11

Nach eingehender Erörterung ihrer Optionen beschlossen Oscar und Captain Scubbly Bee, Louisiana heimlich und incognito zu infiltrieren. Dem Notstandsausschuss tischte Kevin die dreiste Lüge auf, er begebe sich auf eine Rekrutierungsfahrt. Oscar selbst würde Buna offiziell nicht verlassen. Er wurde von einem Double ersetzt, einem Moderatorenfreiwilligen, der sich bereit erklärte, Oscars Kleidung zu tragen, viel Zeit in einem stinkvornehmen Hotelzimmer zu verbringen und so zu tun, als arbeite er am Laptop.

Ihre kleine Verschwörung entwickelte rasch Eigendynamik. Um nicht entdeckt zu werden, beschlossen sie, mit zwei Ultraleichtflugzeugen nach Louisiana zu fliegen. Diese lautlosen und unauffälligen Fluggeräte waren langsam, unberechenbar, gefährlich, unbequem und ermüdend, da sie jeglichen Komfort vermissen ließen. Dafür waren sie mehr oder weniger unauffindbar und immun gegen Straßenblockaden und Wegelagerei. Da sie von chinesischen GPS-Satelliten ferngelenkt wurden, würden die Fluggeräte mit unfehlbarer Genauigkeit unmittelbar vor Fontenots Schwelle landen – früher oder später.

Als nächstes unterzogen Kevin und Oscar sich der höchst melodramatischen Prozedur, sich als Luftnomaden zu verkleiden. Die üblichen Anzüge borgten sie sich von zwei Moderatoren-Luftjockeys aus. Diese behaglichen Kleidungsstücke bestanden aus genietetem Baumwollsegeltuch mit Faserfüllung. Es handelte sich um Schutzbekleidung aus industrieller Fertigung, mit zahlreichen Stickereien und durch den verschwenderischen Gebrauch intensiv riechender Hautsalbe zu einem Stammesutensil umfunktioniert. Kevlarhandschuhe, schwarze Gummistiefel, große, gefütterte Sturzhelme und bruchfeste Schutzbrillen vervollständigten die Ausrüstung.

Oscar gab seinem gutmütigen Double noch ein paar letzte Verhaltensregeln, dann legte er seine Verkleidung an. Er verwandelte sich in ein Wesen eines fremden Kulturkreises. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, in der Nomadenmontur in Buna-Stadt herumzustolzieren. Das Ergebnis verblüffte ihn. Oscar war in Buna gut bekannt; sein skandalöses Privatleben war in aller Munde, und das von ihm erbaute Hotel war eine Attraktion. Mit Fliegeranzug, Schutzbrille und Helm erkannte ihn jedoch niemand. Die Blicke der Passanten glitten achtlos an ihm vorbei. Er strahlte Fremdartigkeit aus.

Kevin und Oscar hatten verabredet, um Mitternacht aufzubrechen. Oscar verspätete sich. Seine Armbanduhr funktionierte nicht richtig. Er hatte seit Tagen leicht erhöhte Temperatur, was die Mäusehirne veranlasste vorzugehen. Oscar war gezwungen gewesen, mit dem Sonnenscheintimer die Reset-Funktion auszulösen, doch nun ging die Uhr nach. Er kam zu spät, und es war schwieriger als erwartet, auf das Dach des Laboratoriums zu klettern. Außerhalb der Kuppel herrschte tiefe Februarnacht, die Umgebung war zugig und einschüchternd, eine ermüdende Abfolge endloser Treppen und Leitersprossen.

Außer Atem und zitternd gelangte er schließlich auf das sternenüberwölbte Dach des Laboratoriums, doch die optimale Wetterkonstellation hatte er verpasst. Kevin war klugerweise bereits gestartet. Mithilfe einer gelangweilten Moderatorencrew schnallte Oscar sich auf dem zerbrechlichen Flugzeug fest und startete gleich anschließend.

Während der ersten Stunde lief es ganz gut. Dann wurde er von einer Treibhaus-Sturmfront erfasst, die ihren Ursprung im launischen Golf von Mexiko hatte. Er wurde bis nach Arkansas hineingeweht. Während es Tausende von Radarsignalen auswertete, wechselte das smarte und erschreckend billige Flugzeug mit Übelkeit erregendem Geschaukel von einer thermischen Strömung zur nächsten und näherte sich mit der stumpfsinnigen Hartnäckigkeit eines netzgesteuerten Automaten immer weiter seinem Bestimmungsort. Wundgescheuert vom schlecht sitzenden Schutzanzug schlief Oscar irgendwann ein und hing in den Gurten wie ein Sack Rüben.

Dass der Pilot eingeschlafen war, machte dem Nomadenflugzeug nichts aus. Als Oscar bei Tagesanbruch erwachte, stellte er fest, dass er über den verregneten Sümpfen des Bayou Teche flog.

Das Bayou Teche war hundertdreißig Meilen lang. Dieser tote Flussarm war vor etwa dreitausend Jahren einmal der Hauptlauf des Mississippi gewesen. Während eines kurzen und ausgesprochen katastrophalen Frühjahrs des einundzwanzigsten Jahrhunderts war das Bayou Teche wieder zum Hauptarm des Mississippi geworden. Die sintflutartigen Wassermassen hatten alles mitgerissen, überschwemmungssichere Betondeiche, schattenspendende bemooste Eichen, prächtige Farmen aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, rostzerfressene Zuckermühlen, stillgelegte Bohrtürme, alles, was ihnen im Wege stand. Die Flut hatte Breaux Bridge, St. Martinville und New Iberia verwüstet.

Das Teche war schon immer eine Welt für sich gewesen, ein morastiges Biom, scharf abgegrenzt von der eigentlichen Mississippi-Ebene, wo Reis angebaut wurde. Die Zerstörung von Straßen und Brücken und die darauf folgende Ausbreitung des Sumpf- und Marschlandes hatten dazu geführt, dass im Teche wieder unheimliche, wasserdurchtränkte Ruhe eingekehrt war. Das Bayou war nun eines des ursprünglichsten Gebiete Nordamerikas – nicht weil man es vor dem Fortschritt bewahrt hatte, sondern weil der Fortschritt zunichte geworden war.

Während des schwankenden Sinkflugs nahm Oscar Fontenots neue Umgebung in Augenschein. Der ehemalige Staatsangestellte hatte eine abgelegene Siedlung zu seinem Wohnort erkoren, errichtet auf aus Betonblöcken zusammengesetzten Säulen, die Wohnhäuser umgeben von Nebengebäuden und billigen Stromgeneratoren auf Brennstoffzellenbasis. Es war ein barbarisches Südstaatenslum für Binnenfischer, ein Wasserlabyrinth von Holzstegen, Seerosen und Flachbooten aus Stroh- und Plastik. Im rosigen Morgenlicht zeigte das schilfdurchsetzte Wasser des Bayous ein tiefes, trübes Grün.

Oscar landete mit eindrucksvoller Präzision unmittelbar auf dem Schrägdach von Fontenots Holzhütte. Er geriet ins Rutschen und prallte mit knöchelzerschmetternder Wucht auf dem Boden auf. Das mittlerweile gehirntote Fluggerät erbebte heftig in der Morgenbrise und warf Oscar umher wie einen Käfer.

Zum Glück kam Fontenot sogleich aus der Hütte hervorgehumpelt und half Oscar, des Flugzeugs Herr zu werden. Nach einigem Gefluche und Gezerre gelang es ihm, Oscar loszuschnallen und ihn zu befreien. Schließlich schafften sie es, das Flugzeug zu falten und so weit zusammenzulegen, dass es nur noch so groß war wie ein Kanu.

»Sie sind’s wirklich«, sagte Fontenot, vor Erschöpfung schnaufend. Er klopfte Oscar auf die gepolsterte Schulter. »Wo haben Sie denn den bescheuerten Helm her? Sie sehen wirklich zum Fürchten aus.«

»Ja. Haben Sie meinen Bodyguard gesehen? Er hätte eigentlich vor mir eintreffen müssen.«

»Kommen Sie rein«, sagte Fontenot. Mobilheime aus Metall waren nicht seine Sache. Seine Behausung war eine echte Holzhütte, zusammengezimmert aus Zedernbrettern und Leisten, mit grauen Holzschindeln auf dem Dach und großen, spinnwebverhangenen Holzstapeln darunter. Man hatte das Material ans Ufer geschafft und dort mit großem Sachverstand wieder zusammengesetzt. Die Tür knarrte und erbebte beim Öffnen in den Angeln. Der rissige Boden war merklich geneigt.

Fontenots spartanischer Wohnraum war mit Rattanmöbeln eingerichtet. Es gab eine große Hängematte, einen kleinen Kühlschrank mit Brennstoffzelle und an der Wand ein eindrucksvolles Arsenal erstklassigen Angelzeugs. Fontenots Angelausrüstung war mit Ketten an der hinteren Hüttenwand befestigt und mit militärischer Akkuratesse in verschlossenen Gewehrschränken aus Sperrholz angeordnet. Im ersten Schrank war eine funkelnde Menagerie von Ködern untergebracht: batteriebetriebene Würmer, Ultraschallblinker, rotierende Blinker, Pheromone freisetzende Gelatinewürmer.

»Einen Moment noch«, sagte Fontenot und verzog sich, begleitet von lautem Knarren, in ein vollgestopftes Hinterzimmer. Oscar fiel eine abgegriffene Bibel und eine eindrucksvolle Sammlung leerer Bierdosen ins Auge. Dann kam Fontenot zurück, mit Kevin im Schlepptau. Er hatte ihn gefesselt und ihm den Mund mit Isolierband verklebt.

»Kennen Sie den Kerl?« fragte Fontenot.

»Klar. Das ist mein neuer Bodyguard.«

Fontenot stieß Kevin aufs Rattansofa, das unter seinem Gewicht laut knackte. »Hören Sie. Ich kenne den Burschen ebenfalls. Ich kannte seinen Vater. Sein Dad hat Computersysteme für die rechte Miliz gewartet. Schwer bewaffnete Weiße mit durchdringendem Blick und schlechtem Haarschnitt. Wenn Sie diesen Burschen als Sicherheitschef einstellen, sind Sie nicht mehr bei Trost.«

»Von ›Einstellung‹ kann man eigentlich nicht sprechen, Jules. Eigentlich ist er Staatsangestellter. Und er ist auch nicht bloß für meine persönliche Sicherheit zuständig, sondern für die Sicherheit einer staatlichen Einrichtung.«

Fontenot langte in die Tasche seines dreckverschmierten Overalls und holte ein Anglermesser hervor. »Ich will’s gar nicht wissen. Das ist mir egal! Das geht mich nichts mehr an.« Er schnitt das Isolierband durch und riss es mit einem einzigen Ruck ab. »Tut mir leid, Kid«, murmelte er. »Hätte Ihnen wohl besser glauben sollen.«

»Macht nichts!« sagte Kevin galant, massierte sich die klebrigen Handgelenke und verdrehte ein wenig die Augen. »Sowas kommt vor!«

»Ich bin völlig aus der Übung«, sagte Fontenot. »Das Leben ist ruhig hier draußen, ich hab den Anschluss verloren. Wie wär’s mit Frühstück?«

»Ausgezeichnete Idee«, sagte Oscar. Ein friedliches gemeinsames Mahl war jetzt genau das Richtige. Im Schutze seines harmlosen Grinsens nahm Kevin offenbar Maß für einen tödlichen Messerstoß in Fontenots Nieren.

»Etwas Blutwurstsoße«, meinte Fontenot und zog sich an einen primitiven gasbetriebenen Campingofen zurück, der in einem Winkel stand. »Ein paar Eier und Muscheln.« Oscar beobachtete Fontenot nachdenklich, während sich der alte Mann schleppend und verdrießlich ans Kochen machte. Nach einer Weile wusste er Bescheid. Fontenot erholte sich von seinem Dasein als staatlich bezahlter Cop. Der Fluch der Geheimdiensttätigkeit fiel endlich von ihm ab, verlor allmählich seine Wirkung wie eine langsam nachlassende Heroinabhängigkeit. Doch nachdem er die eiskalte Umklammerung der langjährigen Disziplin abgestreift hatte, war von Jules Fontenot einfach nichts mehr übriggeblieben. Jetzt war er ein einbeiniger Angler aus Louisiana, auf beklemmende Weise vorzeitig gealtert.

Die Hütte füllte sich mit dem scharfen Geruch köchelnder Pfeffersauce. Oscars neuerdings empfindliche Nase begann zu laufen. Er sah Kevin an, der sich mürrisch Fitzelchen Isolierband von den Handgelenken pellte.

»Jules, wie läuft’s eigentlich so mit der Angelei?«

»Das hier ist das Paradies!« antwortete Fontenot. »Die großen Lunker lieben die überschwemmten Gebiete drüben in Breaux Bridge. Der Lunker ist ein gründelnder Fisch mit einer Vorliebe für strukturierten Lebensraum.«

»Ich glaube, den Lunker kenne ich nicht.«

»Ach, den haben die hiesigen Sportangler schon vor Jahren entwickelt. Durch die Überschwemmungen, die Umweltgifte und so sind die hiesigen Fische umgekommen. Das Teche drohte zu veralgen, die Algenblüte war fast so schlimm wie in der Toten Zone im Golf. Und da hat man den Staubsaugerfisch zusammengefummelt. Ein großer alter Kanalwels mit Tilapiagenen. Die Lunker werden groß, Mann. Verdammt groß. Vierhundert Pfund schwer, mit Augen wie Tennisbälle. Lunker sind steril, versteh’n Sie. Lunker tun nichts weiter als fressen und wachsen. Als die Laborleute mit der DNS rummachten, haben sie’s bei den Wachstumshormonen übertrieben. Ein paar von den Babies sind mittlerweile fünfzehn Jahre alt.«

»Ziemlich kühn, was sich die Biotechniker da haben einfallen lassen.«

»Ach, da kennen Sie Green Huey nicht. Das ist längst noch nicht alles. Huey ist bei Umweltthemen ausgesprochen rührig. Louisiana hat sich vollkommen verändert.«

Fontenot servierte ihnen das Frühstück: Muschelomeletts und schaurige Würste aus verklebtem Reis. Das Essen war unglaublich scharf – nicht bloß gut gewürzt. Er hatte so viel Pfeffer beigegeben, als handele es sich dabei um ein Grundnahrungsmittel.

»Die Sache mit den Lunkern, das war eine Notmaßnahme. Aber es hat gut geklappt. Der Notfall ist behoben. Sonst wäre das Bayou jetzt eine Kloake, aber mittlerweile kommen die Barsche zurück. Jetzt kümmern sie sich um die Wasserhyazinthen, die haben den Schwarzbär und sogar den Puma wieder eingebürgert. Das wird nie wieder natürlich, aber es ist wirklich machbar. Will noch jemand Kaffee?«

»Danke«, sagte Oscar. Nachdenklich schüttete er die erste Tasse des Zichorienkaffees in einen Bodenspalt. »Ich muss Ihnen gestehen, Jules, ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, weil Sie hier ganz allein mitten in Hueys Land leben. Ich habe gefürchtet, er könnte sie aufgespürt und belästigt haben. Aus politischen Gründen, verstehen Sie, weil Sie für den Senator gearbeitet haben.«

»Ach, das. Klar«, sagte Fontenot, unablässig kauend. »Es sind mal ein paar von diesen Milizheinis hier aufgetaucht, um mich ›auszuhorchen‹. Ich hab ihnen meine Hessler & Koch aus Staatsbeständen gezeigt und ihnen gesagt, ich würde ihnen das Magazin in den Arsch jagen, wenn sie sich noch mal meinem Eigentum nähern sollten. Damit war die Sache erledigt.«

»Na gut«, meinte Oscar und stocherte taktvoll mit seiner Gabel im Omelett.

»Wissen Sie, was ich glaube?« sagte Fontenot. Früher war er nicht so redselig gewesen, doch Oscar war klar, dass der alte Mann fürchterlich einsam war. »Die Leute sind heutzutage anders. Sie lassen sich viel zu leicht ins Bockshorn jagen, sie haben keinen Schneid mehr. Das hat was mit der abnehmenden Zahl der Spermien zu tun, mit diesen Pestiziden und Hormonen. Man nimmt diese ganzen Umweltgifte auf und kriegt davon diese Yuppiegrippen und Allergien…«

Oscar und Kevin wechselten Blicke. Sie hatten keine Ahnung, wovon der alte Mann eigentlich redete.

»Die Amerikaner ernähren sich nicht mehr von ihrem Land. Sie wissen gar nicht, was sie unserer großartigen Natur angetan haben. Sie wissen nicht, wie schön es hier mal war, bevor alles zubetoniert und vergiftet wurde. Eine Million Wildblumen und alle möglichen Pflanzen und Käfer, die hier seit Urzeiten lebten… Mann, als Kind hab ich noch Speerfische geangelt. Speerfische! Heutzutage weiß keiner mehr, was ein Speerfisch ist.«

Plötzlich öffnete sich die Tür. Eine Schwarze mittleren Alters trat ein, in der Hand ein Einkaufsnetz voller Konserven. Sie trug Gummisandalen, einen weiten Baumwollrock und eine mit tropischen Blüten bedruckte Bluse. Den Kopf hatte sie sich mit einem Taschentuch umwickelt. Sie platzte in Fontenots Hütte, bemerkte Kevin und Oscar und begann auf kreolisch zu schnattern.

»Das ist Clotile«, sagte Fontenot. »Meine Haushälterin.« Er erhob sich und sammelte linkisch ein paar leere Bierdosen auf, während er ihr in stockendem Französisch antwortete.

Clotile bedachte Kevin und Oscar mit einem vorwurfsvollen, abschätzigen Blick, dann las sie ihrem humpelnden Boss die Leviten.

»Der war Ihr Sicherheitschef?« flüsterte Kevin Oscar zu. »Dieser gebrochene alte Hinterweltler?«

»Ja. Und er war mal richtig gut.« Das Zwischenspiel mit Fontenot und Clotile faszinierte Oscar. Bei ihrer Auseinandersetzung ging es um Rasse, Ökonomie und Geschlecht, doch der Kontext war ihm völlig unverständlich. Offenbar spielte Clotile jetzt eine große Rolle in Fontenots Leben. Fontenot bewunderte sie aufrichtig; sie hatte etwas an sich, das er sehnsüchtig begehrte und nie mehr bekommen würde. Clotile wiederum empfand Mitleid mit ihm und arbeitete bereitwillig für ihn, ohne ihn indes zu akzeptieren. Sie standen einander nahe genug, um miteinander zu reden und sogar zu scherzen, doch ihre Beziehung wies ein tragisches Element auf, das sich niemals auflösen würde. Es war ein pointiertes Minidrama, Oscar ebenso unverständlich wie eine Kabuki-Aufführung.

Oscar spürte, dass Fontenots Glaubwürdigkeit durch seine Gäste ernsthaft Schaden genommen hatte. Er betrachtete seine mit Stickereien verzierten Ärmel, seine abgelegten Handschuhe, den pelzgefütterten Flughelm. Er verspürte einen intensiven Kulturschock.

Wie seltsam war doch die Welt, in der er lebte. Wie seltsam waren doch die Menschen: Kevin, Fontenot, Clotile – und er selbst in seiner verwegenen, schmutzigen Verkleidung. Da waren sie nun, frühstückten und räumten die Wohnung auf, während sich die Spielregeln am Rande ihres moralischen Universums grundlegend verändert hatten. Spielfiguren rückten vom Mittelpunkt an die Peripherie, von der Peripherie ins Zentrum – während andere ganz vom Spielfeld flogen. In seinem früheren Leben, in Boston, hatte er häufig mit Fontenot gefrühstückt. Täglich ein Arbeitsfrühstück, während sie die Nachrichten schauten, über die Wahlkampfstrategie berieten und Melone aßen. Das alles war Lichtjahre entfernt.

Clotile arbeitete sich energisch vor und riss Kevin und Oscar die Teller weg. »Ich möchte Ihrer Haushälterin nicht im Weg sein«, meinte Oscar nachsichtig. »Vielleicht sollten wir ein wenig Spazierengehen und über den Anlass unserer Reise sprechen.«

»Gute Idee«, sagte Fontenot. »Klar. Kommen Sie.«

Sie folgten Fontenot durch die knarrende Eingangstür nach draußen und stiegen die verzogene Holztreppe hinunter. »Das hier sind gute Leute«, erklärte Fontenot und sah sich misstrauisch über die Schulter um. »Sie sind so real.«

»Es freut mich, dass Sie sich mit den Nachbarn gut verstehen.«

Fontenot nickte ernst. »Ich gehe zur Messe. Ein Stück weiter liegt eine kleine Kirche. Ich lese neuerdings in der Bibel… Hatte früher nie Zeit dazu, aber jetzt will ich mir Zeit für die wichtigen Dinge nehmen. Für die wichtigen und realen Dinge.«

Oscar schwieg. Er war nicht religiös, aber die lange Geschichte des Juden- und Christentums hatte ihn schon immer beeindruckt. »Dann berichten Sie uns mal von der Siedlung der Haitianer, Jules.«

»Berichten? Da gibt’s nichts zu berichten. Wir fahren einfach mal hin. Wir nehmen mein Hovercraft.«

Fontenots Hovercraft lag gleich vorm Haus. Das amphibische Luftkissenfahrzeug, ausgestattet mit unverwüstlichen Plastikschürzen und einem kräftigen alkoholbetriebenen Motor, hatte ihn offenbar eine Menge Geld gekostet. Es stank nach Fisch, und an der gedrungenen, glänzenden Hülle klebten reichlich Schuppen. Als er die Angelutensilien ausgeladen hatte, bot das Fahrzeug Platz für drei, wenngleich Kevin sich hineinzwängen musste.

Das überladene Hovercraft schrammte polternd dem Bayou entgegen. Dann glitt es spotzend und gurgelnd über die Seerosen hinweg.

»Ein Hovercraft ist im Bayou ideal fürs Angeln«, erklärte Fontenot. »Im Teche, wo überall Aststümpfe und Autowracks und so Zeug rumliegen, braucht man ein flaches Boot. Die Einheimischen machen sich über mein großes, protziges Hovercraft lustig, aber ich komme damit wirklich gut in der Gegend rum.«

»Man sagt, die Haitianer wären sehr religiös.«

»Ja, klar.« Fontenot nickte. »In ihrer Heimat hatten sie ‘nen Pfarrer, der zog diese Moses-befrei-das-Volk-Masche ab. Das Regime hat ihn natürlich erschießen lassen. Dann haben sie mit seinen Anhängern ein paar schlimme Dinge angestellt, die Amnesty International richtig wütend machte. Aber… wen kümmert’s? Verstehen Sie? Das sind Haitianer!«

Fontenot nahm beide Hände vom Steuer. »Weshalb sollte sich jemand wegen irgendwelcher Haitianer aufregen? Überall auf der Welt werden Inseln überschwemmt. Alle steh’n sie unter Wasser, alle haben große Probleme wegen des ansteigenden Meeresspiegels. Aber Huey… also, Huey nimmt es richtig persönlich, wenn charismatische Anführer erschossen werden. Huey hat es mit der französischen Diaspora. Er hat versucht, das Außenministerium in die Mangel zu nehmen, aber die hatten selbst schon mehr als genug Probleme. Und deshalb hat Huey eines Tages eine große Flotte Krabbenboote nach Haiti geschickt und alle eingesammelt.«

»Wie hat er ihnen Einreisevisas verschafft?«

»Da hat er sich nicht drum geschert. Sie müssen genauso denken wie Huey, versteh’n Sie. Huey hat immer zwei, drei, vier Dinge gleichzeitig laufen. Er hat sie versteckt. In den Salzgruben. In Louisiana gibt es diese großen Salzgruben. Mineralvorkommen von der doppelten Größe des Mount Everest. Hundert Jahre lang hat man sie abgebaut. Dort unten gibt es riesige Höhlen, so groß wie Vorstädte, die Decke dreihundert Meter hoch. Heutzutage baut niemand mehr Salzvorkommen ab. Wegen der Meerwasserentsalzungsanlagen ist Salz spottbillig, genau wie Öl. Wir haben’s ausgegraben und verkauft, und geblieben ist uns nichts. Riesige, luftdicht abgeschlossene leere Höhlen, tief unter der Erdkruste. Wozu sind sie jetzt noch nutze? Also, einen Nutzen haben sie schon. Weil man nämlich nicht reingucken kann. Höhlen kann man nicht mit Satelliten überwachen. Huey hat die haitianischen Sektenmitglieder also ein paar Jahre lang in den gewaltigen Salzgruben versteckt. Er hat sich heimlich mit ihnen beschäftigt, genau wie mit seinen anderen heißen Geheimprojekten. Zum Beispiel mit den Riesenspeerfischen, der Treibstoffhefe und den Quastenflossern…«

»Quastenflossern?« wiederholte Kevin.

»Lebende Fossilien aus Madagaskar, mein Sohn. Älter als die Dinosaurier. Deren DNS könnte von einem anderen Planeten stammen. Richtig primitiv und robust. Man schnippele Stücke von der fernen Vergangenheit ab und füge sie Mitte nächster Woche ein – das ist Hueys Rezept für die Zukunft.«

Oscar wischte Spritzwasser von der wasserdichten Fliegermontur. »Dann war das, was er mit den Haitianern angestellt hat, also eine Art Pilotprojekt.«

»Ja. Und wissen Sie was? Huey hat Recht.«

»Ach ja?«

»Ja. Hueys irrt sich in Kleinigkeiten, aber die große Linie stimmt so gut, dass der Rest einfach nicht mehr zählt. Louisiana ist die wahre Zukunft, verstehen Sie. Irgendwann in naher Zukunft wird es auf der ganzen Welt wie in Louisiana aussehen. Weil der Meeresspiegel steigt und Louisiana ein riesiger Sumpf ist. Die Welt der Zukunft ist ein großer, warmer Treibhaussumpf. Voller schlecht ausgebildeter, halbgebildeter Leute, die kein Englisch sprechen und nicht vergessen, Kinder zu zeugen. Und sie fahren total auf Biotechnik ab. So wird die Welt von morgen aussehen – nicht bloß Amerika, o nein, sondern die ganze Welt. Warm, feucht, kaputt, halb vergessen, irgendwie verrottet. Die politischen Führer sind korrupt, jeder hält die Hand auf. Das ist schlimm, wirklich schlimm, das ist noch schlimmer, als es klingt.«

Fontenot grinste plötzlich. »Wissen Sie was? Es ist machbar, es geht! Die Fische beißen an! Das Essen ist prima! Die Frauen sehen gut aus, und die Musik hat richtig Swing!«

Sie kämpften sich zwei Stunden lang bis zum Flüchtlingslager durch. Das Hovercraft arbeitete sich durchs Schilf, schrammte über Riedgras und klebrigen schwarzen Schlamm hinweg. Das Lager der Haitianer hatte man klugerweise auf einer Insel errichtet, die nur mit dem Flugzeug erreichbar war – oder von einem Amphibienboot mit entschlossenem Steuermann.

Sie fuhren auf festen Boden, stiegen aus und schritten durchs kniehohe Unkraut.

Oscar hatte das Schlimmste erwartet: Scheinwerfer, Wachtürme, Stacheldraht und scharfe Hunde. Das Emigrantendorf der Haitianer aber war kein bewachtes Lager. In erster Linie war es ein Ashram, ein religiöser Zufluchtsort. Es war eine bescheidene, ruhige, ländliche Siedlung mit säuberlich getünchten Blockhäusern.

Das Dorf bot sechs- bis siebenhundert Menschen Platz, darunter zahlreichen Kindern. Es gab keinen Strom, keine Kanalisation, keine Satellitenschüsseln, keine Straßen, keine Autos, keine Telefone und keine Flugzeuge. Abgesehen vom Vogelgezwitscher, dem gelegentlichen Klonk einer Axt und dem fernen, inbrünstigen Gesang war es ruhig.

Niemand hatte es eilig, doch offenbar hatten alle etwas zu tun. Das Leben verlief hier in den ländlichen Bahnen des vorindustriellen Zeitalters. Diese Menschen ernährten sich tatsächlich vom Land – nicht indem sie die Landschaft zerstörten und das geerntete Material in Tanks umwandelten, sondern indem sie den Boden mit Handwerkszeugen bearbeiteten. Dies alles mutete fremdartig und museal an. Oscar kannte die Landwirtschaft aus Büchern und Dokumentarfilmen, doch leibhaftig war er noch nie mit ihr in Berührung gekommen. Zum Beispiel mit archaischen Tätigkeiten wie dem Schmieden oder Spinnen.

Überall sah man kleine, gepflegte Gärten mit Komposthaufen und Kübel mit den Exkrementen der Nacht. Die Einheimischen hatten viele Hühner. Die Hühner waren alle genetisch identisch, wenngleich unterschiedlich alt. Auch die Ziegen waren identische Kopien. Dabei handelte es sich um eine zähe, bärtige Rasse mit bösartigen Augen, um eine Superziege, die in zahlreichen Exemplaren vertreten war. Bohnen wanden sich an Stangen empor, es gab Monstermais, große, behaarte Gumboschoten, gelbe Riesenkürbisse, steinharten Bambus, eine kleinwüchsige Sorte Zuckerrohr. Einige Einheimische waren Fischer. Vor einiger Zeit hatten sie ein furchteinflößendes ledriges Wesen an Land gezogen, von dem nur noch ein Skelett aus armdicken Fischgräten übrig war.

Die Kommunarden trugen selbstgewebte Kleider. Die Männer schlichte Strohhüte, kragenlose geknöpfte Westen, Hosen mit Zugbändern. Die Frauen knöchellange Hemden, weiße Schürzen und große Sonnenhüte.

Sie waren freundlich, aber distanziert. Von Besuchern ließen sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie waren alle mit ihrem Tagwerk beschäftigt. Allerdings bildete sich ein kleines Grüppchen neugieriger Kinder, die den drei Fremden folgten und hinter ihrem Rücken kichernd Grimassen schnitten.

»Das kapier ich nicht«, sagte Kevin. »Ich dachte, das wär ein Konzentrationslager. Aber den Leuten hier geht’s gut.«

Fontenot nickte mürrisch. »Ja, es soll einladend wirken. Das ist ein selbstversorgendes Farmprojekt. Die Produktivität wird gesteigert, indem man das Saatgut und die Tierarten verbessert – ohne Ölverbrennung, ohne Kohlendioxidausstoß. Vielleicht kehren sie irgendwann nach Haiti zurück und bringen’s allen bei.«

»Das würde nicht funktionieren«, sagte Oscar.

»Warum nicht?« fragte Kevin.

»Weil die Niederländer das schon seit Jahren versuchen. In den hochentwickelten Ländern glauben alle, man könnte das bäuerliche Leben neu erfinden, indem man die Stammesleute unwissend hält. Angepasste Technologie funktioniert einfach nicht. Und zwar weil das Landleben langweilig ist.«

»Genau«, meinte Fontenot. »Das hat mir auch zu denken gegeben. Eigentlich müssten sie angelaufen kommen und uns um Geld und Radios anbetteln, wie andere Bauern, die amerikanischen Touristen begegnen, auch. Aber sie gucken nicht mal zu uns her. Passen Sie auf. Hören Sie dieses Gemurmel?«

»Meinen Sie die Gesänge?« fragte Oscar.

»Klar, sie singen. Vor allem aber beten sie. Alle Erwachsenen beten, Männer wie Frauen. Sie beten ständig. Und wenn ich ständig sage, meine ich’s auch, Oscar.«

Fontenot stockte. »Wissen Sie, bisweilen kommen Fremde her. Jäger, Fischer… Ich hab da so einiges gehört. Sie alle glauben, das hier wären richtig fromme Haitianer, die einem komischen Voodoo-Kult angehören. Ich habe Jahre damit zugebracht, in Menschenmengen nach Verrückten Ausschau zu halten. Damals hielt man große Stücke auf die Psychoanalyse. Deshalb bin ich mir auch sicher, dass in den Köpfen dieser Menschen etwas nicht stimmt. Das ist keine Psychose. Es geht hier auch nicht um Drogen. Religion hat was damit zu tun – aber das allein ist es nicht. Man hat irgendwas mit ihnen angestellt.«

»Mit ihrem Gehirn«, sagte Oscar.

»Ja. Sie sind auch tatsächlich anders. Sie wissen, dass dort unten in den Salzgruben etwas mit ihnen geschehen ist. Aber sie glauben, sie hätten eine Erleuchtung gehabt. Der Heilige Geist ist ihnen in den Kopf geflogen – die nennen das den ›Geist der Wiedergeburt‹ oder den ›Geist der Neugeburt‹.« Fontenot nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Als ich zum ersten Mal hier war, bin ich fast einen Tag lang geblieben und hab mich mit diesem alten Burschen unterhalten – Papa Christophe, so heißt der. Sozusagen ihr Anführer oder jedenfalls ihr Sprecher. Dieser Typ ist eine hiesige Autorität und wirklich ein seltsamer Kauz, keine Ahnung, was er hat. Der Geist hat nämlich nicht alle gleich erfasst. Die Kinder sind davon verschont geblieben. Die sind völlig normal. Die meisten Erwachsenen murmeln einfach bloß vor sich hin und haben so ein Funkeln in den Augen. Aber da gibt’s noch diese Verkünder, wie zum Beispiel Christophe. Die Priester. Die Weisen.«

Oscar und Kevin berieten sich kurz. Auf Kevin hatte Fontenots Bericht großen Eindruck gemacht. Es gefiel ihm nicht, mitten in einem undurchdringlichen Sumpf von illegal eingewanderten Schwarzen umgeben zu sein. Visionen von brodelnden Kannibalentöpfen schwirrten ihm durch den Kopf. Anglos… die wurden das Gefühl, einer Minderheit anzugehören, nie ganz los.

Oscar jedoch blieb unnachgiebig. Nachdem sie schon einmal so weit gekommen waren, konnte ihn nichts mehr davon abhalten, mit Papa Christophe zu sprechen. Fontenot spürte den Mann schließlich auf; er arbeitete gerade in einem weiß getünchten Blockhaus am Dorfrand.

Papa Christophe war ein älterer Mann mit einer Schädelnarbe, die von einer Machete stammte. Seine faltige Haut und seine gebeugte Haltung deuteten darauf hin, dass er ein Leben lang an Vitaminmangel gelitten hatte. Er sah aus wie hundert, obwohl er wahrscheinlich erst sechzig war.

Papa Christophe schenkte ihnen ein zahnloses Lächeln. Er saß auf einem dreibeinigen Schemel, vor sich einen Holzschlegel, einen Meißel aus Roheisen und eine unfertige Holzstatue. Mit energischen Schlägen schälte er Späne braunen Zypressenholzes davon ab. Die Statue stellte eine Heilige oder eine Märtyrerin dar, eine schlanke, modiglianische Frau mit heiterem, stilisiertem Gesicht, die Hände im Gebet gefaltet. An ihren Beinen züngelten Flammen empor.

Oscar zeigte sich sogleich beeindruckt. »Hey! Primitive Kunst! Der Bursche ist richtig gut! Ob er mir die wohl verkauft?«

»Heben Sie sich das für später auf«, murmelte Kevin. »Lassen Sie die Brieftasche stecken.«

In der Hütte war es warm und feucht, da sich ein selbstgebauter Destillierapparat darin befand. Eine solche Anlage war wahrscheinlich nicht von vorneherein geplant gewesen, doch die Haitianer waren erfinderisch und hatten ihren eigenen Kopf. Die Destille war aus Einzelteilen geborgener Autowracks zusammengebaut. Dem Geruch nach zu schließen wurde darin Melasse zu kopfzersprengendem Rum gebrannt. Die Wandborde waren mit weggeworfenen Glasflaschen vollgestellt, die man aus dem Bayou gefischt hatte. Die Hälfte der Flaschen waren mit gelbem Alkohol gefüllt und mit lehmgetränktem Tuch verschlossen.

Fontenot und der alte Mann radebrechten auf französisch, denn ihre Dialekte unterschieden sich stark. Genährt von den Zypressenspänen, brodelte die Destille vor sich hin. Rum tröpfelte aus einem gebogenen Eisenrohr in die Glasflasche, tickend wie eine Wasseruhr. Papa Christophe machte einen recht umgänglichen Eindruck. Er plauderte, klopfte auf den Meißel und murmelte dabei vor sich hin, alles im gleichen, gleichmäßigen Wasseruhrrhythmus.

»Ich habe mich nach der Statue erkundigt«, erklärte Fontenot. »Er meint, die sei für die Kirche. Er schnitzt Heilige für den Herrn, denn der Herr ist stets mit ihm.«

»Selbst in der Destille?«

»Wein ist ein Sakrament«, erwiderte Fontenot steif. Papa Christophe hob einen spitzen, verkohlten Stock auf, betrachtete seine Holzheilige und malte ein bisschen an ihr herum. Auf einem gefetteten Ledertuch hatte er allerlei Schnitzwerkzeuge ausgebreitet: eine Ahle, eine selbstgemachte Säge, einen Schaber, einen Handbohrer. Es waren primitive Gerätschaften, doch der alte Mann wusste offenbar, was er tat.

Die neugierigen Kinderhorden waren draußen geblieben, doch einer der Kleineren nahm seinen Mut zusammen und spähte in die Hütte. Papa Christophe schaute hoch, grinste zahnlos und machte eine ernste Bemerkung auf kreolisch. Der Junge kam herein und hockte sich brav auf den Erdboden.

»Was hat er gesagt?« fragte Oscar.

»Ich glaube, er sagte: ›Der Affe hat ihre Kinder aufgezogen, bevor es Avocados gab‹«, antwortete Fontenot.

»Wie?«

»Das ist ein Sprichwort.«

Der kleine Junge war hochzufrieden, dass er die Werkstatt des Alten hatte betreten dürfen. Papa Christophe schnitzte noch ein wenig, wobei er sich mit freundlichen Bemerkungen an den Jungen wandte. Der Rum tropfte stetig in die fast volle Flasche.

Fontenot zeigte auf das Kind und sagte etwas auf französisch. Papa Christophe kicherte nachsichtig. »D’abord vous guetté poux-de-bois manger bouteille, accrochez vos calabasses«, sagte er.

»Hat irgendwas mit Flaschen fressenden Käfern zu tun«, erklärte Fontenot.

»Fressen Käfer denn Flaschen?« fragte Kevin.

Christophe beugte sich vor und betrachtete die Holzkohlelinie, die er gezogen hatte. Er war völlig gefangen von seiner Statue. Der kleine Junge wiederum war von den Schnitzwerkzeugen fasziniert.

Unvermittelt streckte der Junge die Hand nach dem tuchverhüllten Sägeblatt aus. Ohne jedes Zögern langte der alte Mann hinter sich und packte mit unfehlbarer Sicherheit das Handgelenk des Jungen.

Daraufhin stand Papa Christophe auf, hob den Jungen einhändig hoch und nahm ihn auf den Arm. Im gleichen Moment trat er zwei Schritte zurück, streckte ohne hinzusehen die Linke aus und nahm eine leere Flasche vom Wandbord.

Sodann drehte er sich auf der Stelle und riss die randvolle Flasche von der Destille. Er ersetzte die volle Flasche durch die leere – während er den kleinen Jungen freundlich ermahnte. Irgendwie schaffte es Christophe, all diese Handlungen miteinander so zu koordinieren, dass kein einziger Tropfen Rum verloren ging.

Der alte Mann schlurfte zu seinem Arbeitsschemel zurück, nahm darauf Platz und setzte sich den Jungen auf den mageren Schenkel. Er hob die Rumflasche mit der Linken hoch, betrachtete den Inhalt und machte eine Bemerkung zu Fontenot.

Kevin rieb sich die Augen. »Was war das? Hat er da einen Jig rückwärts getanzt? Das ist doch nicht möglich.«

»Was hat er gesagt?« wandte Oscar sich an Fontenot.

»Hab’s nicht verstanden«, antwortete Fontenot. »Ich war zu sehr damit beschäftigt, ihn zu beobachten. Das war wirklich seltsam.« Er sprach Papa Christophe auf französisch an.

Christophe seufzte geduldig. Er nahm ein glattgehobeltes Pinienbrett und den verkohlten Stecken in die Hand. Er hatte eine erstaunlich anmutige, flüssige Handschrift, als wäre er bei Nonnen zur Schule gegangen. Er schrieb: »Quand la montagne brûle, tout le monde sait; quand le coeur brûle, qui le sait?« Er schrieb mit abgewandtem Kopf, während er sich freundlich mit dem Jungen unterhielt.

Fontenot las, was er auf das Pinienbrett geschrieben hatte. »Wenn der Berg Feuer fängt, weiß es jeder. Aber wenn das Herz Feuer fängt, wer merkt das schon?«

»Das ist ein interessanter Gedanke«, meinte Kevin.

Oscar nickte nachdenklich. »Besonders interessant finde ich, dass unser Freund diese alte Volksweisheit niederschreiben kann, während er sich mit dem Kind unterhält.«

»Er ist mit beiden Händen gleich geschickt«, sagte Kevin.

»Nein.«

»Er ist wirklich schnell«, sagte Fontenot. »Das erinnert an Taschenspielertricks.«

»Nein. Schon wieder falsch.« Oscar räusperte sich. »Meine Herren, könnten wir mal nach draußen gehen und uns unter sechs Augen unterhalten? Ich glaube, es wird allmählich Zeit, wieder zum Boot zurückzugehen.«

Sie nahmen Oscar beim Wort. Fontenot verabschiedete sich herzlich. Sie traten ins Freie und humpelten schweigend aus dem Dorf hinaus, vorbei an den verlegen grinsenden Bewohnern. Oscar fragte sich insgeheim, weshalb das Schicksal ihn mit zwei Generationen lahmer Männer geschlagen hatte.

Schließlich waren sie außer Hörweite der Haitianer angelangt. »Also, was meinen Sie?« fragte Kevin.

»Ich glaube, das ist eine Hirngeschichte. Er war sich gleichzeitig zweier verschiedener Ereignisse bewusst. Er hat verhindert, dass sich der Junge verletzt, weil er ständig an den Jungen gedacht hat. Und obwohl er sorgfältig mit Hammer und Meißel arbeitete, ließ er nicht zu, dass die Flasche überfloss. Er hörte auf das Getröpfel, während er schnitzte. Er brauchte nicht einmal hinzusehen, um zu wissen, dass die Flasche voll war. Ich glaube, er hat die Tropfen gezählt.«

»Dann ist das so, als ob er zwei Gehirne hätte«, meinte Kevin bedächtig.

»Nein, er hat bloß ein Gehirn. Aber er hat auf dem Bildschirm hinter seinen Augen zwei Fenster geöffnet.«

»Er betreibt Multitasking, aber mit seinem eigenen Hirn.«

»Ja, genau. So ist es.«

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Fontenot, skeptisch blinzelnd.

»Meine Freundin hat den Nobelpreis für ihren Beitrag zur Erforschung der neuralen Basis der Wahrnehmung bekommen«, antwortete Oscar. »Angeblich ist das Jahre von jeder praktischen Anwendung entfernt. Angeblich. Kapiert? Dahinter steckt Green Huey. Auf den Beweis habe ich schon lange gewartet.«

»Wie wollen Sie beweisen, dass sich jemand auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren kann?« fragte Fontenot. »Woher wollen Sie wissen, dass er überhaupt denkt?«

»Das ist schwierig. Aber es ist machbar. Jedenfalls läuft es so. Deshalb langweilen sie sich hier auch nicht. Deshalb beten sie. Sie beten ständig – und es würde mich nicht wundern, wenn die Gebete nicht noch einem anderen Zweck dienen würden. Ich glaube, sie stellen eine Art Verbindung zwischen zwei verschiedenen Bewusstseinsströmen her. Man erzählt Gott, was man in jedem Moment denkt – und deshalb weiß man es auch selbst. Das wollte Christophe uns mit dem Getue um das ›brennende Herz‹ eigentlich sagen.«

»Also könnte man sagen, in seiner Brust wohnen zwei Seelen«, meinte Fontenot bedächtig.

»Ja«, sagte Oscar. »Wenn man diesen Begriff gebrauchen möchte. Ich wünschte mir, Greta wäre mit ihrer Laborausrüstung hier, dann könnten wir der Sache auf den Grund gehen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Der Notstand im Buna-Labor hat unseren Spielraum erheblich eingeschränkt.«

Sie hatten mittlerweile das Hovercraft erreicht, doch Fontenot ließ nicht erkennen, dass er aufbrechen wollte. Seine Beinprothese bereitete ihm Probleme. Er setzte sich auf den Rumpf des Hovercraft und nahm schwer atmend den Hut ab. Kevin kletterte übers Heck und setzte sich, legte die schmerzenden Füße hoch. Zwei Reiher flogen vorbei, und irgendetwas Großes und Öliges tauchte an einer Ansammlung von Schilfpflanzen an die Oberfläche.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, gestand Fontenot. Er blickte Oscar an, als wäre der daran schuld. »Ich weiß nicht, was ich von Ihnen halten soll. Ihre Freundin hat den Nobelpreis bekommen. Für Ihre Sicherheit ist ein Hacker zuständig. Und Sie sind ohne Vorwarnung auf meinem Hüttendach gelandet, gekleidet wie ein fliegender Affe.«

»Ja. Klar.« Oscar zögerte. »Wenn Sie Schritt für Schritt vorgehen, fügt sich alles zusammen.«

»Sagen Sie mir nichts mehr«, meinte Fontenot. »Ich bin schon viel zu tief in die Sache verwickelt. Ich will mich an Ihren Spielchen nicht beteiligen. Ich will nach Hause, ich will hier leben und irgendwann sterben. Wenn Sie mir noch mehr erzählen, muss ich den Präsidenten einweihen.«

»Dann will ich Ihnen mal reinen Wein einschenken«, sagte Oscar. »Ich arbeite für den Präsidenten. Ich gehöre dem Nationalen Sicherheitsrat an.«

Fontenot war verblüfft. »Sie sind jetzt in der Regierung? Sie arbeiten für den NSR?«

»Jules, hören Sie doch auf, sich über jede Einzelheit, die ich Ihnen sage, zu wundern. Das wirkt allmählich verletzend. Was glauben Sie denn, weshalb ich hergekommen bin? Was glauben Sie, weshalb ich ständig in solche Situationen gerate? Wer außer mir käme damit zurecht? Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der in der Lage ist, mitten in der Einöde in einen neuralen Voodoo-Kult hineinzumarschieren und auf der Stelle rauszufinden, was da abgeht.«

Fontenot rieb sich das verstoppelte Kinn. »Tja… Okay! Ich schätze, da haben Sie wohl Recht. Na schön, Mr. Alleswisser, sagen Sie mir eines. Wird es wirklich Krieg mit den Niederlanden geben?«

»Ja. Das wird es. Und wenn ich mit heiler Haut aus diesem verdammten Sumpf rauskomme und dem Präsidenten von meinen Erkenntnissen berichte, dann wird es wahrscheinlich auch Krieg mit Louisiana geben.«

»Du meine Güte.« Fontenot stöhnte laut. »Das ist mehr als nur schlimm. Das ist katastrophal. Schlimmer konnte es nicht kommen. Ich hätte besser den Mund gehalten. Ich hätte über die Sache kein Wort verlieren sollen.«

»Nein, Sie haben richtig gehandelt. Huey ist ein großer Mann und ein Visionär, aber er ist durchgeknallt. Hier geht’s nicht mehr bloß um den guten alten Südstaatengrößenwahn. Jetzt weiß ich Bescheid. Diese Haitianer, die sollen bloß beweisen, dass er richtig liegt. Huey hat irgend etwas Seltsames mit sich selbst angestellt. Irgend etwas mit seinem Gehirn.«

»Und Sie wollen dem Präsidenten davon berichten.«

»Ja, allerdings. Weil der Präsident nicht so ist. Der Präsident ist nicht verrückt. Er ist bloß ein beinharter, ehrgeiziger, brutaler Politiker, der in diesem gespaltenen Land Recht und Ordnung wiederherstellen will, selbst wenn das bedeutet, halb Europa in Brand zu stecken.«

Fontenot ließ sich das durch den Kopf gehen. Schließlich wandte er sich an Kevin. »Hey, Hamilton.«

»Ja, Sir?« sagte Kevin verblüfft.

»Lassen Sie nicht zu, dass dieser Bursche umgebracht wird.«

»Ich habe den Job nicht gewollt!« protestierte Kevin. »Er hat mir nicht gesagt, wie schwer es werden würde. Ehrlich! Wollen Sie wieder sein Bodyguard sein? Übernehmen Sie den verdammten Job.«

»Nein«, sagte Fontenot entschieden. Sie kletterten in das kleine Boot, drei Männer in einer Badewanne, und fuhren wieder ins Bayou hinaus.

»Er hat ein paar wichtige Dinge für uns getan«, sagte Fontenot. »Natürlich war es ihm vor allem um Huey zu tun. Huey stand auf Hueys Agenda immer ganz oben, das haben auch alle gewusst. Aber er hat so manches Gute für die Bevölkerung bewirkt. Seit er an der Regierung ist, hat sich mehr getan als in den vergangenen hundert Jahren. Er steht immer noch für die Zukunft.«

»Ja«, sagte Oscar, »Huey hat eine neue Ordnung errichtet – bloß ist sie nicht neu, und es ist auch keine Ordnung. Huey ist ein komischer Kauz. Er reißt Witze und heizt die Stimmung an, er schmeißt eine Runde und macht sich in der Öffentlichkeit lächerlich. Aber er hat alles: totale Kontrolle über die Legislative und die Jurisdiktion. Eine wild gewordene Braunhemdenmiliz. Sein eigenes Mediennetzwerk – sogar seine eigene Wirtschaft. Eine Blut-und-Boden-Idelogie. Geheime Verstecke voller Vergeltungswaffen. Huey kidnapped Leute. Er entführt ganze Bevölkerungsgruppen und lässt sie verschwinden. Ich nehme an, er handelt aus den lautersten Motiven, aber die Ziele zählen nicht, wenn man die Mittel einsetzt wie er. Und jetzt hat er sich eine seltsame Behandlung verpasst, die Menschen auf Dauer schizoid werden lässt! Besser kann es mit ihm nicht werden. Bloß noch schlimmer.«

Fontenot seufzte. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Erzählen Sie niemandem, dass ich Sie hierher geführt habe. Ich will keine Presse. Meine armen Nachbarn dürfen nicht erfahren, dass ich den guten alten Huey verraten habe. Das will ich nicht. Ich bin hier zu Hause. Ich will hier sterben.«

Kevin ergriff das Wort. »Sie behaupten ständig, das hier sei die Zukunft. Weshalb wollen Sie dann sterben, alter Mann?«

Fontenot musterte ihn mit Nachsicht; er hatte dunkle Ringe unter den Augen. »Kid, jeder zieht sich zum Sterben in die Zukunft zurück. Denn dort wird der Job getan.«

Oscar schüttelte den Kopf. »Sie brauchen keine Schuldgefühle zu haben. Sie schulden Huey keine Loyalität.«

»Wir stehen alle in seiner Schuld, verdammt noch mal. Er hat uns gerettet. Er hat den Staat gerettet. Auf jeden Fall sollten wir ihm wegen der Moskitos dankbar sein.«

»Wegen der Moskitos? Welche Moskitos?«

»Es gibt keine mehr. Dabei befinden wir uns mitten in einem Sumpf. Aber wir werden nicht gestochen. Das ist Ihnen noch gar nicht aufgefallen, wie? Mir schon.«

»Und was ist mit den Moskitos passiert?«

»Vor Huey haben uns die Moskitos arg zugesetzt. Moskitos lieben die Treibhauszukunft. Als es immer wärmer und feuchter wurde, fielen sie in Schwärmen über uns her. Sie brachten Malaria, Denguefieber, Gehirnhautentzündung mit… Nach den großen Überschwemmungen des Mississippi quollen die Moskitos in diesem Bundesstaat aus jedem Graben. Das war eine wahre Plage, es gab Tote. Und Huey war gerade vereidigt worden. Er wollte sich einfach nicht damit abfinden, er sagte: unternehmt was, erledigt sie.‹ Er schickte diese Sprühlaster los. Keine Insektizide, kein Giftgas wie in der Vergangenheit – kein DDT, kein Gift. Das hat viel Schaden angerichtet – das funktioniert nicht, das weiß jeder. Huey aber hat es hingekriegt – er setzte nicht die Mücken unter Gas, sondern die Menschen. Und zwar mit Antikörpern. Eine Art Atemimpfung. Die Bewohner von Louisiana sind für die Moskitos mittlerweile giftig. Unser Blut ist praktisch tödlich für sie. Wird ein Cajun von einem Moskito gestochen, dann stirbt es auf der Stelle.«

»Raffiniert!« begeisterte sich Kevin. »Aber das bringt doch nicht alle Moskitos um, oder?«

»Nein, aber die Krankheiten sind gleich verschwunden. Weil sie sich nicht mehr von Mensch zu Mensch ausbreiten konnten. Und die Mücken sind auch weg. Huey hat nämlich auch die Tiere unter Gas gesetzt, alles, was atmet. Weil es nämlich funktioniert! Diese Blutsauger haben früher die Menschen scharenweise getötet. Seit Tausenden von Jahren waren die hier eine Plage biblischen Ausmaßes. Green Huey aber hat sie endgültig erledigt.«

Das Hovercraft tuckerte weiter. Die drei Männer verfielen in nachdenkliches Schweigen.

»Was ist das denn für eine Mücke da auf Ihrem Arm?« fragte Kevin nach einer Weile.

»Zack!« Fontenot hatte sie erschlagen. »Muss wohl vom Mississippi rübergeflogen sein.«


Oscar wusste um die Tragweite seiner neuen Erkenntnisse. Richtig gemanagt, würde dieser Skandal Huey erledigen. Schlecht gemanagt, würde er im Handumdrehen Oscar erledigen. Vielleicht sogar den Präsidenten.

Oscar verfasste das seiner Meinung nach beste Memorandum seiner Laufbahn. Er ließ es an den Präsidenten weiterleiten – in der Hoffnung, dass es nur von ihm gelesen wurde. Er überging seine Vorgesetzten an der Spitze der Befehlskette nur ungern, wollte aber verhindern, dass die paramilitärischen Eiferer vom NSR weitere Dummheiten machten. Der Helikopterangriff hatte ihm wahrscheinlich das Leben gerettet, aber echte Profis wären anders vorgegangen.

Oscar appellierte an den Präsidenten. Er argumentierte ruhig, faktenbezogen, klar geordnet. Er beschrieb akribisch die örtlichen Gegebenheiten des Haitianer-Lagers und empfahl, einen Agenten einzuschleusen. Eine diskrete, harmlos wirkende Person. Eine Agentin wäre eine gute Wahl. Eine Person, die alles gründlich filmte und Blutproben nahm.

Drei Tage lang bombardierte Oscar die höhergestellten Mitglieder des NSR mit besorgten Anfragen. Ob der Präsident das Memorandum bereits gelesen habe? Es sei von äußerster Wichtigkeit. Von entscheidender Bedeutung.

Er bekam keine Antwort.

In der Zwischenzeit hatte das Laboratorium mit ernsthaften Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Moral unter den Zivilangestellten ließ nach. Sie bekamen kein Gehalt mehr ausgezahlt, während sie gleichzeitig geringeres Ansehen als die Forscher genossen, die sich rasch an die Unterstützung ehrfurchtsvoll staunender Moderatoren gewöhnten. Die Zivilangestellten waren sauer. Besonders aufgebracht waren die medizinischen Angestellten. Sie konnten anderswo jederzeit einen gutbezahlten Job bekommen – außerdem konnte man kaum von ihnen erwarten, dass sie einen ordentlichen, ethisch einwandfreien Medizinbetrieb ohne steten Geldzufluss und kontinuierliche Versorgung an Verbrauchsmaterialien aufrecht erhielten.

Zwischen Moderatoren und Regulatoren gab es ständig Streit wegen des Sabine River Valley. Spähtrupps rivalisierender Nomadengangs gingen sogar so weit, ihre Gegner aus dem Hinterhalt zu überfallen und zu lynchen. Die Lage wurde immer prekärer, zumal man die Sheriffs von Jasper und Newton County zum Rücktritt gezwungen hatte. Die beiden texanischen Sheriffs guter alter Schule waren in einen skandalösen Schmiergeldskandal verwickelt gewesen. Irgend jemand hatte ausführliche Dossiers über ihre langjährige Beteiligung am Alkoholschmuggel, dem Glücksspiel und der Prostitution angelegt – an all den gesetzwidrigen Vergnügungen, die man zwar verbieten, niemals aber unterbinden konnte.

Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass die zivile Ordnung in Osttexas von Green Huey vorsätzlich unterminiert wurde. Die Regierung des Bundesstaats hätte sich der Herausforderung stellen sollen, doch dazu mangelte es ihr bekanntermaßen am erforderlichen Einfallsreichtum. Der Staat hielt endlose Anhörungen über das wie eine Seuche um sich greifende Problem der Polizeikorruption ab – offenbar in der Hoffnung, die Unruhen würden sich von selber legen, wenn man nur genug Berichte anfertigte.

Den größten Unsicherheitsfaktor an der Staatsgrenze stellte die provozierende Anwesenheit von europäischen und asiatischen Nachrichtencrews dar. Amerikas heißer Krieg mit den tapferen, winzigen Niederlanden war ein heißes Thema. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Verbrechergangs begeisterten Amerikas Fans in aller Welt seit jeher. Niederländische Journalisten bekamen keine Einreiseerlaubnis in die USA – die Franzosen und Deutschen hingegen waren überall, vor allem aber in Louisiana. Die Briten besaßen die Freundlichkeit, darauf aufmerksam zu machen, dass die Franzosen insgeheim Hueys Regulatorengangs bewaffneten.

Die prestigegeilen Hitzköpfe der Regulatoren waren hocherfreut über die weltweite Berichterstattung. Für junge Regulatorenrowdies gingen Ruf und Ansehen über alles, denn ansonsten besaßen sie nur wenig. Die militärische Krise unterminierte den eigenartigen Unterbau der Reputationsökonomie der Regulatoren. Gewaltbereite Hitzköpfe erlebten aufgrund ihrer gewagten Attacken gegen die Moderatoren einen jähen Aufstieg.

Oscars Einschätzung nach waren die Moderatoren ein wesentlich klügerer und leichter zu steuernder Haufen. Ihre Netzwerke waren besser aufgebaut und organisiert; die Moderatoren waren cooler, weniger sichtbar, weit weniger konfrontativ. Gleichwohl war nicht viel nötig, damit sie gewalttätig wurden.

Am vierten Tage nach dem Absenden des Memorandums erhielt Oscar eine knappe Nachricht vom Präsidenten. Two Feathers teilte ihm in wenigen Zeilen mit, dass er Oscars Memorandum gelesen und verstanden habe. Oscar erhielt Anweisung, mit niemandem über das Thema zu sprechen.

Achtundvierzig Stunden verstrichen, dann wurde der Skandal öffentlich. Ein Hubschraubergeschwader war des Nachts nach Louisiana eingeflogen und hatte sich in einer obskuren Sumpfsiedlung gesammelt. Zwei Helikopter stießen prompt zusammen und stürzten ab, wobei die Häuser der schlafenden Bewohner zerstört wurden und unschuldige Frauen und Kinder ums Leben kamen. Eine unbestimmte Anzahl Einheimischer war empörenderweise von den entführungsgeilen Unionstruppen verschleppt worden. Vier Unionssoldaten waren bei dem Absturz ums Leben gekommen. Ihre Leichen wurden vor Hueys europäischen Kameras zur Schau gestellt, die schmissigen schwarzen Fliegermonturen kopflastig vor veralteter Cyberausrüstung.

Diese bizarre Darstellung behielt weitere achtundvierzig Stunden lang Gültigkeit und gab Anlass zu allerlei falschen Schlussfolgerungen. Offiziell reagierte die Regierung nicht. Sie verweigerte einfach jeden Kommentar zu dem Thema, so als wären die demagogischen Ausfälle des Gouverneurs von Louisiana zu lächerlich, um dazu Stellung zu nehmen. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich stattdessen auf die US-Navy, deren Atlantikarmada, einhergehend mit einem archaischen Ritual flatternder Sternenbanner, mit Ziel Niederlande in See stach. Die tapfere alte Seestreitmacht schlingerte aus den halb unter Wasser stehenden militärischen Trockendocks aufs Meer hinaus. Alle Augen waren nun auf den Krieg gerichtet – oder jedenfalls hätten sie dies sein sollen.

Außerhalb Amerikas war es für jedermann, selbst für die stets misstrauischen Chinesen, offensichtlich, dass der Angriff auf die Niederlande eine absurde und lächerliche Geste war. In Europa war dies Thema amüsierter Pamphlete. Allein die Niederländer waren ernsthaft empört.

In Amerika aber war die Wirkung groß. Das Land befand sich im Krieg. Von der aufmunternden Aussicht, jemand anderem Schaden zuzufügen, aus der abgrundtiefen Lethargie geweckt, hatte der Kongress tatsächlich einen Krieg erklärt. Die Folge war augenblickliche tiefgreifende Einmütigkeit. Aufgrund des Kriegszustands ins Abseits geraten, versprachen die meisten Notstandsausschüsse, sich friedlich aufzulösen. Einige wenige trotzten dem Kongress und dem Präsidenten, ungeachtet des Risikos einer Festnahme. Währenddessen bildeten sich Antikriegsnetzwerke, die auch auf den Straßen demonstrierten. Es missfiel ihnen, dass um eines innenpolitischen Vorteils willen die Verfassung missbraucht und das Land entehrt wurde.

Weitere angespannte vierundzwanzig Stunden verstrichen. Dann beschuldigte die Administration den Gouverneur von Louisiana, mit illegalen Einwanderern ethisch bedenkliche medizinische Experimente anzustellen. Die Nachricht kam inmitten des allgemeinen Säbelrasselns heraus. Dies stellte eine schockierende Ablenkung dar. Aber der Inhalt war ernst – schlimm, sehr schlimm, unglaublich schlimm. Der Generalstabsarzt und der Gesundheitsminister wurden in die Öffentlichkeit gezerrt und mit grimmigen Blicken, medizinischen Beweisen und erschreckenden Schädeldiagrammen konfrontiert.

Der PR-Angriff gegen Huey war schlecht, geradezu amateurhaft und stillos durchgeführt. Gleichwohl war er tödlich. Huey hatte schon viele Skandale abgeschmettert, war ihnen ausgewichen, hatte den Schwarzen Peter weitergereicht, die Kritiker zum Schweigen gebracht oder sie zu Falschaussagen angestiftet. Dieser Skandal aber überschritt die Grenzen des Erlaubten. Hier ging es um namenlose, hilflose, entwurzelte Menschen, die man mit industriellen Methoden um den Verstand gebracht hatte. Den meisten Amerikanern ging dies zu nahe. Damit konnten sie nicht leben.

Als das Telefon klingelte, war Oscar ausnahmsweise auf alles gefasst.

»Sie kleines ARSCHLOCH!« kreischte Huey. »Sie elender Yankeeschnüffler! Diese Leute waren vollkommen glücklich! Das war das Paradies auf Erden! Und die Unionssoldaten kamen bei Nacht und Nebel und haben sie gekidnapped! Die haben sie bei lebendigem Leib verbrannt

»Guten Abend, Gouverneur! Ich nehme an, Sie haben sich die heutige Pressekonferenz der Regierung angeschaut.«

»Sie sind ERLEDIGT, Sie hochnäsiges Schwein! Ich werde dafür sorgen, dass Sie noch bedauern werden, jemals geklont worden zu sein! Ich habe diesen Leuten Versprechungen gemacht, sie standen unter meinem Schutz. Sie haben sie verraten! Ich weiß, dass Sie das waren. Geben Sie’s zu!«

»Gouverneur, selbstverständlich gebe ich das zu. Verhalten wir uns doch wie erwachsene Menschen. Das musste irgendwann herauskommen, von mir hing das nicht ab. Sie können nicht zwei Jahre lang Hirnexperimente an Hunderten von Menschen durchführen, ohne dass etwas durchsickert. Wissenschaftler tauschen sich mit anderen aus. Sogar Ihre Schoßhündchen. Sogar Südstaatenwissenschaftler ohne Rang und Namen, die in Salzgruben hausen und mit Fremden grässliche Dinge anstellen. Natürlich haben Ihre irren Privatforscher in den Salzgruben anderen Neurowissenschaftlern gegenüber etwas durchsickern lassen. Und natürlich habe auch ich Wind davon bekommen Und natürlich habe ich dem Präsidenten davon berichtet. Ich arbeite für den Präsidenten.« Er räusperte sich. »Wohlgemerkt, ich habe die heutige Präsentation nicht veranlasst. Andernfalls hätte es professioneller gewirkt.«

Er fragte sich, ob Huey diese gewagte Lüge wohl schlucken würde. Er hatte sich nach Kräften bemüht, sie plausibel klingen zu lassen. Er hatte dies in den Absicht getan, Fontenot, seinen wahren Informanten, zu schützen. Vielleicht würde das Täuschungsmanöver Erfolg haben. Auf jeden Fall würde es Huey und seine staatlich bezahlten Neuroquacksalber ablenken und irritieren.

»Sie glauben doch nicht etwa den rassistischen Quatsch, den man über meine Haitianer in die Welt gesetzt hat. Das sind keine Monster! Das sind einfach bloß besonders fromme Leute mit seltsamen Drogenpraktiken. Die nehmen Kugelfischgift zu sich, das ist alles.«

»Gouverneur, mir kommen gleich die Tränen. Halten Sie mich etwa für ein Kind? Haben Sie Angst, ich würde das Gespräch mitschneiden? Wenn Sie nicht ernsthaft mit mir reden wollen, können Sie ebenso gut auflegen.«

»Ach was«, knurrte Huey. »Wir beiden kennen uns schon zu lange. Mit Ihnen kann ich immer reden, Soapy.«

»Gut. Es freut mich, dass unsere frühere Vereinbarung nach wie vor gilt. Diesmal sollten wir versuchen, uns nicht gegenseitig in die Quere zu kommen.«

»Zumindest weiß ich, dass Sie Zugang zum Präsidenten haben. Der Hurensohn ruft mich nicht mal zurück! Mich – den dienstältesten Gouverneur Amerikas! Ich weiß Bescheid über diesen Mistkerl, ich bin ihm bei Gouverneurskonferenzen begegnet. Scheiße, ich habe ihm eine Menge Gefallen getan. Ich hab ihm alles beigebracht, was er über den Umgang mit den Prolos weiß. ›Moderatoren‹ – was, zum Teufel, soll das alles? Er bringt meine Leute um! Er entführt meine Leute. Sagen Sie dem Präsidenten, er hat den Falschen ans Kreuz genagelt. Ich werde mich mit den starken Tönen dieses Fliegengewichts nicht abfinden. Er hat achtzehn Prozent der Wählerstimmen bekommen! Sagen Sie ihm das! Sagen Sie ihm, dass Huey so etwas nie vergisst.«

»Gouverneur, es wäre mir eine Freude, Ihre Überlegungen dem Präsidenten mitzuteilen, aber dürfte ich zunächst einen vernünftigen Vorschlag machen? Halten Sie den Mund. Sie sind am Ende. Der Präsident hat Sie in die Enge getrieben. Was Sie mit den Haitianern angestellt haben, war unverantwortlich! Sie haben sich in der Öffentlichkeit in die eigenen Füße geschossen.«

»Hätte ich sie etwa auf ihrer untergehenden Insel sitzen und sterben lassen sollen?«

»Ja, genau das hätten Sie tun sollen. Sie in Ruhe lassen. Bloß deshalb, weil Sie ihnen das Leben gerettet haben, können Sie nicht über andere Menschen verfügen. Sie wollen das menschliche Bewusstsein verändern, indem Sie unwissenden Versuchspersonen seltsame Drogen verabreichen? Gehen Sie zurück in die sechziger Jahre und treten Sie der CIA bei! Sie sind kein Gott, Huey! Sie sind bloß ein beschissener Gouverneur! Sie sind zu weit gegangen, viel zu weit! Und es wird Ihnen nicht gelingen, sich da rauszuwinden, weil Sie nämlich überall Ihre Fingerabdrücke – Ihre Gehirnabdrücke – hinterlassen haben!«

Huey lachte. »Das werden wir ja sehen.«

»Als nächstes wird man von Ihnen verlangen, dass Sie sich einer PET-Untersuchung unterziehen, Huey. Dann wird man synchronisierte Wellen chemischer Gradienten feststellen, veränderliche elektrische Felder im Corpus Callosum und all den anderen langweiligen Hirnscheiß, den von allen Politikern weltweit allein wir beide richtig aussprechen können! Man wird Sie als Monstrum outen. Als neuen Frankenstein! Sie werden von einem fackelschwingenden Mob gegrillt werden. Sie werden nicht nur politische Schwierigkeiten bekommen. Man wird sie töten.«

»Das weiß ich alles«, sagte Huey gelassen. »Sollen Sie nur.«

Oscar seufzte. »Etienne – darf ich Sie beim Vornamen nennen? Ich habe den Eindruck, dass wir einander in letzter Zeit viel besser verstehen… Etienne, bitte lassen Sie nicht zu, dass Sie umgebracht werden. Dazu kann es leicht kommen, und das ist die Sache nicht wert. Hören Sie mir zu. Ich fühle mit Ihnen. Ich habe ein elementares, dauerhaftes, persönliches und berufliches Interesse an Politikern, die zufällig Monster sind. Glauben Sie mir, jetzt kann es für Sie nicht mehr besser werden. Nur noch schlimmer und schlimmer.«

»Sie können sich doch denken, dass ich Sie deswegen in großem Stil outen werde, nicht wahr? ›kolumbianischer Klonfreak mit Nobelpreisträgerin in Liebesnest‹.«

»Etienne, ich bin nicht nur ein kolumbianischer Klonfreak. Ich bin auch ein professioneller Wahlkampfberater. Und jetzt möchte ich Ihnen einen sehr ernst gemeinten Rat geben. Geben Sie auf. Gehen Sie fort. Nehmen Sie sich ein bisschen Geld aus dem Schmiergeldfonds, nehmen Sie Ihre reizende Frau, wenn Sie denn wirklich mitkommen mag, und gehen Sie ins Exil. Gehen Sie in die selbstgewählte Verbannung. Verstehen Sie? Gehen Sie außer Landes. Sowas kommt vor. Das ist normal. Das ist ein legitimes politisches Manöver.«

»Ich laufe nicht weg. Sowas tut Huey nicht.«

»Natürlich ›tut Huey sowas‹, verdammt noch mal! Steigen Sie in ein hübsches französisches U-Boot ein – ich weiß, dass vor der Küste Dutzende herumlungern. Lassen Sie sich zu einer netten Villa bringen, auf Elba oder St. Helena oder wo auch immer. Nehmen Sie ein paar ergebene Bodyguards mit. Das ist machbar! Essen Sie gut, schreiben Sie Ihre Memoiren, lassen Sie sich von der Sonne bräunen, ruhen Sie sich aus und warten sie. Wenn sich die Lage hier in Amerika noch mehr verschlechtert… dann stehen Sie vielleicht eines Tages sogar wieder gut da. Das klingt verrückt, aber ich bin mir meines Urteils nicht mehr sicher. Vielleicht kommt es irgendwann ja sogar in Mode, ahnungslose Menschen vorsätzlich in schizoide Geisteszustände zu versetzen. Im Moment klingt das noch teuflisch. Lesen Sie morgen die Meinungsumfragen. Sie sind erledigt.«

»Kid, ich bin Huey. Sie sind erledigt. Ich kann Sie und Ihre Freundin, diese undankbare Schlampe, vernichten und Ihre ganze Forschungseinrichtung, die in Wahrheit meine Forschungseinrichtung ist und immer sein wird, noch dazu.«

»Das könnten Sie versuchen, Gouverneur, aber wozu Energie verschwenden? Es wäre im Moment sinnlos, uns zu vernichten. Dafür ist es zu spät. Ich hätte Ihnen eigentlich mehr Fingerspitzengefühl zugetraut.«

»Mein Sohn, Sie haben’s noch immer nicht kapiert. Dafür brauche ich kein ›Fingerspitzengefühl‹. Das erledige ich alles nebenbei – während ich mir den Kopf tätschle und den Bauch kratze.« Huey legte auf.


Jetzt, da die Kriegsfurien und noch andere, kleinere Furien mit stumpfen, symbolischen Zähnen auf dem psychischen Schlachtfeld Amerikas herumtobten, war politisches Chaos die Folge. Niemand hatte dies vom Präsidenten erwartet. Ein exzentrischer Milliardär und amerikanischer Ureinwohner – auf das von Identitätskrisen und der zersplitterten Politik geschüttelte Land hatte Two Feathers wie eine bunte Diashow gewirkt, wie ein Warum-nicht-Kandidat, dessen Prahlerei der Moral auf die Beine helfen mochte. Auch Oscar hatte ihm nicht viel zugetraut; als Gouverneur von Colorado hatte Two Feathers kaum Gelegenheit gehabt zu glänzen. Jetzt aber, da er fest im nationalen Sattel saß, erwies Two Feathers sich zunehmend als Phänomen. Offenbar war er einer jener Übergangspräsidenten, deren überlebensgroße Gestalten ihrer Zeit den Stempel aufdrückten und das Leben gefährlich und interessant machten.

Zu Hueys Pech bot die politische Landschaft Amerikas Platz für nur einen exzentrisch gekleideten, eisenfressenden, autoritären Gouverneur. Two Feathers hatte es bis ins Weiße Haus geschafft. Schlimmer noch, er sah in Huey eine untragbare Bedrohung, die ihm keine andere Wahl ließ. Er war entschlossen, Huey zu vernichten.

Der Präsident beschuldigte den Gouverneur der landesverräterischen Kollaboration mit ausländischen Mächten in Kriegszeiten. Dies stimmte sogar, wenngleich der Krieg mit der Niederlande bislang vor allem dazu geführt hatte, dass es in Amerika von neugierigen europäischen Touristen wimmelte. Die Europäer hatten schon lange keine Kriegserklärung mehr erlebt. Es war amüsant, mit einem anderen Land Krieg zu führen, zumal dann, wenn in diesem Land auf Flohmärkten körbeweise Abhörwanzen angeboten wurden. Auf einmal war jeder sein eigener Spion.

Als nächstes erhöhte der Präsident den Einsatz. Er verlangte die unverzügliche Rückgabe aller Waffen, die aus dem geplünderten Luftwaffenstützpunkt in Louisiana entwendet worden waren, und drohte mit nicht näher bezeichneten ernsten Vergeltungsmaßnahmen.

Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die gestohlenen Waffen nicht zurückgegeben wurden. Stattdessen beschuldigte der Gouverneur den Präsidenten, das Kriegsrecht einführen zu wollen und einen Staatsstreich zu planen.

Hueys Senatoren entfesselten im US-Senat einen Marathon-Verfahrenskrieg der Verschleppungstaktik. Der Präsident verlangte die Amtsenthebung zweier Senatoren aus Louisiana. Des weiteren kündigte er Ermittlungen gegen sämtliche Vertreter Louisianas an.

Huey verlangte vom Kongress, gegen den Präsidenten ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten, und rief zu einem Generalstreik der Antikriegsaktivisten auf, der das Land paralysieren sollte.

Die Drohung mit dem Generalstreik konterte der Präsident mit der einseitigen Gründung einer neuen Freiwilligenorganisation, des ›Zivilen Nachrichtendienstes für Landesverteidigung‹. Auf dem Papier machte diese Organisation einen sehr merkwürdigen Eindruck – ein nationaler Debattierclub so genannter ›Bürgeraktivisten‹, die allein dem Präsidenten verpflichtet waren. Der ZNL hatte kein Budget, und den Vorsitz führte ein älterer, hochdekorierter Kriegsheld, der zufällig in Colorado lebte. Zufällig war er auch mit dem Präsidenten befreundet. Zufällig handelte es sich um einen hochrangigen Moderator.

Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass der ZNL mit den Moderatoren identisch war. Der ZNL war eine riesige Prologang, welche die unmittelbare Unterstützung des Präsidenten genoss. Damit war der Rubikon überschritten. Damit wurde offensichtlich, dass der Gouverneur von Colorado jahrelang seine eigene Prolostreitmacht gefördert hatte. Huey hatte die Regulatoren als geheime Eingreiftruppe benutzt, der Präsident aber brachte seine Privatmafia ganz offen ins Spiel und schwang sie wie eine Keule. Der Präsident reagierte vielleicht ein wenig spät, aber er besaß einen großen Vorteil. Er war der Präsident.

Jetzt wirkte der Präsident zum ersten Mal wahrhaft mächtig, sogar gefährlich. Dies war eine klassische politische Koalition: dergleichen hatte auch im mittelalterlichen Frankreich funktioniert. Der lange Zeit vergessene Unterbau hatte sich mit der ehemals schwachen Spitze verbündet, um dem arroganten und gespalteten Mittelbau den Marsch zu blasen.

Als Erstes setzte der Präsident seine halb legalen Streitkräfte gegen die mittlerweile illegalen Notstandsausschüsse ein. Dies war ein brillanter Schachzug, denn die Notstandsausschüsse wurden allgemein verabscheut und waren noch mehr gefürchtet als die Prolos. Außerdem hatten die Notstandsausschüsse ihre rechtliche Grundlage verloren und waren mit ihrem Latein bereits am Ende. Eine seit neuestem illegale Machtgruppierung mit einer erst kürzlich legalisierten Streitmacht anzugreifen, das traf bei den Amerikanern weitgehend auf Zustimmung. Dem Manöver war eine hübsche unterschwellige Symmetrie zu eigen. In den Meinungsumfragen machte der Präsident einen großen Sprung nach vorn. Er brachte greifbare Ergebnisse zustande, nachdem jahrelang überhaupt nichts passiert war.

Der neu gebildete ZNL bediente sich seinerseits einiger eindrucksvoller neuer Taktiken. Es mangelte ihm an der rechtlichen Grundlage, irgend jemanden festzunehmen, daher setzte er Angehörige der Notstandsausschüsse mit so genannten Kletten unter Druck. Diese mit Armbinden ausgestatteten Quästoren verfolgten die betreffenden Personen vierundzwanzig Stunden täglich. Für Prolos war dies leicht zu bewerkstelligen. Bei der ›Klettentaktik‹ handelte es sich hauptsächlich um geheimdienstliches Ausspähen, um ein Beschatten; es geschah jedoch nicht im Geheimen. Es geschah in aller Öffentlichkeit und war für die Betroffenen wie jede Verfolgung durch Paparazzi äußerst lästig.

Die Prolos fühlten sich bei dieser Tätigkeit ganz in ihrem Element. Sie waren immer schon quasi wie ein Geheimdienst organisiert gewesen – kleine, verteilte, geheime Netzwerke, ein Leben am Rande der Gesellschaft, auf der Basis von Passwörtern und hartnäckigem Schnorren. Als nationaler Schlägertrupp aber, der seine Befehle von oben bekam, verwandelten sich die Prolonetzwerke auf einmal in eine feste, kristalline Substanz. Für die Gegner des Präsidenten wurden sie zu einem menschlichen Gefängnis, in dem sie ständiger Überwachung ausgesetzt waren.

Zumindest schien es so. Es war noch zu früh, um zu entscheiden, ob der ZNL des Präsidenten dauerhaft die Rolle einer neuen Modellarmee einnehmen konnte. Die schiere Drohung, ihn einzusetzen, erschütterte das System jedoch bis in seine Grundfesten. Eine neue Ära brach an. Amerikas Notstand war offenbar endgültig beendet. Es herrschte Krieg.

Oscar verfolgte diese Entwicklungen mit professioneller Aufmerksamkeit und bemühte sich, auf der Welle mitzuschwimmen. Er ließ Greta den Notstand im Labor für beendet erklären. Es herrschte kein Notstand mehr. Von nun an herrschte Kriegszustand.

»Warum tust du uns das an?« fragte Greta während einer der vielen anstrengenden Nachtsitzungen. »Welchen Unterschied macht das schon aus?«

»Einen gewaltigen Unterschied.«

»Das ist doch Haarspalterei! Hier sitzen immer noch dieselben Leute. Ich bin immer noch Direktorin, Gott steh mir bei. Und der Notstandsausschuss ist nach wie vor die einzige Institution, die mit diesem Chaos fertig wird.«

»Ab sofort ist das der Kriegsausschuss.«

»Das ist rein symbolisch!«

»Nein, ist es nicht.« Oscar seufzte. »Ich erklär’s dir, es ist ganz einfach. Der Präsident hat in einer Krise die Macht übernommen. Er hat die Verfassung umgangen, er hat den Kongress ausgehebelt, er hat die Notstandsausschüsse neutralisiert. Dies hat er dadurch bewirkt, dass er große Gruppen gesellschaftlicher Außenseiter rekrutiert hat, die ihre neue Legitimität ausschließlich ihm verdanken und ihm persönlich verpflichtet sind.«

»Ja, Oscar, das wissen wir bereits. Wir sind ja nicht blind. Aber ich bedaure sehr, was der Präsident getan hat. Ich begreife nicht, weshalb wir sein radikales, brutales Vorgehen imitieren sollen.«

»Greta, der Präsident imitiert uns. Das Gleiche haben wir hier getan. Der Präsident handelt deshalb so, weil wir beide damit durchgekommen sind! Du bist deswegen sehr populär, du bist berühmt. Die Leute finden es faszinierend, mit Prologangs Macht zu erlangen und die Halunken rauszuschmeißen. Das ist ein raffinierter Schachzug.«

Greta wirkte sehr bedrückt. »Ach… O mein Gott.«

»Ich gebe zu, das ist keine gute Nachricht für Amerikas Demokratie. Das ist eine schlechte Nachricht. Eine furchtbare, vielleicht sogar verhängnisvolle Nachricht. Für das Labor allerdings ist sie wundervoll. Sie bedeutet, die Wahrscheinlichkeit, dass wir wegen unserer Vergehen verhaftet oder angeklagt werden, sinkt rapide. Verstehst du? Wir werden ungestraft damit durchkommen. Damit hat uns unser oberster Schutzherr und Gönner – der Präsident – ein wundervolles Geschenk gemacht. Wir können ungehindert schalten und walten! Von nun an müssen wir nur jedesmal das Hemd wechseln, wenn der Präsident das seine wechselt. Von nun an tragen wir Tarnfarben. Wir sind keine verrückten Radikalen mehr, die ein staatliches Labor bestreiken. Wir sind loyale Bürger, die sich aufmerksam an dem großartigen Experiment des Präsidenten beteiligen, eine neue soziale Ordnung zu etablieren. Und deshalb ist das ab sofort der Kriegsausschuss.«

»Aber das geht nicht. Wir führen keinen Krieg.«

»O doch, das tun wir.«

»Nein, tun wir nicht.«

»Wart’s ab.«


Zwei Tage später entsandte der Präsident Unionstruppen nach Buna. Ungeachtet einer tief verwurzelten Abneigung gegen Einsätze im Landesinneren befolgte die US-Armee endlich seine Befehle. Bedauerlicherweise handelte es sich um ein auf die Bewältigung kleinerer Konflikte spezialisiertes Infanteriebataillon.

Zu einem historischen Zeitpunkt, der das Ende der bewaffneten Konflikte markierte, wusste das amerikanische Militär, dass es am Anbruch eines Zeitalters stand, da die Feder wahrhaft mächtiger wäre als das Schwert. Das Schwert war in einer Zeit, da es keine Schlachtfelder mehr gab und ein stehendes Heer von billigem, unbemanntem Gerät aufgerieben werden konnte, nicht mehr viel nütze.

Daher hatte das US-Militär die Bedeutung der Schwerter herab- und die ihrer Federn heraufgestuft. Das Siebenundsechzigste Bataillon für Infokriegsführung und Soziale Schlichtung bestand vor allem aus Sozialarbeitern. Sie trugen schmucke weiße Uniformen, verfügten über besondere sprachliche Fähigkeiten und befassten sich vor allem mit Katastrophenhilfe, Konfliktberatung, leichter Polizeiarbeit und Erster Hilfe. Die Hälfte davon waren Frauen; sie waren nicht mit Handfeuerwaffen ausgerüstet, und obendrein hatte man sie ohne jede finanzielle Ausstattung in Marsch gesetzt. Vielmehr warteten sie bereits seit vier Monaten auf ihren letzten Sold. Um trotzdem zurechtzukommen, waren sie gezwungen gewesen, ihre gepanzerten Transportfahrzeuge zu verkaufen.

Das Labor war nun wirklich überfüllt. Die Unsitte, die seltenen Tiere zu jagen und zu verzehren, griff immer mehr um sich. Mit den fünfhundert schnorrenden Psychotherapie-Soldaten mitsamt ihrem Mediengefolge war das bereits arg belastete Labor endgültig überfordert. Die Kuppel beschlug sich allmählich von der Atemfeuchtigkeit ihrer Bewohner.

Um die Neuankömmlinge sinnvoll zu beschäftigen, setzte Oscar das Infokriegsbataillon zur psychologischen Belagerung der Huey-Anhänger ein, die noch immer hartnäckig streikten und sich im Spin-off-Gebäude eingeigelt hatten. Die Soldaten kamen seiner Bitte bereitwillig nach. Allerdings ähnelte das Labor nun allmählich einer riesigen U-Bahnhalle.

Es lag nahe, weitere Unterkünfte zu bauen. Die Moderatoren, denen das enge Zusammenleben mit den Soldaten Unbehagen bereitete, errichteten Zelte auf dem unbebauten Laboratoriumsgelände außerhalb der Kuppel. Oscar hätte die Kuppel gern erweitert. Bambakias’ Katastrophenpläne enthielten einige erstaunliche Anregungen dazu. Die Materialien waren verfügbar. Arbeitskräfte gab es im Überfluss. Auch der nötige Wille war vorhanden.

Doch es gab kein Geld. Das Labor lag mitten in der Stadt Buna, deren Grund und Boden in Privatbesitz war. Die Stadt war dem Labor noch immer freundlich gesonnen, war sogar stolz auf die Publizität, die sie neuerdings genoss. Das Labor konnte die Stadt jedoch nicht mit Waffengewalt zu etwas zwingen. Außerdem war der verfügbare Mietraum in Buna bereits zu stark überhöhten Preisen an europäische und asiatische Berichterstatter, Bürgerrechtsorganisationen und Friedensgruppen vergeben worden.

Somit waren ihnen die Hände gebunden. Es lief immer aufs Geld hinaus. Und das fehlte ihnen. Sie hatten bewiesen, dass man Wissenschaft eine Zeit lang mittels bloßen Charismas betreiben konnte, ein Leben, gespeist vom Sinn fürs Wunderbare, wie diese endlosen Fernsehsendungen, bei denen Spenden eingesammelt werden. Aber die Menschen blieben Menschen; das Charisma ging ihnen aus, der Sinn fürs Wunderbare fraß seine Kinder. Das Bedürfnis nach Geld war grundlegender Natur und stets vorhanden.

Die Stimmung wurde gereizt. Trotz der offenkundigen Harmlosigkeit der Unionssoldaten fasste Huey ihre Anwesenheit an der Grenze von Louisiana folgerichtig als Provokation auf. Er löste ein Sperrfeuer hysterischer Propaganda aus, einschließlich der bizarren und belegten Behauptung, der Präsident sei seit langem ein niederländischer Spion. Als Gouverneur und als Holzgroßhändler hatte der Präsident in glücklicheren Zeiten mehrfach mit den Niederländern zu tun gehabt. Hueys Oppositionsrechercheure hatten dazu ausführliche Dossiers angelegt.

Dies alles blieb wirkungslos. Nur ein Schizo mit gespaltenem Bewusstsein konnte ernsthaft glauben, der Präsident, der soeben Holland den Krieg erklärt hatte, sei ein niederländischer Agent. Während die US-Marine nach Amsterdam unterwegs war. Während die Niederländer laut um Hilfe riefen und keine bekamen.

Diese Unterstellung führte nicht nur zu nichts, sie überzeugte auch viele ehemalige Unentschiedene davon, dass Huey den Verstand verloren hatte. Huey war gefährlich und musste um jeden Preis aus der Öffentlichkeit entfernt werden. Gleichwohl hielt Huey durch, drillte in aller Öffentlichkeit seine bundesstaatliche Miliz, führte Säuberungen bei der schwankend gewordenen Polizei durch und schwor allen Heuchlern und Lügnern der Welt Rache.

Um Oscars und Gretas Beziehung war es schlecht bestellt. Sie fingen an, sich in der Öffentlichkeit ernsthaft zu streiten. Sie hatten sich auch früher schon gekabbelt und kleine Meinungsverschiedenheiten gehabt; doch nach so vielen Stunden, Tagen und Wochen anstrengender Verwaltungsarbeit trugen sie in der Öffentlichkeit heftige Streitereien über die Zukunft des Labors und die Bedeutung ihrer Arbeit aus.

Das Ende des Notstands und der Beginn des Kriegszustands machten eine andere Medienumgebung nötig. Oscar schaltete die Lautsprecher ab, welche die Diskussionen des Notstandsausschusses übertragen hatten. In Kriegszeiten ging es um Geheimhaltung, um Blut, Schweiß und Tränen. Es war an der Zeit, damit aufzuhören, die Laborbewohner durch Propaganda zu beeinflussen. Sie wussten bereits, wo sie standen und was auf dem Spiel stand. Jetzt galt es zu verteidigen, was sie aufgebaut hatten; sie mussten mit Schaufeln im Graben stehen, sie mussten Marschlieder singen.

Gleichwohl konnten sie nichts von alledem tun. Sie konnten bloß warten. Sie hatten keinen Einfluss auf den Gang der Dinge. Sie waren nicht mehr Herr über ihr Geschick, die Initiative war ihnen entglitten. Die eigentliche Schlacht wurde in Washington geschlagen, in Den Haag, in einer Flottille von Marineschiffen, die etwa so langsam, wie dies technisch überhaupt möglich war, den stürmischen Atlantik überquerten. Das Land befand sich im Krieg.

Erst als sie sich mit ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit abgefunden hatten, spitzte sich die Lage zu. Der Anführer des Zivilen Nachrichtendienstes für Landesverteidigung traf in Buna ein. Es handelte sich um einen Moderatoren aus Colorado namens Field Marshall Munchy Menlo. Munchy Menlo hieß eigentlich Gutierriz; in seiner fernen Jugend war er an ein paar hässlichen Einsätzen gegen Aufständische in Kolumbien und Peru beteiligt gewesen. Munchy Menlo war im bürgerlichen Leben aus dem Tritt geraten; er hatte ein Alkoholproblem gehabt, er war mit einem Lebensmittelladen bankrott gegangen. Schließlich war er aus dem Raster gefallen und ins Lager der Moderatoren übergewechselt, wo es ihm ausgesprochen gut ergangen war.

Field Marshall Menlo – er legte Wert darauf, mit seinem ›Straßennamen‹ angeredet zu werden – war geprägt von einer militärischen Ordnung, wie Oscar sie noch nicht kennen gelernt hatte. Er war geradeheraus, hatte einen Bart und war zurückhaltend und bescheiden in seinem Auftreten. Seine Ausstrahlung war typisch für Menschen, die eine Menge Leute umgebracht hatten.

Bei Kriegsausbruch war Oscar befördert worden; nun war er reguläres Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates. Er besaß eine eigene Ausweiskarte mit Hologramm und einen NSR-Briefkopf, der ihn als ›Wissenschaftlichen Berater‹ auswies. Oscar war der natürliche Verbindungsmann für Field Marshal Menlo. Als dieser aus Washington eintraf – auf dem Motorrad, ohne Eskorte –, stellte Oscar ihn dem Kriegsausschuss vor.

Menlo erklärte, er sei gekommen, um sich in aller Stille einen Überblick zu verschaffen. Der neu geschaffene ZNL erwäge einen militärischen Vorstoß nach Louisiana hinein.

Der Kriegsausschuss des Labors war vollzählig erschienen, um Menlo anzuhören. Fünfzehn Personen waren anwesend, darunter Greta, Oscar, Kevin, Albert Gazzaniga, sämtliche Vertreter der Laborabteilungen sowie sechs Moderatorenhäuptlinge. Die Moderatoren nahmen die Neuigkeit freudig auf. Endlich würden sie den Regulatoren mit Rückendeckung seitens der Regierung die blutige Abreibung verpassen, die sie verdient hatten! Alle anderen waren natürlich entsetzt.

Oscar ergriff das Wort. »Field Marshal, wenngleich ich mir der Vorzüge eines Militärschlages gegen Louisiana – eines Überraschungsangriffs… eines begrenzten, chirurgischen Angriffs – bewusst bin, so sehe ich doch nicht ein, welche Vorteile uns ein Angriff auf unsere amerikanischen Mitbürger einbringen sollte. Huey sitzt nach wie vor an den Hebeln der Macht, aber er wird schwächer. Seine Glaubwürdigkeit ist erschüttert. Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis er von Dissidenten aus dem Amt gejagt wird.«

»Hmmm«, machte der Field Marshal.

Gazzaniga zuckte zusammen. »Ich stelle mir nur ungern vor, was die Medien daraus machen würden, wenn amerikanische Soldaten amerikanisches Blut vergießen. Das wäre furchtbar. Im Grunde würde das Bürgerkrieg bedeuten.«

»Wir würden wie Barbaren dastehen«, sagte Greta.

»Ein Wirtschaftsembargo. Moralischer Druck. Netzattacken, Infokrieg. So handhabt man derlei Probleme«, sagte Gazzaniga entschieden.

»Ich verstehe«, meinte der Field Marshal. »Nun, dann möchte ich noch auf eine andere Kleinigkeit zu sprechen kommen. Der Präsident ist sehr besorgt wegen der vom Luftwaffenstützpunkt entwendeten Waffen.«

Alle nickten. »Die sind schon eine ganze Weile verschwunden«, meinte Oscar. »Das ist wohl kaum ein drängendes Thema.«

»Es ist weithin unbekannt – diese Information ist natürlich vertraulich zu behandeln –, dass sich in dem Stützpunkt spezielle Kurzstrecken-Boden-Boden-Raketen befanden.«

»Raketen«, wiederholte Greta nachdenklich.

»Die Ergebnisse der Luftaufklärung deuten darauf hin, dass die Raketen samt Abschussvorrichtungen im Sabine River Valley versteckt sind. Nachforschungen seitens einiger tüchtiger Spione haben ergeben, dass die Raketen mit Aerosol-Sprengköpfen ausgerüstet wurden.«

»Giftgas?« fragte Gazzaniga.

»Die Raketen sind für den Gaseinsatz bestimmt«, erklärte Menlo. »Bestückt mit nichttödlichen Aerosolen zur Bekämpfung von Aufständen. Zum Glück verfügen sie über eine Reichweite von lediglich fünfzig Meilen.«

»Ich verstehe«, meinte Oscar.

»Tja«, sagte Gazzaniga, »da hätten wir also nichttödliche Raketen mit kurzer Reichweite, richtig? Und was weiter?«

»Dieses Labor ist die einzige Regierungseinrichtung im Umkreis von fünfzig Meilen um die Raketen.«

Allgemeines Schweigen.

»Sagen Sie mir, wie die Raketen funktionieren«, meinte Greta schließlich.

»Die sind raffiniert gebaut«, antwortete Menlo. »Stealth-Technik, größtenteils aus Plastik, und sie verdampfen in der Luft und setzen dabei lautlos das Aerosol frei. Geladen sind sie mit Mikrotröpfchen mit Gelatinehülle. Das psychotrope Reagenz befindet sich innerhalb der Tröpfchen, die nur in menschlichen Lungen schmelzen. Nach einigen Tagen an der frischen Luft schlägt sich der Mikronebel nieder, und die Ladung wird träge. Aber jeder, der sich in diesem Gebiet aufhält, atmet die Tröpfchen ein.«

»Dann wäre das also mit einer kurzzeitig wirksamen Inhalatationsimpfung zu vergleichen«, sagte Oscar.

»Ja, genau. So kann man es ausdrücken. Ich glaube, Sie haben mich verstanden.«

»Welche Wahnsinnigen bauen denn so etwas?« fragte Greta aufgebracht.

»Nun, das US-Militär beschäftigt zahlreiche Spezialisten für biologische Kriegsführung. Bevor wir den Wirtschaftskrieg verloren, haben eine ganze Reihe von ihnen in dem Stützpunkt gearbeitet.« Field Marshal Menlo seufzte. »Meines Wissens kam diese Technik niemals zum Einsatz.«

»Er wird uns mit diesen Dingern beschießen«, erklärte Oscar.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Er hat diese Biokriegstechniker eingestellt. Er muss sie schon vor Jahren billig eingekauft haben. Er hat sie irgendwo in eine Salzgrube gesteckt. Psychotropes Gas – das hat er auch gegen den Luftwaffenstützpunkt eingesetzt. Und mittels Aerosolimpfung hat er die Moskitos ausgerottet. Das passt alles zusammen. Das ist seine Vorgehensweise.«

»Wir schließen uns dieser Einschätzung an«, sagte Menlo. »Der Präsident hat ihn aufgefordert, die Gaswaffen zurückzugeben. Keine Reaktion. Also beabsichtigt er wohl auch, sie einzusetzen.«

»Was ist das für eine Substanz in den Mikrotröpfchen?« fragte Greta.

»Wahrscheinlich psychotroper Natur. Sollte man damit Buna beschießen, würde die ganze Bevölkerung für achtundvierzig Stunden durchdrehen. Allerdings könnte das Aerosol auch ganz andere Substanzen enthalten. Alles mögliche im Grunde.«

»Und gegenwärtig zielt eine ganze Batterie dieser Raketen auf uns?«

Menlo nickte. »Bloß eine Batterie. Zwanzig Sprengköpfe.«

»Ich frage mich«, sagte Gazzaniga, »ob nicht ein begrenzter, chirurgischer Militärschlag… durchgeführt nicht von offiziellen US-Truppen, sondern beispielsweise von tüchtigen Kriegsveteranen, die als irreguläre Moderatoren verkleidet sind…«

»Dann sähe die Sache ganz anders aus«, sagte ein Abteilungsleiter.

»Genau.«

»Das würde die Krise entschärfen. Die allgemeine Sicherheit erhöhen.«

»Das habe ich mir auch gedacht.«

»Wann können Sie angreifen, Marshal Menlo?«

»In zweiundsiebzig Stunden«, antwortete der Field Marshal.

Huey aber startete seine Raketen bereits achtundvierzig Stunden später.


Die erste Rakete verfehlte die Kuppel und traf den Westrand von Buna. Ein Stadtbezirk von der vierfachen Größe eines Football-Feldes wurde mit einer schwarzen Substanz verseucht. Die Ankunft der Bio-Rakete und die Explosion verliefen völlig lautlos. Erst um drei Uhr früh stellte ein im Aufbruch begriffenes deutsches Filmteam, das in einer Pension untergekommen war, fest, dass Straßen, Dächer und Fenster mit einer feinpudrigen schwarzen Substanz bedeckt waren.

Dies löste eine allgemeine Panik aus. Über die in Washington gefangen gehaltenen Haitianer war in letzter Zeit ausführlich berichtet worden. Auch den Gasangriff auf die Luftwaffenbasis hatte man nicht vergessen. Die Neuigkeiten aus dem Kriegsausschuss des Labors waren natürlich augenblicklich in die Öffentlichkeit durchgesickert – nicht offiziell, sondern als Gerücht. Mit den schwarzen Manifestationen ihrer tiefsten Ängste konfrontiert, verloren die Einwohner von Buna den Verstand. Von Juckreiz, Hautbrennen, Ohnmachtsanfällen und Krämpfen wurde berichtet. Viele der Betroffenen behaupteten, an Bewusstseinsspaltung zu leiden, das zweite Gesicht zu haben oder gar telepathische Fähigkeiten zu besitzen.

Eine mutige, mit Atemmasken ausgerüstete Gruppe von Laborbewohnern eilte an den Ort des Gasangriffs. Sie nahmen Proben und kehrten anschließend zurück, wobei sie sich nur mit Mühe durch die panische Menschenmenge, die sich im luftdichten Labor in Sicherheit bringen wollte, hindurchzuzwängen vermochten. An den Toren kam es zu hässlichen Szenen; Familien wurden im Gedränge getrennt, Frauen hielten ihre Kinder hoch und bettelten um Gnade und Einlass.

Um zehn Uhr morgens lag das Untersuchungsergebnis vor. Bei der schwarzen Substanz handelte es sich um Farbe, um ein ungiftiges, schwer entfernbares, ätzendes Polymer, eingeschlossen in Gelatinekügelchen. Von einem psychotropen Reagenz konnte nicht die Rede sein. Die Panik der Stadtbevölkerung war auf Massenhysterie zurückzuführen gewesen. Bei dem Projektil hatte es sich lediglich um einen mit Farbe gefüllten Versuchsballon gehandelt, um einen Warnschuss voll düsteren Humors.

Der Vorstoß des ZNL über die Grenze von Louisiana wurde abgeblasen, denn die Raketenwerfer waren verlegt worden. Schlimmer noch, auf einmal waren zwanzig neue Raketenwerferattrappen aufgetaucht; auf Farmen, in kleinen Städten, auf Shrimplaster montiert, über ganz Louisiana verteilt.

Obwohl die wissenschaftliche Analyse ergeben hatte, dass der Sprengkopf Farbe enthalten hatte, weigerte sich ein großer Teil der Bevölkerung, dies zu glauben. Unionsregierung wie bundesstaatliche Behörden verkündeten gleichlautend, es handele sich um Farbe; auch der Stadtrat bezog Stellung, doch die Leute wollten sich einfach nicht damit abfinden. Die Menschen waren paranoid und verängstigt – viele aber hatte der Vorfall auch in eine eigenartige Hochstimmung versetzt.

In den folgenden Tagen entwickelte sich ein florierender Graumarkt für Proben der Farbe, die sich in Windeseile übers ganze Land verteilten und den Leichtgläubigen in kleinen Plastikdöschen verkauft wurden. Hunderte von Menschen begaben sich spontan nach Buna, wo sie die Farbe sorgfältig zusammenkratzten und durch die Nase einsogen. Bald wurden der Substanz Wunderheilungen zugeschrieben. Die Menschen schrieben dem Gouverneur von Louisiana offene Briefe und flehten ihn an, ihre Städte mit dem ›Befreiungsgas‹ zu bombardieren.

Huey stritt ab, von Raketen in Louisiana etwas zu wissen. Er leugnete kategorisch, etwas mit der schwarzen Farbe zu tun zu haben. Er machte sich über die Mätzchen der verängstigten Bevölkerung lustig – wozu nicht viel nötig war – und meinte, dies beweise, dass die Regierung die Lage nicht mehr unter Kontrolle habe. Die beiden Senatoren Hueys waren beide aus dem Senat, der so zielstrebig vorging wie seit Jahren nicht mehr, ausgeschlossen worden; dies versetzte Huey jedoch in die Lage, bezüglich Washington seine Hände in Unschuld zu waschen.

Hueys Stimmung verdüsterte sich nach dem Raketenangriff erheblich. Einer seiner Gefolgsleute platzierte eine mit Sprengstoff gefüllte Aktentasche im Parlamentsgebäude. Huey brach sich bei der Explosion den Arm, zwei der Senatoren wurden getötet. Dies war bei weitem nicht der erste Anschlag auf Hueys Leben. Keiner aber hatte sein Ziel so knapp verfehlt.

Natürlich wurde der Präsident verdächtigt, hinter dem Anschlag zu stecken. Oscar bezweifelte sehr, dass sich der Präsident zu einer solch archaischen und brutalen Vorgehensweise herabgelassen hätte. Tatsächlich stärkte der Mordanschlag Hueys Position – und dies ließ er die Louisianer und vor allem die Regulatorenhierarchie spüren. Die Louisianer hatten natürlich das größte Interesse daran, ihren Anführer, der in Verfolgung seines Ehrgeizes den Bundesstaat in eine hoffnungslose Auseinandersetzung mit der ganzen Union verwickelt hatte, zu töten. Zumal die Regulatoren – Hueys liebste Sündenböcke – blickten düster in die Zukunft, da sie mit der Rache der Unionsregierung zu rechnen hatten. Die Regulatoren außerhalb Louisianas – und davon gab es viele – spürten, woher der Wind wehte, und flüchteten sich scharenweise in die Quasi-Legitimität des ZNL des Präsidenten. Huey hatte eine Menge für die Prolos getan, er hatte sie zu einem Machtfaktor gemacht, mit dem man rechnen musste – doch selbst die Prolos verstanden die Gesetze der Machtpolitik. Weshalb sollten sie zusammen mit dem Gouverneur untergehen, wenn sie mit dem Präsidenten zu neuen Höhen aufsteigen konnten?

Der Raketenangriff hatte eine bedeutsame und dauerhafte Folgewirkung. Er rüttelte das Laboratorium aus seiner eingebildeten Hilflosigkeit wach. Mittlerweile war es für jedermann offensichtlich, dass Krieg herrschte. Die schwarze Farbe war der erste Schuss gewesen, und die Wahrscheinlichkeit war groß, dass Buna tatsächlich mit Giftgas angegriffen werden würde. Die Aussicht, inmitten von durchgedrehten Nachbarn einen unheimlichen schwarzen Nebel einzuatmen, hatte zahlreichen Leuten auf wundersame Weise die Augen geöffnet.

Das Labor war luftdicht. Gas vermochte ihm nichts auszumachen; doch es konnte nicht alle aufnehmen.

Die naheliegende Lösung bestand darin, einen architektonischen Ausweg zu suchen. Man musste den Schutz auf die ganze Stadt ausweiten.

Sogleich wurden Baupläne entstaubt. Geld und Besitzrechte stellten auf einmal kein Problem mehr dar. Einheimische, Wanderarbeiter, Soldaten, Wissenschaftler, Moderatoren, Männer, Frauen und Kinder, alle wurden hinzugezogen.

Alle diese Gruppierungen hatten eine eigene Vorstellung davon, wie man das Problem angehen sollte. Die Moderatorenzigeuner verstanden etwas von Zirkus- und Indianerzelten. Die Einwohner von Buna kannten sich mit Bio-Gewächshäusern aus. Die für Katastrophenhilfe ausgebildeten Soldaten waren Experten für Sandsäcke, Nissenhütten, Suppenküchen, Latrinen und die Gewinnung von Trinkwasser. Die Techniker des Labors wiederum steigerten sich über Alcott Bambakias’ Plänen in eine seltsame Raserei hinein. Die Wissenschaftler nahmen die Sicherheit, welche ihnen die gepanzerte Kuppel bot, seit jeher als selbstverständlich hin, wären aber niemals auf den Gedanken gekommen, dass sich die harte Substanz ihres Behältnisses durch billige, smarte und grenzenlos dehnbare Netzwerke ersetzen ließe. Dies war luftdichte Eintagsarchitektur: Strukturen wie taubenetzte Spinnweben: smart, hypersensitiv, stets rechnend, stets auf dem Sprung. Offenbar gab es für die Größe keinerlei Begrenzung. Die Kuppel würde aus einer Art lebender Flüssigkeit bestehen, aus einer Art dezentraler, membranenartiger Amöbe.

Der vernünftige Weg wäre gewesen, die Alternativen sorgsam abzuwägen, Sicherheitsanhörungen abzuhalten, verschiedene Angebote einzuholen und schließlich eine größere Baufirma mit dem Projekt zu beauftragen. Die Bürgermeisterin von Buna, eine wohlmeinende Frau mittleren Alters, die eine Menge Geld in der Gewächshaus-Blumenzucht verdient hatte, unternahm einen ernsthaften Versuch, die ›Kontrolle zu übernehmen‹.

Dann schlugen zwei weitere Farbbomben ein. Diese waren besser gezielt. Sie trafen unmittelbar das Labor – es bot ein großes Ziel – und beschmutzten den Glashimmel mit schwarzem Dreck. Im Kuppelinnern wurde es dunkel, die Temperatur sank, Pflanzen und Tiere hatten zu leiden, und die Menschen waren aufgebracht und wütend. Dieser direkte Affront hatte zur Folge, dass der Widerstandswille drastisch gestärkt wurde. Jetzt waren sie persönlich betroffen – die üble Substanz dräute über ihren Köpfen.

Die Diskussionen verstummten. Der Worte waren genug gewechselt, und die Entscheidung war eine vollendete Tatsache. Alle gaben gleichzeitig ihr Bestes. Alle anderen Tätigkeiten stellten sie ein. Überschnitten sich einzelne Projekte oder gerieten sie in Konflikt miteinander, wurde das unbedeutendere eingestellt und das ehrgeizigere gebaut. Die Stadt Buna hörte in ihrer bisherigen Form schlichtweg zu existieren auf. Die Kuppel bildete Metastasen; sie sandte riesige zarte Festungen aus, die auf dalihaften Stelzen ruhten. Die Gewächshäuser Bunas verbanden sich spontan zu endlosen Befestigungen und Tunneln. Stadtteile verwandelten sich über Nacht in funkelnde Felder aus Plastikseifenblasen. Überall entstanden luftdichte Backsteinkrypten und Bunker, wie Finnen.

Huey wählte diesen Moment, um einen gut dokumentierten Gegenangriff auf Oscar und Greta zu starten. Diesmal half alles Leugnen nicht. Es war gemein und schmerzhaft, aber Hueys Timing hätte nicht wirkungsvoller sein können. In Friedenszeiten hätte die Enthüllung, dass ein macchiavellistischer Wahlkampfprofi (von zweifelhafter genetischer Herkunft) teuflischerweise seine Freundin als quasi diktatorische Direktorin einer staatlichen Forschungseinrichtung installiert hatte, was sie ihm mit sexuellen Gunstbezeigungen in einem Strandhaus vergalt, politisch katastrophale Auswirkungen gehabt.

In Washington löste die Neuigkeit einige Besorgnisse aus; man befragte ältere Wissenschaftler, welche erklärten, es sei wirklich beschämend mitanzusehen, wie sich eine Frau nach oben schlafe. In Buna aber herrschte Krieg. Die Enthüllung, die niemanden in Buna überraschte, war eine Kriegsromanze, die man den Beteiligten auf der Stelle verzieh. Oscar und Greta wurden einander vom schieren Druck des öffentlichen Wohlwollens praktisch in die Arme getrieben.

Alte soziale Grenzen wurden unter dem Kriegsdruck durchlässig. Affären breiteten sich aus wie die Windpocken: Wissenschaftler, Moderatorenfrauen, elegante europäische Journalisten, Südstaatler aus Buna, selbst die Soldaten, alle bumsten miteinander. Schulter an Schulter und Wange an Wange zu arbeiten, während ständig eine Wahnsinn verbreitende Giftgasattacke drohte, und gleichzeitig Sex mit Fremden aus dem Weg zu gehen – das überforderte die Menschen schlichtweg.

Außerdem taten es ihre Anführer auch. Sowas kam vor. Das unvermutete gesellschaftliche Potenzial war auf einmal öffentlich gemacht worden. Natürlich verstießen sie gegen die Regeln; aber das taten alle vernünftigen Menschen, darum ging es ja gerade. Natürlich hatte die Labordirektorin heißen Sex mit einem genmanipulierten Politiker. Sie war ihre leuchtende Jeanne d’Arc, die gepanzerte Braut des Wissenschaftskrieges.

Die Leute rissen sogar Witze darüber. Die Witze wurden Oscar von Fred Dillen, einem der letzten verbliebenen ursprünglichen Mitarbeiter, der gelernt hatte, dass politische Witze bedeutsam waren, zuverlässig hintertragen.

Fred erzählte ihm einen politischen Greta-und-Oscar-Witz.

»Greta und Oscar haben sich nach Louisiana davongestohlen, um mitten in einem Sumpf miteinander zu vögeln. Also mieten sie sich ein Anglerboot und rudern an eine einsame Stelle, wo es weder Spione noch Wanzen gibt. Sie treiben es in dem Boot, aber Oscar wird zu leidenschaftlich und fällt ins Wasser. Und er taucht nicht wieder auf.

Greta rudert also allein zurück und holt ein paar Sumpf-Cajuns zu Hilfe, aber Oscar bleibt verschwunden. Sie wartet eine ganze Woche lang, bis die Cajuns schließlich zu ihr kommen. ›Also, Dr. Penninger, wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht.‹

›Sagen Sie mir die schlechte Nachricht zuerst.‹

›Also, wir haben Ihren Freund, den Genfreak, gefunden, aber leider ist er ertrunken.‹

›Oh, das ist wirklich eine schlechte Nachricht. Das ist schrecklich. Das ist furchtbar. Schlimmer konnte es nicht kommen.‹

›Ach, so schlimm ist es gar nicht; als wir ihn aus dem Schlamm zogen, haben wir zwei Säcke voller Krebse eingesammelt.‹

›Also, wenigstens haben Sie seine Leiche gefunden… Wo haben Sie meinen Freund hingebracht?‹

›Na ja, wir bitten um Verzeihung, Ma’am, aber wir haben noch nie so viele Krebse gefangen, und da dachten wir uns, wir lassen ihn noch einen Tag drin!«

Das war ein ziemlich guter politischer Witz für eine so kleine Gemeinschaft – zumal wenn man den Subtext analysierte. Wie bei den meisten politischen Witzen ging es auch hier vor allem um verdrängte Aggression, und diese Aggression wurde den Krebsen vorgeworfen. Der Witz war beliebt, und er war bedeutsam. Die Pointe war klar: Oscar würde damit durchkommen. Die Leute fürchteten und hassten ihn nicht so, wie sie Huey fürchteten und hassten. Er war ein Politiker und ein Monstrum, gleichwohl empfanden die Menschen auf eine seltsame, marginale Weise Sympathie für ihn.

Oscar hatte den Gipfel seiner Beliebtheit erreicht. Der Beweis dafür wurde erbracht, als man den Präsidenten zu dem Sexskandal befragte – und zu Oscars Rolle im NSR. Hier bot sich dem Präsidenten eine gute Gelegenheit, ihn fallenzulassen und still und leise an die Sumpfkrabben zu verfüttern; der Präsident aber entschied sich anders. Der Präsident erklärte – durchaus zutreffend –, man könne einem Menschen keinen Vorwurf daraus machen, dass er das illegale Produkt einer südamerikanischen Genmafia sei. Der Präsident sagte, er fände es heuchlerisch, das sexuelle Verhalten eines solchen Menschen nach kleinkarierten Maßstäben zu bewerten – zumal in Anbetracht der Tatsache, dass andere Personen des öffentlichen Lebens sich bewusst dafür entschieden hätten, ihr Gehirn manipulieren zu lassen. Des weiteren erklärte der Präsident, er selbst sei ›ein Mensch‹. Und ›als Mensch‹ schlüge es ihm ›auf den Magen‹, wenn er mitansehen müsse, wie ein Liebespaar verfolgt werde.

Daraufhin wandte sich die Pressekonferenz dem heißeren Thema des Hollandkrieges zu, wenngleich die Bemerkung des Präsidenten sehr gut aufgenommen wurde. Gewisse Bevölkerungsgruppen zeigten sich zunehmend besorgt wegen seiner gewalttätigen Außenpolitik und der unerbittlichen Verfolgung inländischer Gegner. Dass er nun auf einmal einen sentimentalen weichen Kern enthüllte, war ein ausgezeichneter taktischer Schachzug.

Oscar war am Höhepunkt seiner Laufbahn angelangt. Der Präsident hatte öffentlich die Oscar-Karte ausgespielt. Im Nachhinein machte Oscar sich klar, was das bedeutete. Es bedeutete, dass er verbrannt war. Er hatte seinen großen Moment in dieser Pokerrunde gehabt, er war wie ein kleiner Trumpf auf den grünen Tisch geworfen worden. Ein zweites Mal ausgespielt, würde die Wirkung verpuffen. Es war an der Zeit, sich wieder ins hintere Glied einzureihen.

Also: bis hierher und nicht weiter. Das hatte ihm der vernichtende Subtext der Präsidentenerklärung klar gemacht. Er war nützlich, er war sogar schlau; auf einer tieferen Ebene aber misstraute man ihm. Er würde niemals zu einer Säule des amerikanischen Staates werden.

In Buna spielte Oscar eine immer kleinere Rolle. Er war Agitator, Initiator und graue Eminenz gewesen, doch er konnte niemals König werden. Greta hingegen konnte ihren Ruf nun gewinnbringend nutzen. Sie hatte die Öffentlichkeit um Hilfe und Beistand ersucht, und wie der Schlachtruf ›Auf die Barrikaden!‹ hatte der Aufruf eine Welle nationaler Hilfsbereitschaft zur Folge. Bomben hin oder her, Huey hin oder her, Präsident hin oder her, Buna entwickelte sich zu einer Gewächshausmetropole. Der Ort zog alle möglichen Träumer, Phantasten, Studenten ohne Abschluss, erfolglose Techniker und ausgemusterten Ausschuss an; Gurus, kostümierte Irre, verrückte Theoretiker und Wanzensammler; Mikroskopgucker, Modellraketenbauer und urige Simulanten; codevernarrte Hacker, Innenarchitekten; kurzum alle, die aufgrund der perversen gesellschaftlichen Forderung, ihre eigenwilligen Vorstellungen müssten kommerziell verwertbar sein, irgendwann einmal herabgesetzt, abgelehnt und ausgeschlossen worden waren.

Wenn all dieser Abschaum sich an einem Ort versammelte, war zu erwarten, dass es zu einem kleineren Erdbeben kam. Einige der Neuankömmlinge waren miteinander verfeindet. Brandstifter fackelten den städtischen Grüngürtel ab; die saftigen Pinien brannten wie Leuchtkugeln, und eine abscheuliche Qualmwolke verpestete meilenweit die texanische Luft. Als aber die Flammen erloschen, rückte die neue Gesellschaft auf das verkohlte Gelände vor und nahm es vollständig in Besitz. Die Mahltrichter der Biohacker konnten teilweise verbrannte Bäume leichter verarbeiten. Die Asche enthielt wertvolle Mineralien. Ein versengter, verkohlter Wald war ein natürliches Phönix-Nest für die erste wahre Gewächshausgesellschaft der Welt.

Загрузка...