte mit den Blumen.«

»Also gut, ich werd’s versuchen«, sagte sie. »Ich werde mein Bestes tun.« Lana war jetzt wütend auf ihn, daher stolzierte sie in den Park davon. Da war nichts zu machen. Lana würde sich schon wieder fangen. Das tat sie immer. Der Umgang mit ihm lenkte sie von ihren eigenen Problemen ab. Oscar schlenderte weiter, pfiff ein wenig vor sich hin, betrachtete den durchbrochenen Himmel. Über der wohlriechenden Luftblase der Kuppel jagten harmlose graue Wolkenfetzen dahin. Er warf den Hut hoch, den er in der Hand hielt, und fing ihn an der scharfen, tadellosen Krempe auf. Seine Aussichten hellten sich allmählich wieder auf. Er machte einen Bogen um eine Ansammlung seltener Azaleen, um einer schlummernden Antilope auszuweichen.

Diesen Laborpark hatte er zu seinem persönlichen Büro erkoren. Den Bus benutzte er nicht mehr, denn es war davon auszugehen, dass man sich große Mühe geben würde, ihn zu verwanzen. Außerdem würden sie den Bus sowieso bald in Boston abliefern müssen. Das ging schon in Ordnung – eigentlich war es bereits höchste Zeit. Es hatte keinen Sinn, sich von geborgter Ausrüstung abhängig zu machen. Weg mit dem alten Bus, hinein ins brandneue Hotel. Die Mannschaft zusammenhalten, das Knowhow sichern. Die Herde in Bewegung halten. Es ging voran, es war machbar.

Fontenot trat aus dem blühenden Buschwerk hervor und bemerkte ihn sogleich. Oscar wunderte sich ein wenig, dass Fontenot so pünktlich war. Offenbar entspannte sich die Lage auf den Straßen von Louisiana allmählich.

Der Sicherheitsexperte trug einen Strohhut, Weste, Jeans und schwarze Gummistiefel. Er wirkte mehr im Einklang mit sich denn je.

Sie schüttelten sich die Hände, blickten sich gewohnheitsmäßig nach Beschattern und Lauschern um und glichen ihre Schritte einander an.

»Sie bekommen viel Anerkennung wegen des Luftwaffendebakels«, sagte Fontenot. »Das Thema hält sich in den Nachrichten. Wenn der Druck weiter zunimmt, kommt es irgendwann zu einer Explosion.«

»Ach, das war doch alles Sosiks Idee. Das ist eine Rückzugsposition des Senators. Sollte es zur Katastrophe kommen, kann der erfahrene Stabschef den unbesonnenen jungen Wahlkampfberater schnell vom Sockel stürzen.«

Fontenot musterte ihn skeptisch. »Also, ich hab nicht bemerkt, dass man Sie unter Druck gesetzt hätte, als Sie die beiden großen Interviews gegeben haben… Ich begreife nicht, woher Sie die Zeit genommen haben, sich so gründlich über die Stromausfälle und die politischen Verhältnisse in Louisiana zu informieren.«

»Stromausfälle sind ein hochinteressantes Thema. Die Bostoner Medien sind wichtig. In der Beziehung bin ich sentimental.« Oscar verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Ich gebe zu, es war nicht sehr taktvoll, Louisiana öffentlich als ›Schicksalsschwester Amerikas‹ zu bezeichnen. Aber es ist wahr.«

Fontenot konnte dies nicht abstreiten. »Oscar, ich hatte ziemlich viel mit dem Bau meines neuen Hauses zu tun. Aber Sicherheit ist kein Teilzeitjob. Sie zahlen mir immer noch Gehalt, während ich Sie habe hängen lassen.«

»Wenn Ihnen das Sorgen bereitet, weshalb helfen Sie dann nicht ein wenig beim Hotelbau mit? Das Hotel kommt hervorragend an. Die Einwohner von Buna sind begeistert.«

»Nein, hören Sie zu. Da wir schon bald für immer auseinander gehen werden – und diesmal ist es mir ernst –, hab ich mir gedacht, ich mache mal einen umfassenden Sicherheitscheck. Und ich habe auch schon ein paar neue Erkenntnisse. Sie haben ein Sicherheitsproblem.«

»Ach, ja?«

»Sie sind dem Gouverneur von Louisiana zu nahe getreten.«

Oscar schüttelte heftig den Kopf. »Hören Sie, der Hungerstreik hat nichts mit Gouverneur Huguelet zu tun. Huguelet war nie das Thema. Es geht um den hungernden Luftwaffenstützpunkt und die Notstandsausschüsse auf Unionsebene. Wir haben öffentlich kaum ein Wort gegen Green Huey gesagt.«

»Der Senator nicht. Sie schon. Und zwar mehrfach.«

Oscar zuckte die Achseln. »Okay, mit dem Gouverneur können wir offenbar nicht viel anfangen. Der Typ ist ein windiger Demagoge. Aber wir pushen das Thema nicht. Was den Skandal betrifft, so sind wir momentan Hueys taktische Verbündete.«

»Seien Sie doch nicht naiv. Green Huey denkt anders als Sie. Er ist kein umgänglicher Politiker, der taktische Absprachen mit der Opposition trifft. Huey steht immer im Mittelpunkt seines Universums. Also sind Sie entweder für oder gegen ihn.«

»Weshalb sollte Huey sich ohne Not Feinde machen? Das wäre politisch unklug.«

»Huey macht sich immer Feinde. Das macht ihm Spaß. Das gehört mit zu seinem Spiel. So war es schon immer. Mag sein, dass Huey ein smarter Politiker ist, aber manchmal verhält er sich wie ein Ein-Mann-Schlägertrupp. Das hat er gelernt, als er in Texas für Senator Dougal gearbeitet hat.«

Oscar runzelte die Stirn. »Dougal ist mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Er ist erledigt, Geschichte. Wäre Dougal nicht in der Entziehungsklinik, säße er wahrscheinlich im Kittchen.«

Fontenot blickte sich unwillkürlich misstrauisch um. »Solange Sie sich in einem Gebäude aufhalten, das Dougal erbaut hat, sollten Sie nicht solche Sprüche klopfen. Das Labor war immer Dougals Lieblingsprojekt. Und was Huey angeht, der hat hier gearbeitet. Sie wandeln auf Hueys Spuren. Als er noch Stabschef des Senators war, hat er die Leute hier so in die Mangel genommen, dass es ein paar Knochenbrüche gab.«

»Okay, sie haben die Anlage hier gebaut, aber dabei ging’s nicht koscher zu.«

»Andere Politiker sind auch korrupt und bauen keine solche gottverdammte Anlage. Osttexas und Südlouisiana haben irgendwann die Köpfe zusammengesteckt und sich ein dickes Stück aus dem Kuchen herausgeschnitten. Aber das ist nichts Neues. In diesem Teil des Landes ging es schon immer betrügerisch zu. Mit einer sauberen Regierung wüssten die Leute hier gar nichts anzufangen. Der alte Dougal ist am Ende tief gefallen, aber so ist Texas eben. Texas ist eigensinnig, Texas dreht seine Leute gern ein wenig durch den Fleischwolf, bevor es sie unter die Erde bringt. Jedenfalls hat Huey eine Menge von Dougal gelernt und vermeidet es, Dougals Fehler zu wiederholen. Huey ist jetzt Gouverneur von Louisiana, er bestimmt, wo’s langgeht, er ist der Boss, der Schamane. Huey hat eigens zwei Senatoren abgestellt, die ihm die Schuhe putzen. Sie machen Huey in Boston schlecht – aber Huey sitzt gerade mal dort drüben in Baton Rouge. Und Sie legen sich mit ihm an.«

»Also gut. Ich verstehe, was Sie meinen. Reden Sie weiter.«

»Oscar, ich habe gesehen, wie Sie ein paar schlaue Sachen mit dem Netz angestellt haben, Sie sind ein junger Bursche und mit dem Netz groß geworden. Aber Sie haben nicht alles gesehen, was ich gesehen habe, deshalb will ich’s Ihnen mal ausführlich erklären.«

Sie schlugen einen Bogen um eine wild wuchernde Bougainvillea. Fontenot sammelte sich. »Okay. Stellen wir uns mal vor, Sie wären ein netzaktiver Bösewicht, spezialisiert auf Computerkampfführung. Und Sie hätten eine Suchmaschine, die Sie über alle öffentlichen Erwähnungen Ihres Idols, des Gouverneurs Etienne-Gaspard Huguelet, auf dem Laufenden hält. Hin und wieder tritt Ihrem Freund mal jemand auf die Füße. Dann wird der Name des Betreffenden registriert und gespeichert und erhält eine fortlaufende Bewertung. Sobald der Name eine gewisse Ärgernisstufe erreicht, löst das Programm automatische Reaktionen aus.« Fontenot rückte seinen Strohhut zurecht. »Die Reaktion besteht darin, Mails mit der Aufforderung zu verschicken, diesen Burschen zu erledigen.«

Oscar lachte. »Das ist mir neu. Das ist wirklich verrückt.«

»Ja, schon. Darum geht’s ja gerade. Wissen Sie, Extremisten, Paranoiker und antisoziale Nieten, die im Netz ausgesprochen umtriebig sind, gab es schon immer… Beim Secret Service haben wir schon vor langer Zeit herausgefunden, dass das Netz eine wahre Fundgrube ist. Verrückte, gewalttätige Menschen neigen dazu, irgendwelche Hinweise, Spuren oder Signale zu hinterlassen, bevor sie zuschlagen. Im Laufe der Jahre haben wir einen Haufen psychologischer Profile zusammengetragen und einige Gemeinsamkeiten festgestellt. Wenn man weiß, wonach man suchen muss, kommt man einigen dieser Burschen allein aufgrund ihrer Netzaktivitäten auf die Spur.«

»Klar. Benutzerprofile. Demographische Analyse. Statistische Berechnungen. Das mache ich ständig.«

»Es ist schon eine ganze Weile her, dass wir diese Profilschnüffler programmiert haben, und sie haben sich als recht nützlich erwiesen. Dann aber hat das Außenministerium den Fehler gemacht, die Software an unzuverlässige Verbündete weiterzugeben…« Fontenot blieb unvermittelt stehen, als ein gefleckter Jaguarindi unter einem Busch hervorkam, sich streckte, gähnte und an ihnen vorüberschlenderte. »Problematisch wurde es, als die Profilschnüffler in die falschen Hände gerieten… Für derartige Schutzsoftware gibt es nämlich unterschiedliche Anwendungen. Bösewichter können sie dazu verwenden, umfangreiche Mailinglisten mit den Namen gefährlicher Verrückter anzulegen. Die Verrückten mittels Netzanalyse ausfindig zu machen, das ist leicht. Etwas schwieriger ist es schon, sie dazu zu bewegen, aktiv zu werden. Aber wenn man auf zehn- oder zwölftausend zurückgreifen kann, dann sind das eine Menge Fische, und einer wird schon anbeißen. Wenn ihnen jemand einredet, ein bestimmter Typ verdiene den Tod, dann könnte der Betreffende durchaus zu Schaden kommen.«

»Wollen Sie damit sagen, Gouverneur Huguelet habe mich auf eine schwarze Liste gesetzt?«

»Nein, Huey nicht. Jedenfalls nicht unmittelbar. So blöd ist der nicht. Ich will damit sagen, dass irgendjemand irgendwo vor Jahren eine Software entwickelt hat, die Green Hueys Gegner automatisch auf schwarze Listen setzt.«

Oscar nahm den Hut ab und strich sich sorgfältig das Haar glatt. »Ich wundere mich ein wenig, dass ich davon noch gar nicht gehört habe.«

»Wir vom Geheimdienst wollen nicht, dass das in die Öffentlichkeit gelangt. Wir tun unser Bestes, dagegen anzugehen – wir haben während der dritten Panamakrise ein ganzes Nest von Bösewichtern ausgenommen… aber wir können nicht jeden Netzserver in Übersee überwachen. Es bleibt uns nicht viel mehr übrig, als unsere eigenen Informanten zu überwachen. Wir überprüfen sie, schauen nach, ob sie per E-mail aufgefordert werden, jemanden umzubringen. Schauen Sie sich mal diesen Ausdruck an.«

Sie suchten sich eine hübsche Holzbank. Ein kleines Mädchen in einem Trägerkleid saß darauf und streichelte geduldig ein exotisches Wiesel, machte aber nicht den Eindruck, als hätte es gegen die Gesellschaft von Erwachsenen etwas einzuwenden. Oscar las den Text sorgfältig zweimal durch.

Der Text wirkte weder sonderlich bedrohlich noch intellektuell, was ihn nicht wunderte. Vielmehr war er ungehobelt und banal. Es berührte ihn unangenehm, seinen Namen in einer so plumpen Hetzschrift zu finden. Er nickte, reichte Fontenot das Papier zurück. Sie lächelten beide, verabschiedeten sich von dem Mädchen, indem sie sich an die Hüte tippten, und gingen weiter.

»Das ist hohles Pathos!« sagte Oscar, sobald sie außer Hörweite des Mädchens waren. »Das ist Junkmail von einem Massenmailer. Ich habe schon richtig raffinierte Massenmails gesehen, die kriegen manchmal ganz anständige Werbung hin. Aber das ist reine Kettenmailware. Das Programm beherrscht nicht mal die Interpunktion!«

»Der Zielgruppe der gewaltbereiten Paranoiker fallen die Fehler vielleicht nicht einmal auf.«

Oscar ließ sich das durch den Kopf gehen. »Was glauben Sie, wie viele von diesen Mails verschickt wurden?«

»Vielleicht ein paar tausend? In den Files des Geheimdienstes sind über dreihunderttausend potenziell gefährliche Personen verzeichnet. Ein cleveres Programm würde natürlich nicht jedesmal jeden Einzelnen von ihnen anmailen.«

»Klar.« Oscar nickte versonnen. »Und was ist mit Bambakias? Besteht für ihn ebenfalls Gefahr?«

»Ich habe dem Senator die Lage geschildert. Man wird die Sicherheitsmaßnahmen in Cambridge und Washington verschärfen. Allerdings glaube ich, dass Sie wesentlich gefährdeter sind als er. Sie sind dichter dran, Sie machen mehr Wirbel, und man kommt viel leichter an Sie heran.«

»Hm. Ich verstehe. Danke, dass Sie mich darauf hingewiesen haben, Jules. Ihre Ausführungen haben einiges für sich, wie immer. Was raten Sie mir also?«

»Ich rate Ihnen, mehr auf Ihre Sicherheit zu achten. Halt das Übliche. Durchbrechen Sie die tägliche Routine. Suchen Sie Orte auf, wo man nicht mit Ihnen rechnet. Halten Sie für den Notfall einen sicheren Unterschlupf parat. Achten Sie auf Fremde, auf jeden, der ihnen hinterherschnüffelt oder ihnen auf die Nerven geht. Meiden Sie nach Möglichkeit Menschenmengen. Außerdem brauchen Sie einen Bodyguard,«

»Dafür habe ich keine Zeit. Ich habe hier zu viel zu tun.«

Fontenot seufzte. »Sowas bekommen wir ständig zu hören… Oscar, ich habe fast zwanzig Jahre lang für den Geheimdienst gearbeitet. Das ist ein ganzes Arbeitsleben, wir machen dort unsere Arbeit wie andere Leute auch. In der Öffentlichkeit hört man nicht viel vom Secret Service, aber man ist dort sehr rührig. Man hat die CIA dichtgemacht, man hat vor Jahren das FBI aufgelöst, den Secret Service aber gibt es schon seit fast zweihundert Jahren. Er bleibt bestehen. Weil die Gefahr bestehen bleibt. Personen des öffentlichen Lebens bekommen Morddrohungen. Und zwar ständig. Ich habe schon Hunderte von Morddrohungen gesehen. Die sind bei Berühmtheiten an der Tagesordnung. Einen tatsächlichen Mordanschlag habe ich allerdings nie miterlebt. Hab mein ganzes Berufsleben lang aufgepasst und darauf gewartet, aber es ist nie, niemals dazu gekommen. Bis dann eines Tages die Autobombe explodiert ist. Dabei verlor ich mein Bein.«

»Ich verstehe.«

»Sie müssen sich damit abfinden. Das ist eine Realität. Es ist real, und Sie müssen sich darauf einstellen, ohne sich dadurch in Ihrer Arbeit behindern zu lassen.«

Oscar schwieg.

»Der Himmel hat eine andere Farbe, wenn Ihnen bewusst ist, dass man Sie erschießen könnte. Die Dinge haben einen anderen Geschmack. Es setzt einem zu, man fragt sich irgendwann, ob es das überhaupt wert ist. Aber wissen Sie was, trotz alledem ist die Gesellschaft nicht böse oder gewalttätig.« Fontenot zuckte die Achseln. »Wirklich nicht. Nicht mehr. Als ich anfing, war Amerika wahrhaft gewalttätig. Eine extrem hohe Kriminalitätsrate, verrückte Drogenbanden, die automatischen Waffen waren spottbillig und leicht zu bekommen. Jämmerliche, wütende, bedauernswerte Menschen. Menschen, die einen tiefen Groll mit sich herumschleppten, Menschen voller Hass. Das war eine seltsame Zeit damals. Die Menschen strengen sich nicht sonderlich an, wenn ihnen bewusst ist, dass sich ihr Leben binnen einer Woche komplett umkrempeln kann. Das Leben hat dann keinen Sinn mehr, heute aber sind die meisten Amerikaner, zumal die Armen, wesentlich zufriedener als damals. Sie mögen ohne jede Orientierung sein, wie unser Senator gerne sagt, aber sie sind nicht niedergedrückt und verzweifelt. Sie stochern einfach bloß herum. Lassen sich treiben. Hängen herum. Wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen.«

»Mag sein.«

»Wenn Sie sich eine Weile bedeckt halten, löst sich das Problem von selber. Irgendwann gehen Sie nach Boston oder Washington, wenden sich anderen Themen zu, gehen Huey aus dem Weg. Die automatischen Mailings sind wie Stacheldraht, lästig, aber dumm. Die Programme verstehen nicht mal, was drinsteht. Wenn Sie erst einmal eine Nachricht von gestern sind, werden die Computer Sie einfach vergessen.«

»Ich habe die Absicht, noch eine ganze Weile aktuell zu bleiben, Jules.«

»Dann sollten Sie aber lernen, so zu leben wie andere Berühmtheiten auch.«


Oscar war entschlossen, sich von den alarmierenden Neuigkeiten nicht demoralisieren zu lassen. Er fuhr mit der Arbeit am Hotel fort, das traumhafte Fortschritte machte, wie es bei einem Bauwerk von Bambakias üblich war. Die ganze Mannschaft packte an; alle waren von Bambakias’ Ideologie angesteckt, daher wollten sie sich den Spaß um nichts in der Welt entgehen lassen. Seltsamerweise machte die Arbeit tatsächlich Spaß, und zwar auf ganz eigene Weise; die Leiden der anderen zu teilen, bereitete eine Menge Schadenfreude. Das System registrierte jeden einzelnen Handgriff und verhinderte so, dass man seine Freunde für sich arbeiten ließ. Die verteilte Realisierung machte Spaß in dem Sinne, wie Sportlerteams Spaß hatten. Balkone entstanden, Torbögen und Säulen wuchsen in die Höhe, das ungeordnete Durcheinander kristallisierte zu geordnetem Raum. Es war, als kämpfe man sich mit Seilen und Steigeisen einen Berghang empor, um plötzlich voller Dankbarkeit die wunderschöne Aussicht zu genießen.

Gewisse Arbeiten zogen unweigerlich faszinierte Zuschauer an: das Anziehen der Spannkabel beispielsweise, die ein loses Durcheinander von Blöcken in einen massiven Wall verwandelten, der die nächsten dreihundert Jahre überdauern würde. Bambakias’ Bauteams genossen diese theatralischen Effekte sehr. Bei langweiligen Arbeiten übertrieben sie um der Zuschauer willen. In den hervorstechenden Momenten aber waren sie so konzentriert und cool bei der Sache wie die Jazzmusiker des zwanzigsten Jahrhunderts.

Oscar war ein politischer Berater. Das Publikum zu würdigen, gehörte zu seinem Job. Angesichts einer Zuschauermenge empfand er ähnlich wie ein Farmer beim Anblick seiner gedeihenden Wassermelonen. Jetzt, da er befürchten musste, dass eine der Wassermelonen auf ihn schießen würde, fiel es ihm allerdings schwerer, seine gewohnte Begeisterung heraufzubeschwören.

Natürlich war ihm der Gedanke an seine persönliche Sicherheit nicht neu; während des Wahlkampfs hatten alle gewusst, dass es zu Zwischenfällen kommen und dass der Kandidat Schaden nehmen könnte. Der Kandidat mischte sich unters Volk, und einige Leute waren halt von Natur aus gewalttätig oder verrückt. In Massachusetts hatte es tatsächlich ein paar hässliche Vorkommnisse gegeben: lästige Zwischenrufer, verbohrte Protestierer, kotzende Betrunkene, Taschendiebe, Ohnmachtsanfälle, Drängeleien. Das lästige Drumherum, das gute Sicherheitsmaßnahmen so unverzichtbar machte wie Sicherheitsgurte oder Feuerlöscher in Flugzeugen. In neunundneunzig von hundert Fällen waren die für die Sicherheit aufgewendeten Ausgaben und die investierte Mühe vergebens. Im hundertsten Fall war man heilfroh, dass man so umsichtig gewesen war.

Die Reichen waren heutzutage ständig auf Sicherheit bedacht. Bodyguards gehörten ebenso wie Hausverwalter, Köche, Sekretäre, Systemadministratoren und Imageberater zur Grundausstattung der Oberschicht. Eine gut organisierte Mannschaft und die entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen wurden von reichen Leuten einfach erwartet; ohne eine Mannschaft wurde man nicht ernst genommen. Dies alles hatte durchaus seinen Sinn.

Die Vorstellung aber, von einer Kugel durchbohrt zu werden, war etwas anderes.

Nicht die Vorstellung zu sterben belastete ihn. Oscar konnte sich problemlos vorstellen zu sterben. Vielmehr stieß ihn die damit einhergehende Sinnlosigkeit ab. Der Umstand, dass sein Spielbrett von einem Psychotiker umgestoßen wurde, von einem Regelverletzer, der nicht einmal begriff, worum es überhaupt ging.

Bei einem Spiel zu verlieren, das konnte er verstehen. Oscar konnte sich beispielsweise vorstellen, in einen größeren politischen Skandal verwickelt und beschissen, in die Wüste geschickt, ausgestoßen, entehrt, gemieden und vergessen zu werden. Dann wäre er eine Unperson. Für andere untragbar. Dass dieser Fall eintrat, konnte Oscar sich gut vorstellen. Das gab dem Spiel eine gewisse Würze. Ein garantierter Sieg war schließlich kein Sieg mehr.

Doch er wollte nicht erschossen werden. Daher stellte Oscar die Mitarbeit am Projekt ein. Dies war ein betrübliches Opfer, denn er hatte die Fertigstellung des Hotels mit großer Anteilnahme verfolgt und die zahlreichen Möglichkeiten, die Vorurteile der rückständigen Texaner zu erschüttern, wahrhaft genossen. Sich die Scharen der Neugierigen als ein Gemenge von potenziellen Feinden vorzustellen, bedrückte ihn jedoch. Worauf zielten die Fadenkreuze? Die ständige morbide Beschäftigung mit dem Thema Attentat verhalf Oscar zu der Überzeugung, dass er selbst einen hervorragenden Attentäter abgegeben hätte – klug, geduldig, diszipliniert, entschlossen und schlaflos. Diese schmerzhafte Entdeckung setzte seinem Selbstverständnis arg zu.

Er setzte seine Leute von der Entwicklung in Kenntnis. Rührenderweise zeigten sie sich besorgter um seine Sicherheit als er selbst.

Er zog sich ins Laboratorium zurück, denn dort war es viel sicherer für ihn. Im Gefahrenfall würden die Sicherheitsbeamten den Alarm für entlaufene Tiere auslösen, dann wären alle Durchgänge so fest verschlossen wie ein Banktresor.

Unter Glas war es sicherer für Oscar – doch er fühlte sich, unter Druck, von unsichtbaren Mächten in seiner Freiheit eingeschränkt. Eine Möglichkeit zum Gegenangriff aber war ihm geblieben. Er versenkte sich aggressiv in seinen Laptop. Er selbst, Pelicanos, Bob Argow und Audrey Avizienis arbeiteten gemeinsam an der Erstellung einer Indizienkette.

Senator Dougal und seine texanische Cajunmafia Schweinefleisch fressender alter Kumpane waren zunächst sehr pflichtbewusst gewesen. Mit ihrer anfänglichen Bescheidenheit war indes Schluss, als sie sich über die Grenzen des Staates Texas hinaus in die großen Geldwaschanlagen der Casinos von Louisiana vorarbeiteten. Später flossen die Gelder in Form großzügiger Wahlkampfspenden und auf den Namen von Ehefrauen und Neffen eingetragenen Zweitwohnungen unerfindlicher Herkunft zurück.

Im Laufe der Jahre aber war die Finanzlage des Landes angespannt und chaotisch geworden. Während die Hyperinflation tobte und große Industrien platzten wie angepiekste Luftballons, fiel es zunehmend schwerer, den Anschein zu wahren. Die Spuren zu verwischen, war mühselig und lästig geworden. Der Senator hielt nach wie vor seinen schützenden Arm über das Labor, und das ehrenhafte Anliegen, der Wissenschaft voran zu helfen und gefährdeten Tierarten ein Zuhause zu geben, vermittelte noch immer den meisten Amerikanern ein zutiefst unkritisches Gefühl von Warmherzigkeit und Großzügigkeit. Die Arbeit im Laboratorium ging weiter – während sich in seinem Schatten die Fäulnis ausbreitete, bei den Mauscheleien der Gerätebeschaffung und der Ausschreibungen, ein kleines Universum der Provisionszahlungen und Bestechungen. Untergeordnete politische Verbündete wurden auf obskure, aber lukrative Posten gehievt und etwa mit der Zuständigkeit für die Parkplätze, die Installationen oder die Wäsche bedacht. Veruntreuung war wie Alkoholismus. Es fiel schwer, wieder davon loszukommen, und wenn einen niemand zur Verantwortung rief, zeigten sich bald die ersten geplatzten Äderchen.

Oscar hatte den Eindruck, ausgezeichnete Fortschritte zu machen. Sein Handlungsrahmen erweiterte sich ständig.

Dann tauchte der erste Selbstmordattentäter auf.

Oscar wurde von einer Angehörigen des Sicherheitsdienstes angesprochen. Es handelte sich um eine Beamtin mittleren Alters, die einer kleinen bundesstaatlichen Polizeieinheit mit der Bezeichnung ›Buna National Collaboratory Security Authority‹ angehörte. Sie berichtete Oscar, soeben sei von Muskogee, Oklahoma, ein Mann eingetroffen, der erfolglos gegen die Südschleuse gehämmert und drohend einen folienverschweißten Karton geschwungen habe, von dem er behauptete, er enthalte eine ›Super-Reflex-Granate‹.

Oscar suchte den Verdächtigen in seiner Zelle auf. Der prospektive Attentäter wirkte verwahrlost und desorientiert und befand sich in dem Zustand grauenhafter kosmischer Verwirrung, wie er geistig Schwerkranken zu eigen ist. Oscar verspürte jähes, unerwartetes Mitleid mit ihm. Ihm war auf den ersten Blick klar, dass der Mann keine bösen Absichten hatte. Der arme Kerl war durch den unaufhörlichen Beschuss mit verlogener Massenmail zu seinem plumpen Attentatsversuch getrieben worden. Oscar war dermaßen schockiert, dass er unwillkürlich verlangte, man möge den Mann freilassen.

Die Polizisten waren allerdings so klug, seinem Wunsch nicht nachzukommen. Sie hatten bereits die Secret Service-Niederlassung in Austin informiert. In Kürze würden Spezialagenten eintreffen, Mr. Spencer eingehend verhören und ihn diskret fortschaffen.

Am nächsten Tag tauchte ein weiterer unheilbarer Spinner auf. Dieser Gentleman, ein gewisser Mr. Bell, ging schlauer vor. Er versuchte, sich in einer LKW-Ladung von Transformatoren zu verstecken. Der Fahrer bemerkte, wie er unter einer Plane hervorkroch, und rief den Sicherheitsdienst. Es entspann sich eine wilde Verfolgungsjagd, bis man den blinden Passagier schließlich in einer Pflanzung von seltenem Sumpfgras entdeckte, wo er noch immer eine selbstgefertigte Schwarzpulverpistole umklammert hielt.

Der dritte Vorfall war bei weitem der schlimmste. Als man Mr. Anderson in einem Müllcontainer entdeckte, brüllte er etwas von fliegenden Untertassen und dem Schicksal der Konföderation und bearbeitete seine Arme mit einem Rasiermesser. Das viele Blut war schockierend und machte Oscars Lage unhaltbar.

Mittlerweile war klar, dass er einen sicheren Unterschlupf benötigte. Und der sicherste Ort innerhalb der Laboratoriumskuppel war natürlich der Hochsicherheitstrakt.

Der Hochsicherheitstrakt wirkte von innen weit weniger beeindruckend als die hoch aufragende, porzellanweiße Einfriedung. Der Hochsicherheitstrakt stellte eine äußerst merkwürdige Umgebung dar, da sämtliche Einrichtungsgegenstände so konstruiert waren, dass sie der Hochdruckreinigung mit überhitztem Wasserdampf standzuhalten vermochten. Die Innenausstattung bestand aus porenlosem Plastik, Arbeitsflächen aus säureresistenter weißer Keramik, Metallrohrstühlen und körnigem Antirutsch-Bodenbelag. Der Hochsicherheitstrakt wirkte zutiefst fremdartig und alltäglich zugleich. Schließlich war dies kein Feenland und kein Raumschiff, sondern bloß ein Ort, wo Menschen unter streng definierten Bedingungen und bei höchster Sauberkeit hochspezialisierte Arbeiten ausführten. Bereits seit fünfzehn Jahren wurde hier gearbeitet.

Im Umkleideraum, der gleichzeitig auch als Schleuse diente, bat man Oscar, seine Straßenkleidung abzulegen. Stattdessen legte er einen Wegwerflaborkittel aus Papier an, Handschuhe, eine bauschige Haube, eine Gesichtsmaske und sockenlose Reinraumschuhe, die an den Knöcheln dicht abschlossen. Greta Penninger, die sich zu seiner inoffiziellen Führerin ernannt hatte, schickte ihm einen Laboranten, der ihm zur Hand ging.

Dr. Penninger unterstand ein geräumiger Trakt mit mehreren Laborräumen inmitten eines hell erleuchteten Labyrinths, das als Abteilung für rechnergestützte neurologische Forschung bezeichnet wurde. Auf einer Plastiktür stand GRETA V. PENNINGER, FORSCHUNGSLEITERIN, und hinter der Tür lag ein hell erleuchteter Operationssaal. Meterlange weiße Tische. Sicherheitsbodenbelag. Trockengestelle. Sicherheitsfolie. Lösungsmittel. Waagen, Abzüge, Bechergläser in allen möglichen Größen. Pipetten. Zentrifugen. Chromatographen. Und zahlreiche Geräte, deren Funktion im Dunkeln blieb.

Oscar wurde von Dr. Albert Gazzaniga, Gretas Majordomus, in Empfang genommen. Gazzaniga hatte den typischen ›Labor-Blick‹, durchdringend und gleichzeitig eigentümlich diffus, etwa wie ein Squashspieler im Nirwana. Gazzaniga verbrachte sein Arbeitsleben in Reinraumkleidung und entspannte sich draußen in verrottenden Turnschuhen und Shorts. Er wirkte eifrig, aufrichtig und naturverbunden. Er war einer der wenigen Laboratoriumsangestellten, die sich als Anhänger der Demokraten zu erkennen gaben. Die meisten Laborleute waren eher langweilige, wirrköpfige Anhänger der Linken und entweder Mitglied der Sozialdemokraten oder der Kommunisten. Nur selten traf man jemanden, der genügend Mumm und Energie aufbrachte, eine fundierte reformerische Position einzunehmen.

»Wo steckt eigentlich Dr. Penninger?«

»Ach, Sie müssen sie schon entschuldigen, sie führt gerade einen Versuch durch. Sobald sie fertig ist, kommt sie her. Glauben Sie mir, wenn Greta sich konzentrieren will, lässt man sie am besten in Ruhe.«

»Schon gut. Das verstehe ich.«

»Das heißt nicht, dass sie Sie nicht ernst nehmen würde. Sie hat großes Verständnis für Ihre Lage. Wir hatten hier auch schon Probleme mit Extremisten. Mit Tierrechtlern, Vivisektionsspinnern… Ich weiß, wir Wissenschaftler führen im Vergleich zu Euch Politikern ein sehr behütetes Leben, aber deswegen sind wir noch lange nicht von gestern.«

»Das habe ich auch nicht angenommen, Albert.«

»Mir persönlich tut es sehr leid, dass Sie diese Unannehmlichkeiten haben. Es ist mir wirklich eine Ehre, Ihnen behilflich zu sein.«

Oscar nickte. »Ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen. Es ist nett von Ihnen, dass Sie mich aufnehmen. Ich werde mich bemühen, bei der Laborarbeit nicht im Weg zu sein.«

Dr. Gazzaniga führte ihn über einen Gang, vorbei an sieben Laboranten in Schutzanzügen, die mit ihren Petrischalen beschäftigt waren. »Sie glauben doch hoffentlich nicht, in Gretas Labor ginge es gefährlich zu. In diesem Labor haben wir uns noch nie mit gefährlichen Projekten befasst. Die Reinraumkleidung dient bloß dazu, die Bakterienkulturen vor Verunreinigungen zu schützen.«

»Ich verstehe.«

Gazzaniga hob unter seinem baumwollfreien Laborkittel die Schultern. »Die ganze Abschreckungstaktik hinsichtlich der Gentechnik – die riesigen Türme, die Katakomben, die Schleusen, diese gewaltige versiegelte Kuppel – ich nehme an, damals war das politisch vernünftig, heute aber ist es bloß altmodisch. Mit Ausnahme einiger weniger der Geheimhaltung unterliegenden militärischen Anwendungen hat das Laboratorium schon vor Urzeiten damit aufgehört, sich mit überlebensfähigen Bazillen zu beschäftigen. Im Hochsicherheitstrakt gibt es nichts, was Ihnen schaden könnte. Die Gentechnik ist heutzutage ein sehr gut beherrschbares Anwendungsgebiet, sie ist mittlerweile fünfzig Jahre alt. Was die Bakterien angeht, so verwenden wir lediglich an Extremtemperaturen adaptierte Stämme. Solche aus vulkanischer Umgebung. Sehr effizient, rascher Stoffwechsel, viele Nutzanwendungen, außerdem vollkommen sicher. Unterhalb von 90 Grad Celsius funktioniert ihr Stoffwechsel nicht. Sie ernähren sich von Schwefel und Wasserstoff, beides Stoffe, die im menschlichen Blutkreislauf nicht vorkommen. Außerdem sind alle unsere Stämme doppelt sicher. Selbst wenn man darin baden würde – also, es könnte sein, dass man sich verbrüht, aber man würde sich weder infizieren noch das Risiko eingehen, dass es zum Austausch genetischen Materials kommt.«

»Das klingt sehr beruhigend.«

»Greta ist ein Profi. Mit der Laborarbeit nimmt sie es sehr genau. Nein, es ist mehr als das – im Labor ist sie eine Leuchte. Sie ist äußerst stark in rechnergestützter Hirnforschung, verstehen Sie mich nicht falsch – aber Greta ist besessen von der praktischen Laborarbeit. Mit STM-Sonden kann niemand so gut umgehen wie sie. Und wenn wir statt dieser Steinzeit-Rotorenscheiße ihre Hände für die thixotropen Zentrifugen verwenden könnten, dann würde hier wirklich die Post abgehen.«

Gazzaniga war jetzt ganz in seinem Element. Er vibrierte geradezu vor leidenschaftlicher Hingabe. »Gemessen in Veröffentlichungen pro Arbeitsstunde ist dies das produktivste Labor in Buna. Wir haben das Know-how, und Gretas Laborteam braucht sich vor niemandem zu verstecken. Wer weiß, wozu wir imstande wären, wenn wir nur ordentliches Arbeitsgerät bekämen. Die Hirnforschung macht im Moment einen großen Sprung nach vorn, so wie die Genetik vor vierzig oder die Computer vor achtzig Jahren. Allein der Himmel ist die Grenze.«

»Was machen Sie nun genau?«

»Also, allgemeinverständlich ausgedrückt…«

»Vergessen Sie’s, Albert. Sagen Sie mir einfach, woran Sie hier arbeiten.«

»Also, vor allem verfolgen wir die Ergebnisse der Arbeiten weiter, die mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Dabei ging es um Aufmerksamkeitsmodulationen verursachende neurochemische Gradienten. Dies war der größte neurokognitive Durchbruch seit Jahren, daher bietet sich uns jetzt ein weites Arbeitsfeld. Karen arbeitet dort drüben an Phasenmodulation und Frequenzspitzen. Yung-Nien ist die Kognitionsspezialistin des Teams, sie beschäftigt sich mit stochastischer Resonanz und reaktiver Modulation. Und Serge dort drüben ist unser Rezeptor-Mechaniker, er forscht über das Aufnahmevermögen dendritischer Transformatoren. Die übrigen Leute sind größtenteils Postdocs, aber wenn jemand bei Greta Penninger arbeitet, weiß man nie. Das Labor ist weltberühmt. Es ist unser Aushängeschild. Wenn sie einmal fünfzig oder sechzig ist, werden selbst ihre jüngsten Koautoren eigene Neurolabors leiten.«

»Und woran arbeitet Dr. Penninger?«

»Warum fragen Sie sie das nicht selbst?« Greta war eingetroffen. Gazzaniga zog sich taktvoll zurück.

Oscar äußerte sein Bedauern darüber, sie bei der Arbeit gestört zu haben.

»Ach, das macht doch nichts«, erwiderte Greta fröhlich. »Die Zeit nehme ich mir. Ich glaube, das ist die Sache wert.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Ja«, sagte sie.

Oscar blickte sich in ihrem Labor um. »Es ist seltsam, dass wir uns an einem solchen Ort begegnen… Ich sehe, dass Ihnen diese Umgebung zusagt, aber was mich angeht, so schwingt da bei mir einiges mit… Können wir hier ungestört reden?«

»Mein Labor wird nicht abgehört. Hier wird alles zweimal die Woche sterilisiert. Ein Abhörgerät würde nicht unbemerkt bleiben.« Als sie seine Skepsis bemerkte, überlegte sie es sich anders. Sie schaltete einen Rührer ein, der mit beruhigendem Getöse zu arbeiten begann.

Oscar fühlte sich gleich viel wohler. Sie waren noch immer fremden Blicken ausgesetzt, doch der Lärm würde zumindest verhindern, dass man sie belauschte. »Wissen Sie, wie ich Politik definiere, Greta?«

Sie sah ihn an. »Ich weiß, dass die Politik Wissenschaftlern eine Menge Schwierigkeiten macht.«

»Politik ist die Kunst, unterschiedliche menschliche Bestrebungen miteinander zu versöhnen.«

Sie dachte einen Moment darüber nach. »Ja, und?«

»Greta, ich will offen zu Ihnen sein. Ich brauche ein paar vernünftige Leute, die bereit wären, bei der anstehenden Senatsanhörung auszusagen. Die üblichen Figuren aus dem höheren Management reichen da nicht mehr aus. Ich brauche Menschen, die aus eigener Erfahrung wissen, was hier vorgeht.«

»Warum fragen Sie ausgerechnet mich? Weshalb fragen Sie nicht Cyril Morello oder Warren Titche? Die haben jede Menge Zeit für politische Aktivitäten.«

Oscar war auf Morello und Titche bereits aufmerksam geworden. Ohne sich dessen so recht bewusst zu sein, waren die beiden die Anführer der Basis des Laboratoriums. Cyril Morello war der stellvertretende Leiter der Personalabteilung, ein Mann, der durch seine sinnlosen, karriereschädlichen Aktionen das Vertrauen der Beschäftigten gewonnen hatte. Warren Titche war der Vorzeigeradikale des Labors, ein polternder Eiferer, der für Fahrradständer und Speisepläne kämpfte, als bedeute ein Scheitern den nuklearen Holocaust.

»Ich bitte Sie nicht um eine Beschwerdeliste. Sowas habe ich bereits. Mit geht es vielmehr darum… ja, wie soll ich mich ausdrücken? – Um den Clou, das große Ganze. Den Durchblick. Die Botschaft. Im Wissenschaftsausschuss sitzen drei frischgebackene Senatoren. Die weitblickende Erfahrung des langjährigen ehemaligen Vorsitzenden, des texanischen Senators Dougal, geht ihnen ab. Jetzt werden die Karten in Washington vollkommen neu gemischt.«

Greta sah verstohlen auf die Uhr. »Glauben Sie wirklich, dies würde irgendetwas ändern?«

»Ich will Nägel mit Köpfen machen. Ich möchte Ihnen eine simple Frage stellen. Angenommen, Sie könnten die Unionspolitik bestimmen und sich jeden Wunsch erfüllen. Lassen Sie Ihrer Phantasie mal freien Lauf. Was wollen Sie?«

»Oh.« Auf einmal zeigte sie Interesse. »Also, ich glaube… ich würde wollen, dass die amerikanische Wissenschaft wieder so wird wie zu ihren besten Zeiten. Das war die Kommunistenära, die Zeit des Kalten Krieges. Wenn man damals einen guten Vorschlag hatte und bereit war, sich dafür einzusetzen, konnte man sich einer komfortablen, langfristigen staatlichen Finanzierung so gut wie sicher sein.«

»Das genaue Gegenteil des gegenwärtigen Albtraums«, half Oscar nach. »Endloser Papierkrieg, schlechte Finanzierung, sinnlose Ethikschikanen…«

Greta nickte reflexhaft. »Es ist kaum zu glauben, wie tief wir gesunken sind. Früher wurden die Mittel aufgrund der Beurteilung von Fachleuten aus der wissenschaftlichen Gemeinde verteilt. Damals gab es keine Almosen seitens des Kongresses im Austausch gegen innenpolitische Vorteile. Heutzutage verbringen die Wissenschaftler vierzig Prozent ihrer Zeit damit, um die Fleischtöpfe herumzuschleichen. In der guten alten Zeit war das wissenschaftliche Leben sehr direkt. Die gleiche Person, die Mittel bewilligte, packte auch selber mit an und brachte ihre eigenen Ergebnisse zu Papier. Wissenschaft war ein richtiges Handwerk. Veröffentlichungen wurden von drei, vier Coautoren verfasst – nicht von riesigen Gruppen, denen sechzig bis achtzig Leute angehören, wie es heute die Regel ist.«

»Also geht es vor allem ums Geld«, sagte Oscar schmeichelnd.

Sie beugte sich energisch vor. »Nein, das Problem liegt viel tiefer. Die Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts war vollkommen anders organisiert. Es herrschte Einverständnis zwischen Regierung und Wissenschaftsgemeinde. Eine Art Frontmentalität. Das war die Zeit des Goldrauschs. Die Nationale Wissenschaftsstiftung. Die nationale Gesundheitsbehörde. Die NASA. Die ARPA, zuständig für Zukunftstechnologien. Und die Wissenschaftsbehörden hielten ihre Ideale hoch. Wundermedikamente, Kunststoffe, neue Industrien… die Menschen sind zum Mond geflogen, ganz wörtlich genommen!«

Oscar nickte. »Sie haben wahre Wunder bewirkt«, sagte er. »Das klingt nach kontinuierlicher Arbeit.«

»Klar, damals gab es sichere Jobs«, sagte Greta. »Der Besitzstand war gewahrt. Kennen Sie überhaupt den veralteten Ausdruck ›Besitzstand‹?«

»Nein«, sagte Oscar.

»Es war zu schön, um von Dauer zu sein«, meinte Greta. »Die Unionsregierung kontrollierte das Budget, aber das Wissen ist global. Denken Sie bloß mal ans Internet – anfangs war das ein rein wissenschaftliches Netzwerk, dann aber ist es explodiert. Heutzutage können sich Stämme in der Serengeti unmittelbar über chinesische Satelliten einloggen.«

»Dann war es mit dem Goldenen Zeitalter also vorbei, als der Kalte Krieg endete?« fragte Oscar.

Greta nickte. »Als wir gesiegt hatten, wollte der Kongress die amerikanische Wissenschaft auf nationale Konkurrenz ausrichten, um uns fit für den globalen Wettbewerb zu machen. Das aber war nicht gut für uns. Wir hatten nie eine Chance.«

»Warum nicht?« fragte Oscar.

»Nun, die Grundlagenforschung bringt zwei wirtschaftliche Vorteile mit sich: intellektuelles Wissen und Patente. Um die Investitionen in die Forschung und Entwicklung wieder reinzuholen, braucht man ein Gentleman’s Agreement, das den Investoren die Exklusivrechte an ihren Erfindungen zuerkennt. Die Chinesen aber haben sich noch nie viel um das Recht auf geistiges Eigentum geschert. Wir haben sie deswegen solange unter Druck gesetzt, bis schließlich ein richtiger Handelskrieg ausbrach und die Chinesen uns zwangen, Farbe zu bekennen. Sie machten das gesamte englischsprachige geistige Eigentum über ihr Satellitennetzwerk für jedermann frei zugänglich. Sie verschenkten unseren Besitz, und das bedeutete unseren Bankrott. Daher hat die Grundlagenforschung ihren ökonomischen Unterbau dank der Chinesen mittlerweile verloren. Wir zehren jetzt allein von unserem Prestige, und das ist ein zu schmaler Grat, um sein Leben darauf zu gründen.«

»Auf die Chinesen einzuprügeln ist aus der Mode«, sagte Oscar. »Wie wär’s mit den Niederländern?«

»Ja, die angepasste Technologie der Niederländer… Die Niederländer haben jede einzelne Insel, jede Küste, jedes unter dem Meeresspiegel liegende Gebiet auf der Welt aufgesucht und mit dem Deichbau Milliarden verdient. Sie haben eine gegen uns gerichtete Allianz der Inseln und tief liegenden Staaten geschmiedet, sie kommen uns in jeder internationalen Arena in die Quere… Sie wollen die globale Forschung den ökologischen Erfordernissen anpassen. Sie wollen keine Zeit und kein Geld für Dinge wie Neutrinos oder Raumschiffe verschwenden. Die Niederländer sind sehr lästig.«

»Der Zweite Kalte Krieg steht nicht auf der Agenda des Wissenschaftsausschusses«, sagte Oscar. »Wenn wir dies zu einer Frage der nationalen Sicherheit machen würden, könnte es aber dazu kommen.«

»Was würde das schon nützen?« Greta hob die Schultern. »Kluge Menschen sind zu großen Opfern bereit, wenn man sie an Problemen arbeiten lässt, die sie wirklich interessieren. Aber wenn man sich ständig nur militärisch verwertbare Ergebnisse abpressen soll, dann ist man nichts weiter als ein dressierter Affe.«

»Das ist gut!« sagte Oscar. »Genau das hatte ich mir erhofft – einen offenen Meinungsaustausch.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Soll ich wirklich offen sein, Oscar?«

»Nur zu.«

»Was hat uns das Goldene Zeitalter gebracht? Die Öffentlichkeit kam mit den Wundern nicht zurecht. Zuerst kam das Atomzeitalter, aber das war gefährlich und produzierte giftige Abfälle. Dann das Zeitalter der Raumfahrt, das verlief bald im Sande. Dann kam das Informationszeitalter, doch es stellte sich heraus, dass die wahren Renner der Netzwerke soziale Zerrüttung und Softwarepiraterie sind. Es ist noch nicht lange her, da hat die amerikanische Wissenschaft das Zeitalter der Biotechnik eingeläutet, und als Renner entpuppte sich die Produktion kostenloser Nahrung für Nomaden! Und jetzt dämmert das kognitive Zeitalter herauf.«

»Und was wird es uns bringen – Ihr brandneues kognitives Zeitalter?«

»Das weiß niemand. Wenn wir vorher wüssten, was dabei herauskommt, dann wäre dies keine Grundlagenforschung.«

Oscar blinzelte. »Lassen Sie uns eines klarstellen. Sie widmen Ihr Leben der Hirnforschung, können uns aber nicht sagen, was uns das bringen wird?«

»Das kann ich nicht. Das lässt sich nicht beurteilen. Die Gesellschaft ist ein zu komplexes Phänomen, auch die Wissenschaft ist zu komplex. Wir haben in den vergangenen hundert Jahren so unglaublich viel dazugelernt… Das Wissen ist fragmentiert und hochspezialisiert, die Wissenschaftler wissen immer mehr über immer weniger… Man kann keine wohlbegründeten Aussagen über die sozialen Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts machen. Wir Wissenschaftler wissen einfach nicht mehr, was wir wissen.«

»Sie sind wirklich offen, das muss man Ihnen lassen. Sie räumen das Feld und überlassen die politischen Entscheidungen den willkürlichen Annahmen der Bürokraten.«

»Willkürliche Annahmen funktionieren auch nicht.«

Oscar rieb sich das Kinn. »Das hört sich schlimm an. Richtig schlimm. Das klingt hoffnungslos.«

»Dann male ich vielleicht zu schwarz. Die Wissenschaft ist sehr lebendig – auch in den vergangenen zehn Jahren haben wir einige Entdeckungen von historischer Bedeutung gemacht.«

»Nennen Sie mir ein paar«, sagte Oscar.

»Zum Beispiel wissen wir jetzt, dass sich achtzig Prozent der Biomasse unter der Erde befinden.«

Oscar zuckte die Achseln. »Okay.«

»Wir wissen, dass es im Weltraum lebende Bakterien gibt«, fuhr Greta fort. »Sie müssen zugeben, dass das eine große Entdeckung war.«

»Sicher.«

»Es gab in diesem Jahrhundert einige große medizinische Fortschritte. Die meisten Krebsarten haben wir besiegt. Wir haben Aids geheilt. Wir können Pseudo-Östrogen-Schäden behandeln. Wir können Kokain- und Heroinabhängigkeit mit einer Spritze heilen.«

»Schade, dass das nicht auch bei Alkoholikern funktioniert.«

»Wir können beschädigte Nerven regenerieren. Manche Laborratten sind mittlerweile bereits intelligenter als Hunde.«

»Ja, und dann ist da noch das kosmische Drehmoment«, sagte Oscar. Beide lachten, als ob es unvorstellbar gewesen wäre, das kosmische Drehmoment auch nur für einen Augenblick zu vergessen.

»Lassen Sie mich die Perspektive wechseln«, sagte Oscar. »Erzählen Sie mir vom Laboratorium. Auf welchem Gebiet liegt die Hauptkompetenz von Buna – welchen einzigartigen und unersetzlichen Nutzen hat diese Anlage für Amerika?«

»Nun, da wäre zunächst einmal unser Genarchiv. Dafür sind wir weltberühmt.«

»Hmmm«, machte Oscar. »Ich muss zugeben, dass es sehr schwierig und kostspielig war, diese vielen seltenen Exemplare zu sammeln. Aber könnte man die Gene mit moderner Technik nicht kopieren und irgendwo anders aufbewahren?«

»Aber das hier ist der naheliegendste Verwahrungsort. Wir haben hier sichere Aufbewahrungskeller. Und eine gigantische Schutzkuppel.«

»Brauchen Sie wirklich eine Schutzkuppel? Die Gentechnik ist heutzutage doch sicher und einfach.«

»Ja, schon, aber sollte Amerika jemals eine für biologische Kampfstoffe der Klasse IV geeignete Anlage brauchen, so haben wir sie hier.« Greta stockte. »Außerdem haben wir hier erstklassige landwirtschaftliche Forschungseinrichtungen. Die Oberschicht isst noch immer Getreide. Und sie liebt auch unsere seltenen Tiere.«

»Reiche essen natürliches Getreide«, warf Oscar ein.

»Unsere Biotechabteilung hat ganze Industrien ins Leben gerufen«, beharrte Greta. »Schauen Sie sich nur mal an, wie wir Louisiana umgestaltet haben.«

»Ja«, sagte Oscar. »Meinen Sie, ich sollte diesen Umstand bei der Senatsanhörung hervorheben?«

Greta schaute betreten drein.

Oscar nickte. »Ich will ebenso offen zu Ihnen sein, Greta, wie Sie zu mir. Ich möchte Ihnen schildern, was Sie im Kongress zu gewärtigen haben werden. Das Land ist pleite, und Ihre Verwaltungskosten explodieren. Sie haben hier über zweitausend Angestellte, welche die Staatskasse belasten. Sie selbst erzielen keinerlei Einkünfte – abgesehen davon, dass Sie mit seltenen Kuscheltieren das Wohlwollen flüchtiger Berühmtheiten gewinnen. Hier stehen keine wichtigen militärischen oder nationalen Interessen auf dem Spiel. Biotech ist nicht mehr revolutionär, sondern alltäglich geworden, ein alter Hut. Was also haben Sie in letzter Zeit für uns getan?«

»Wir schützen und wahren das Naturerbe des Planeten«, sagte Greta. »Wir sind Bewahrer.«

»Ich bitte Sie. Sie sind Gentechniker, mit Natur hat das nichts zu tun.«

»Senator Dougal hatte nichts daran auszusetzen, dass staatliche Gelder nach Texas flossen. Die Senatsvertreter von Texas haben uns immer unterstützt.«

»Dougal ist Geschichte«, sagte Oscar. »Wissen Sie, wie viele Zyklotrone Amerika einmal hatte?«

»Zyklotrone?« wiederholte Greta.

»Teilchenbeschleuniger, eine Art primitiver, riesiger Elektronenröhre«, sagte Oscar. »Das waren gewaltige, teure, prestigeträchtige staatliche Forschungsstätten, und sie alle gibt es nicht mehr. Ich würde gern für diese Einrichtung kämpfen, aber Sie müssen mir zwingende Gründe nennen. Wir brauchen harte Fakten, die auch der Laie versteht.«

»Was soll ich Ihnen sagen? Wir sind keine PR-Experten. Wir sind bloß einfache Wissenschaftler.«

»Geben Sie mir irgendetwas in die Hand, Greta. Sie können nicht erwarten, Ihren Fortbestand allein auf bürokratische Trägheit zu gründen. Sie müssen die Öffentlichkeit überzeugen.«

Greta dachte angestrengt nach. »Wissen besitzt einen inhärenten Wert, auch dann, wenn man es nicht zu Geld machen kann«, sagte sie. »Selbst dann, wenn man es nicht anwenden kann. Wissen ist ein absoluter Wert. Die Suche nach der Wahrheit ist essentiell. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Zivilisation. Wissen braucht man auch dann noch, wenn Wirtschaft und Regierung längst zum Teufel gegangen sind.«

Oscar ließ sich das durch den Kopf gehen. »›Wissen bringt einen besser durch Zeiten ohne Geld, als Geld einen durch Zeiten ohne Wissen bringt.‹ Wissen Sie, da könnte schon etwas daran sein. Mir gefällt das Zitat. Es ist aktuell.«

»Der Staat muss uns unterstützen, sonst wird es Huey tun! Green Huey hat Verständnis für uns, er weiß, was wir hier tun. Wir werden Huey in die Hände fallen.«

»Dieses Argument kann ich nachvollziehen«, sagte Oscar.

»Zumindest verdienen wir uns unseren Unterhalt«, sagte Greta. »Man könnte das Ganze vielleicht als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bezeichnen. Vielleicht sollte man uns alle für verrückt erklären und die Laborarbeit als Gruppentherapie deklarieren. Oder man wandelt die Anlage zum Nationalpark um!«

»Jetzt lassen Sie Ihren Einfällen freien Lauf«, sagte Oscar. »Das ist ausgezeichnet.«

»Worum geht es Ihnen eigentlich?« fragte Greta plötzlich.

»Die Frage ist berechtigt.« Oscar lächelte einnehmend. »Man könnte sagen, dass Sie mich bei unserer ersten Begegnung für sich gewonnen haben.«

Greta machte große Augen. »Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich Ihnen glaube, Sie wollten unsere Haut retten, bloß weil Sie mit mir flirten. Nicht, dass ich was dagegen hätte. Aber wenn ich Sie becircen muss, um eine staatliche Forschungseinrichtung mit Millionenetat zu retten, dann ist es noch schlechter um das Land bestellt, als ich dachte.«

Oscar lächelte. »Ich kann flirten und gleichzeitig arbeiten. Das Gespräch war sehr erhellend für mich, sehr nützlich. Beispielsweise wie Sie sich das Haar hinters linke Ohr gestreift haben, als Sie sagten ›Vielleicht sollte man uns alle für verrückt erklären und die Laborarbeit als Gruppentherapie deklarieren.‹ Das war ein wundervoller Moment – da ist mitten in einer staubtrockenen politischen Diskussion ein kleiner persönlicher Funke aufgeflackert. Das hätte sich gut vor der Kamera gemacht.«

Sie starrte ihn an. »So denken Sie also über mich? So sehen Sie mich also? Sie meinen es wirklich ernst.«

»Aber natürlich. Ich möchte Sie näher kennen lernen. Ich möchte Sie verstehen. Ich lerne hier eine Menge. Die Regierung hat mich hergeschickt, verstehen Sie, und ich bin hier, um Ihnen zu helfen.«

»Und ich möchte Sie näher kennen lernen. Sie werden das Labor erst dann wieder verlassen, wenn ich Ihnen ein paar Blutproben abgenommen habe. Außerdem möchte ich eine Positronentomografie und Reaktionstests mit Ihnen machen.«

»Sehen Sie, wir haben wirklich eine Menge gemeinsam.«

»Abgesehen davon, dass ich noch immer nicht begreife, weshalb Sie das tun.«

»Ich kann Ihnen gerne sagen, wo meine Loyalitäten liegen«, sagte Oscar. »Ich bin Patriot.«

Sie machte ein verdutztes Gesicht.

»Ich bin nicht in Amerika geboren. Eigentlich wurde ich überhaupt nicht geboren. Aber ich arbeite für unsere Regierung, weil ich an Amerika glaube. Wir spielen eine einzigartige Rolle in der Welt.«

Oscar schlug mit der flachen Hand auf den Labortisch. »Wir haben die Zukunft erfunden! Wir haben sie aufgebaut! Und wenn die anderen sie ein wenig besser gestaltet oder vermarktet haben als wir, dann haben wir eben etwas noch Erstaunlicheres erfunden. War Phantasie gefragt, so hatten wir sie. War Unternehmungsgeist gefragt, so hatten wir ihn. Waren Wagemut und sogar Rücksichtslosigkeit gefragt, so hatten wir sie – wir haben die Atombombe nicht bloß gebaut, wir haben sie auch eingesetzt! Wir sind keine frömmelnden, wehleidigen, rot-grünen Europäer, die versuchen, die Welt so sicher zu machen, dass man sie mit Boutiquen zupflastern kann! Wir sind kein Haufen konfuzianischer Sozialwissenschaftler, die am liebsten zusehen würden, wie die Massen für die nächsten zweitausend Jahre Baumwolle ernten! Wir sind eine Nation von kosmischen Mechanikern!«

»Trotzdem sind wir pleite«, sagte Greta.

»Weshalb sollte es mich scheren, wenn Ihr Clowns kein Geld verdient? Ich bin von der Regierung! Wir drucken das Geld. Ich will mal etwas klarstellen. Ihr habt die Wahl. Entweder Ihr legt die Hände in den Schoß wie Primadonnen, und alles, was Ihr aufgebaut habt, geht den Bach runter. Oder Ihr hört auf, Euch zu ängstigen und zu ducken. Ihr könnt Euch gemeinsam am Riemen reißen, Ihr könnt wieder stolz auf Euch sein. Ihr könnt Eure Zukunft in die eigenen Hände nehmen und diese Einrichtung zu dem machen, was sie eigentlich sein sollte. Ihr könnt Euch organisieren.«

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