7

Dem Leben im Laboratorium mangelte es an den vielen attraktiven Möglichkeiten der Back Bay von Boston.

Oscar und Greta trafen sich in einem kaputten Wagen auf dem dunklen Parkplatz hinter dem Instandsetzungszentrum. Der Treffpunkt war Kevin Hamiltons Idee gewesen. Kevin hielt viel von geheimen Treffen in anonymen Fahrzeugen. Kevin war kein Geheimdienstagent, kannte aber eine Menge Tricks, wie man sie auf der Straße lernte.

»Ich habe Angst«, gestand Greta.

Oscar rückte das Jackett zurecht und bemühte sich, seinen Ellbogen unterzubringen. Der Wagen war so klein, dass sie einander praktisch auf dem Schoß saßen. »Wie kommt es, dass du wegen einer solchen Kleinigkeit Lampenfieber hast? Du hast in Stockholm mal eine Nobelpreisrede gehalten.«

»Aber damals habe ich über meine Arbeit gesprochen. Das fällt mir leicht. Das hier ist etwas anderes. Du willst, dass ich mich vor den Verwaltungsrat hinstelle und ihm Bescheid stoße. Vor all meinen Freunden und Kollegen. Sowas liegt mir nicht.«

»Eigentlich liegt es dir doch, Greta. Du bist perfekt in der Rolle. Das wusste ich in dem Moment, als ich dich zum erstenmal sah.«

Greta blickte auf den Bildschirm ihres Laptops. Die einzige Lichtquelle im Autowrack warf einen sanften Schein auf ihre Gesichter. Es war zwei Uhr morgens. »Wenn die Lage hier wirklich so schlimm ist, dann hat es keinen Sinn zu kämpfen, oder? Dann sollte ich einfach zurücktreten.«

»Nein, du brauchst nicht zurückzutreten. Bei deiner Rede geht es um deren Rücktritt.« Oscar berührte ihre Hand. »Du brauchst nichts zu sagen, was nicht der Wahrheit entspricht.«

»Also, ich weiß, dass einiges davon wahr ist, weil ich es dir selbst anvertraut habe. Ich hätte es bloß niemals laut ausgesprochen. Und nicht in dieser Form. Diese Rede oder diese Polemik oder was auch immer – das ist ein heftiger politischer Angriff! Das ist unwissenschaftlich. Das ist nicht objektiv.«

»Dann lass uns über die Formulierungen reden. Schließlich bist du die Rednerin – du musst das Publikum erreichen, nicht ich. Lass uns die einzelnen Argumente noch einmal durchgehen.«

Sie scrollte gereizt auf und ab und seufzte. »Na schön. Ich glaube, das hier ist das Schlimmste. Die Sache mit den Wissenschaftlern als unterdrückte Klasse. ›Eine Gruppe, deren Ausbeutung man endlich zur Kenntnis nehmen und beenden sollte.‹ Wissenschaftler, die sich solidarisch erheben und Gerechtigkeit fordern – mein Gott, das kann ich doch nicht sagen! Das ist zu radikal, das klingt verrückt!«

»Aber du gehörst einer unterdrückten Klasse an. Das ist die Wahrheit, das ist die zentrale, drängende Wahrheit deiner Existenz. Irgendwann hat die Wissenschaft den falschen Weg eingeschlagen, die ganze Unternehmung ist zum Teufel gegangen. Du hast deinen angestammten Platz in der Gesellschaft verloren. Du hast dein Prestige verloren, deine Selbstachtung und die Wertschätzung, die Wissenschaftler in der Öffentlichkeit einmal genossen haben. Man stellt vollkommen unerfüllbare Forderungen an dich. Du genießt keine intellektuelle Freiheit mehr. Du lebst in intellektuellen Fesseln.«

»Deswegen sind wir aber noch lange keine ›unterdrückte Klasse‹. Wir sind eine Elite hervorragend ausgebildeter Experten.«

»Na und? An deiner Lage ist doch was faul! Du kannst nicht frei über deine Forschungsarbeit entscheiden. Du hast keinen Einfluss auf die Finanzen. Du hast kein vernünftiges Einkommen und keine Jobsicherheit. Deine traditionelle Hochkultur wurde von Ignoranten und Finanzjongleuren ruiniert, die es auf das schnelle Geld abgesehen haben. Sicher, du gehörst der technischen Intelligenz an, aber du wirst von korrupten Politikern beschissen, die sich auf deine Kosten die Taschen füllen.«

»Wie kannst du sowas sagen? Guck dir doch nur mal diese erstaunliche Anlage an, in der wir leben!«

»Du glaubst, das wäre der Elfenbeinturm, Schatz. In Wirklichkeit seid ihr Slumbewohner.«

»Aber niemand denkt so wie du!«

»Das liegt daran, dass ihr euch seit Jahren etwas vormacht. Du bist smart, Greta. Du hast Augen und Ohren. Überleg mal, was du durchgemacht hast. Überleg mal, was für ein Leben deine Kollegen führen müssen. Streng deinen Grips etwas mehr an.«

Sie schwieg.

»Nur zu«, sagte er. »Lass dir Zeit, denk drüber nach.«

»Es stimmt. Es ist wahr, und es ist schrecklich, und ich schäme mich sehr deswegen und finde es grässlich. Aber dafür ist die Politik verantwortlich. Da kann niemand etwas daran ändern.«

»Darum werden wir uns kümmern«, sagte er. »Befassen wir uns mit der Rede.«

»Okay.« Sie rieb sich die Augen. »Also, das ist wirklich ein schlimmer, schmerzhafter Punkt. Senator Dougal. Ich kenne ihn, ich bin ihm schon oft begegnet. Er trinkt zu viel, aber das tut heute jeder. So schlecht ist er gar nicht.«

»Die Menschen können sich nicht gegen Abstraktionen verbünden. Man muss den Problemen ein Gesicht geben. So schafft man Einigkeit. Man muss ein Ziel auswählen, es festhalten, personalisieren und polarisieren. Dougal ist nicht dein einziger Gegner, aber mach dir deswegen keine Sorgen. Sobald du ihn festnagelst, werden die anderen schon aus ihren Schlupflöchern hervorkommen.«

»Aber er hat das alles gebaut, er hat das ganze Laboratorium erbaut!«

»Er ist ein Gauner. Das wissen wir mittlerweile ganz genau. Solange er an der Macht war, hat es niemand gewagt, ihn zu kreuzigen. Jetzt aber, da er untergeht, verlassen die Ratten das sinkende Schiff. Die Schmiergelder, die Geldwäsche… Du bist für die Geräteabteilung verantwortlich. Dougal und seine Spezis haben jahrelang den Rahm abgeschöpft. Du hast die gesetzliche und moralische Verpflichtung, ihn dir vorzuknöpfen. Und das Schönste dabei ist, der Angriff auf Dougal ist politisch ohne Risiko. Er kann sich nicht dagegen wehren. Dougal ist das kleinste Problem.« Oscar zögerte. »Wegen Huey mache ich mir Sorgen.«

»Ich begreife nicht, weshalb ich fies sein soll.«

»Du brauchst ein Thema, und unkontroverse Themen gibt es nicht. Jemanden lächerlich zu machen, ist die schärfste Waffe des Radikalen. Die Mächtigen vertragen alles, bloß nicht verspottet zu werden.«

»Das liegt mir einfach nicht.«

»Versuch’s doch einfach mal. Betrachte es als Experiment. Lass ein paar Spitzen vom Stapel, dann wirst du schon sehen, wie das Publikum reagiert.«

Sie schniefte. »Das sind Wissenschaftler. Die lassen sich nicht als Partisanen missbrauchen.«

»Natürlich sind sie Wissenschaftler. Wissenschaftler kämpfen wie in die Enge getriebene Wiesel. Halte dir doch mal deinen eigenen Werdegang hier im Labor vor Augen! Als Dougal die Anlage gebaut hat, musste er sich eine Menge Gefallen erkaufen. Er brauchte die Stimmen der christlichen Fundamentalisten, um in Osttexas, dem Bibelgürtel, ein riesiges Genlabor bauen zu können. Deshalb hatte das Labor auch seine eigene Forschungsabteilung für Schöpfungswissenschaft. Die hat sich sechs Wochen gehalten! Es gab handgreifliche Auseinandersetzungen, Aufstände, Brandstiftung! Man musste die Texas Rangers rufen, um die Ordnung wiederherzustellen.«

»Ach, die Sache mit den Kreationisten war gar nicht so schlimm.«

»Doch, das war sie! Ihr in eurer geschlossenen Gesellschaft habt die Erinnerung daran bloß verdrängt, weil es zu peinlich war. Und das ist längst noch nicht alles. Im folgenden Jahr kam es zu einer Massenschlägerei mit den Einwohnern von Buna, zu regelrechten Unruhen… Haarig wurde es während des Wirtschaftskriegs. Die Regierung veranstaltete eine Hexenjagd auf ausländische Wissenschaftsspione, es herrschte Hyperinflation, und die Forscher ernährten sich von Brotkrumen… Weißt du, ich bin kein Wissenschaftler wie du. Ich brauche nicht blindlings zu glauben, Wissenschaft sei stets ein nobles Unterfangen. Ich sehe mir die Dinge genauer an.«

»Also, ich bin kein Politiker wie du. Deshalb habe ich’s auch nicht nötig, ständig hässliche Skandale auszugraben.«

»Schatz, wir müssen uns irgendwann mal über das Goldene Zeitalter des zwanzigsten Jahrhunderts unterhalten – über Lyenko, der behauptete, erworbene Eigenschaften würden vererbt, und über Atomspione, Naziärzte und Strahlenexperimente. In der Zwischenzeit aber sollten wir uns mit deiner Rede befassen.«

Greta blickte auf ihren Laptop. »Es wird einfach immer schlimmer. Du willst, dass ich das Budget beschneide und Leute entlasse.«

»Das Budget muss beschnitten werden. Und zwar drastisch. Es muss Entlassungen geben. Und zwar jede Menge. Das Labor existiert seit sechzehn Jahren, da hat sich eine Menge bürokratischer Ballast angesammelt. Lös die Spin-off-Abteilung auf, die ist von lauter Dougal-Spezis besetzt. Entlass die Schmarotzer von der Beschaffungsabteilung und sorge dafür, dass die Forscher wieder über die Mittel entscheiden. Vor allem aber solltest du die Polizei feuern.«

»Die Polizei kann ich nicht feuern. Das ist verrückt.«

»Die Polizei muss so rasch wie möglich verschwinden. Stell deine eigene Polizei ein. Wenn du keine Kontrolle über die Polizei hast, bist du von ihr abhängig. Die Polizei ist die Grundlage jeder Gesellschaft, und wenn sie nicht auf deiner Seite steht, hast du auch keine Macht. Huey weiß das. Deshalb hat Huey über die Sicherheitskräfte im Labor das Sagen. Auch wenn sie von der Unionsregierung bezahlt werden, hat er sie doch alle in der Tasche.«

Der Wagen ruckte und quietschte in der Federung. Oscar schrie auf. Ein formloses schwarzes Tier sprang auf der Motorhaube herum und kratzte daran.

»Das ist ein Maki«, sagte Greta. »Ein Nachttier.«

Der Maki starrte durch die Windschutzscheibe; seine gelben Augen waren so groß wie Golfbälle. Flach ans Glas gedrückt, wirkte er mit seinen protomenschlichen Gliedmaßen durchaus bedrohlich. »Ich habe genug von diesen Tieren!« rief Oscar. »Die sind ja wie Banquos Geist, die geben einfach keine Ruhe! Wer hatte eigentlich diese kluge Idee? Wilde Tiere in einem Laboratorium frei herumlaufen zu lassen? Das ergibt doch keinen Sinn!«

»Sie sind wirklich Gespenster«, sagte Greta. »Wir haben sie von den Toten aufgeweckt. Wie man das macht, haben wir hier gelernt.« Sie öffnete die Tür, setzte einen Fuß ins Freie und schwenkte den Arm. »Verschwinde! Schhhh!«

Der Maki trollte sich widerwillig.

Oscar war der kalte Schweiß ausgebrochen. Das Haar stand ihm zu Berge, und seine Hände zitterten. Er konnte seine Angst sogar riechen: ein beißender Pheromongeruch. Heftig zitternd verschränkte er die Arme. Seine Reaktion war völlig übertrieben, doch er konnte nichts dagegen tun, er war einfach zu aufgedreht. »Lass mir einen Moment Zeit… Tut mir leid… Wo waren wir stehengeblieben?«

»Ich kann mich nicht da vorne hinstellen und Entlassungen fordern.«

»Kein vorschnelles Urteil. Probier es erst einmal. Schlag einfach vor, ein paar dieser Versager zu feuern, und warte die Reaktionen ab.« Er holte tief Luft. »Und denk an den Höhepunkt – du musst am Ende einen Trumpf ausspielen.«

»Indem ich vorschlage, auf mein Gehalt zu verzichten.«

»Ja, ich hatte zunächst daran gedacht, dass du es vielleicht halbieren solltest – ich würde nämlich gern erreichen, dass das Budget des Labors halbiert wird –, aber die Geste ist eindrucksvoller, wenn du vollständig auf dein Gehalt verzichtest. Du weigerst dich, solange bis das Labor saniert ist, Geld von der Regierung anzunehmen. Das ist ein großartiger Abschluss, damit zeigst du, dass es dir wirklich ernst ist, ein Brocken, den sie erst mal verdauen müssen, ein richtiger Knaller. Dann lehnst du dich zurück und genießt das Feuerwerk.«

»Ich lehne mich zurück, und der Direktor feuert mich auf der Stelle.«

»Nein, das wird er nicht. Das traut er sich nicht. Er war nie sein eigener Herr und ist einfach nicht helle genug, um so rasch zu reagieren. Er wird Zeit schinden wollen, aber die hat er nicht mehr. Den Direktor aus dem Amt zu jagen, ist nicht schwer. Der nächste große Schritt besteht darin, dich zur Direktorin zu machen. Und die eigentliche Herausforderung wird sein, dich im Amt zu halten – zumindest solange, bis du ein paar richtige Reformen durchgeboxt hast.«

Sie seufzte. »Und wenn dann endlich alles vorbei ist, kann ich dann wieder im Labor arbeiten?«

»Wahrscheinlich.« Er zögerte. »Nein, ganz bestimmt. Wenn das wirklich dein Wunsch ist.«

»Wovon soll ich ohne Gehalt leben?«

»Du hast doch noch das Geld vom Nobelpreis, Greta. Du hast einen Haufen schwedischer Kronen, die du nie angerührt hast.«

Sie runzelte die Stirn. »Eigentlich wollte ich davon neue Geräte kaufen, aber die Beschaffungsleute wollten nicht, dass ich mich mit dem Papierkram beschäftige.«

»Da hast du dein Problem auf den Punkt gebracht. Entlass als Erstes diese kläglichen Versager.«

Sie klappte den Laptop zu. »Das ist eine ernste Angelegenheit. Wenn ich das tue, wird es einen fürchterlichen Aufstand geben. Irgendwas wird passieren.«

»Wir wollen doch, dass etwas passiert. Deshalb tun wir das alles ja.«

Sie wandte sich zu ihm herum, stupste ihn ängstlich mit dem Knie an. »Ich will einfach bloß aufrichtig sein. Nicht politisch. Aufrichtig.«

»Das ist eine aufrichtige politische Rede! Alles lässt sich belegen.«

»Bloß was uns beide betrifft, ist sie nicht aufrichtig.«

Oscar ließ langsam den Atem entweichen. Mit dieser Wendung hatte er gerechnet. »In der Beziehung müssen wir den Preis bezahlen. Von morgen an befindest du dich im Wahlkampf. Dann haben wir beim besten Willen keine Zeit mehr für uns. Bisher haben wir uns immer ein bisschen Zeit für uns abgeknapst. Von jetzt an haben wir dieses Privileg nicht mehr. Dies ist das letzte Mal, dass wir beide uns privat treffen. Ich werde nicht mal im Publikum sitzen, wenn du morgen sprichst. Es darf nicht so aussehen, als wäre ich dein Souffleur.«

»Aber die Leute wissen über uns Bescheid. Eine Menge Leute. Ich will, dass die Leute Bescheid wissen.«

»Alle politischen Führer haben ein Doppelleben. Das öffentliche und das private. Das ist keine Heuchelei, sondern bloß realistisch.«

»Und wenn man uns outet?«

»Also, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Wir könnten mauern. Das wäre das Einfachste – einfach alles abstreiten und es den anderen überlassen, ihre Behauptungen zu beweisen. Oder wir geben uns spröde und provokativ und sagen, wir fühlten uns durch die Kuppelei geschmeichelt. Wir könnten sie ein wenig necken, sexy und glamourös auftreten. Nach guter alter Hollywood-Manier, weißt du. Das ist ein gefährliches Spiel, aber ich kenne es ziemlich gut, und ich persönlich ziehe es vor.«

Greta schwieg eine Weile. »Wirst du mich vermissen?«

»Weshalb sollte ich dich vermissen? Ich manage dich. Du stehst im Mittelpunkt meines Lebens. Du bist meine Kandidatin.«


Oscar und Yosh Pelicanos genossen einen gesunden Spaziergang rund um den Porzellanturm des Hochsicherheitstrakts. Pelicanos trug einen Spitzhut, khakifarbene Shorts und einen ärmellosen Pullover. Nach zwei Monaten im Innern der Kuppel hatte sich Oscars Team den hier herrschenden Gepflogenheiten weitgehend angepasst. Oscar hingegen trug seinen elegantesten Anzug und einen brandneuen dampfgeformten Hut. Oscar verspürte nur selten ein Bedürfnis nach Bewegung, da sein Stoffwechsel acht Prozent schneller ablief als der eines normalen Menschen.

Der Spaziergang war eine öffentliche Demonstration. Soeben tagte der Verwaltungsrat des Laboratoriums, und Greta hielt ihre Rede, während Oscar sich absichtlich vom Ort des Geschehens fernhielt. Oscar war besonders dann schwer zu übersehen, wenn er von seinem Bodyguard begleitet wurde: der unheimliche Kevin Hamilton folgte ihnen in seinem motorisierten Rollstuhl.

»Was ist dieser Hamilton eigentlich für ein Typ?« knurrte Pelicanos mit Blick über die Schulter. »Warum, um Himmels willen, hast du ausgerechnet einen weißen Gauner eingestellt? Sein einziger Vorzug besteht darin, dass er noch schlechter zu Fuß ist als Fontenot.«

»Kevin ist sehr begabt. Er hat mir diesen Hetzserver vom Hals geschafft. Außerdem ist er billig.«

»Er kleidet sich wie ein Mietgauner. Der Typ kriegt jeden Tag achtzehn Pakete angeliefert. Und was den Kopfhörer und die Scanausrüstung angeht – die nimmt er mit ins Bett! Er geht mir auf die Nerven.«

»Kevin wird dir schon noch ans Herz wachsen. Ich weiß, er ist nicht der übliche Teamarbeiter. Hab Nachsicht mit ihm.«

»Ich bin nervös«, gestand Pelicanos.

»Dazu besteht kein Anlass. Wir haben das Fundament gelegt«, sagte Oscar. »Meine Leute sollen wissen, dass ich stolz auf ihre Arbeit bin.« Oscar hatte allerbeste Laune. Stress und quälende Anspannung brachten stets seine jungenhafte, gewinnende Seite zum Vorschein. »Yosh, bei der Wirtschaftsprüfung hast du hervorragende Arbeit geleistet. Und auch das Push-polling ist prima gelaufen, das hast du wundervoll hingekriegt. Ein paar gepfefferte Anfragen mit dem Briefkopf des Wissenschaftsausschusses, und schon springen die Lokalpolitiker, die sind jetzt misstrauisch geworden und zu allem bereit. Das war eine regelrechte Tour de Force. Sogar das Hotel erwirtschaftet Gewinn! Zumal jetzt, wo wir die Headhunter mit den dicken Spesenkonten von außerhalb angelockt haben.«

»Ja, du hast uns dazu gekriegt, wie die Maultiere zu schuften – das brauchst du mir nicht extra zu sagen. Die Frage ist bloß, reicht das auch?«

»Nun ja, reichen tut nie was… Politik ist keine Präzisionsmaschine, sondern die Kunst der Darstellung. Dabei geht es um Bühnenmagie. Das Jahr hat gerade erst begonnen, und der Vorhang hebt sich. Wir haben unsere Gerätschaften im Publikum vorbereitet, wir haben Tücher und bunte Bänder in den Ärmel gesteckt, wir haben das Spielfeld mit Hüten und Kaninchen präpariert…«

»Es gibt viel zu viele Hüte und Kaninchen.«

»Nein, keineswegs! Es kann gar nicht zu viele geben! Wir verwenden einfach so viele, wie wir brauchen, und zwar dann, wenn wir sie brauchen. Das ist die Schönheit des Multitasking. Das ist der fraktale Aspekt, die Selbstähnlichkeit verschiedener politischer Schichten…«

Pelicanos schnaubte. »Hör auf, wie Bambakias zu reden. Dieser hochgestochene Netzjargon bringt uns auch nicht weiter.«

»Aber es funktioniert! Sollte uns die Unionsregierung im Stich lassen, dann haben wir immer noch die Informanten im texanischen Rechnungshof. Der Stadtrat von Buna hält große Stücke auf uns! Ich weiß, politisch sind sie nicht viel wert, aber hey, wir haben ihnen in den vergangenen sechs Wochen mehr Aufmerksamkeit zuteil werden lassen als das Laboratorium in fünfzehn Jahren.«

»Dann hältst du dir also alle Optionen offen.«

»Genau.«

»Früher hast du immer gesagt, das missfiele dir.«

»Was? Das habe ich nie gesagt. Du bist einfach schlecht drauf. Ich bin ausgesprochen optimistisch, Yosh – wir hatten ein paar kleinere Rückschläge zu verzeichnen, aber es war eine kluge Entscheidung, diesen Auftrag anzunehmen. Das ist eine bereichernde Erfahrung.«

Sie blieben stehen und ließen ein Yak passieren. »Weißt du, was mir an dieser Kampagne wirklich gefällt?« fragte Oscar. »Sie ist so überschaubar. Zweitausend politische Analphabeten, eingeschlossen in eine Kuppel. Wir verfügen über komplette Wählerprofile und haben Dossiers über jeden einzelnen Mitarbeiter, sodass wir ihn einer Interessengruppe zuordnen können! Das Labor ist so abgeschlossen und weit ab vom Schuss – politisch betrachtet, ist das Ganze einfach perfekt und magisch.«

»Es freut mich, dass du deinen Spaß hast.«

»Ich bin entschlossen, meinen Spaß zu haben, Yosh. Wir könnten hier zerschmettert werden oder in den Ruhmeshimmel aufsteigen, aber eine solche Chance bietet sich uns so schnell nicht wieder.«

Ein mit mutierten Saatpflanzen beladener Lieferwagen rumpelte an ihnen vorbei. »Soll ich dir was sagen?« meinte Pelicanos. »Ich war so damit beschäftigt, hinter all ihre schmutzigen Tricks zu kommen, dass mir gar nicht klar ist, was die hier eigentlich machen.«

»Ich glaube, du weißt wesentlich besser Bescheid als die Leute hier.«

»Ich rede nicht von den Finanzen, sondern von der Forschung. Über kommerzielle Biotech weiß ich einigermaßen Bescheid – in Boston waren wir schließlich gemeinsam in der Branche tätig. Aber der eigentliche Knackpunkt, was diese Hirnexperten und Kognitionsforscher angeht… Ich glaube, irgendetwas Wichtiges entgeht mir da.«

»Ach ja? Ich persönlich habe mich bemüht, mich über ›Amyloidfibrillen‹ zu informieren. Greta schwärmt dafür.«

»Es ist nicht bloß so, dass das ein schwieriges Gebiet ist. Aber ich habe auch das Gefühl, die verbergen was.«

»Klar. Das ist Wissenschaft im Stadium der Dekadenz. Man kann seine Entdeckungen nicht mehr patentieren oder mittels Copyright schützen lassen, deshalb machen sie ein solches Geheimnis draus.« Oscar lachte. »Als ob das heutzutage noch funktionieren könnte.«

»Vielleicht forschen die an etwas, das Sandra helfen könnte.«

Oscar war gerührt. Auf einmal verstand er die düstere Stimmung seines Freundes; sein Seelenleben hatte sich ihm geöffnet wie eine Origamiblume. »Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung, Yosh.«

»Wenn ich bloß mehr Zeit hätte, mich um sie zu kümmern, wenn da nicht so viele Ablenkungen wären… Nichts als Hüte und Kaninchen. Nichts ist vorhersagbar, nichts ergibt mehr einen Sinn, überall Fußangeln und Schlaglöcher. Die Gesellschaft hat kein Fundament mehr. Die Zeiten sind wahrhaft düster, Oscar. Manchmal glaube ich, das Land ist dabei, den Verstand zu verlieren.«

»Weshalb sagst du das?«

»Schau dich doch bloß mal um. Ich meine, schau dir an, mit welchen Problemen wir es zu tun haben.« Pelicanos zog die Schultern hoch und zählte an den Fingern ab. »Meine Frau ist schizophren. Bambakias hat eine schwere Depression. Die arme Moira ist in der Öffentlichkeit durchgedreht und hat einen Anfall bekommen. Dougal ist Alkoholiker. Green Huey leidet an Größenwahn. Und dann diese Verrückten, die dich umbringen wollten – der Vorrat an diesen Leuten ist schier unerschöpflich.«

Oscar ging schweigend weiter.

»Interpretiere ich da vielleicht zu viel hinein? Oder gibt es wirklich einen Trend?«

»Ich würde eher von Tiefenströmung sprechen«, meinte Oscar nachdenklich. »Die ist für die traumhaften Umfrageergebnisse seit Bambakias’ Zusammenbruch verantwortlich. Er ist der klassische politische Charismatiker. Seine Schwächen lassen seine politischen Stärken umso deutlicher hervortreten. Die Menschen spüren, dass er authentisch ist, sie erkennen, dass er der Richtige ist in dieser Zeit. Er repräsentiert das amerikanische Volk. Er ist die geborene Führerpersönlichkeit.«

»Ist er derzeit in der Lage, für uns in Washington tätig zu werden?«

»Also, sein Name wirkt noch immer Wunder… Aber realistisch gesehen, nein. Lorena hat mich informiert, und offen gesagt, ist er momentan richtig weggetreten. Er hat Wahnvorstellungen, den Präsidenten und einen heißen Krieg mit Europa betreffend… Er glaubt, unter jedem Bett seien holländische Agenten versteckt… Man probiert verschiedene Antidepressiva bei ihm aus.«

»Wird es funktionieren? Wird es gelingen, ihn zu stabilisieren?«

»Tja, die Behandlung findet starken Widerhall in den Medien. Seit dem Hungerstreik hat Bambakias eine große medizinische Fangemeinde… Die haben eigene Sites und Server… Jede Menge Genesungswünsche per E-mail, Hausrezepte, Wetten auf die Totenwache… Das klassische Massenphänomen. Du weißt schon, T-Shirts, Sticker, Kaffeetassen, Kühlschrankmagneten… Ich weiß nicht, irgendwie läuft das aus dem Ruder.«

Pelicanos rieb sich das Kinn. »Die Aasgeier von der Boulevardpresse haben anscheinend einen Popstar aus ihm gemacht.«

»Genau. Gut gesagt. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Müssten wir uns deswegen nicht Vorwürfe machen, Oscar? Ich meine, im Grunde ist das doch alles unsere Schuld, oder?«

»Glaubst du wirklich?« sagte Oscar überrascht. »Ich bin so dicht dran, dass ich nicht mehr urteilen kann, weißt du.«

Ein Fahrradbote hielt bei ihnen an. »Ich habe ein Paket für einen Mr. Hamilton.«

»Das ist der im Rollstuhl«, sagte Oscar.

Der Bote warf einen Blick auf den Satellitenempfänger. »Ah, ja. Stimmt. Danke.« Er radelte weiter.

»Jedenfalls warst du nie sein Stabschef«, sagte Pelicanos.

»Ja, das stimmt. Das ist ein Trost.« Oscar beobachtete, wie der Fahrradbote mit seinem Sicherheitschef sprach. Kevin quittierte zwei folienverschweißte Pakete. Er warf einen Blick auf den Absender, dann sprach er ins Mikrofon.

»Wusstest du, dass er sich von diesen Paketen ernährt?« fragte Pelicanos. »Große weiße Stangen, wie Stroh und Kreide. Er kaut ständig drauf herum. Eine Art Wiederkäuer.«

»Wenigstens isst er«, meinte Oscar. Sein Telefon klingelte. Er zog es aus dem Ärmel hervor und sagte: »Hallo?«

Er vernahm eine ferne, kratzige Stimme. »Ich bin’s, Kevin.«

Oscar drehte sich um und schaute zu Kevin hinüber, der ihnen in zehn Schritten Abstand mit dem Rollstuhl folgte. »Ja, Kevin? Was gibt’s denn?«

»Ich glaube, da tut sich was. Jemand hat in dem Labor dort drüben soeben Feueralarm ausgelöst.«

»Na und«

Oscar beobachtete, wie sich Kevins Mund bewegte. Die Worte erreichten sein Ohr mit zehn Sekunden Verzögerung. »Na ja, das ist eine abgeschlossene, luftdichte Kuppel. Die Leute hier nehmen Feuer ziemlich ernst. Ende.«

Oscar musterte das Gitterwerk über ihren Köpfen. Es war ein strahlend blauer Winternachmittag. »Ich sehe keinen Rauch. Kevin, was ist denn mit Ihrem Telefon?«

»Abhörgegenmaßnahmen – ich habe das Gespräch achtmal um die Welt geleitet, Ende.«

»Aber der Abstand beträgt doch bloß zehn Meter. Weshalb rollen sie nicht einfach ein Stück vor und sprechen persönlich mit mir?«

»Wir müssen auf Nummer sicher gehen. Oscar. Hören Sie auf, mich anzusehen, und gehen Sie einfach weiter. Schauen Sie nicht hin, aber wir werden von Cops verfolgt. Ein Taxi vor uns und eins hinter uns, und ich glaube, die haben Richtmikrofone. Ende.«

Oscar wandte sich um, legte Pelicanos kameradschaftlich den Arm um die Schulter und zog ihn mit sich fort. In Sichtweite hielten sich tatsächlich Laborpolizisten auf. Normalerweise benutzten die Cops die Trucks der Sicherheitsbehörde, machohafte Fahrzeuge mit comichaften Emblemen an den Türen, aber diese Polizisten benutzten die Funktaxis des Laboratoriums. Offenbar waren sie bemüht, konspirativ vorzugehen.

»Kevin meint, die Cops würden uns folgen«, sagte Oscar zu Pelicanos.

»Freut mich zu hören«, bemerkte Pelicanos nachsichtig. »Es hat bereits drei Attentatsversuche gegeben. So viel Aufregung hatten die hiesigen Cops seit Jahren nicht mehr.«

»Außerdem meinte er, es sei Feueralarm ausgelöst worden.«

»Woher will er das wissen?«

Ein knallgelber Feuerwehrwagen kam aus dem Gebäude für Sicherheit am Arbeitsplatz hervor. Die Besatzung schaltete Blaulicht und Sirene ein und entfernte sich in südlicher Richtung zur Ringstraße.

Oscar bekam eine Gänsehaut, dann verspürte er auf einmal eine Druckwelle. Das Laboratorium hatte soeben die Schleusen geschlossen. Das ganze gewaltige Gebäude war so dicht wie eine Trommel.

»Herrgott noch mal, es brennt tatsächlich!« sagte Pelicanos. Instinktiv machte er kehrt und trabte dem Feuerwehrwagen hinterher.

Oscar hielt es für geraten, in der Nähe seines Bodyguard zu bleiben. Er stopfte das Telefon in den Ärmel und ging zu Kevin hinüber.

»Also, Kevin, was ist in den Paketen?«

»Hochwirksame Sonnenschutzcreme«, log Kevin und gähnte herzhaft. »Was für Weiße.«

Oscar und Kevin ließen die Ringstraße hinter sich und wandten sich zum Rechenzentrum. Die Polizeieskorte folgte ihnen pflichtbewusst, doch die kleinen Taxis verloren sich alsbald in der Menge der Schaulustigen, die aus den Gebäuden traten.

Der Feuerwehrwagen hielt vor dem Medienzentrum. Hier fand die Aufsichtsratssitzung statt, an der auch Greta teilnahm. Das ganze von Oscar zusammengetrommelte Publikum strömte aus den Eingängen und wimmelte lärmend umher.

Auf der Treppe des Osteingangs war es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Ein grauhaariger Mann mit einer blutigen Nase kauerte unter dem Geländer, und ein junger Schläger mit Cowboyhut und Shorts versuchte ihn zu treten. Vier Männer hielten den jungen Mann widerwillig an Armen und Schultern fest.

Kevin stoppte seinen Rollstuhl. Oscar wartete neben Kevin und sah auf die Uhr. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre – was offenbar nicht der Fall war –, hätte Greta ihre Rede mittlerweile beendet haben müssen. Als er den Blick wieder hob, verlor der Cowboy gerade den Hut. Zu seiner Verblüffung erkannte er im Angreifer den Handlanger seines Teams wieder, Norman-den-Praktikanten.

»Kommen Sie mit, Kevin. Hier gibt es nichts zu sehen.« Oscar machte eilends auf dem Absatz kehrt und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. Einmal blickte er sich über die Schulter um. Die Polizeieskorte war verschwunden. Sie hatte sich voller Eifer auf Norman gestürzt und ihn verhaftet.


Oscar wartete, bis er von der Polizei offiziell von Normans Festnahme benachrichtigt wurde. Anschließend begab er sich zur Polizeizentrale, die an der Ostseite der Kuppel lag. Die Polizeizentrale war Teil eines gedrungenen festungsartigen Komplexes, der außerdem noch die Feuerwehrzentrale, die Stromgeneratoren, die Telefonzentrale und die interne Wasserversorgung beherbergte.

Oscar war mit den Dienstabläufen der hiesigen Polizeidienststelle recht gut vertraut, denn er hatte bereits drei Attentäter dort besucht. Er stellte sich dem diensttuenden Officer vor. Man teilte ihm mit, Norman werde tätlicher Angriff und Ruhestörung vorgeworfen.

Norman war mit einem orangefarbenen Overall bekleidet und trug Handschellen. In der makellosen Gefängniskleidung wirkte er erstaunlich schick – er war besser gekleidet als die meisten Laboratoriumsangestellten. Die bruchfesten Handschellen waren mit winzigen Mikrofonen und Überwachungskameras gespickt.

»Sie hätten einen Anwalt mitbringen sollen«, sagte Norman, der Oscar an einem Besuchstisch aus Karton gegenübersaß. »Die Handschellen werden nur in Anwesenheit eines Anwalts abgenommen.«

»Das weiß ich«, sagte Oscar. Er klappte seinen Laptop auf und stellte ihn auf den Tisch.

»Ich wusste gar nicht, wie fürchterlich die sind«, klagte Norman und rieb an den voluminösen Handschellen. »Ich meine, ich habe schon Leute auf Freigang mit diesen Dingern gesehen und mich immer gefragt, was diese Arschlöcher wohl ausgefressen haben mögen… Aber jetzt, wo ich selbst welche trage… Die sind wirklich erniedrigend.«

»Tut mir leid«, meinte Oscar mit sanfter Stimme. Er begann zu tippen.

»Auf der Schule kannte ich mal einen, der Ärger bekam, und irgendwann kriegte ich mit, wie der seine Handschellen verarschte… Er saß im Matheunterricht und murmelte was von wegen Drogenhandel, Raubüberfall und Mord… Weil die Cops nämlich Stimmerkennung am Laufen haben. So wird man mittels der Handschellen überwacht. Wir hielten ihn für total durchgeknallt. Jetzt verstehe ich ihn besser.«

Oscar drehte den Laptop herum. Die 36-Punkt-Großbuchstaben auf dem trüben Bildschirm waren gerade eben lesbar. WIR MACHEN WEITER SMALLTALK, UND ICH ÄUSSERE MICH ÜBER DEN LAPTOP.

»Wegen der hiesigen Gesetzesvertreter brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wir können offen miteinander reden«, sagte Oscar laut. »Die Vorrichtung dient Ihrem eigenen Schutz und der Sicherheit anderer.« HALTEN SIE DEN ARM VOR DEN LAPTOP, DAMIT DIE KAMERAS DEN BILDSCHIRM NICHT INS BILD BEKOMMEN. Er löschte die Bildschirmanzeige mit einem Tastendruck.

»Habe ich echte Probleme, Oscar?«

»Allerdings.« NEIN. »Erzählen Sie mir, was passiert ist.« ERZÄHLEN SIE MIR DAS GLEICHE WIE DER POLIZEI.

»Also, sie hat eine prima Rede gehalten«, sagte Norman. »Ich meine, anfangs konnte man sie vor Nervosität kaum verstehen, aber als das Publikum zu brüllen anfing, kam sie wirklich in Fahrt. Die Leute wurden richtig wild…. Hören Sie, Oscar, bei meiner Festnahme, da hab ich den Kopf verloren. Ich hab viel erzählt. Alles Mögliche. Es tut mir leid.«

»Tatsächlich«, meinte Oscar.

»Ja, zum Beispiel hab ich ihnen erzählt, weshalb Sie mich dorthin geschickt haben. Und zwar weil wir von den Profilen her wussten, wer wahrscheinlich Ärger machen würde, nämlich dieser Skopelitis. Und den hab ich beobachtet. Ich saß in der fünften Reihe unmittelbar hinter ihm…. Und jedesmal, wenn er aufstehen und es Greta zeigen wollte, bin ich vorbeugend tätig geworden. Ich habe ihn gebeten, mir einen Ausdruck zu erklären, ich habe ihn gebeten, den Hut abzunehmen, ich habe mich nach der Toilette erkundigt…«

»Alles ganz legal«, sagte Oscar.

»Schließlich brüllte er mich an, ich solle den Mund halten.«

»Haben Sie aufgehört, mit Dr. Skopelitis zu reden, als er Sie darum bat?«

»Also, ich fing an, Kartoffelchips zu mampfen. Mit lautem Geknirsche.« Norman lächelte schwach. »Da verlor er die Nerven und suchte auf seinem Laptop nach Stichworten. Und ich hab ihm über die Schulter geguckt und heimlich mitgesurft, und siehe da, er hatte eine ganze Liste mit vorbereiteten Erklärungen abgespeichert. Er ging gut vorbereitet in die Sitzung. Greta aber war mittlerweile richtig in Fahrt, man applaudierte und jubelte sogar… mehrmals wurde auch laut gelacht. Die wunderten sich, wie komisch sie war. Schließlich sprang er auf und rief etwas total Dämliches, was ihr eigentlich einfiele und so, und dann brach die Hölle los. Er wurde einfach niedergebrüllt. Deshalb verließ er die Sitzung verärgert. Und ich folgte ihm.«

»Warum haben Sie das getan?«

»Vor allem, um ihn noch mehr zu verwirren. Das hat mir richtig Spaß gemacht.«

»Oh.«

»Ja, ich bin College-Student, und er ist genau wie der Professor, den ich mal hatte und den ich überhaupt nicht ausstehen konnte. Ich wollte ihm klarmachen, dass ich ihn durchschaut hatte. Aber kaum hatte er den Sitzungssaal verlassen, da rannte er auch schon los. Ich wusste, dass er irgendeine Schweinerei vorhatte. Deshalb folgte ich ihm und sah, wie er Feueralarm auslöste.«

Oscar nahm den Hut ab und legte ihn auf den Tisch. »Haben Sie das wirklich gesehen?«

»Verdammt noch mal, ja! Deshalb habe ich ihn mir vorgeknöpft. Ich rannte zu ihm hin und sagte: ›Hören Sie, Skopelitis, so einen schmutzigen Trick können Sie hier nicht abziehen! Das ist unprofessionell!«

»Und dann?«

»Er stritt alles ab. Ich sagte: ›Hören Sie, ich habe alles mit angesehen.‹ Er kriegt Panik und läuft weg. Ich ihm hinterher. Leute strömen wegen des Feueralarms auf die Gänge. Es wird richtig aufregend. Ich will ihn mir schnappen. Wir rangeln miteinander. Ich bin viel kräftiger als er, deshalb verpasse ich ihm einen ordentlichen Hieb. Ich renne ihm nach, hechte die Treppe hinunter, er hat eine blutige Nase, man schreit uns an, wir sollen aufhören. Ich bin ziemlich ausgerastet.«

Oscar seufzte. »Norman, Sie sind gefeuert.«

Norman nickte niedergeschlagen. »Wirklich?«

»Ihr Verhalten ist nicht hinnehmbar, Norman. Ich beschäftige in meinem Team lauter Politprofis. Sie gehören keiner Kampfgruppe an. Sie können nicht einfach jemanden zusammenschlagen.«

»Was hätte ich denn machen sollen?«

»Sie hätten die Polizei darüber informieren sollen, dass Sie Dr. Skopelitis bei einem Vergehen beobachtet haben.« DER IST ERLEDIGT! GUT GEMACHT! SCHADE, DASS ICH SIE JETZT FEUERN MUSS.

»Wollen Sie mich wirklich feuern, Oscar?«

»Ja, Norman, Sie sind gefeuert. Ich werde ins Krankenhaus gehen und mich bei Dr. Skopelitis persönlich entschuldigen. Ich hoffe, ich kann ihn davon überzeugen, seine Anzeige zurückzuziehen. Und dann schicke ich Sie nach Cambridge zurück.«


Oscar besuchte Skopelitis in der Laboratoriumsklinik. Er brachte Blumen mit: einen üppigen Strauß symbolischer gelber Nelken mit Lattich. Skopelitis hatte ein Einzelzimmer und legte sich bei Oscars unerwartetem Eintreten hastig wieder ins Bett. Er hatte ein blaues Auge und einen Nasenverband.

»Ich hoffe, Sie nehmen das nicht allzu ernst, Dr. Skopelitis. Ich rufe mal eine Krankenschwester, damit sie Ihnen eine Vase bringt.«

»Ich glaube, das wird nicht nötig sein«, näselte Skopelitis.

»Aber ich bestehe darauf«, sagte Oscar. Er durchlief das ganze quälende Ritual, rief die Krankenschwester, nahm ihre Komplimente über die Blumen entgegen, plauderte mit ihr über Regen und Sonnenschein und registrierte derweil das wachsende Unbehagen des Patienten. Als Skopelitis auf dem Gang Kevin in seinem Rollstuhl bemerkte, steigerte es sich zu unverhohlenem Entsetzen.

»Können wir irgendetwas für Sie tun, um Sie bei Ihrer Genesung zu unterstützen? Wie wäre es mit ein wenig leichter Lektüre?«

»Hören Sie auf«, sagte Skopelitis. »Ersparen Sie sich die Höflichkeiten, das ertrage ich nicht.«

»Ich bitte um Verzeihung?«

»Hören Sie, ich weiß genau, weshalb Sie hier sind. Kommen wir zur Sache. Sie möchten, dass ich meine Anzeige zurückziehe. Hab ich recht? Der Junge hat mich tätlich angegriffen. Also, ich bin unter einer Bedingung dazu bereit: er muss aufhören, Lügen über mich zu verbreiten.«

»Was für Lügen meinen Sie?«

»Verarschen Sie mich nicht. Ich weiß Bescheid. Ihre Leute waren dort drinnen, die verstehen sich auf schmutzige Tricks. Sie haben das Ganze von Anfang an geplant, Sie haben ihr die Rede geschrieben, die gegen den Senator gerichteten Verleumdungen, Sie haben alles geplant. Sie sind mit Ihrer Wahlkampfmaschine in mein Labor gewalzt und haben die alten Geschichten wieder aufgewärmt, um Karrieren zu beenden und das Leben Unbeteiligter zu zerstören… Davon wird mir ganz übel! Aber ich gebe Ihnen eine Chance: sie stopfen ihm das Mundwerk, dann ziehe ich die Anzeige zurück. Das ist mein Angebot. Entweder Sie nehmen es an, oder Sie lassen es bleiben.«

»O je«, sagte Oscar, »ich fürchte, Sie sind falsch informiert. Wir wollen gar nicht, dass die Anzeige zurückgezogen wird. Wir wollen die Angelegenheit vor Gericht klären.«

»Was?«

»Sie werden wochenlang auf glühenden Kohlen sitzen. Wir werden hier einen Schauprozess veranstalten. Wir werden Ihnen die Wahrheit unter Eid Brocken für Brocken aus der Nase ziehen. Sie sind nicht in der Position, um mit mir zu verhandeln. Sie sind erledigt. Diese Schweinerei haben Sie nicht spontan durchgezogen! Sie haben auf dem Alarmknopf DNS-Spuren zurückgelassen. Sogar Fingerabdrücke. Das Ding hat eine eingebaute Videokamera! Hat Huey Sie nicht davor gewarnt, dass die Alarmeinrichtungen des Labors verwanzt sind?«

»Huey hat nichts damit zu tun.«

»Das kann ich mir denken. Er wollte, dass Sie die Rede stören; dass Sie völlig aus dem Ruder laufen und die ganze Belegschaft auf die Straße jagen, war nicht seine Absicht. Das hier ist ein Forschungslabor, keine Ninja-Akademie. Sie haben die Hosen runtergelassen wie ein Circusclown.«

Skopelitis war leicht grün im Gesicht. »Ich will einen Anwalt sprechen.«

»Dann besorgen Sie sich einen. Aber Sie werden hier mit keinem Polizisten sprechen. Sie werden einen freundschaftlichen Schwatz mit einem Vertreter des US-Senats halten. Nachdem Sie vom US-Senat befragt wurden, werden Sie bestimmt einen Anwalt brauchen. Einen sehr teuren Anwalt. Verschwörung, Behinderung der Gerichtsbarkeit… da kommt einiges zusammen.«

»Es war doch bloß ein falscher Alarm! Ein Fehlalarm. Sowas kommt ständig vor.«

»Sie haben zu viele Sabotagehandbücher gelesen. Prolos kommen mit urbaner Kriegsführung durch, weil es ihnen nichts ausmacht, in den Knast zu kommen. Prolos haben nichts zu verlieren – Sie hingegen schon. Sie sind gekommen, um Dr. Penninger niederzubrüllen und Ihre Haut zu retten, aber Sie sind ausgerastet und haben Ihre Karriere zerstört. Im Handumdrehen haben Sie zwanzig Jahre Arbeit zunichte gemacht. Und da besitzen Sie die Unverfrorenheit und wollen mir Bedingungen diktieren? Ich könnte Sie kreuzigen, Sie Trottel. Sie haben die größte Dummheit Ihres Lebens begangen. Ich werde Sie zum Gespött der Öffentlichkeit machen, man wird im ganzen Land über Sie lachen.«

»Hören Sie. Tun Sie das nicht.«

»Was war das?«

»Tun Sie mir das nicht an. Ruinieren Sie mich nicht. Bitte. Er hat mir das Nasenbein gebrochen, okay? Das Nasenbein! Hören Sie, ich habe den Kopf verloren.« Skopelitis wischte sich die Tränen aus dem blauen Auge. »So etwas hat sie noch nie getan, sie hat sich gegen uns gewandt, als ob sie den Verstand verloren hätte! Ich musste irgendetwas unternehmen, es war einfach… es war einfach…« Er begann zu schluchzen. »Mein Gott…«

»Nun, wie ich sehe, strenge ich Sie an«, sagte Oscar. »Die Unterhaltung mit Ihnen hat mir Spaß gemacht, aber die Zeit drängt. Ich muss gehen.«

»Hören Sie, das können Sie mir doch nicht antun! Das war doch bloß eine Kleinigkeit.«

»Jetzt hören Sie mir mal zu.« Oscar nahm wieder Platz. »Sie haben hier einen Laptop. Sie möchten, dass ich Sie vom Haken lasse? Schreiben Sie mir eine E-mail. Erzählen Sie mir alles. Jede Kleinigkeit. Ganz im Privaten. Und wenn Sie aufrichtig sind… nun, was soll’s. Er hat Ihnen das Nasenbein gebrochen. Dafür entschuldige ich mich. Das war nicht richtig.«

Oscar studierte gerade das letzte Sitzungsprotokoll des Wissenschaftsausschusses, als Kevin den Raum betrat.

»Schlafen Sie eigentlich nie?« fragte Kevin gähnend.

»Nicht besonders viel.«

»Das hab ich schon gemerkt.« Kevin ließ den Stock fallen und setzte sich in einen Liegestuhl. Oscars Hotelzimmer war recht spartanisch eingerichtet. Aus Sicherheitsgründen zog er täglich um, außerdem waren die besten Suiten an zahlende Kunden vermietet.

Oscar klappte den Laptop zu. Der Bericht, der gerade lief, war äußerst interessant – ein staatliches Labor in Davis, Kalifornien, litt unter einer Plage hyperintelligenter Labormäuse, welche die Einheimischen in Panik versetzten und sie veranlassten, vor Gericht zu ziehen – Kevin aber war mindestens ebenso interessant.

»Und wie geht es jetzt weiter?« fragte Kevin.

»Was glauben Sie, Kevin?«

»Also«, meinte Kevin, »da muss ich passen. Sowas habe ich nämlich noch nicht erlebt.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Ja. Die Lage sieht so aus. Da gibt es eine Gruppe von Leuten, die alle ihren Job verlieren werden. Also organisieren sie sich und leisten Widerstand. Etwa sechs Wochen lang herrscht große Aufregung und Solidarität, und dann werden sie alle gefeuert. Man wird die ganze Anlage abschalten und ihnen die Tore vor der Nase zusperren. Dann werden sie alle zu Prolos.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Na ja, vielleicht kommt’s ja auch anders. Vielleicht sind Grundlagenforscher irgendwie smarter als Computerprogrammierer oder Börsenmakler oder Fließbandarbeiter oder herkömmliche Farmer… Anders als all die anderen Leute, die ihren Job verloren haben und denen man den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Aber das denken die anderen immer in dieser Lage. ›Ja, deren Jobs sind jetzt überflüssig geworden, aber Leute wie uns wird man immer brauchen.‹«

Oscar trommelte mit den Fingern auf den Laptop. »Es ist schön, dass Sie so viel Anteil nehmen, Kevin. Ich weiß Ihren Beitrag zu schätzen. Aber ob Sie’s glauben oder nicht, was Sie da sagen, ist nicht gerade neu für mich. Ich bin mir der gewaltigen Zahl von Menschen bewusst, die aus der traditionellen Wirtschaft herausgedrängt werden und sich zu organisierten Mobs zusammenschließen. Ich meine, sie gehen nicht zur Wahl, deshalb wird ihnen nur selten meine professionelle Aufmerksamkeit zuteil, aber im Laufe der Jahre gelingt es ihnen immer besser, dem Rest von uns das Leben schwer zu machen.«

»Oscar, die Prolos sind ›der Rest von uns‹.«

»Ich war niemals der Rest von irgendwas«, meinte Oscar. »Selbst Leute wie ich sind niemals Leute wie ich. Möchten Sie einen Kaffee?«

»Ja, gut.«

Oscar schenkte ihnen zwei Becher ein. Kevin zog kameradschaftlich eine eckige weiße Stange aus komprimiertem pflanzlichem Protein aus seiner Gesäßtasche hervor. »Auch ein Stück?«

»Ja, gern.« Oscar nagte versonnen. Es schmeckte wie Karottenschaum.

»Wissen Sie was«, meinte Oscar grüblerisch, »ich habe auch jede Menge Vorurteile – wer hat die schließlich nicht? –, aber gegen die Prolos habe ich an sich nichts. Ich bin es bloß leid, in einer Gesellschaft zu leben, die ständig in immer neue Fragmente auseinanderbricht. Ich habe mich immer für staatliche, demokratische, nationale Reformen eingesetzt. Mit dem Ziel, ein System zu etablieren, das jedem einen Platz bietet.«

»Aber die Wirtschaft ist außer Kontrolle. Das Geld braucht einfach keine Menschen mehr. Die meisten von uns sind einfach bloß im Weg.«

»Nun, Geld ist nicht alles, aber ohne lebt sich’s schlecht.«

Kevin zuckte die Achseln. »Bevor das Geld erfunden wurde, haben auch schon Menschen gelebt. Geld ist kein Naturgesetz. Geld ist ein Medium. Man kann ohne Geld leben, wenn man es durch die richtige Art von Datenverarbeitung ersetzt. Die Prolos wissen das. Sie haben zahllose Tricks auf Lager, um über die Runden zu kommen, Straßenblockaden, Erpressung, Schmuggel, Schrottverwertung, öffentliche Darbietungen… Dabei hatten sie nie viel in der Hand. Aber die Prolos haben es fast geschafft. Sie wissen doch, wie Reputationsserver funktionieren, oder?«

»Natürlich weiß ich darüber Bescheid, aber ich weiß auch, dass sie eigentlich nicht funktionieren.«

»Ich habe von Reputationsservern gelebt. Nehmen wir mal an, Sie gehörten zu den Regulatoren – die sind in der Gegend hier stark vertreten. Taucht man mit einer Vertrauensrate von mehr als neunzig Prozent in einem Regulatorenlager auf, dann kümmern sie sich um einen. Man ist höflich, man klaut nicht, sie können einem ihre Kinder anvertrauen, ihre Autos, was auch immer. Man ist nachweislich ein guter Nachbar. Man passt sich ein. Man ist hilfsbereit. Man hintergeht niemals die Gruppe. Das ist eine vernetzte Tauschwirtschaft.«

»Das ist Gangstersozialismus. Das ist ein verrücktes Konzept, das ist unrealistisch. Und es ist instabil. Man kann immer jemanden bestechen, um die eigene Bewertung höher zu treiben, und schon bricht das Geld in Ihr kleines Wolkenkuckucksheim ein. Dann stehen Sie wieder ganz am Anfang.«

»Es kann durchaus funktionieren. Das Problem ist, dass die organisierten Verbrecher der Unionsregierung es auf die Prolos abgesehen haben und einen Netzkrieg gegen ihre Computersysteme führen und sie vorsätzlich zum Absturz bringen. Denen ist es lieber, wenn die Prolos chaotisch sind, denn dann stellen sie keine Gefahr für den Status quo dar. Ein Leben ohne Geld ist einfach unamerikanisch. Aber mittlerweile leben beispielsweise schon die meisten Afrikaner außerhalb der Geldwirtschaft – sie ernähren sich von Blattprotein, das von holländischen Maschinen produziert wird. Das gilt auch für Polynesien. In Europa bezieht man ein garantiertes Jahreseinkommen, dort sitzen Null-Arbeit-Leute in den Parlamenten. In Japan spielen Tauschnetzwerke seit jeher eine große Rolle. Die Russen glauben noch immer, Eigentum sei Diebstahl – diese armen Schweine würden eine Geldwirtschaft niemals zum Laufen kriegen. Wenn das unpraktikabel ist, weshalb kommen die anderen alle damit zurecht? Wenn Green Huey an die Macht kommt, dann gibt es endlich wieder ein geeintes Amerika.«

»Green Huey ist ein Stalin in Taschenformat. Er betreibt Personenkult.«

»Ich gebe zu, er ist ein Hurensohn, aber ein Riesenhurensohn. Seine Regierung betreibt jetzt Regulatorenserver. Und der Luftwaffenstützpunkt wurde auch nicht zufällig eingenommen, Hueys Nomaden sind jetzt wirklich fit – kein Klein-Klein von wegen Straßenblockaden und Leitungen lahmlegen mehr. Jetzt haben sie Ausrüstung der Airforce, womit schon Landesregierungen gestürzt wurden. Diese Gruppe ist im Kommen, Mann. Die schnappen Ihnen das Land unter den Füßen weg.«

»Kevin, hören Sie auf, mir Angst zu machen. In der Beziehung bin ich Ihnen weit voraus. Ich weiß, dass die Prolos eine Bedrohung darstellen. Das weiß ich seit den Unruhen am 1. Mai in Worcester im Jahre ‘42. Vielleicht ist Ihnen dieser hässliche Vorfall gar nicht aufgefallen, aber ich habe Videos davon – ich habe sie mir schon hundertmal angeschaut. Die Leute haben in meinem Heimatstaat eine Bank mit den Händen auseinander genommen. Es war der absolute Wahnsinn. Das verrückteste, was ich je gesehen habe.«

Kevin biss ein Stück von seiner Stange ab und schluckte. »Die Videos brauche ich nicht. Ich war dort.«

»Sie waren dort?« Oscar beugte sich ein wenig vor. »Wer hat das angeordnet?«

»Niemand. Niemand gibt jemals Anweisungen. Das war eine staatliche Bank, von dort aus wurden Leute bespitzelt. Das sprach sich herum, ein paar Aktivisten schlossen sich zusammen und überrannten die Bank. Und anschließend gingen sie in Deckung und zerstreuten sich wieder. Irgendwelche ›Anweisungen‹ oder ›Verantwortliche‹ gab es nicht. Man wird nicht einmal die Software finden. Die läuft auf einem anonymen Spezialserver. Der befindet sich so tief im Untergrund, dass er nicht mal mehr Augen braucht.«

»Warum haben Sie das getan, Kevin? Weshalb sind Sie ein solches Risiko eingegangen?«

»Ich hab es wegen der Vertrauensrate gemacht. Und, na ja, weil die Sache stank.« Kevins Augen funkelten. »Weil die Herrschenden Schnüffler sind, weil sie lügen und betrügen und uns ausspionieren. Diese Hurensöhne sind reich, sie haben die Macht. Sie haben alle Trümpfe in der Hand, und trotzdem halten sie es für nötig, uns heimlich zu hintergehen. Sie haben es verdient. Ich werd’s wieder tun, wenn’s meinen Füßen wieder besser geht.«

Oscar konnte sein Zittern kaum mehr beherrschen. Das alles klang überzeugend. Kevin hatte sich soeben geoutet, und die Fakten fügten sich endlich zusammen. Die Lage war jetzt sowohl klarer als auch gefährlicher, als er geahnt hatte.

Oscar wusste nun, dass er recht daran getan hatte, seinem Instinkt zu folgen und den Mann einzustellen. Kevin war die Art politisches Wesen, das in einem Zelt besser aufgehoben war als im Freien. Es musste eine Möglichkeit geben, ihn auf Dauer auf seine Seite zu ziehen. Mit etwas, das ihm wichtig war. »Erzählen Sie mir mehr von Ihren Füßen, Kevin.«

»Ich bin ein Weißer. Weißen passieren heutzutage merkwürdige Sachen.« Kevin lächelte schwach. »Zumal wenn einen vier Cops mit Schlagstöcken dabei erwischen, wie man an Verkehrsampeln herumschraubt… Und jetzt bin ich ein Dropout im doppelten Sinn. Ich musste mich arrangieren, ich konnte nicht länger auf der Straße leben. Deshalb hab ich mir in so ‘nem stinkvornehmen Viertel von Beantown ‘nen Sicherheitsjob besorgt. Das frühere Leben hab ich zum größten Teil hinter mir gelassen. Hey, ich hab sogar mal gewählt! Ich habe für Bambakias gestimmt.«

»Das ist wirklich sehr interessant. Warum haben Sie das getan?«

»Weil er Häuser für uns baut, Mann! Er baut sie mit eigener Hände Arbeit und verlangt nie einen Cent dafür. Und es tut mir auch nicht leid, dass ich ihn gewählt habe, denn wissen Sie was, der Mann ist echt! Ich weiß, dass er durchgeknallt ist, aber das ist auch echt – das ganze Land ist durchgeknallt. Er ist ein reicher Intellektueller und ein Kunstsammler und was sonst noch, aber wenigstens ist er kein solcher Heuchler wie Huey. Huey behauptet, er sei die Zukunft Amerikas, dabei mauschelt er mit den Europäern.«

»Er hat unser Land verkauft, nicht wahr?« Oscar nickte. »Das ist unverzeihlich.«

»Ja. Genau wie der Präsident.«

»Und weiter? Wo liegt das Problem bei Two Feathers?«

»Eigentlich ist der Präsident auf seine Weise gar nicht so übel. Im Westen hat er gute Flüchtlingsarbeit geleistet. Dort hat sich die Lage wirklich gewandelt; seit den großen Bränden und den Umsiedlungen werden ganze Städte und Counties von Nomaden übernommen… Aber das überzeugt mich nicht. Two Feathers ist ein niederländischer Agent.«

Oscar lächelte. »Da kann ich Ihnen nicht folgen. Der Präsident soll ein niederländischer Agent sein?«

»Klar, die Niederländer haben ihn jahrelang unterstützt. Holländische Spione verstehen sich prima auf unzufriedene ethnische Gruppen. Anglos, amerikanische Ureinwohner… Amerika ist ein großes Land. Die alte Teile-und-Herrsche-Geschichte.«

»Hören Sie, wir reden hier nicht von Geronimo. Der Präsident hat mit Bauholz Milliarden gemacht und war Gouverneur von Colorado.«

»Doch, wir reden von Geronimo, Oscar. Amerika ohne Geld ist ein Land der Stämme.«


Sobald die Anzeige gegen Norman-den-Praktikanten zurückgenommen war, veranstaltete Oscars Team eine muntere Abschiedsparty. Für alles war gesorgt. Im Hotel drängten sich die Unterstützer des Laboratoriums, die ihrer aufrichtigen Bewunderung für Norman Ausdruck verliehen und den freien Getränken und Speisen lebhaft zusprachen.

»Das Hotel ist wunderschön«, sagte Albert Gazzaniga. Gretas Majordomus war in Begleitung von Warren Titche und Cyril Morello erschienen – zwei der permanent unzufriedenen Aktivisten des Labors. Titche kämpfte wie ein radikaler Vielfraß um Kaffeefilter und Cafeteriapreise, während Morello der einzige Angehörige der Personalabteilung war, der als ehrlich bezeichnet werden konnte. Oscar freute es, dass die drei sich spontan zusammengeschlossen hatten. Dies deutete darauf hin, dass die Trends in die richtige Richtung wiesen.

Gazzaniga umklammerte ein Cocktailglas mit einem kleinen Papierschirmchen darin. »Auch das kleine Restaurant ist klasse. Wenn ich dabei nicht die schmutzige Außenluft einatmen müsste, würde ich täglich hier essen.«

»Das mit Ihren Allergien tut mir leid, Albert.«

»Wir haben alle Allergien. Aber mir ist eben eine prima Idee gekommen – was halten Sie davon, die Straße, die von hier zur Kuppel führt, einfach zu überdachen?«

Oscar lachte. »Warum immer nur halbe Sachen? Überdachen wir doch gleich die ganze verdammte Stadt.«

Gazzaniga blinzelte. »Ist das Ihr Ernst? Ich merke nie, wann es Ihnen ernst ist.«

Norman zupfte Oscar am Ärmel. Sein Gesicht war scharlachrot, und seine Augen waren feucht von Abschiedstränen. »Ich breche gleich auf, Oscar. Das ist die letzte Gelegenheit, Ihnen auf Wiedersehen zu sagen.«

»Was?« sagte Oscar. Er fasste Norman beim Ellbogen und bugsierte ihn in einen ruhigen Winkel. »Sie müssen bis nach der Party bleiben. Dann spielen wir eine Runde Poker.«

»Damit Sie mich mit einem hübschen kleinen Geldgeschenk nach Boston entlassen können, das nicht über die Bücher läuft?«

Oscar starrte ihn an. »Mann, Sie sind der Erste, der jemals ein Wort über diese traurige kleine Angewohnheit von mir verloren hat. Sie sind jetzt ein großer Junge, okay? Sie müssen Takt lernen.«

»Nein, das will ich nicht«, sagte Norman, der bereits schwer betrunken war. »Ich kann so grob sein, wie ich will, denn Sie haben mich gefeuert.«

Oscar tätschelte Norman den Rücken. »Das war zu Ihrem eigenen Besten. Sie haben da ein größeres Ding gedreht, deshalb sind Sie jetzt ausgebrannt. Man würde Sie ständig auf dem Kieker haben.«

»Ich wollte Ihnen bloß sagen, das ist schon okay. Ich bedaure nichts. Ich habe wirklich eine Menge über Politik gelernt. Und ich habe einen Professor niedergeschlagen und bin damit durchgekommen. Mann, das allein war’s schon wert.«

»Sie sind ein braver Kerl, Norman. Ich wünsche Ihnen viel Glück beim Studium. Und nehmen Sie das mit dem Röntgenlaser leicht.«

»Draußen wartet ein Wagen auf mich«, sagte Norman, von einem Fuß auf den anderen tretend. »Meine Eltern werden sich freuen, mich zu sehen… Ist schon okay, dass ich fortgehe. Ich tu’s nicht gerne, aber ich weiß, es ist am besten so. Bevor ich gehe, möchte ich bloß noch eines mit Ihnen klären. Weil ich nämlich nie mit Ihnen darüber gesprochen habe… Sie wissen schon, was ich meine.«

»Mein persönliches Vergangenheitsproblem‹«, sagte Oscar.

»Ich hab mich nie dran gewöhnt. Ich hab’s weiß Gott versucht. Aber ich hab mich nie dran gewöhnt. Niemand gewöhnt sich jemals daran. Nicht mal die Leute aus Ihrem eigenen Team. Sie sind einfach zu seltsam, Sie sind ein sehr, sehr seltsamer Mensch. Sie denken eigenartig. Sie verhalten sich eigenartig. Sie schlafen nicht einmal. Sie sind kein richtiger Mensch.«

Er seufzte, schwankte leicht auf der Stelle. »Aber wissen Sie was? In Ihrer Umgebung passiert wenigstens was, Oscar. Sie setzen Dinge in Bewegung, Sie rütteln die Leute auf. Sie bewirken etwas. Das Land braucht Sie. Bitte lassen Sie uns nicht hängen, Mann. Lassen Sie uns nicht im Stich. Ich bin jung, und ich brauche eine Zukunft. Kämpfen Sie den gerechten Kampf für uns. Bitte.«


Während Dr. Arno Felzian ihn warten ließ, hatte Oscar Zeit, das Außenbüro des Direktors in Augenschein zu nehmen. Kevin fütterte derweil Stickley, den Binturong, der soeben per Luftfracht von Boston eingetroffen war, mit Proteinbrocken. Stickley trug ein Funkhalsband; seine Krallen waren geschnitten, die Fangzähne poliert, und er war gestriegelt und parfümiert wie ein prämierter Pudel. Stickley stank kaum noch.

Irgendjemand – wahrscheinlich ein Mitarbeiter von Senator Dougal – hatte es für geraten gehalten, die Büroräume des Direktors mit Texasrequisiten zu dekorieren. Die Wände waren geschmückt mit Flinten, Stierköpfen, Lassos, Cowboyhüten und einer Unmenge Erinnerungsplaketten.

Felzians Sekretär meldete ihn an. Oscar hängte seinen Hut auf ein an der Innenseite der Tür befestigtes Hirschgeweih. Felzian saß hinter einem Intarsienschreibtisch aus Eichen- und Zedernholz und schaute so grämlich drein, wie die Gebote der Höflichkeit es ihm gestatteten. Der Direktor trug eine Brille mit Zweistärkenglas. Die Metall-Glas-Prothese verlieh ihm einen 20. Jahrhundert-Look. Felzian war ein kleiner, schlanker Mann in den Sechzigern. In härteren Zeiten wäre er kahlköpfig und fett gewesen.

Oscar schüttelte dem Direktor die Hand und nahm in einem scheckigen Ledersessel Platz. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Dr. Felzian. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.«

Felzian war auf der Hut. »Das geht schon in Ordnung.«

»Im Namen von Senator und Mrs. Alcott Bambakias möchte ich Ihnen dieses Labortier vorstellen. Wie Sie sehen, nimmt Mrs. Bambakias regen Anteil am Wohlergehen der Tiere. Daher hat sie dieses Exemplar in Boston gründlich untersuchen lassen, und wie man ihr sagte, erfreut es sich ausgezeichneter Gesundheit. Mrs. Bambakias beglückwünscht das Labor zu seiner strikten Beachtung der Tierrechte. Außerdem hat sie das Tier lieb gewonnen, deshalb sendet sie es Ihnen mit einem persönlichen Beitrag zurück, der auch in Zukunft sein Wohlergehen sichern soll.«

Felzian warf einen Blick auf das Dokument, das Oscar ihm reichte. »Ist das wirklich ein unterzeichneter Bankscheck?«

»Mrs. Bambakias bevorzugt den traditionellen, persönlichen Touch«, sagte Oscar. »Sie trauert ihrem Freund Stickley wirklich nach.« Lächelnd zückte er eine Kamera. »Sie haben doch wohl nichts dagegen, wenn ich ein paar Abschiedsfotos für ihr Fotoalbum mache?«

Felzian seufzte. »Mr. Valparaiso, ich weiß, Sie sind nicht deshalb hergekommen, um mir ein herrenloses Tier auf den Schoß zu setzen. Bisher hat noch niemand ein Tier zurückgegeben. Noch nie. Im Grunde geht es dabei darum, sich einer Partei erkenntlich zu zeigen. Wenn der Senator uns das Tier nun zurückgeben möchte, kann dies nur bedeuten, dass er uns ernsthaft schaden will.«

Felzians Bitterkeit erstaunte Oscar. Da sie sich im Büro des Direktors aufhielten, ging er natürlich davon aus, dass die Unterhaltung aufgezeichnet wurde. Vielleicht legte Felzian einfach keinen Wert mehr auf Diskretion und nahm die Überwachung hin wie ein chronisches Übel – wie Smog oder Asthma. »Aber keineswegs, Sir! Senator Bambakias ist tief beeindruckt von dieser Forschungseinrichtung. Er unterstützt die staatlichen Forschungsanstrengungen aus ganzem Herzen. Er beabsichtigt, die Wissenschaftspolitik zu einem Kernpunkt seiner gesetzgeberischen Arbeit zu machen.«

»Dann begreife ich nicht, was Sie vorhaben.« Felzian zog einen Ausdruck aus einer Schreibtischschublade hervor. »Schauen Sie sich mal diese Liste mit Kündigungen an. Das sind altgediente Wissenschaftler! Ihre Moral ist am Boden, und jetzt verlassen sie uns.«

»Sie meinen Moulin, Lambert, Dulac und Dayan?«

»Vier meiner besten Leute!«

»Ja, ich gebe zu, sie sind sehr klug und entschlossen. Bedauerlicherweise sind sie Anhänger Dougals.«

»So ist es. Und deshalb sind sie Ihnen im Weg?«

»Ja, gewiss. Aber wissen Sie, die sind ja keine Leidtragenden. Sie steigen bloß rechtzeitig aus. Denen liegen Angebote aus der Privatindustrie vor.«

Felzian blätterte mit spitzen Fingern in seinen Papieren. »Wie haben Sie das nur gedeichselt? Die sind übers ganze Land verteilt. Wirklich erstaunlich.«

»Danke. Das ist ein schwieriges Unterfangen, aber mit moderner Technik ist es machbar. Nehmen wir zum Beispiel Dr. Moulin. Ihr Mann ist aus Vermont, und ihr Sohn geht dort zur Schule. Ihr Spezialgebiet ist die Endokrinologie. Daher haben wir die relevanten Parameter eingegeben, und das optimale Ergebnis war eine Genfirma in Nashua. Die Firma wollte sie auf den Anruf der Jobvermittlungsfirma hin nicht gleich einstellen, deshalb rief das Büro des Senators dort an, und man unterhielt sich über die lokalen Ausschreibungen. Daraufhin zeigte sich die Firma sehr einsichtig. Und als wir Dr. Moulin zu den Unregelmäßigkeiten in den Laborabrechnungen befragten, lief es ganz ähnlich.«

»Dann haben Sie sie also bewusst für den Abschuss ausgewählt.«

»Es geht um Zermürbung. Um Ablenkung. Alles wirkt ganz natürlich. Die vier sind einflussreiche Leute, sie sind hier die Meinungsführer. Sie sind smart genug, uns ernsthafte Schwierigkeiten zu machen – wenn sie sich denn dazu aufraffen würden. Aber da es sich nun tatsächlich um sehr smarte Leute handelt, brauchen wir sie nicht mit der Nase auf das Offensichtliche zu stoßen. Wir machen ihnen einfach ihre Lage klar und reichen ihnen den goldenen Fallschirm. Dann nehmen sie Vernunft an. Und gehen fort.«

»Das ist wahrhaft monströs. Sie rauben meiner Forschungseinrichtung Herz und Seele, und niemand will etwas davon wissen – man will es nicht einmal wahrhaben.«

»Nein, Sir, das ist nicht monströs. Das ist bloß menschlich. Das ist gute Politik.«

»Ich sehe durchaus, wozu Sie in der Lage sind. Ich begreife bloß nicht, woher Sie das Recht dazu nehmen.«

»Dr. Felzian… das ist keine Frage der Berechtigung. Ich bin ein Politprofi. Das ist mein Job. Leute wie ich werden nicht gewählt. Wir finden in der Verfassung keine Erwähnung. Wir sind der Öffentlichkeit nicht verantwortlich. Aber niemand wird gewählt ohne einen professionellen Wahlkampf. Ich gebe zu: wir sind ein eigenartiger Menschenschlag. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass es irgendwie seltsam ist, dass wir über so viel Macht verfügen. Aber ich habe diese Situation nicht herbeigeführt. Das ist eine Tatsache des modernen Lebens.«

»Ich verstehe.«

»Ich tue das, was die Lage erfordert, mehr nicht. Ich bin ein Demokrat vom Reformflügel der Partei, und diese Einrichtung hier muss dringend reformiert werden. Das Labor verlangt nach einem neuen Besen. Es ist voller Spinnweben, genau wie… lassen Sie mich nachdenken. Ja, wie die Casinoyacht auf dem Lake Charles, die mit Mitteln des Bewässerungsfonds angeschafft wurde.«

»Mit der Angelegenheit hatte ich nichts zu tun.«

»Ich weiß, dass Sie nicht dafür verantwortlich sind. Aber Sie haben beide Augen zugekniffen, weil Senator Dougal bei jeder Wahl wieder in den Kongress einzog und dort gut für Sie gesorgt hat. Ich habe Respekt für die Mühe, die Sie sich mit der Leitung dieser Einrichtung machen. Aber Senator Dougal war sechzehn Jahre lang Vorsitzender des Wissenschaftsausschusses. Sie haben es nie gewagt, sich mit ihm anzulegen. Wahrscheinlich war das Ihr Glück – er hätte Sie zerschmettert. Aber der Mann hat nicht nur ein bisschen geklaut – am Ende hat er ganze Wagenladungen gestohlen, und das kann sich das Land einfach nicht mehr leisten.«

Felzian lehnte sich zurück. Oscar konnte erkennen, dass er über das reine Entsetzen mittlerweile hinaus war – jetzt erfüllte ihn die Situation mit eigentümlicher Genugtuung. »Weshalb erzählen Sie mir das alles?«

»Weil ich weiß, dass Sie ein anständiger Mensch sind, Mr. Direktor. Ich weiß, das Labor ist Ihr Lebenswerk. Sie waren in ein paar Unregelmäßigkeiten verwickelt, aber die sollten unter sehr schwierigen Bedingungen Ihre Position und das Labor schützen. Ich habe Respekt für Ihre Leistung. Ich hege keinen persönlichen Groll gegen Sie. Gleichwohl kommt man nicht darum herum, dass Sie politisch nicht mehr von Nutzen sind. Der Moment ist gekommen, da Sie ehrenhaft handeln sollten.«

»Und was genau meinen Sie damit?«

»Nun, ich habe nützliche Kontakte zur Universität von Texas. Sagen wir, ein Posten im Galveston Center für Gesundheitswissenschaft. Das ist ein hübsches Städtchen – seit dem Anstieg des Meeresspiegels ist von der Insel nichts mehr übrig, aber man hat den berühmten Meeresdeich wieder aufgebaut, und es gibt dort auch ein paar wunderschöne alte Häuser. Ich könnte Ihnen ein paar hübsche Broschüren zeigen.«

Felzian lachte. »Sie können nicht jeden Einzelnen von uns von seinem Posten vertreiben.«

»Nein, aber das brauche ich auch gar nicht. Ich brauche bloß die Meinungsführer zu entfernen, dann bricht der Widerstand zusammen. Und wenn es mir gelingt, Sie zur Mitarbeit zu bewegen, dann bringen wir das alles in kurzer Zeit hinter uns. Mit Würde und Anstand. Das läge auch im Interesse der Wissenschaftsgemeinde.«

Felzian verschränkte triumphierend die Arme. »Sie versuchen mich zu beschwatzen, weil Sie im Grunde nichts gegen mich in der Hand haben.«

»Weshalb sollte ich zu Drohungen Zuflucht nehmen? Sie sind ein vernünftiger Mann.«

»Sie haben nichts in der Hand! Und ich soll mit Ihnen zusammenarbeiten, den Direktorenposten niederlegen und mich schweigend in mein Schwert stürzen? Sie haben wirklich Nerven.«

»Aber ich bin aufrichtig zu Ihnen.«

»Das einzige Problem, das ich hier sehe, sind Sie. Und Ihr Problem ist, dass Sie mir nichts anhaben können.«

Oscar seufzte. »Doch, das kann ich schon. Ich habe Ihre Laborberichte gelesen.«

»Wovon reden Sie da? Ich bin in der Verwaltung tätig! Ich habe seit zehn Jahren nichts mehr veröffentlicht.«

»Ja, gut, aber ich habe die Berichte gelesen, Mr. Direktor. Natürlich bin ich kein ausgebildeter Genetiker, deshalb muss ich leider bekennen, das ich sie nicht verstehe. Aber ich habe sie überprüfen lassen. Sämtliche Berichte wurden von einem unabhängigen Wissenschaftlerteam gründlich überprüft. Sie haben im Laufe Ihrer Karriere fünfundsiebzig Arbeiten veröffentlicht, jede einzelne mit Zahlentabellen gespickt. Ihre Messwerte passen wundervoll zusammen. Zu schön um wahr zu sein, denn sechs Tabellen beruhen auf dem gleichen Datensatz.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass es jemandem im Labor langweilig wurde und er beschlossen hat, sich die mühsame Plackerei zu ersparen.«

Felzian lief rot an. »Was? Das können Sie nicht beweisen.«

»Zu Ihrem Pech doch. Weil es darin nur Schwarz und Weiß gibt. Damals, als für Sie galt ›publizier oder stirb‹, waren Sie in Eile und mussten ein paar Werte zurechtbiegen. Und das ist schlimm. Sehr schlimm. Für einen Wissenschaftler ist das ein tödlicher Fehler. Wenn wir Sie erst einmal als wissenschaftlichen Betrüger geoutet haben, wird Ihnen kein einziger Freund mehr bleiben. Ihre Kollegen werden ihr Wort brechen und Ihnen die Epauletten runterreißen.«

Felzian schwieg.

Oscar hob die Schultern. »Wie ich schon sagte, ich bin kein Wissenschaftler. Wissenschaftsbetrug nehme ich nicht so tierisch ernst wie Ihresgleichen. Ich persönlich kann nicht erkennen, dass Ihre Fälschungen größeren Schaden angerichtet hätten, denn diese Arbeiten hat ja sowieso niemand beachtet. Sie waren bloß eine ziemlich mittelmäßige Begabung auf einem von starkem Wettbewerb geprägten Gebiet und haben versucht, Ihre Ergebnisse zu untermauern.«

»Von diesem Problem habe ich nichts gewusst. Dafür muss einer meiner Doktoranden verantwortlich gewesen sein.«

Oscar lachte leise auf. »Hören Sie, wir wissen beide, dass Sie nicht mehr vom Haken loskommen. Klar, wenn es um die Finanzskandale geht, können Sie sich hinter dem Rücken des Senators verstecken. Aber hier geht es nicht bloß um Geld. Das sind Forschungsergebnisse, Ihr Beitrag zur Wissenschaft. Sie haben die Bücher frisiert. Wir wissen beide, dass Sie erledigt sind, wenn ich das öffentlich mache. Warum also weiterdiskutieren? Wenden wir uns den anstehenden Dingen zu.«

»Was genau wollen Sie von mir?«

»Ich will, dass Sie zurücktreten, und ich brauche Ihre Hilfe bei der Einsetzung des neuen Direktors.«

»Greta Penninger.«

»Nein«, erwiderte Oscar ohne zu zögern, »wir wissen beide, dass das nicht machbar ist. Greta Penninger war taktisch sehr nützlich für mich, aber ich habe einen anderen Kandidaten, der Ihnen wesentlich besser gefallen dürfte. Es handelt sich um einen früheren Kollegen von Ihnen – um Professor John Feduccia, den ehemaligen Präsidenten der Universität von Boston.«

Felzian war verblüfft. »John Feduccia? Wie kommt der denn auf die Empfehlungsliste?«

»Feduccia ist der ideale Kandidat! Er ist sehr erfahren in der Verwaltungsarbeit und hat zuvor an der Universität von Texas Karriere gemacht, das verleiht ihm den nötigen Stallgeruch. Außerdem ist Feduccia eng mit Senator Bambakias befreundet. Vor allem aber ist Feduccia politisch in Ordnung. Er gehört den Demokraten an.«

Felzian musterte ihn erstaunt. »Wollen Sie damit sagen, Sie hätten die bedauernswerte Greta Penninger nur vorgeschoben, während Sie die ganze Zeit vorhatten, einen Yankee zum Direktor zu machen, der ein persönlicher Spezi Ihres Bosses ist?«

Oscar runzelte die Stirn. »Seien Sie doch nicht ungerecht. Natürlich bewundere ich Greta Penninger. Für die Rolle, die sie gespielt hat, war sie bestens geeignet. Sie hat den Boden für den Wandel bereitet, aber sie kann diese Forschungseinrichtung unmöglich leiten. Sie versteht Washington nicht. Wir brauchen in dem Job eine gestandene Persönlichkeit, jemanden mit Erfahrung und von außerhalb, jemanden, der die politischen Realitäten versteht. Feduccia ist ein Profi. Greta ist naiv, sie lässt sich zu leicht beeinflussen. Sie wäre eine Katastrophe.«

»Eigentlich fände ich sie gar nicht so schlecht.«

»Nein, sie ist besser dort aufgehoben, wo sie auch hingehört – nämlich im Labor. Wir sollten sie behutsam aus dem Verwaltungsrat entfernen, damit sie wieder ihre angestammte Rolle in der Forschung einnehmen kann, dann wird sich alles perfekt fügen.«

»Damit Sie Ihre Affäre fortführen können, ohne dass jemand Anstoß nimmt.«

Oscar schwieg.

»Wohingegen sie als Direktorin im Rampenlicht stünde. Dann könnten Sie ihre schmutzige kleine Affäre nicht mehr fortführen.«

Oscar bewegte sich unruhig. »Das hätte ich wirklich nicht von Ihnen erwartet. Das steht Ihnen nicht gut zu Gesicht. Das ist eines Gentleman und Gelehrten unwürdig.«

»Haben Sie etwa gedacht, ich wüsste nicht Bescheid? Nun, ich bin nicht der hilflose Hanswurst, für den Sie mich halten! Penninger wird meine Nachfolgerin. Sie und Ihr hundsgemeines Team können sich meinetwegen wieder nach Washington davonstehlen. Ich verlasse dieses Büro – nein, nicht deshalb, weil Sie mich dazu zwingen, sondern weil mir der Job bis zum Hals steht!«

Felzian schlug auf den Schreibtisch. »Es ist jetzt wirklich schlimm hier. Seit wir die Unterstützung des Senats verloren haben, ist die Lage geradezu ausweglos. Das ist eine unerträgliche Farce! Ich will mit Ihnen und Washington und allem, wofür Sie stehen, nichts mehr zu tun haben. Und merken Sie sich eines, junger Mann. Wenn Penninger im Amt ist, dann können Sie mich nicht outen, ohne dass ich Sie oute. Sie können mich in Verlegenheit bringen – sogar erniedrigen. Aber sollten Sie es versuchen, dann stelle ich Sie und die neue Direktorin bloß. Ich breche Sie in der Öffentlichkeit entzwei wie zwei Streichhölzer.«

Загрузка...