12

Die US-Marine erreichte die Küste der Niederlande. Der Krieg erreichte einen kritischen Punkt. Um sich zu beschäftigen, blockierte die amerikanische Armada die Häfen von Rotterdam und Amsterdam. Da große Teile dieser Städte bereits unter Wasser standen, stellte die Blockade eine ernsthafte wirtschaftliche Bedrohung dar.

Viel mehr gab es für die Marine allerdings nicht zu tun. Sie hatte keine Landetruppen und keine Panzer mitgebracht, welche die Niederlande hätten erobern können. Die Kriegsschiffe verfügten über Geschütze mit großer Reichweite, mit denen sie größere Städte von See aus mit Leichtigkeit hätten verwüsten können, doch es war undenkbar, dass die Vereinigten Staaten Angehörige eines Staates auslöschte, der keinen organisierten militärischen Widerstand leistete.

Somit entpuppte sich der heiße Krieg mit Holland nach all dem Pressegetöse als Scheinkrieg. Der Präsident hatte das Land wachgerüttelt, seine eigene Position gestärkt und den Notstand beendet. Er hatte aus seinen Privatprolos eine landesweite schlagkräftige Truppe von lauter Cellulose essenden Miniatur-Robespierres gemacht. Dies war eine eindrucksvolle Erfolgsbilanz, mehr, als man ihm zugetraut hatte. Gut unterrichtete Kreise glaubten zu wissen, dass der Krieg bald beendet sein würde.

Die gut unterrichteten Kreise nahmen überraschenderweise die Gestalt Alcott Bambakias’ an. Der frischgebackene Senator aus Massachusetts wählte diesen Moment, um seinen lange geplanten Besuch des Buna National Collaboratory in die Tat umzusetzen.

Der Geisteszustand des Senators hatte sich erheblich verbessert. Die verschiedenen neuralen Behandlungsmethoden waren endlich zu einem Bereich seines emotionalen Spektrums vorgedrungen, der es ihm erlaubte, sich einzurichten und zur Ruhe zu kommen. Er war jetzt ein vollkommen anderer Mensch. Der Senator hatte zugenommen und war gedämpfter und viel zynischer als zuvor. Seinen gegenwärtigen Gemütszustand beschrieb er als ›realistisch‹. Er nahm an Abstimmungen und an den meisten Ausschusssitzungen teil. Er hielt viel weniger Reden als zuvor, ließ sich auf viel weniger dramatische Kämpfe ein, verbrachte viel mehr Zeit im Gespräch mit Lobbyisten.

Oscar übernahm es selbst, den Senator und Mrs. Bambakias in Buna umherzuführen. Sie benutzten eine gepanzerte Limousine. Jetzt, da der Hollandkrieg abflaute, war kaum damit zu rechnen, dass Huey noch weitere Farbbomben abschießen würde.

Das Baufieber in Buna hatte dies allerdings nicht stoppen können. Im Gegenteil waren die Menschen nun des Vorwands enthoben, so zu tun, als schützten sie sich vor einem Gasangriff. Jetzt, da unablässig Tausende herbeiströmten, denen kostenlose Verpflegung, kostenlose Unterkunft und so viele Netzwerkdaten garantiert wurden, wie sie verarbeiten konnten, herrschte in der Stadt ein wahrer Bauboom. Eine Gruppe von Eiferern errichtete eine riesige Plastikkonstruktion, in Form und Größe dem Eiffelturm vergleichbar, die sie ›Leuchtfeuer der kosmischen Wahrheit‹ nannten. Andere Hobbyisten hatten smarte Geodätik und luftdichte Folien ins logische Extrem geführt und bauten Luftfahrzeuge. Dabei handelte es sich um riesige, von selbst expandierende luftdichte Blasen, und wenn die piezoelektrische Muskulatur richtig funktionierte, schwollen sie so weit an, dass sie die Erdoberfläche praktisch hinter sich ließen.

Oscar vermochte seine Begeisterung für diese Wunder kaum zu bezähmen, und er spürte, dass Bambakias und Lorena ein wenig Aufmunterung vertragen konnten. Bambakias wirkte erholt – er war eindeutig bei klarem Verstand, vielleicht sogar geheilt –, von Lorena aber hatte der Stress dauerhaft Tribut gefordert. Sie hatte zugenommen, sie war schlaff geworden und wirkte eher konserviert als gut beieinander. An der Seite ihres Mann beschränkte sie sich auf knappe, intelligente Bemerkungen.

Bambakias hatte den größten Gesprächsanteil, aber seine Rhetorik war nicht mehr so lebendig und überschwänglich wie früher.

»Das Hotel war eine gute Idee«, sagte er. »Das haben Sie gut gemacht. In Anbetracht der hiesigen Beschränkungen.«

»Oh, das Hotel macht uns Spaß. Meistens schlafe ich dort. Aber es ist nichts im Vergleich zu dem, was sich derzeit in der Stadt tut.«

»Die machen es nicht richtig«, sagte Bambakias.

»Na ja, das sind schließlich Amateure.«

»Nein, die sind schlimmer als Amateure. Sie halten sich nicht ans Programm. Sie verwenden keine zertifizierten, getesteten Materialien. Diese ganzen Zelte und Pylone, die nie miteinander getestet wurden – viele davon werden einstürzen.«

»Ja, sicher, Senator – aber sie brauchten nur ein paar Tage, um sie zu errichten! Wenn sie einstürzen, dann bauen sie eben neue.«

»Sie erwarten doch wohl nicht von mir, dass ich dafür persönlich die Verantwortung übernehme. Ich habe Ihnen die Pläne geschickt, aber ich habe nicht geglaubt, dass sie umgesetzt würden. Wenn ich mein geistiges Eigentum wahllos hergebe, kann man nicht von mir erwarten, dass ich für die Umsetzung die Verantwortung übernehme.«

»Selbstverständlich nicht, Senator! Wir hatten hier einen Notstand, Kriegszustand… Wissen Sie, das hat durchaus seine Kehrseite. Das ist nicht von Dauer, und es läuft nicht in geordneten Bahnen ab, aber das Ganze ist erstaunlich populär.«

Bambakias Miene hellte sich ein wenig auf. »Was Sie nicht sagen!«

»Die Menschen, die unter diesen Konstruktionen leben… das sind keine Architekturkritiker. Viele von ihnen haben jahrelang in keiner festen Unterkunft mehr gewohnt. Es beeindruckt sie wirklich, mit anzusehen, wie die Nomadenarchitektur bis ins äußerste Extrem gesteigert wird.«

»Das ist keine ›Nomadenarchitektur‹. Das ist Katastrophenhilfe im allergrößten Maßstab.«

»Das ist eine interessante Unterscheidung, Alcott, aber lassen Sie es mich so ausdrücken: es ist Nomadenarchitektur geworden.«

»Ich glaube, du solltest besser auf ihn hören, Schatz«, warf Lorena mit matter Stimme ein. »Oscar hat in derlei Dingen einen guten Instinkt.«

»O ja, Instinkt«, sagte Bambakias. »Instinkt ist wundervoll. Solange man nicht vorhat, allzu lange zu leben, reicht der Instinkt aus. Was glauben Sie, Oscar, wie lange das hier währen wird?«

»›Das hier‹?« wiederholte Oscar taktvoll.

»Was immer Sie hier geschaffen haben. Was ist das überhaupt? Eine politische Bewegung? Vielleicht ja auch bloß ein großes Straßenfest. Jedenfalls ist es keine Stadt.«

»Also… es ist schwer zu sagen, wohin das alles führen wird…«

»Vielleicht hätten Sie sich das vorher überlegen sollen«, sagte Bambakias. Das Thema ärgerte ihn offenbar, doch er fasste es als seine Pflicht auf, darüber zu sprechen. »Wissen Sie, ich bin ein hochrangiges Mitglied des Wissenschaftsausschusses. Es wird nicht leicht sein, meinen Kollegen in Washington diese Entwicklung zu erklären.«

»Ach, ich vermisse den Wissenschaftsausschuss täglich«, log Oscar.

»Wissen Sie, die Entwicklung hier erinnert mich an das Internet. An dieses alte Computernetzwerk, das von der amerikanischen Wissenschaftlergemeinde entwickelt wurde. Dabei ging es vor allem um ungehinderte Kommunikation. Ganz simpel und weit verteilt – es gab keine zentrale Kontrolle. In kurzer Zeit breitete es sich über die ganze Welt aus. Es entwickelte sich zur weltweit größten illegalen Kopiermaschine. Die Chinesen liebten das Internet, sie benutzten es und wendeten es gegen uns. Damit zerstörten sie unsere Informationswirtschaft. Nicht einmal das vermochte dem Netz zu schaden – stattdessen brachte es virtuelle Ableger hervor, all diese Nomaden- und Dissidentennetzwerke. Auf einmal konnten sie sich auf neue Art wirkungsvoll organisieren, und jetzt, da der Präsident sich auf ihre Seite schlägt… wer weiß? Verstehen Sie, was ich meine, Oscar? Können Sie das nachvollziehen?«

Oscar fühlte sich zunehmend unbehaglich. »Also, ich habe nie behauptet, dass das, was hier geschieht, etwas vollkommen Neues wäre. Das große Geheimnis der Kreativität besteht darin, seine Quellen zu verbergen.«

»Sie haben diese Idee von Huey gestohlen. Sie haben Hueys Kleider gestohlen, hab ich Recht?«

»Eine altehrwürdige Taktik, Alcott!«

»Oscar, Huey ist ein Diktator. Ein Hasardeur. Verstehe ich diese ›Prestigeökonomie‹ richtig? Anscheinend beruht sie vollkommen auf Instinkt. Ständig erweisen sie einander freiwillig kleine Gefallen. Und sie stufen einander auf dieser Grundlage ein. Irgendwann sticht jemand hervor und wird zum Stammesführer. Dann müssen sie tun, was er sagt.«

»Also… das ist kompliziert. Aber grundsätzlich funktioniert es so.«

»Sie passen einfach nicht zum Rest der amerikanischen Gesellschaft. Überhaupt nicht.«

»So war es auch gedacht.«

»Ich meine, sie sind einfach nicht in der Lage, mit dem Rest der Gesellschaft angemessen umzugehen. Sie verstehen nicht einmal, miteinander angemessen umzugehen. Sie haben kein Gesetz. Es gibt keine Verfassung. Keine Rechtsansprüche. Keine Bill of Rights. Abgesehen davon, dass sie uns meiden und uns einschüchtern, wissen sie nicht, wie sie mit uns umgehen sollen. Trifft ein Netzwerk auf ein anders strukturiertes, bekriegen sie sich. Sie bringen einander um.«

»Hin und wieder.«

»Und jetzt haben Sie diesen Leuten bewusst gemacht, dass sie ähnliche Interessen haben wie die wissenschaftliche Forschergemeinde. Die einen fordern für sich Freiheit der Forschung, die anderen das Ende der materiellen Not, und beide leugnen ihre Verantwortung für den Rest der Gesellschaft. Im Grunde erwarten wir schon lange nichts mehr von ihnen. Wir glauben nicht mehr daran, dass die Wissenschaft uns wahren Fortschritt bringen, geschweige denn eine Utopie vermitteln kann. Die Wissenschaft machte alles bloß noch verworrener und instabiler. Und auch unsere Besitzlosen haben wir aufgegeben. Wir haben nicht mehr die Illusion, dass wir ihnen Beschäftigung bieten oder sie mit noch mehr Biobrot und noch mehr Cyber-Zirkus gefügig machen könnten. Und jetzt haben Sie die beiden Gruppen zusammengebracht, und sie haben sich verbündet.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Senator. Ich verstehe, was Sie meinen.«

»Was nun, Oscar? Was werden sie jetzt tun? Was wird aus uns?«

»Verdammt noch mal, ich weiß es nicht!« rief Oscar. »Ich habe bloß gesehen, was Huey getan hat. Wir lagen im Streit mit Huey – Sie haben mir die Auseinandersetzung mit Huey aufgedrängt! Das Labor war pleite, er hatte es sich schon so gut wie unter den Nagel gerissen und war im Begriff, die Wissenschaftler einzusacken. Sie wären… seine willenlosen Kreaturen geworden. Und das wollte ich verhindern.«

»Wo liegt der Unterschied? Wenn sie immer noch Kreaturen sind.«

»Der Unterschied? Zwischen mir und Green Huey? Okay! Zumindest diese Frage kann ich beantworten! Der Unterschied zwischen mir und Huey besteht darin, dass es Huey bei allem, was er tut, immer nur um sich selbst geht, um die Mehrung seines Ruhms. Was ich hingegen tue, tue ich nie, niemals, bloß um meinetwillen. Das kann gar nicht sein.«

»Wegen der Umstände Ihrer Geburt.«

»Alcott, es ist noch viel schlimmer. Ich wurde überhaupt nicht geboren.«

Lorena ergriff das Wort. »Ich glaube, ihr solltet aufhören, euch wie Schuljungs zu zanken. Ihr dreht euch im Kreis. Wir wär’s, wenn wir etwas essen würden?«

»Ich wollte nicht Ihre Gefühle verletzen«, sagte Bambakias vernünftig. »Ich betrachte einfach nur kritisch die Struktur und weise darauf hin, dass sie instabil ist.«

Lorena verschränkte die Arme. »Warum, um Himmels willen, hackst du auf Oscar herum? Der Präsident hat eine Papierschiffchen-Marine über den Atlantik geschickt, die ebenso instabil ist. Der Krieg wird in Washington bald beendet werden. Er kann nicht mehr lange weitergehen, das ist nichts weiter als eine Bühnenshow. Und dann wird auch hier der Krieg beendet sein. Die werden das ganze Zeug einpacken und sich eine andere Beschäftigung suchen. So läuft das jetzt. Hört auf, euch deswegen zu streiten.«

Bambakias überlegte einen Moment lang. »Du hast Recht, meine Liebe. Es tut mir leid. Ich hab mich echauffiert.«

»Wir sollten hier Urlaub machen. Du solltest dir deine Kräfte für die Anhörungen aufsparen. Ich möchte Fischsuppe. Und Étouffée.«

»Sie sorgt sich so um mich«, wandte sich Bambakias an Oscar. Unvermittelt lächelte er. »Ich habe mich seit Urzeiten nicht mehr echauffiert. Das hat richtig gut getan.«

»Oscar muntert dich immer auf«, sagte Lorena. »Das kann er wirklich gut. Du solltest Nachsicht mit ihm haben.«

Der Senator und seine Frau wollten die Küche Louisianas ausprobieren. Dieser Wunsch war verständlich. Mit einer Flotte von Limousinen, besetzt mit dem großen Mitarbeiterteam des Senators, dem Mediengefolge und den zahlreichen Bodyguards, fuhren sie zu einem berühmten Lokal in Lake Charles, Louisiana. Dies bereitete ihnen großes Vergnügen, denn das Restaurant war ausgezeichnet, und sie waren sicher, dass Huey schon bald von ihrer Eskapade erfahren würde.

Sie speisten gut und gaben reichlich Trinkgeld, und hätte der Senator nicht unter der Wirkung stabilisierender Medikamente gestanden, weswegen er keinen Alkohol trank, wäre es ein prima Abend geworden. Die Gattin des Senators trank eher zu viel. Außerdem war die neue Pressesprecherin zugegen; und die neue Pressesprecherin war Clare Emerson.

Anschließend kehrte die Karawane feierlich zum Hotel in Buna zurück, und die Bodyguards sandten Stoßseufzer der Erleichterung gen Himmel. Der Senator und seine Frau zogen sich zurück, die Bodyguards teilten die nächtlichen Patrouillen ein, und die Berichterstatter zogen auf der Suche nach Action los, um in einem gewaltigen taubenetzten Zelt einer Moderatorenorgie beizuwohnen. Oscar, den es erschöpft hatte, Clare auszuweichen, fand sich in einer Situation wieder, da es geboten schien, mit seiner Exfreundin einen Schlummertrunk zur Brust zu nehmen. Bloß um zu zeigen, dass sie einander nicht böse waren. Obwohl er ihr nach wie vor böse war.

Und so trank Clare im Hotel ein Glas Chablis, während Oscar sich mit einer Club Soda begnügte. Sie saßen an einem kleinen Holztisch, während Musik spielte und sie gezwungen waren, sich vertraulich miteinander zu unterhalten.

»Na schön, Clare. Erzähl mir von Holland. Es muss faszinierend gewesen sein.«

»Das war es anfangs auch.« Sie sah gut aus. Er hatte ganz vergessen gehabt, wie schön sie war. Er hatte sogar vergessen gehabt, dass er einmal die Angewohnheit gehabt hatte, schönen Frauen den Hof zu machen. Als Bambakias’ Mitarbeiterin und Pressebeauftragte in Washington stand Clare weitaus besser da als damals, da sie als unerfahrene Journalistin in Boston gearbeitet hatte. Clare war nach wie vor jung. Er hatte vergessen gehabt, wie es war, sich mit jungen, gut aussehenden, exquisit gekleideten Frauen zu treffen. Er war nie über sie hinweggekommen. Er hatte sich nicht genug Zeit gelassen. Er hatte das Thema einfach verdrängt und sich eine Ablenkung gesucht.

Ihre Lippen bewegten sich noch immer. Er zwang sich, auf ihre Worte zu achten. Sie sprach gerade über ihre kulturellen Wurzeln als Weiße. Europa sei voller Yankee-Überläufer und Emigranten, verbitterte, alternde Anglos, die sich in Bierkellern trafen und darüber klagten, dass ihr Land von einer verrückten Rothaut regiert werde. Europa war für Clare alles andere als romantisch gewesen. Der Teil Europas, der unterging, hatte niemandem viel Romantik zu bieten.

»Aber du warst Kriegsberichterstatterin. Das war doch bestimmt eine großartige Chance für dich.«

»Das macht dir Spaß, nicht wahr?« sagte sie. »Du genießt es, mich zu quälen.«

»Wie?« fragte er bestürzt.

»Hat dir Lorena nicht von meinem kleinen Missgeschick erzählt?«

»Lorena spricht nicht mit mir über ihre Mitarbeiter. Ich gehöre nicht mehr zu Bambakias’ Zirkel. Ich habe selbst kaum mehr Mitarbeiter.«

Sie trank einen Schluck Wein. »Mitarbeiterteams sind bemitleidenswert. Widerwärtig. Für ein bisschen Sicherheit tun die Leute heutzutage alles. Sie begeben sich dafür sogar in Sklaverei. Jeder Reiche kann für ein Almosen seine eigene kleine Gang aufstellen. Das ist Feudalismus. Aber das Land ist so auf den Hund gekommen, dass bei uns nicht mal mehr der Feudalismus funktioniert.«

»Ich dachte, du magst Lorena. Du hast immer gut über sie berichtet.«

»Ach, ich schreibe gern über sie. Aber als Chefin… tja, was soll ich sagen? Lorena ist gut zu mir. Sie hat mich eingestellt, als es mir schlecht ging, sie hat mich ins Spiel gelassen. Sie hat mich wegen der Sache in Holland niemals geoutet. Ich habe einen tollen Job in Washington, ich habe hübsche Kleider und einen Wagen.«

»Also gut. Ich nehm’s dir ab. Erzähl mir, was in Holland passiert ist.«

»Ich habe schlechte Angewohnheiten«, sagte Clare, den Blick auf die Tischdecke gesenkt. »Ich hatte den Eindruck, ich könnte mir mit Sex gute Stories erkaufen. In Boston hat das prima funktioniert! Aber Den Haag ist nicht Boston. Die Niederländer sind anders als die Amerikaner. Sie können sich noch auf was konzentrieren. Und sie stehen mit dem Rücken zur Wand.« Sie wickelte sich eine Strähne um den Finger.

»Tut mir Leid, dass du einen Rückschlag erlitten hast. Ich hoffe, du glaubst nicht, ich wäre dir noch böse.«

»Aber du bist mir böse, Oscar. Du bist eingeschnappt. Du verachtest mich und hasst mich, aber du bist ein so guter Schauspieler, dass du das mir gegenüber niemals zeigen würdest. Du würdest mich notfalls fallenlassen, und du hast mich fallengelassen, aber zumindest würdest du mich nicht kreuzigen. Ich habe den Fehler gemacht zu glauben, alle Politiker wären wie du.«

Oscar schwieg. Sie war kurz davor, ihr Herz auszuschütten. Er konnte nichts dazu tun.

»Ich bekam einen heißen Hinweis auf einen Skandal. Auf einen richtigen Kalter-Krieg-Skandal, eine ganz große Sache. Ich brauchte bloß diesen holländischen stellvertretenden Minister für was auch immer anzuzapfen. Der würde schon alles ausspucken. Denn er war ein Kalter-Krieg-Spion, und er wusste, dass ich wusste, dass er ein Spion war, und ich bin Journalistin, was der Spionage recht nahe kommt. Und er war scharf auf mich. Aber das war okay, denn wenn man sich darauf versteift, kann man sowas aus Männern rausbekommen, weißt du. Das läuft über die Mentor-Schiene ab. Sie sind wie der eigene Onkel oder Lehrer, und man selber hat keine Ahnung, und sie bringen’s einem bei. Man muss sich bloß ein bisschen einwickeln lassen.« Sie trank noch einen Schluck.

»Clare, weshalb solle ich dich deswegen verurteilen? Sowas kommt vor. Das ist die Realität.«

»Weißt du, hier in Amerika verstehen wir das nicht. Wir begreifen nicht, dass wir der Achthundert-Pfund-Gorilla der Klimapolitik sind. Wir sind so daneben, dass wir noch immer in Pfund und Inches messen. Wir finden es lustig, Krieg mit einem kleinen Volk zu führen, das mit Tulpen und Holzschuhen daherkommt. Wir sind wie verdorbene Kinder. Wir sind wie große, fette Popstars, die mit dröhnender Stereoanlage in einem pinken Zwei-Tonnen-Cadillac rumkurven und die leeren Bierdosen aus dem Fenster werfen. Wir kapieren nicht, dass es ernsthafte, zivilisierte Menschen gibt, die ihre Zeit damit verbringen, im drogengesättigten Amsterdamer Zentrum Nutten in öffentlichen Sexkäfigen zu begutachten, aber der Sex berührt sie nicht, und das Dope berührt sie nicht, weil sie zum äußersten entschlossen und völlig kalt sind.«

»Sind die Niederländer kalt?«

»Kalt und feucht. Und es wird ständig feuchter.«

»Man hat mir gesagt, die Marine erwäge, ein paar Breschen in ihre Deiche zu schießen.«

»Da du im Sicherheitsrat bist, müsstest du das eigentlich wissen, oder?«

Eine Kälte wie von Trockeneis wehte sie an. Oscar meinte zu spüren, wie sich der Nebel verdichtete.

Clare lehnte sich zurück. »In Buna riecht es komisch. Findest du nicht? All diese Zelte und Giftgasbunker. In der großen Kuppel riecht es eigenartig. Als würden die nie die Unterwäsche wechseln.«

»Das hier ist nicht Boston, das ist die Golfküste. Wenn du meinst, es riecht hier komisch, dann solltest du mal eine Weile draußen rumlaufen.«

»Zu viele Moskitos.«

Oscar lachte.

Clare runzelte die Stirn. »Du brauchst nicht zu wissen, wie es mir in Holland ergangen ist. Ich habe mich zu tief verstrickt, das ist alles. Ich hab mich abgesetzt, und ich hatte Glück, dass ich rauskam, das ist schon die ganze Story. Ich bin froh, dass Lorena ein so großes Herz hat.«

»Clare… es tut mir wirklich Leid. Krieg ist eine ernste Sache, und sogar bei einem Spielzeugkrieg gibt es Tote. Ich hätte dir das um nichts auf der Welt gewünscht.«

»Du hast es mir gesagt. Du hast mich gewarnt. Erinnerst du dich noch? Und ich habe erwidert, ich wäre erwachsen. Wir führten diesen netten kleinen Wahlkampf in Boston, für diesen Typ, der sieben Prozent Zustimmung hatte. Wir waren Kinder, die im Sandkasten spielten. Ich hielt das für so großartig und bedeutend, und jetzt kommt es mir so unschuldig vor. Und jetzt hast du hier Unglaubliches geleistet, und ich… tja, ich arbeite jetzt für den Senator. Also geht das wohl in Ordnung.«

»Du hattest einen Mordsdusel.«

»Oscar, weshalb bist du so gemein? Was Männer angeht, bin ich ein gebranntes Kind. Und du bist genau wie dieser schleimige Politiker, der immer seinen Willen durchsetzt, und ich dachte, ich wäre fertig mit dir, aber als ich dich heute Abend sah… also, da kam alles wieder hoch.«

»Was kam hoch?«

»Das mit uns beiden. Dass du ein netter Bursche bist, der immer lieb und höflich zu mir war und mich in seinem Haus hat wohnen lassen und mir so manches über die komische alte moderne Kunst beigebracht hat. Meine alte Flamme. Der Traumpartner. Du fehlst mir wirklich. Ich vermisse sogar die Seidenlaken und deine Hauttemperatur.«

»Clare, warum erzählst du mir das? Du weißt, dass ich mit einer anderen Frau zusammen bin. Um Himmels willen, die ganze Welt weiß, dass ich mit Greta Penninger zusammen bin.«

»Oscar, das ist doch nicht dein Ernst. Ausgerechnet die? Die ist ein Notanker. Ach was, nicht einmal das. Oscar – merkst du das denn nicht? Die Leute machen sich über euch lustig. Sie sieht seltsam aus. Sie ist alt. Sie hat eine große Nase und keinen Arsch. Es kann unmöglich Spaß mit ihr machen. Ich meine, nicht so, wie wir Spaß miteinander hatten.«

Er rang sich ein Lächeln ab. »Du bist ja eifersüchtig! Schäm dich.«

»Was findest du an ihr? Sie hatte bloß etwas, das du haben wolltest.«

»Clare, auch wenn du Journalistin bist, so meine ich doch, das geht dich nichts an.«

»Ich sage gemeine Sachen, weil ich traurig bin und eifersüchtig und einsam, und es tut mir Leid. Außerdem werde ich allmählich betrunken. Und du hast mich fallengelassen. Um ihretwillen.«

»Ich habe dich nicht fallengelassen. Du hast mich fallengelassen, weil ich nicht in der Stadt war und du nicht zu mir fliegen wolltest und weil du dachtest, es wäre deiner Karriere dienlicher, wenn du im Lande unserer schlimmsten Feinde lebst.«

»Oh, so ist es schon besser«, sagte Clare, rümpfte die Nase und lächelte. »Endlich bin ich zu dir vorgedrungen.«

»Ich habe alles getan, damit es mit uns beiden klappt, aber du wolltest nicht.«

»Und jetzt ist es zu spät.«

»Natürlich ist es zu spät.«

Sie sah auf die Uhr. »Es ist wirklich schon spät.«

Oscar sah auf seine Mäusehirn-Armbanduhr. Das Ding hatte sein Handgelenk mit feuchten Ausscheidungen beschmutzt und zeigte nicht annähernd die richtige Zeit an. Es musste auf Mitternacht zugehen. »Wenn du morgen mit dem Senator nach Washington zurückfliegen willst, solltest du jetzt besser schlafen.«

»Oscar, ich habe eine besseren Vorschlag. Hör auf, mit mir herumzuspielen. Lass es uns einfach tun. Das ist meine einzige Nacht hier, das ist unsere große Chance. Führ mich nach oben, lass uns ins Bett gehen.«

»Du bist betrunken.«

»Ich bin nicht so betrunken, dass ich nicht wüsste, was ich tue. Ich habe gerade so viel getrunken, um dir Spaß zu machen. Du hast mich den ganzen Abend über angestarrt. Du weißt, dass ich’s nicht ausstehen kann, wenn du mich mit diesen großen braunen Hundeaugen anstarrst.«

»Das hat keine Zukunft.« Er wurde allmählich schwach.

»Was kümmert uns die Zukunft? Um der alten Zeiten willen. Komm schon, so schlimm ist es doch gar nicht. Du willst es doch auch.«

»Es ist nicht bloß schlimm. Es ist noch viel schlimmer als schlimm. Das ist das Schlimmste, was passieren kann. Wenn der Berg Feuer fängt, weiß es jeder. Aber wenn das Herz Feuer fängt, wer merkt das schon?«

»Häh?«

Oscar seufzte. »Ich glaube dir einfach nicht, Clare. Ich bin redegewandt und weiß anderen zu gefallen, aber als Mann bin ich nicht so überwältigend. Wenn’s nach mir gegangen wäre, hättest du mich nie verlassen sollen.«

»Hör mal, ich hab dir ja gesagt, es tut mir Leid. Reite nicht drauf rum. Ich kann dir zeigen, wie Leid es mir tut.«

»Wer hat dich eigentlich hergeschickt? Ist deine Handtasche verwanzt? Trägst du eine Antenne am Körper? Man hat dich umgedreht, stimmt’s? Man hat dich in Den Haag umgedreht. Du arbeitest für eine ausländische Macht. Du bist eine Spionin.«

Clare wurde ganz blass. »Was soll das? Hast du den Verstand verloren? Das ist ja krankhaft! Du redest wie der Senator zu seinen schlimmsten Zeiten!«

»Bin ich etwa ein nützlicher Idiot? Wir haben Krieg! Du meine Güte, Mata Hari war Holländerin.«

»Glaubst du etwa, man ließe mich für den Senator arbeiten, wenn ich eine holländische Spionin wäre? Du hast ja keine Ahnung, was in Washington derzeit los ist. Du weißt überhaupt nichts.«

Oscar schwieg. Er beobachtete sie mit tödlicher Wachsamkeit.

Clare sammelte die Scherben ihrer Würde auf. »Du hast mich tief getroffen. Ich bin wirklich verletzt. Ich sollte wohl besser aufstehen und gehen. Wie wär’s, wenn du mir ein Taxi rufen würdest?«

»Dann steckt der Präsident dahinter, hab ich Recht?«

Ihre Miene verhärtete sich.

»Also der Präsident«, sagte er abschließend. »Es geht um mich und Greta Penninger. Die Lage ist hier ein bisschen außer Kontrolle geraten. Ich wäre wohl besser beherrschbar, wenn meine Freundin und ich von nun an getrennter Wege gingen. Dann würde sich alles fügen. Das würde der hiesigen Moral einen gesunden Dämpfer verpassen. Die Moderatoren würden in sein privates Spionagenetz hineinfallen, die Wissenschaftler würden wieder ins Labor gehen, und der schleimige Politiker, der bei Frauen nicht nein sagen kann, stünde vor aller Augen wieder als schleimiger Politiker da.«

Clare wischte sich mit der Serviette die Tränen aus den Augen.

»Sag du deinem Agentenführer, dass ich nicht deshalb für den Präsidenten arbeite, weil er ein so netter Kerl ist. Ich arbeite für ihn, weil das Land in der Sackgasse war und er die Dinge wieder in Bewegung gebracht hat. Ich bin ihm gegenüber loyal, weil ich dem Land gegenüber loyal bin, und es braucht mehr als einen Lockvogel, um mich vom Spielbrett zu fegen. Selbst dann, wenn es sich um einen hübschen Lockvogel handelt, der mir einmal sehr nahe stand.«

»Das reicht, ich gehe. Gute Nacht, Oscar.«

»Lebwohl.«


Bambakias verließ Texas am nächsten Morgen mitsamt seines Teams, darunter auch Clare. Oscar wurde nicht geoutet. Es tauchten keine Gesprächsmitschnitte auf. Im Netz gab es keine Eilmeldungen über ein Tête-à-Tête mit einer ehemaligen Geliebten.

Dann kam es an der Kriegsfront zu einer neuen Entwicklung.

Die Niederlande kapitulierten.

Die niederländische Premierministerin gab eine Erklärung ab. Sie war eine kleine, grauhaarige, verbitterte Person. Sie sagte, für ein unbewaffnetes Land wie die Niederlande sei es aussichtslos, gegen die letzte militärische Supermacht der Welt Widerstand leisten zu wollen. Sie sagte, ihr Volk müsse die katastrophalen Auswirkungen einer Bombardierung der Deiche unter allen Umständen vermeiden. Sie sagte, das unerbittliche Ultimatum Amerikas habe den Widerstandswillen ihres Landes gebrochen.

Sie bot die bedingungslose Kapitulation an. Sie sagte, das Land öffne seine Grenzen, die kleine Armee werde die Waffen niederlegen und die Besatzertruppen einlassen. Sie sagte, sie und ihr Kabinett hätten soeben die Kapitulationserklärung unterzeichnet und die niederländische Regierung werde sich um Mitternacht auflösen. Sie erklärte den Krieg für beendet, anerkannte den Sieg der Amerikaner und appellierte an das amerikanische Volk, sich der langen Tradition von Großmut gegenüber dem besiegten Gegner zu besinnen.

Die Rede währte acht Minuten. Und der Krieg war vorbei.


Einen seltsamen historischen Moment lang waren die Vereinigten Staaten außer sich vor Freude, doch der Wahnsinn hatte bemerkenswert wenige Verletzte und Tote zur Folge. Die lange Zeit der Not hatte die amerikanische Öffentlichkeit eigentümlich widerstandsfähig gemacht. Es dauerte gerade mal acht Stunden, bis die ersten Netzweisen erklärten, weshalb der totale Sieg unausweichlich gewesen sei.

Der totale Sieg hatte seine Vorzüge. Das Prestige eines Heldenpräsidenten war einfach überwältigend. Seine Umfrageergebnisse schossen bis auf neunzig Prozent empor und blieben dort wie festgenagelt hängen.

Der Präsident ließ sich von der Entwicklung nicht überrumpeln. Er vergeudete keine Zeit; kaum eine Stunde, kaum eine Picosekunde.

Er erließ eine Durchführungsverordnung und requirierte Maschinen der Fluggesellschaften. Am Morgen landeten amerikanische Soldaten auf allen niederländischen Flughäfen. Die müden Soldaten, die unter dem Jetlag zu leiden hatten, wurden von einer höflichen und gedämpften Bevölkerung begrüßt, die amerikanische Fähnchen schwenkte. Der Präsident wartete kaum die Zustimmung des fügsamen Kongresses ab, erklärte den Krieg für beendet und verkündete den Anbruch einer neuen Ära. Diese Epoche sollte als Rückkehr zur Normalität in die Geschichte eingehen.

Wie ein Zauberer, der ein Fass mit Schwertern durchbohrt, machte sich der Präsident daran, die amerikanische Politik unblutig neu zu gestalten.

Das Normalisierungsmanifest war ein recht erstaunliches, achtundzwanzig Punkte umfassendes Dokument. Es ließ so viele der zersplitterten amerikanischen Parteien ohne Kleider dastehen, dass diese nur staunen konnten. Der Aktionsplan des Präsidenten wies nur geringe Ähnlichkeit mit seinem Parteiprogramm oder den Grundsätzen des Linken Traditionsblocks auf. Das Aktionsprogramm des Präsidenten verblüffte alle.

Der Dollar sollte stark abgewertet und wieder zu einer globalen, frei konvertierbaren Währung werden. Eine Generalamnestie sollte zur Freilassung all derer führen, deren Vergehen auch nur von ferne einen politischen Hintergrund hatten. Ein neues Steuersystem sollte die Ultrareichen schröpfen und den Kohlendioxidausstoß drastisch senken. Unbewohnte und ungenutzte Gebäude sollten massenweise verstaatlicht und anschließend an potenzielle Nutzer übergeben werden. Slums und Geisterstädte – und davon gab es zumal im Westen viele – sollten abgerissen und das Gelände anschließend mit schnell wachsenden Bäumen bepflanzt werden. Des weiteren hieß es, Straßenblockaden seien fortan als Wegelagerei zu betrachten und von umherstreifenden Gangs des ZNL, die einstmals selber zu den eifrigsten Straßenblockierern gehört hatten und daher eigentlich wissen sollten, wie man dieser Praxis einen Riegel vorschieben könne, unbarmherzig zu ahnden.

Ein Verfassungszusatz wurde vorgeschlagen, um für amerikanische Bürger, die ›hauptsächlich in virtuellen Netzwerken beheimatet sind‹ einen neuen, vierten Zweig der Regierung zu etablieren. Die achthundertsieben nationalen Polizeibehörden sollten zu vier Behörden zusammengelegt werden. Auch für das so beeindruckend siegreiche Militär wurde ein weit reichender Reformplan vorgelegt.

Des weiteren gab es auch einen nationalen Gesundheitsplan, der mehr oder minder auf dem vernünftigen kanadischen Modell beruhte. Der Plan würde niemals funktionieren. Er war bewusst eingefügt worden, um der Opposition die Genugtuung zu gewähren, wenigstens einen Punkt zu zerreißen.


Gegen die vollendeten Tatsachen, welche der Präsident geschaffen hatte, gab es kaum Widerstand – am wenigsten seitens des Staates Louisiana. Angesichts der Orkangewalt des Wandels neigte Green Huey sich mit dem Wind.

Huey trat als Gouverneur zurück. Er bat die Bevölkerung um Verzeihung, vergoss vor der Kamera heiße Tränen, bekundete sein tiefes Bedauern über die Exzesse der Vergangenheit und versprach eine brandneue, hundertprozentig regierungstreue Normalisierungspolitik. Auch sein Stellvertreter trat zurück, was nicht weiter auffiel, da er der farbloseste von Hueys Handlangern gewesen war.

Hueys willfähriger Senat setzte sogleich einen neuen Gouverneur ein. Dabei handelte es sich um eine spektakuläre junge Schwarze aus New Orleans, eine ehemalige Schönheitskönigin von (zumindest für eine Staatsbeamte) solch ungewöhnlicher und erstaunlich geschmeidiger Schönheit, dass die Kameras der Welt einfach nicht die Objektive von ihr wenden wollten.

Die erste Amtshandlung der neuen Gouverneurin bestand darin, eine Generalamnestie für sämtliche ehemaligen Regierungsmitglieder und speziell Green Huey zu verkünden. Als nächstes formalisierte sie die ›formellen und informellen‹ Beziehungen des Bundesstaats Louisiana zu den Regulatoren. Die Regulatoren sollten fortan als loyale Untergruppe des landesweiten ZNL fungieren, nach dem Vorbild der nationalen Institution, die der weise Präsident in seiner unendlichen Güte der amerikanischen Republik aufgeprägt hatte. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich einige haitianische Gäste des Staates Louisiana noch immer in Regierungsgewahrsam befanden, und die neue Gouverneurin, die selbst haitianischer Abstammung war, bat für sie um Milde.

Einem wagemutigen Nachrichtenteam – das offenbar bestochen war – gelang es, einige der Haitianer, welche die Tage und Stunden in ihrem medizinischen Kraal abgesessen hatten, zu interviewen. Nachdem man sie aus ihren Häusern entfernt und sie von Kopf bis Fuß untersucht hatte, verliehen die Haitianer natürlich ihrem demütigen Wunsch Ausdruck, in die Sumpfsiedlung zurückkehren zu dürfen. Die Bitten waren ausgesprochen poetisch, was selbst in der Übersetzung noch zu spüren war. Aber schließlich waren sie bloß Haitianer, deshalb schenkte man ihren Wünschen keine große Beachtung. Sie blieben in Abschiebehaft, während der Präsident auf den nächsten Schachzug des Ex-Gouverneurs wartete.

Was das Buna National Collaboratory und dessen übereifrige Reformer anging, hielt sich der Präsident zurück. Offenbar war er mit größeren, wichtigeren Dingen befasst – und er war in der Position, gemäß der Resonanz in der Öffentlichkeit seine eigenen Akzente zu setzen.

Mit dem plötzlichen, überraschenden Kriegsende kam die zügellose Einwanderung nach Buna nahezu zum Erliegen. Dann kehrte sich die Entwicklung um. Die Menschen hatten genug gesehen. Die Gaffer, die Jahrmarktschreier und die am leichtesten abzulenkenden Mitläufer merkten auf einmal, dass eine glamouröse, unkommerzielle Gewächshausgesellschaft intellektueller Dissidenten einfach nicht für jedermann geeignet war. In ihr zu leben erforderte eine Menge Arbeit. Die Tatsache, dass kein Geld im Spiel war, bedeutete nicht, dass man nicht hätte arbeiten müssen; das Gegenteil traf zu. Diese Kombination aus Wissenschaft und wirtschaftlicher Massenverweigerung erforderte enorm viel hingebungsvolle Arbeit und ständige selbstlose Anstrengung, die zum großen Teil von zum Scheitern verurteilten Experimenten aufgesogen wurde, auf Wegen versandete, die man besser nicht eingeschlagen hätte, und in intellektuell reizvollen Projekten versickerte, die sich als Sackgassen entpuppten.

Abseits der wehenden Partywimpel wurde in Buna auch ernsthafte Arbeit geleistet: ›Wissenschaft‹ mit einem neuen obsessiven Potenzial, denn dies war Art pour l’Art, Wissenschaft als Selbstzweck. Wissenschaft war die selbstgewählte Beschäftigung dieser kleinen Bevölkerungsgruppe, die sich ausschließlich von Wissensdurst leiten ließ. Die heiße Luft des revolutionären Eifers aber würde irgendwann aus der Blase entweichen, und in der kalten Luft der Realität würde alles klamm werden und sich nicht mehr so angenehm anfühlen.

Der Arbeit im Normalisierungsausschuss mangelte es naturgemäß an dem Schwung, wie Notstand und Krieg ihn mit sich brachten. Die Arbeit war zwar immer schon anstrengend gewesen, doch hatten sich die Beteiligten kaum jemals gelangweilt.

Jetzt hatten Greta und Oscar hin und wieder Zeit, an sich selbst zu denken und miteinander zu sprechen anstatt für die Öffentlichkeit. Momente, da die übrigen Ausschussangehörigen anderswo beschäftigt waren. Momente, da sie miteinander allein sein konnten.

Oscar blickte sich im leeren Versammlungsraum um. Der Raum war das Spiegelbild seiner Seele: leer, überhell, verwaist, angefüllt mit offiziellem Geröll.

»Das war’s, Greta. Die Kampagne ist endlich vorbei. Wir haben gewonnen. Wir sind an der Macht. Wir müssen jetzt zur Ruhe kommen, wir müssen lernen zu herrschen. Wir sind keine Rebellen mehr, denn wir können nicht gegen uns selber protestieren und streiken. Wir können nicht einmal gegen den Präsidenten rebellieren: er ignoriert uns auf passiv-aggressive Weise, er lässt uns Handlungsfreiheit. Er will sehen, ob wir’s schaffen oder uns das Genick brechen. Wir müssen uns jetzt mit den Realitäten befassen. Wir müssen uns konsolidieren.«

»Ich habe darauf gewartet, dass du mir das sagst. Dass ich endlich aus dem Schneider bin. Keine Jeanne d’Arc mehr.«

»Ich habe dich als Jeanne d’Arc hingestellt, weil eine Kandidatin, die einen heroischen Feldzug anführt, dieses Image braucht. Du bist nicht Jeanne d’Arc. Jeanne d’Arc war ein fünfzehnjähriges Militärgenie, das Stimmen hörte. Du hörst keine Stimmen. Das ganze Geschrei, das du dir ständig anhören musstest, war kein Engelsrufen, sondern eine sehr geschickte und kluge PR-Kampagne. Jeanne d’Arc wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es war nicht meine Absicht, dich den Flammen zu opfern. Das will ich nicht, Greta. Das ist es nicht wert.«

»Aber was hast du dann mit mir vor, Oscar? Du willst eine Jeanne d’Arc, die am Ende mit allem durchkommt. Ein schizophrenes Bauernmädchen, das erfolgreich eine große Burg erbaut und am Ende, ja, was denn, französische Herzogin wird? Eine Bauernherzogin in prächtigen Brokatkleidern.«

»Und mit einem Prinzen an ihrer Seite. Okay?«

»Warum sollte Jeanne d’Arc einen Prinzen haben wollen oder brauchen? Ich meine – auf lange Sicht.«

»Also, der naheliegende Kandidat wäre Gilles de Rais gewesen – doch das war aussichtslos. Aber was soll’s; historische Analogien bringen uns nicht weiter. Ich rede von dir und mir. Wir sind am Ende unseres Weges angelangt. Wir stehen an einem Wendepunkt. Jetzt müssen wir Stellung beziehen. Wir müssen sesshaft werden.«

Greta schloss die Augen, atmete mehrmals tief durch. Das leise Zischen des Luftfilters war das einzige Geräusch im Raum. Der viele Stress hatte ihre Allergien verschlimmert; sie schleppte ihre Luftfilter jetzt ständig mit sich herum wie eine Handtasche. »Also geht es letztlich um dich und mich.«

»So ist es.«

»Nein, das stimmt nicht. Ich will dir sagen, wie ich darüber denke. Als ich dich zum ersten Mal sah, war ich ausgesprochen skeptisch. Ich wollte keinen Ärger haben. Aber du hast mir immer wieder Avancen gemacht. Und ich dachte: Was macht der da? Das ist ein Politprofi. Ich habe dem Kerl nichts zu bieten. Ich verschwende bloß im Verwaltungsrat meine Zeit damit, vernünftige Geräte herbeizuschaffen. Und nicht einmal das ist mir gelungen. Aber dann meldete sich der leise Gedanke zu Wort: der Kerl ist wirklich scharf auf mich. Er findet mich sexy. Er will mit mir schlafen. So einfach ist das.«

Sie atmete tief durch. »Und ich dachte mir: Das ist wirklich eine schlechte Idee. Aber was kann mir schon passieren? Wenn man mich mit diesem Menschen im Bett vorfindet, wird man mich rügen und aus dem Verwaltungsrat hinauswerfen. Wunderbar! Dann kann ich wieder ins Labor! Und außerdem: Schau ihn dir an! Er ist jung, er sieht gut aus, er schreibt dir lustige Briefchen, er schickt dir große Blumensträuße. Und er hat etwas Besonderes.«

Sie schaute ihn an. Oscar hing an ihren Lippen. Er hatte das Gefühl, er habe sein ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet.

»Ich habe mich in dich verliebt, Oscar. Ich weiß, dass es wahr ist, denn du bist der einzige Mann, wegen dem ich niemals eifersüchtig war. Diese Art von emotionalem Luxus kannte ich bisher nicht. Ich liebe dich, und ich bestaune dich als meinen Lieblingskauz. Ich liebe dich wirklich um deiner selbst willen, durch und durch, mit Haut und Haar. Wir hatten eine tolle Zeit. Ich habe den Sprung gewagt und hatte keine Angst dabei, denn letzten Endes verfügst du über eine große, entscheidende, seligmachende Gnade. Denn du bist nur vorläufig. Du bist nicht meine Bestimmung. Du bist nicht mein Prinz. Du bist bloß ein Besucher, ein Vertreter auf der Durchreise.«

Oscar rückte. »So kommen wir weiter.«

»Wirklich?«

»Das stimmt vollkommen. Ich war immer nur vorläufig. Ich erteile gute Ratschläge, ich leite Wahlkämpfe, ich komme und gehe. Ich habe kurze Affären, aber ich bringe nichts Dauerhaftes zustande! Mein Stiefvater hat mich spontan ausgewählt. Dad hatte vier Ehefrauen und zahllose Freundinnen: die Frauen sind in meiner Kindheit nur so an mir vorbeigerauscht. Ich habe ständig Fieber. Ich muss mich jeden Morgen neu zusammensetzen. Ich habe eine Firma aufgebaut, aber ich habe sie verkauft. Ich habe ein Haus gebaut, aber es steht leer. Ich habe ein Hotel gebaut, aber ich kann es nicht leiten. Ich habe ein Bündnis geschmiedet, ich habe eine neue Gesellschaft aufgebaut. Ich habe eine Stadt gebaut, um ihr Wohnraum zu bieten, mit einem Leuchtturm und plärrenden Lautsprechern und fähnchenschwingenden Bewohnern, aber ich kann mich trotzdem nicht zum Bleiben entschließen. Ich bin der Gründervater, ich bin der Prinz, aber ich gehöre nicht hierher. Ich kann einfach nicht bleiben.«

»Ach, Gott.«

»Verstehst du, worum’s mir geht?«

»Oscar, wie könnte ich bleiben? Ich kann nicht so weitermachen, ich bin völlig ausgebrannt. Ich habe getan, was ich tun musste, ich kann nicht behaupten, du hättest mich benutzt. Aber irgend etwas hat mich benutzt. Die Geschichte hat mich benutzt, und sie braucht mich auf. Selbst unsere Affäre ist jetzt aufgebraucht.«

»Wir sollten das Richtige tun, Greta, wir sollten Nägel mit Köpfen machen. Lass uns gemeinsam Stellung beziehen. Ich möchte dich heiraten.«

Sie barg das Gesicht in den Händen.

»Tu das nicht. Hör mir zu. Es kann funktionieren. Es ist machbar. Es ist geradezu ein genialer Schachzug.«

»Oscar, du liebst mich nicht.«

»Ich liebe dich so sehr, wie ich überhaupt lieben kann.«

Sie musterte ihn erstaunt. »Eine brillante Ausflucht.«

»Du wirst nie einen Mann finden, der mehr Verständnis für deine Interessen aufbringt als ich. Wenn du jemand anderen findest, den du heiraten willst, dann verlass mich! Davor habe ich keine Angst. Dazu wird es niemals kommen.«

»Mein Gott, wie gut du doch reden kannst.«

»Es ist mir ernst. Ich meine es vollkommen ehrlich. Ich möchte eine ehrbare Frau aus dir machen. Ich beziehe endlich Stellung, ich lege mich fest. Die Ehe ist eine erhabene Institution. Die Heirat ist großes symbolisches Theater. Zumal eine Prunkhochzeit. Es war eine Kriegsromanze, und das ist jetzt eine Friedenshochzeit, und alles ist ganz normal und vernünftig. Wir veranstalten ein Fest, wir laden alle Welt ein. Wir tauschen Ringe aus, wir lassen uns mit Reis bewerfen. Wir schlagen Wurzeln.«

»Wir haben keine Wurzeln. Wir sind Netzwerkleute. Wir haben Luftwurzeln.«

»Es ist richtig und angemessen. Es ist nötig. Es ist der einzig richtige Weg für uns beide, nach alldem weiterzumachen.«

»Oscar, wir können nicht weitermachen. Wenn ich dich heirate, heißt das noch lange nicht, dass dadurch eine ganze Gemeinschaft zusammengeschweißt würde. Die Beziehung zweier Menschen zu legitimieren, heißt nicht, ihre Gesellschaft zu legitimieren. Ich bin eine Kriegsherrin und eine Streikführerin – ich war Jeanne d’Arc. Niemand hat mich gewählt. Ich herrschte mittels Gewalt und kluger Propaganda. Die wahren Mächte seid ihr, du und Kevin. Und Kevin ist wie jeder andere Outlaw, der Macht in die Hände bekommt: er ist ein gemeines kleines Scheusal. Er bringt mir große Dossiers, er tyrannisiert die Leute und spioniert ihnen nach. Ich bin das alles leid. Es verwandelt mich in ein Monstrum. Ich kann so nicht weitermachen, das ist nicht richtig. Das hat keine Zukunft.«

»Du hast dir eine Menge Gedanken darüber gemacht, nicht wahr?«

»Du hast mir beigebracht, mir Gedanken zu machen. Du hast mich gelehrt, politisch zu denken. Du bist ein guter Taktiker, Oscar, du bist wirklich clever, du weiß alles über die Ticks und Schwächen anderer Menschen, aber von ihrer Integrität und Stärke verstehst du nichts. Du bist kein guter Stratege. Du kennst die schmutzigen Tricks mit den Go-Steinen in der Ecke, aber das Spielbrett als Ganzes verstehst du nicht.«

»Du etwa?«

»Teilweise schon. Ich kenne die Welt gut genug, um zu wissen, dass ich in meinem Labor am besten aufgehoben bin.«

»Dann gibst du also auf?«

»Nein… Ich ziehe mich bloß zurück, solange ich ganz oben bin. Irgend etwas wird hier funktionieren. Irgend etwas wird überdauern. Aber das wird keine neue Welt sein. Bloß ein neues politisches System. Wir können uns nicht in einem luftdichten Nest einschließen, mit mir als Termitenkönigin. Ich muss aufhören, ich muss Schluss machen. Dann wird sich vielleicht alles beruhigen und setzen, und von Grund auf entsteht etwas Dauerhaftes.«

»Vielleicht ist ja mehr für uns drin. Vielleicht bin ich doch ein großer Stratege.«

»Schatz, das bist du nicht! Du bist gerissen, aber du bist jung, und du bist nicht weise. Du kannst nicht König werden, indem du die Pappkönigin heiratest, die du selbst erschaffen hast, indem du mit einem Bauern bis ans Ende des Spielbretts marschiert bist. Du solltest dir nicht mal wünschen, König zu sein. Das ist ein lausiger Job. Eine Lage wie diese erfordert keinen weiteren dummen Tyrannen mit einer goldenen Krone, sondern… sondern den Begründer einer Zivilisation, einen Heiligen und Propheten, jemanden, der unglaublich weise, selbstlos und großzügig ist. Jemanden, der aus dem Chaos Gesetze schmiedet, der aus dem Chaos Ordnung schafft, Gerechtigkeit aus dem Geschrei und Bedeutung aus der totalen Wirrnis.«

»Mein Gott, Greta. So habe ich dich noch nie reden gehört.«

Sie blinzelte. »Ich glaube, so habe ich noch nicht einmal gedacht.«

»Was du da sagst, ist vollkommen richtig. Das ist die harte, kalte Wahrheit, und sie ist schlimm, schlimmer, als ich mir je vorgestellt habe, aber weißt du was, ich bin froh, dass ich sie jetzt weiß. Ich möchte immer wissen, woran ich bin. Ich weigere mich, hier eine Niederlage einzugestehen. Ich weigere mich, meine Zelte abzubrechen. Ich will dich nicht verlassen, ich ertrage es nicht. Du bist die einzige Frau, die mich jemals verstanden hat.«

»Es tut mir Leid, dass ich dich so gut verstehe, dass ich dir das sagen kann.«

»Greta, lass mich nicht im Stich. Lass mich nicht fallen. Ich habe hier einen wahren Durchbruch erzielt, ich stehe am Beginn von etwas wahrhaft Großem. Was du zur Tyrannei gesagt hast, stimmt, das ist eine scheißreale, grundlegende politische Herausforderung. Wir haben uns hier verausgabt, wir sind alle ausgebrannt, wir haben uns in Kleinigkeiten verzettelt. Mit kurzsichtiger Taktik kommen wir nicht mehr weiter, aber die Dinge sich selbst zu überlassen hieße, einen Rückzieher zu machen. Wir müssen etwas Großes, Dauerhaftes erschaffen, wir brauchen eine höhere Wahrheit. Nein, nicht höher, sondern tiefer, wir brauchen ein Fundament aus Granit. Keine Sandburgen und kein Improvisieren mehr. Wir brauchen ein Genie. Und du bist ein Genie.«

»Ja, aber nicht auf diesem Gebiet.«

»Aber du und ich, wir könnten es gemeinsam schaffen! Wenn wir ein bisschen Zeit hätten, uns zu sammeln, wenn wir einfach öfter so wie heute miteinander reden könnten. Hör zu. Du hast mich völlig überzeugt: Du bist klüger als ich, du bist realistischer. Wir gehen von hier fort. Wir laufen gemeinsam weg. Vergiss die Prunkhochzeit, die Ringe und den Reis. Wir gehen auf… nein, nicht auf eine Insel, die gehen alle unter… Wir gehen nach Maine. Wir bleiben ein, zwei Monate dort, oder meinetwegen ein Jahr. Wir klinken uns aus dem Netz aus, wir begnügen uns mit Füllfederhaltern und Kerzenlicht. Wir sammeln uns ganz ernsthaft, ohne jede Ablenkung. Wir entwerfen eine Verfassung.«

»Was? Das lass lieber den Präsidenten machen.«

»Diesen Kerl? Der ist nicht mehr derselbe wie früher! Der ist Sozialist, der wird vernünftige, praktische Menschen aus uns machen, genau wie die Europäer. Aber das hier ist nicht Europa! Amerika wurde von Menschen geschaffen, die von Europa die Schnauze voll hatten! Normalität – das kann nicht bedeuten, dass man sich die Nase putzt und den Kohlendioxidausstoß misst. Normalität bedeutet für Amerika technischer Wandel. Klar, eine Zeit lang sind uns die Pferde durchgegangen, der Rest der Welt hat uns reingelegt, uns verarscht, die wollen eine Welt der Rembrandts und der Reisfelder, solange bis die Posaune des Jüngsten Gerichts bläst, aber jetzt haben wir uns vom Krankenlager erhoben. Ein rascher Wandel ist der Normalfall für Amerika. Was wir brauchen, ist zielgerichteter Wandel – Fortschritt. Wir brauchen Fortschritt!«

»Oscar, du bist schon ganz rot im Gesicht.« Sie machte Anstalten, ihn zu berühren.

Er riss die Hand zurück. »Hör auf, mir den Puls zu fühlen. Du weißt, ich mag das nicht. Hör mal, ich bin labortischnüchtern, wirklich. Ich tu das alles doch für dich, Greta. Es ist mein voller Ernst, wir können morgen schon loslegen. Ein langes Sabbatjahr in Maine, in einem romantischen Blockhaus. Ich sage Lana, sie soll uns eine Blockhütte mieten, die kennt sich dort aus.«

Greta riss die Augen auf. »Was? Morgen schon? Lana? In der Wildnis? Wir können die romantische Clare und das Kamasutra-Girl Lana Ramachandran doch nicht einfach im Stich lassen.«

Oscar starrte sie an. »Was hast du gesagt?«

»Tut mir Leid. Ich hätte das mit Lana nicht sagen sollen. Lana kann nichts für ihre Gefühle. Aber das mit Clare bedaure ich nicht. Du hast dich mit ihr betrunken! Kevin hat’s mir erzählt.«

Oscar war verblüfft. »Wie sind wir auf das Thema gekommen?«

Gretas Hals überzog sich mit hässlicher Röte. »Ich denke immer daran – ich hab’s bloß nie ausgesprochen! Clare und Lana und die Frau des Senators und Moira, all diese aufgedonnerten, aufgemotzten Glamour-Frauen mit ihren langen Krallen…«

»Greta, hör auf. Vertrau mir! Ich bitte dich, mich zu heiraten. Moira! Kapier das endlich. Das ist echt, das ist dauerhaft und wahr. Sag mir ein für allemal, willst du Moira heiraten?«

»Was? Moira gehört doch du deinem Team, nicht wahr? Sie ist hergekommen, um Wiedergutmachung zu leisten.«

»Aber Moira arbeitet für Huey! Wann hast du dich mit ihr getroffen?«

»Moira war in meinem Büro. Sie hat mir einen neuen Luftfilter mitgebracht. Sie war ganz reizend.«

Oscar starrte entsetzt den Luftfilter auf dem Tisch an. Er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt. Sie waren überall und wirkten so harmlos. Sie filterten das trojanische Giftgas aus der Luft. »Ach, Greta. Wie konntest du von dieser Frau nur ein Geschenk annehmen?«

»Sie meinte, das Geschenk sei von dir. Es hat nach Rosen geduftet.« Sie tätschelte das Gerät, dann blickte sie auf einmal mit gequälter, verwirrter Miene auf. Allmählich dämmerte ihr die grauenhafte Erkenntnis. »Ach, Lieber, ich dachte, du wüsstest Bescheid. Ich dachte, du wüsstest alles.«


Das Labor war natürlich dafür ausgerüstet, mit biologischer Kontamination fertig zu werden. Das ganze Verwaltungsgebäude wurde hermetisch abgeriegelt. Das Gas aus dem präparierten Luftfilter war besonders heimtückisch; es handelte sich um Mikropartikel von der Größe und Form von Jakobskrautpollen. Die Partikel hafteten wie eine schmerzlose Linie Kokain an der Nasenschleimhaut, wo ihr Inhalt in die Blutbahn einsickerte und mysteriöse Dinge anstellte.

Nachdem sich Oscar und Greta mühsam in Schutzanzüge gezwängt hatten, geleitete man die beiden taumelnden Vergifteten, deren Gesichter sich gerötet hatten, in die Krankenstation des Hochsicherheitstrakts. Man schrubbte sie rituell ab und unterzog sie einer behutsamen Untersuchung. Die gute Nachricht lautete: sie würden nicht sterben. Die schlechte Nachricht ließ etwas länger auf sich warten. Sie hatten erhöhten Blutdruck, Blutandrang im Kopf und Gleichgewichtsstörungen und litten an seltsamen Sprachstörungen. Die PET-Untersuchungen ergab eine abnorm hohe Aktivität der kognitiven Prozesse, zwei wandernde Aktivitätszentren, wo sich im normalen Gehirn bloß eines hätte befinden sollen. Der Grundrhythmus der Gehirnwellen wies ausgeprägte Störungen auf.

Während Oscar die Rede seines Lebens gehalten hatte, war er ganz allmählich vergiftet worden. Diese Erkenntnis versetzte ihn in einen Zustand animalischer Raserei. Dabei kam allerdings noch eine andere bemerkenswerte Eigenschaft seines vergifteten Gehirns zum Vorschein. Er konnte tatsächlich zwei Gedanken gleichzeitig verfolgen; die Anstrengung war allerdings so groß, dass er den Vorgang kaum kontrollieren konnte.

Eine Krankenschwester schlug ein Sedativum vor. Oscar räumte bereitwillig ein, dass er ein wenig hyperaktiv sei, und untermauerte dies, indem er Beleidigungen brüllte und wiederholt gegen die Wand trat. Dies führte zur Verabreichung eines Beruhigungsmittels. Gespaltene Bewusstlosigkeit war die Folge.

Gegen Mittag kam Oscar wieder zu sich. Er fühlte sich benommen und gleichzeitig aufgekratzt. Er besuchte Greta in ihrer separaten Dekontaminationszelle. Greta hatte eine ruhige Nacht verbracht. Sie saß kerzengerade im Krankenbett, die Beine über Kreuz, die Hände im Schoß, und blickte ins Leere. Sie sagte nichts, nahm ihn nicht einmal wahr. Sie war hellwach und auf schwer fassliche Weise mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Eine Krankenschwester passte auf, während Oscar Greta voll bittersüßer Empfindungen betrachtete. Bitter; süß; bitter/süß, bittersüß. Sie war entrückt, verschlossen, angefüllt mit überwältigenden Einsichten. Greta war noch nie so mit sich eins gewesen. Es hätte eine Entweihung bedeutet, sie zu berühren.

In Begleitung der Krankenschwester schlurfte Oscar zurück zu seiner Zelle. Er fragte sich, wie sich das Gas wohl bei Greta auswirkte. Offenbar war die Wirkung nicht bei allen Menschen gleich. Vielleicht standen dem zweigleisigen Denken ja ebenso viele Wege offen wie dem eingleisigen.

Wenn er die Augen schloss, spürte er es sogar körperlich. Es war, als hätte man zwei weiche Blasen voller Flüssigkeit, den aneinander geschmiegten Yin-Yang-Hälften gleich, in seinen beengten Schädel gestopft. Das eine Aufmerksamkeitszentrum lag irgendwie ›vorne‹, das andere ›hinten‹, und wenn das vordere ins Zentrum des Bewusstseins rückte, trat das andere zurück. Außerdem hatten die Kleckse kleine Augen in der Mitte. Augen, welche weitere im statu nascendi befindliche Bewusstseinströme in sich bargen. Lebenden Statuen gleich, die darauf warteten, dass eine mentale Berührung sie zu vollem Bewusstsein erweckte.

Kevin betrat die Zelle. Oscar hörte ihn heranschlurfen, war sich seiner Anwesenheit deutlich bewusst; allerdings dauerte es einen verstörenden Moment, bis ihm klar wurde, dass er sich der Mühe unterziehen sollte, die Augen zu öffnen und hinzuschauen.

»Gott sei Dank, dass Sie da sind!« platzte er heraus.

»Das gefällt mir«, meinte Kevin blinzelnd. »Enthusiasmus.«

Oscar zwang sich zu schweigen. Wenn er sich darauf konzentrierte, schaffte er es, dem Drang zu widerstehen, seine Gedanken laut auszusprechen. Er brauchte bloß die Zunge gegen den Gaumen zu pressen, die Zähne zusammenzubeißen und gleichmäßig durch die Nase zu atmen.

»Sie sehen gar nicht so schlecht aus«, bemerkte Kevin. »Ihre Haut ist ein bisschen gerötet, und sie halten den Hals wie eine Giraffe auf Speed, aber Sie machen nicht den Eindruck, verrückt zu sein.«

»Ich bin nicht verrückt. Ich bin bloß anders.«

»Äh… ja.« Kevin setzte sich auf einen desinfizierten Metallstuhl und ruhte seine schmerzenden Füße aus. »Äh… es tut mir Leid, dass ich’s vermasselt habe, Mann.«

»Kann passieren.«

»Ja. Daran sind die Leute aus Boston schuld, die alte Bambakias-Crew; das war das Problem. Die Frau des Senators… sie hat sich einen abgebrochen, um mir klar zu machen, dass ich das mit der Pressesprecherin durchgehen lassen sollte. Sie und diese Pressemieze wären mal ein Paar gewesen, all das. Na toll, dachte ich, dann haken wir das ab; aber dann tauchte Moira Matarazzo auf, die ehemalige Pressesprecherin des Senators… Verstehen Sie, da hab ich den Überblick verloren. Das war alles. Ich bekam das einfach nicht mehr auf die Reihe. All diese Leute aus Boston, die ehemaligen Mitarbeiter, die Mitarbeiter der ehemaligen Mitarbeiter; niemand hätte bei dem Scheiß noch durchgeblickt. Mann, ich wusste nicht mal mehr, ob ich noch Ihr Mitarbeiter bin.«

»Ich verstehe, Kevin. Das ist das Nebenprodukt eines im Wesentlichen semifeudalistischen, halblegalen, verteilbar-verneinbaren, netzbasierten segmentierten mehrgleisigen Sozialisierungsprozesses.«

Kevin wartete höflich ab, bis Oscars Lippen aufhörten sich zu bewegen. »Jedenfalls habe ich Moiras Bewegungen aufzeichnen lassen. In die Kuppel hinein, ins Verwaltungsgebäude hinein, wieder aus der Kuppel raus… Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht mehr von diesen reizenden kleinen Zeitbomben hinterlassen hat.«

»Huey.«

Kevin lachte. »Natürlich steckt da Huey dahinter.«

»Es erscheint mir ziemlich sinnlos und kleinlich, dass er uns das jetzt noch antut. Nachdem der Krieg vorbei ist und er sein Amt verloren hat. Zu einem Zeitpunkt, da ich mich anschicke, dies alles hinter mir zu lassen.«

»Dann wollten Sie uns also wirklich verlassen.«

»Was?«

»Hab ich mitgehört. Ich vergaß zu erwähnen, dass ich den Giftgasanschlag aufgezeichnet habe. Die romantische Unterhaltung zwischen Ihnen und Dr. Penninger, als Sie unter Gas gesetzt wurden.«

»Sie haben den Konferenzraum verwanzt?«

»Hey, Mann, ich habe schließlich keinen Hirnschaden. Klar habe ich den Konferenzraum verwanzt. Nicht, dass ich Zeit hätte, jeden verdammten Raum abzuhören, den ich verwanzt habe… Aber, hey, wenn es irgendwo zu einem biologischen Terroranschlag kommt, dann können Sie sich drauf verlassen, dass ich die Bänder zurückspule und mir das anhöre. Ich passe auf, Oscar. Ich bin ein aufgewecktes Kerlchen. Ich gebe einen ziemlich guten Cop ab.«

»Ich habe nie behauptet, Sie wären kein guter Cop, Sie großmäuliger Versager.«

»Heilige Scheiße, da ist es schon wieder… Wissen Sie eigentlich, dass Sie tatsächlich mit zwei Stimmen reden, wenn Sie so widersprüchliche Äußerungen machen? Ich muss mal eine Stressanalyse machen, ich wette, Sie würden die Stimmanalysegeräte ganz schön durcheinanderbringen.« Kevin lehnte sich zurück und legte seinen bestrumpften Fuß auf Oscars Bett. Oscar fand, dass Kevin die Entwicklung ziemlich gut aufnahm. Andererseits hatte er das Phänomen bereits bei den Haitianern beobachtet. Er hatte Zeit gehabt, sich an die Vorstellung zu gewöhnen.

»Klar hatte ich Zeit, mich an die Vorstellung zu gewöhnen«, sagte Kevin. »Das liegt doch auf der Hand. Sie murmeln ständig vor sich hin, damit Sie wissen, was Sie denken. Ich kenne das Syndrom, Mann. Na und? Ich hab mich auch an Ihr anderes Persönlichkeitsproblem gewöhnt… Oscar, haben wir uns nicht immer gut verstanden?«

»Ja.«

»Ich muss gestehen, es hat mich wirklich verletzt, als Dr. Penninger sagte, ich sei ein ›gemeines kleines Scheusal‹ und würde andere Leute ›tyrannisieren‹ und ihnen ›nachspionieren‹. Und Sie haben ihr nicht widersprochen, Mann. Sie haben kein Wort gesagt.«

»Ich habe ihr einen Heiratsantrag gemacht.«

»Frauen«, knurrte Kevin. »Keine Ahnung, was mit denen los ist. Die sind einfach nicht rational. Das sind hinterhältige kleine Mata-Hari-Sexbomben, die Giftgasbomben mit sich rumschleppen… Oder sie sind wie Dr. Penninger nebenan, die Starre Eiskönigin des Ewigen Lichts und der Ewigen Wahrheit… Ich kapier einfach nicht, wie man diese Frau zufriedenstellen soll! Ich meine, Systemknacker wie ich, wir haben doch eine Menge gemeinsam mit den Wissenschaftlern. Beidesmal geht es um verborgenes Wissen und wie man es findet und wer es findet und wer die Lorbeeren dafür einheimst. Darum geht’s doch bei der Wissenschaft. Ich hab gern für sie gearbeitet, ich dachte, sie hätte es wirklich kapiert. Ich habe mich für die Frau krummgelegt, ich habe ihr jede Bitte erfüllt – ich habe ihr Wünsche erfüllt, die ihr nicht mal bewusst waren. Ich habe zu ihr aufgesehen, verdammt noch mal! Und was habe ich von meinen loyalen Diensten? Ich mache ihr Angst. Sie will mich loswerden.«

Oscar nickte. »Gewöhnen Sie sich schon mal an die Vorstellung. Das ist eine Säuberung. Huey hat uns ausgeschaltet. Das ist ein Enthauptungsschlag. Ich kann kaum noch sprechen. Ich kann kaum noch gehen. Und Greta befindet sich in einem hellwachen, schizoiden, katatonischen, hebephrenischen, nonverbalen Trancezustand…«

»Ich hab ein bisschen Schwierigkeiten mit den Adjektiven, Mann, aber kein Problem, Mann, ich verstehe, was Sie meinen. Entweder ich ergreife jetzt selbst die Macht und versuche, den ganzen Laden als Polizeistaat zu führen. Oder ich… ich weiß auch nicht… setze mich nach Boston ab. Ende der Geschichte. Schließlich ist das eine hübsche Hackerstory, oder? Eine gute Geschichte, um sie in ‘ner Bar zu erzählen.«

»Sie allein können den Laden nicht zusammenhalten, Kevin. Die Leute vertrauen Ihnen nicht.«

»Das weiß ich, Mann. Die Wohltaten teilen Sie alle selber aus, und mit mir schüchtern Sie die Leute ein. Ich weiß, dass ich der böse Mann war. Mein Dad war auch böse. Die Gründerväter sind ein Haufen toter Weißer; die Typen vom Mount Rushmore sind mittlerweile alle furchteinflößende Anglos. Wir sind die Bösen. Ich hab mich an die Rolle gewöhnt. Hey, ich war froh, Arbeit zu haben.«

»Ich möchte, dass Sie mir helfen, Kevin.«

»Wobei, Mann?«

»Hier rauszukommen.«

»Kein Problem, Boss. Ich bin immer noch Captain Scubbly Bee. Scheiße, ich hab mich mächtig angestrengt, Colonel Scubbly Bee zu werden. Ich kann Sie hier rausbringen. Wo wollen Sie hin?«

»Nach Baton Rouge. Oder wo immer Huey sich versteckt.«

»Oho! Nicht, dass ich Ihrem Urteil misstrauen würde, Mann, aber ich habe da einen prima Gegenvorschlag. Wie wär’s mit Boston? Das gute alte Drecknest! Beacon Hill, Charlestown, Cambridge… Wir beide sind schließlich Nachbarn, Mann. Wir wohnen in derselben Straße! Wir könnten zusammen nach Hause gehen. Wir könnten in einer Bar in Boston ein richtiges Bier trinken. Wir könnten uns ein Hockey-Spiel ansehen.«

»Ich muss mit Huey reden«, erklärte Oscar kategorisch. »Ich habe etwas Persönliches mit ihm zu klären.«


Green Huey hatte sich halb zur Ruhe gesetzt. Er nahm an einer Menge Einweihungsfeierlichkeiten teil und schnibbelte Seidenbänder durch. Die öffentliche Imagepflege wurde dadurch erschwert, dass er von einer militanten Phalanx von Regulatoren-Bodyguards umgeben war, aber Huey genoss die Show. Der Ex-Gouverneur war schon immer für einen Lacher gut gewesen. Er wusste, wie man die Leute bei Laune hielt.

Oscar und Kevin verkleideten sich als Obdachlose, ließen sich durchs soziale Netz hindurchfallen und pirschten sich an den Gouverneur heran. Sie reisten bei Nacht und schliefen in den miesesten Hotels; sie schlugen ihre neu erworbenen Militärzelte in Parks auf. Sie verbrannten ihre Ausweise und trugen Strohhüte, Gummistiefel und Overalls. Kevin trat als Oscars Aufpasser auf, ein humpelnder Typ mit einer Gitarre. Oscar gab sich als Kevins etwas unterbelichteter Cousin aus, der ständig vor sich hinbrummelte. Oscar hatte ein Akkordeon dabei. Obwohl Akkordeonmusik in der Gegend mal sehr beliebt gewesen war, ging man ihnen meistens aus dem Weg. Als geistig gestörte Straßenmusikanten, die jeden Moment einen Song anstimmen mochten, boten sie einen furchteinflößenden Anblick.

Oscar hatte die Geduld mit Huey verloren. In dieser Hinsicht war er gespaltener Meinung. Oscar war in letzter Zeit ständig gespaltener Meinung. Einerseits wollte er den Mann öffentlich zur Rechenschaft ziehen. Andererseits wollte er ihn schlicht und einfach ermorden. Dieser Gedanke erschien Oscar mittlerweile durchaus plausibel, denn der Wunsch, Politiker zu ermorden, war nicht ungewöhnlich bei geistig gestörten Entwurzelten, die nichts mehr zu verlieren hatten. Er und Kevin stritten sich ernsthaft über das Thema. Kevin schwankte offenbar zwischen Pro und Contra. Oscar war gleichzeitig pro und contra.

Das strategische Problem war erschreckend vielgestaltig. Oscar fiel es äußerst schwer, die Gedanken vorübergehend einmal abzustellen, denn er vermochte nun zahlreiche unterschiedliche Aspekte eines Themas gleichzeitig zu bedenken. Huey umbringen. Huey verstümmeln, ihm vielleicht persönlich die Arme brechen. Die Vorstellung, ihn auf Dauer in den Rollstuhl zu verbannen, hatte ihren Reiz. Huey zu blenden hatte etwas Biblisches. Aber wie? Ein Anschlag aus dem Hinterhalt war für zwei Amateure, die noch nie mit Schusswaffen zu tun gehabt hatten, ein schwieriges Unterfangen. Der Einsatz von Waffen hätte zudem die unverzügliche Festnahme zur Folge gehabt. Gift klang verlockend, würde aber eine Menge Planung und einen großen Aufwand erfordern.

»Sie gehören doch dem NSR an, oder?« sagte Kevin, als sie zum Gezirpe der Grillen, fernab des üblen Überwachungsnebels der Stadt, im Zelt ihre Schlafsäcke ausrollten. »Ich dachte eigentlich, man hätte Ihnen da beigebracht, was für schlimme Dinge man mit Zigarrensud anfangen kann.«

»Der Präsident ordnet nicht die Ermordung von innenpolitischen Gegnern an. Könnte man ihm das nachweisen, würde er des Amtes enthoben. Das ist völlig kontraproduktiv.«

»Sind Sie nicht ein Agent des Präsidenten?«

Das war eine kluge Bemerkung. Oscar wurde bewusst, dass er sich ein wenig in den wuchernden Ranken seiner kognitiven Prozesse verheddert hatte. Am nächsten Tag kehrten sie in einem schmuddligen Lokal am Stadtrand von Mamou ein und riefen über ein Satellitenmünztelefon den NSR an.

Es dauerte eine Weile, bis Oscars unmittelbarer Vorgesetzter den Münztelefonanruf über eine äußerst unsichere Leitung aus dem Herzen von Cajun-Land entgegennahm. Als er endlich dranging, war er fuchsteufelswild. Oscar erklärte, er sei vergiftet worden, er sei mental nicht auf der Höhe und habe einen totalen geistigen Zusammenbruch erlitten, weshalb er für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich und für den öffentlichen Dienst fortan ungeeignet sei, sodass er von seinem Posten unverzüglich zurücktreten müsse. Sein Vorgesetzter befahl ihm, nach Washington zu fliegen und sich eingehend untersuchen zu lassen. Oscar erwiderte, dass dies nicht seinen Absichten als Privatmann entspreche. Sein Vorgesetzter meinte, man werde ihn festnehmen. Oscar erklärte, er befinde sich derzeit mitten in Louisiana, wo die Einheimischen auf Unionsagenten nicht gut zu sprechen seien. Er legte auf. Das viele Reden hatte ihn angestrengt. Seine Zunge fühlte sich ganz wund an.

Kevin kam allmählich in Schwung. Er schlug vor, sämtliche Verbindungen zu Senator Bambakias einfach abzubrechen. Sie speisten genüsslich rote Bohnen und Reis, und auf dem Rückweg stellten sie fest, dass es am Münztelefon von Regulatorenschlägern in Pickups wimmelte. Sie versuchten, mit der Gitarre und dem Akkordeon etwas Geld zu verdienen, bis man ihnen sagte, sie sollten sich zum Teufel scheren.

Sie trampten von Mamou nach Eunice und riefen über ein anderes Münztelefon im Washingtoner Büro des Senators an. Der Senator hielt sich nicht mehr in Washington auf. Bambakias befand sich auf Informationsreise in den soeben eroberten Niederlanden. Mittlerweile hatte der ganze Auswärtige Ausschuss sein Lager in einem leergeräumten Gebäude der holländischen Regierung in Den Haag aufgeschlagen. Oscar entschuldigte sich für die Störung und wollte gerade auflegen, als sich der Senator zu Wort meldete. Das Telefonat war über den Atlantik weitergeleitet worden und hatte ihn aus dem Schlaf geweckt. Gleichwohl wollte er das Gespräch unbedingt entgegennehmen.

»Oscar, ich bin ja so froh, dass Sie anrufen. Legen Sie nicht auf! Wir wissen über den Vorfall Bescheid. Lorena und ich sind geschockt. Wir werden Huey deswegen festnageln. Ich weiß, das bedeutet, dass ich wegen dem Debakel mit Moira geoutet werde, aber das nehme ich gerne in Kauf. So kann Huey nicht mit den Leuten umspringen, das ist entsetzlich. In einem solchen Land können wir nicht leben. Wir müssen Stellung beziehen.«

»Schön, dass Sie das sagen, Senator. Tapfere prinzipientreue Entschuldigung, aber das war alles meine Schuld.«

»Oscar, hören Sie genau zu. Die Haitianer haben die Sache überlebt, und Sie werden sie auch überleben. Neurologen in aller Welt sind mit dem Problem befasst. Sie sind erbost über das, was Dr. Penninger angetan wurde, das ist ein persönlicher Affront gegen sie und ihren Berufsstand. Wir möchten, dass Sie nach Den Haag kommen und sich hier behandeln lassen. In Holland gibt es ausgezeichnete Kliniken. Eigentlich ist die ganze Infrastruktur in wunderbarem Zustand. Straßenblockaden sind hier unbekannt. Die Regierungseinrichtungen sind tipp-topp in Ordnung. Der Auswärtige Ausschuss hier in Den Haag bekommt in einer Woche mehr Arbeit geschafft als der in Washington in einem Jahr. Ihnen stehen alle Möglichkeiten offen, Oscar. Es besteht Hoffnung. Ihre Freunde möchten Ihnen helfen.«

»Senator, selbst wenn Sie Greta helfen könnten, so bin ich doch ein spezieller Fall. Ich habe einen einzigartigen genetischen Hintergrund, und neurale kolumbianische konventionelle Medizin ist da nutzlos.«

»Das stimmt nicht! Sie lassen außer Acht, dass es hier in Europa drei Däninnen gibt, die praktisch Ihre Schwestern sind. Sie haben von Ihren Schwierigkeiten erfahren und möchten Ihnen helfen. Ich bin vor kurzem mit ihnen zusammengetroffen und habe mich mit ihnen unterhalten. Ich glaube, jetzt kann ich Sie besser verstehen. Sag es ihm, Lorena.«

Die Frau des Senators ging ans Telefon. »Oscar, hören Sie auf Alcott. Was er sagt, ist vernünftig. Ich habe ebenfalls mit den beiden Frauen gesprochen. Sie sind ein Sonderfall, ganz klar; aber sie möchten Ihnen trotzdem helfen. Es ist ihnen ernst, und uns auch. Sie bedeuten uns viel. Sie haben Alcott und mir in den dunkelsten Stunden beigestanden, und jetzt sind wir an der Reihe, so ist das. Bitte lassen Sie sich von uns helfen.«

»Lorena, ich bin nicht verrückt. Huey befindet sich seit zwei Jahren in diesem Zustand, und er ist auch nicht verrückt. Es handelt sich einfach um einen grundlegend anderen Bewusstseinszustand. Bisweilen habe ich große Schwierigkeiten, mir über etwas klar zu werden, das ist alles.«

Lorenas Stimme entfernte sich auf einmal. »Red ihn nieder, Alcott! Er spricht gerade richtiges Englisch!«

Bambakias meldete sich wieder, in seinem volltönendsten, eindringlichsten Bariton. »Oscar, Sie sind ein Profi. Sie sind ein Spieler. Spieler regen sich nicht auf. Sie werden einfach bloß ruhig. Sie haben als terroristischer weißer Hacker mit einer Polizeiakte in Louisiana nichts verloren. Sowas tut ein Spieler nicht. Wir werden Huey dafür festnageln; es wird eine Weile dauern, aber wir nageln ihn fest. Huey hat einen Riesenfehler gemacht – er hat ein Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates vergiftet. Es ist mir egal, ob Hueys Schädel mit Turboladern und Nachbrennern vollgestopft ist. Two Feathers dadurch herauszufordern, dass er einen seiner Mitarbeiter unter Gas setzt, war eine große Dummheit. Der Präsident ist ein ausgesprochen harter Mann – und offen gesagt hat er sich als weit besserer Politiker erwiesen als der Ex-Gouverneur dieses kleinen Südstaates.«

»Senator, ich höre Ihnen zu. Ich glaube, was Sie da sagen, hat etwas für sich.«

Bambakias ließ langsam die Luft entweichen. »Gott sei Dank.«

»Ich habe mir bislang nicht viele Gedanken über Holland gemacht. Ich meine, Holland verfügt über ein so großes Potenzial. Ich meine, praktisch gehört Holland jetzt uns, oder etwa nicht?«

»Ja, das ist richtig. Wissen Sie, Holland ist das neue Louisiana. Louisiana ist eine Nachricht von gestern! Sie und ich haben recht daran getan, uns in Louisiana zu engagieren, das war ein ernsthaftes Problem – aber als Schurkenstaat ist Louisiana jetzt ein Nebenschauplatz. Die Niederlande ist die wahre Zukunft. Das ist ein ernsthaftes, gut organisiertes, sachliches Land, seine Bewohner unternehmen systematische, vernünftige Schritte, um das Klima und die Umwelt in den Griff zu bekommen. Ob Sie’s glauben oder nicht, aber die sind den Vereinigten Staaten auf vielen Gebieten voraus – zumal im Bankwesen. Das Thema Louisiana ist erledigt. Die sind nicht ernsthaft. Das sind Visionäre, Krebse fressende Psychos. Wir brauchen jetzt eine ernsthafte politische Organisation, eine Rückkehr zur Normalität. Huey ist ein Mann von gestern, der zählt nicht mehr. Das ist ein geifernder Verrückter, der hie und da mit technischen Innovationen um sich wirft – als ob es ausreichen würde, ein paar halbgare Ideen auszuspucken, um die Menschheit insgesamt voranzubringen. Das ist pure Demagogie, das ist Wahnsinn. Wir brauchen Vernunft und politische Stabilität und eine nüchterne, pragmatische Politik. Das ist die Aufgabe der Regierung.«

Oscar wälzte dieses außergewöhnliche Statement in seinem Kopf herum. Gedanken und Erinnerungen wirbelten kaleidoskopisch durcheinander. »Sie haben sich wirklich verändert, nicht wahr, Alcott?«

»Wie bitte?«

»Ich meine die Behandlung, der Sie sich unterzogen haben. Die hat Ihre Persönlichkeit verändert. Sie sind jetzt realistisch. Sie sind vernünftig und umsichtig. Sie sind langweilig.«

»Oscar, ich bin mir darüber im Klaren, dass Sie über einige interessante Einsichten verfügen, aber jetzt ist nicht der Moment zum Plaudern. Wir müssen beim Thema bleiben. Sagen Sie mir, dass Sie nach Den Haag kommen und sich uns anschließen werden. Lorena und ich, wir sind Ihre Familie – in Zeiten wie diesen sind wir Ihre Ersatzfamilie. Kommen Sie nach Holland, nehmen Sie Ihren Platz im Team wieder ein, und dann bringen wir Sie wieder in Ordnung. Das verspreche ich Ihnen.«

»Also gut, Senator, Sie haben mich überzeugt. Sie haben Ihr Wort bisher stets gehalten, und Ihr Versprechen rührt mich sehr. Ich glaube, ich war impulsiv. Ich kann nicht ständig Vollgas geben. Ich muss gründlich über alles nachdenken.«

»Das ist prima. Ich wusste, dass ich Sie zur Vernunft bringen könnte, ich wusste, ich würde Sie aufmuntern. Aber ich glaube, wir haben jetzt lange genug telefoniert. Die Leitung ist nicht sicher.«

Oscar wandte sich an Kevin. »Der Senator meint, die Leitung sei nicht sicher.«

Kevin zuckte die Achseln. »Also, das ist irgendein Telefon, Mann. Das ist ein großer Staat. Huey kann nicht alle Telefone abhören.«

Zwei Stunden später wurden sie am Straßenrand von der Polizei von Louisiana festgenommen.


Green Huey nahm in Lafayette an einem kulturellen Ereignis teil. Er und ein Teil seiner Truppe halblegaler alter Kameraden hauten auf einem Hotelbalkon mit Blick aufs Volksfest auf den Putz. Unter ihnen fand in fast völliger Stille eine gewaltige Tanzveranstaltung statt. Mindestens tausend Leute nahmen an einem kaleidoskopischen Square dance teil. Alle trugen Kopfhörer mit Positionsmeldern, und ein Code in der lautlosen Musik dirigierte die Menge. Die Menschen wirkten gleichzeitig frei und kontrolliert, reglementiert, aber spontan, ausgelassen, aber unauffällig gesteuert.

»Wissen Sie, ich liebe diese basisnahen Volksfeste«, sagte Huey, auf das geschwungene schmiedeeiserne Balkongeländer gestützt. »Ihr Yankees seid jung und munter, Ihr solltet es auch mal hin und wieder probieren.«

»Ich tanze nicht«, erwiderte Kevin.

»Schade, dass unser Moderator kaputte Füße hat«, meinte Huey, blinzelte in die Sonne und rückte seinen neuen Strohhut zurecht. »Keine Ahnung, weshalb Sie den Limpy Boy überhaupt mitgebracht haben. Der ist kein Spieler.«

»Ich habe den Spieler gestützt«, sagte Kevin. »Ich hab ihm den Sabber vom Kinn gewischt.«

Oscar und Kevin trugen weiße Gefängnisoveralls aus Plastik. Die Hände hatte man ihnen auf den Rücken gefesselt. Man hatte sie auf den Balkon gezerrt, wo sie gut zu sehen waren, was die Leute aber nicht zu stören schien. Vielleicht plauderte der im Ruhestand befindliche Huey ja häufiger mit gefesselten Gefangenen.

»Eigentlich hatte ich zunächst vor, Sie anzurufen«, wandte Huey sich an Oscar. »Ich dachte, Sie wollten mich anrufen und die Sache klären, wenn wir wieder mal eine unserer kleinen Meinungsverschiedenheiten hätten.«

»Ach, wir hatten auf richtiges Publikum gehofft, Gouverneur. Wir haben uns bloß ein bisschen ablenken lassen.«

»Das mit der Gitarre und dem Akkordeon, das war besonders gut. Spielen Sie wirklich Akkordeon, Oscar? Diatonische Skalen, all das?«

»Ich bin Anfänger«, erwiderte Oscar.

»Oh, Sie werden sich wundern, wie leicht Ihnen das Musizieren jetzt fällt. Es ist kinderleicht. Spielen und singen. Spielen und tanzen. Mann, Sie können sogar spielen, während Sie einer Tabellenkalkulation Finanzdaten diktieren.«

»Ihm die Hände loszubinden wäre ein guter Anfang«, schlug Kevin vor.

»In Massachusetts müssen die Gefängnisse furchtbar schlapp sein, sonst wäre Limpy Boy nicht ein solcher Klugscheißer. Ich meine, bloß weil Sie sich ausziehen mussten und man Sie abgeschrubbt, unter den Fingernägel nachgesehen und ausgiebig jede Körperöffnung, die sich geöffnet hat, und ein paar, die sich nicht geöffnet haben, untersucht hat… Das heißt noch lange nicht, dass ich dem Ninjahacker die Hände losmache. Er könnte schließlich eine Kanone in die Fingerknochen eingebaut haben oder sowas. Wussten Sie, dass man in den vergangen zwei Wochen fünfmal versucht hat, mich umzubringen? All diese Moderatorenheinis, die es auf den guten alten Huey abgesehen haben… Alle wollen sie Colonel Dies und General Das werden; ich weiß nicht, irgendwann wird’s lästig.«

»Vielleicht sollten wir dann besser nicht im Freien rumstehen«, meinte Oscar. »Es gibt auch eine Menge Leute, die es auf mich abgesehen haben, und es wäre doch schade, wenn Sie von einem Querschläger getroffen würden.«

»Dafür habe ich ja die ganzen Aufpasser, mein Sohn! Die sind zwar nicht so helle wie Sie, dafür aber wesentlich loyaler. Wissen Sie was, Soap Boy? Ich mag Sie. Selbstgestrickte wissenschaftliche Forschung ohne kommerziellen Hintergrund, die aber trotzdem Auswirkungen hat, macht mir Spaß. Ich habe mich ernsthaft für Sie interessiert; ich habe sogar Hautproben von Ihnen. Mann, ich hab einen ganzen Quadratmeter von Ihrer Haut, der unten in einer der Salzgruben lebt. Genug, um eine Trommel damit zu bespannen. Sie sind schon ein besonderes Exemplar, o ja. Teile von Ihrer DNS sind verkehrt eingebaut, rückwärts sozusagen, oder kommen doppelt vor… und keine Introns, das ist wirklich cool. Ich kenne niemanden, der ohne Introns auch nur überleben könnte.«

»Ich würde es Ihnen auch nicht empfehlen, Gouverneur. Es gibt Nebenwirkungen.«

»Oh, ich weiß, Ihre Gesundheit ist ein wenig angeschlagen, Brainy Boy. Ich hab mich bemüht, Rücksicht zu nehmen. Hab eine Menge medizinischer Tests mit Ihrer DNS durchgeführt. Wollte Ihnen bestimmt nicht weh tun.« Huey blinzelte. »Sie können mir doch folgen, oder? Sie sind nicht verwirrt oder so.«

»Nein, Gouverneur. Ich kann Ihnen folgen. Ich bin ganz bei der Sache.«

»Sie glauben doch nicht etwa, ich wollte Sie verarschen, oder? Ich meine, bloß weil ich ein Negerarsch bin, heißt das noch lange nicht, ich könnte keine DNS knacken, Mann.«

»Solange Sie ihn nicht klonen und eine Armee draus machen«, sagte Kevin.

»Hab meine eigene Armee, nein, danke.« Huey hob seinen leinengewandeten Arm und tätschelte die Ausbeulung in seiner Achselhöhle. »Man braucht heutzutage eine ganze Scheißarmee, um am Leben zu bleiben, so traurig das ist.« Er wandte sich an Oscar. »Das ist das Problem mit den verdammten Moderatoren. Das sind Prolo-Gangs, eine richtige Nacht-und-Nebel-Armee. Tagsüber heißt es Alle-Macht-dem-Volk und revolutionäre Justiz. Aber das läppert sich zusammen, verstehen Sie? Da kommt was bei rum. Endlich bietet sich uns die Gelegenheit, unsere eigenen Regeln zu machen und dem kleinen Mann mal eine echte Chance zu geben.«

Huey schnaubte. »Dann taucht auf einmal der neue Präsident auf und beliebt in seiner unermesslichen Güte, sie zur Kenntnis zu nehmen. Wirft ihnen einen Brocken vor oder sogar zwei. Sie fallen übereinander her, sie salutieren vor seinen Socken, salutieren vor seinen Unterhosen. Sie bringen für den Mann ihre eigenen Brüder um. Das ist ekelhaft.«

»Der Mann ist ein Spieler. Er hat Talent, Huey.«

»Zum Teufel damit! Der Mann ist ein niederländischer Agent! Er hat das Land an eine ausländische Macht verkauft! Was glauben Sie eigentlich, weshalb die Niederländer so schnell aufgegeben haben? Ohne einen einzigen Schuss abgefeuert zu haben? Wir reden hier über die Niederländer! Wenn jemand in ihr Land einmarschiert, dann fluten sie ihr Land und sterben in den Gräben, mit langen, spitzen Stöcken in den Händen. Sie haben so schnell aufgegeben, weil sie die ganze Sache von Anfang an geplant hatten.«

»Das ist eine interessante Theorie, Gouverneur.«

»Sie sollten sich irgendwann mal mit den Franzosen über diese Theorie unterhalten. Die Franzosen, die verstehen sich auf Theorien. Die Franzosen wissen Bescheid. Wir amüsieren sie, die halten uns Amerikaner für geborene Clowns, die finden noch unsere miesesten Komödianten komisch. Aber vor den Niederländern haben sie Angst. Das ist das Problem mit dem modernen Amerika. Wir haben uns eingeigelt, wir sind engstirnig geworden. Wir wissen nicht mehr, was vor sich geht. Scheiße, wir waren in der Wissenschaft mal weltweit führend… führend auf allen Gebieten. Länder wie Frankreich kommen auch ohne Wissenschaft zurecht. Die mampfen einfach ein bisschen mehr guten Käse und lesen mehr Racine. Aber Amerika ohne Wissenschaft, das ist ein einziges großes Nebraska. Mit Menschen, die in Indianerzelten leben. Na, wenigstens wollen die Zeltleute noch was. Sollen sie die Wissenschaft betreiben. Sollen sie mit dem Problem fertig werden.«

»Diese Theorie ist noch interessanter.«

»Ja, klar, yeah. In der Beziehung GLAUBEN SIE MIR«, dröhnte der Gouverneur. »Sie haben mir die verdammten Kleider gestohlen, Sie Unglücksmensch! Sie haben mir die Forschungseinrichtung gestohlen. Sie haben meine Daten gestohlen. Es gab nur eine Sache, von der Sie nichts wussten, eine verdammt wichtige Sache, an die Sie nicht herangekommen sind! Und deshalb hab ich Sie Ihnen gegeben.«

»Ich verstehe.«

»Sie können Huey nicht vorwerfen, er sei knickerig. Sie haben mich bloßgestellt, wo Sie nur konnten. Haben mich kreuz und quer durch die Presse gejagt. Haben mir einen Senator auf den Hals gehetzt. Haben den Präsidenten gegen mich aufgewiegelt. Sie sind ein umtriebiger Bursche. Aber wissen Sie was? Sie haben keinen MUMM, Mann! Sie haben keine SEELE! Sie GLAUBEN nicht! In ihrem Eierkopf ist keine einzige neue Idee. Sie sind wie ein verdammter Otter, der ein Bibernest ausräumt und die kleinen Biber frisst. Aber ich habe große Neuigkeiten für Sie, Soapy. Sie sind jetzt der wahre Biber.«

»Gouverneur, das ist wirklich faszinierend. Sie sagen, Sie hätten mich studiert; also, ich habe Sie ebenfalls studiert. Ich habe eine Menge in Erfahrung gebracht. Sie sind ein Mann von großer Tatkraft und Begabung. Unverständlich ist mir allerdings, weshalb Sie ihre Ziele auf solch absurde, geschmacklose, unzivilisierte Weise verfolgen.«

»Mein Sohn, das lässt sich leicht beantworten. Und zwar weil ich ein scheißarmer, scheißignoranter Hinterweltler aus einem überschwemmten Sumpf bin! Uns Provinzlern des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist nichts mehr in den Schoß gefallen. Das Öl haben sie uns rausgepumpt, die Bäume haben sie gefällt, die Fische gefangen, den Boden vergiftet, den Mississippi in eine riesige Kloake verwandelt, die den Golf in fünfhundert Meilen Umkreis zum Umkippen gebracht hat. Dann kamen die Hurrikane, und das Meer erhob sich! Was, zum Teufel, haben Sie von uns erwartet, als Sie da oben in Boston das Silberbesteck poliert haben? Wir Cajuns brauchen eine Perspektive, genau wie alle anderen auch. Wir leben hier seit vierhundert Jahren! Und im Gegensatz zu den Eierköpfen aus Boston haben wir nicht vergessen, Kinder zu zeugen. Wenn Sie noch richtig ticken würden, dann hätten sie diesen bedauernswerten Architekten sausen lassen und stattdessen für mich gearbeitet.«

»Ihre Methoden haben mir nicht gefallen.«

»Mann, Sie haben Sie doch selbst eingesetzt, und nicht zu knapp. Scheiße, ich hab’s mit den Methoden nicht allzu genau genommen. Wenn Sie einen besseren Vorschlag haben, spucken Sie ihn aus! Lassen Sie uns drüber reden.«

»Hey, Huey«, sagte Kevin. »Wie steht’s mit mir? Ich habe auch so meine Methoden.«

»Sie sind ein Mann von gestern, Mr. Whitey Sie sind der Handlanger, Sie können von Glück sagen, dass Sie einen verdammten Job haben. Lassen Sie mich mit dem genetischen Wunderknaben reden. Hier ist das Hirn gefragt. Das geht nur Erwachsene was an.«

»Hey, Huey!« Kevin grinste. »Meine Methoden funktionieren noch. Ich habe Sie wegen der Haitianer geoutet. Ich habe das gedeichselt, ich hab Leute über die Grenze eingeflogen.«

Huey legte angewidert die Stirn in Falten. »Was ich meine, ist folgendes«, wandte er sich an Oscar. »Wir sitzen beide im selben Boot. Hätte ich das Labor behalten, hätte ich ein neues Bewusstsein in großem Maßstab verbreiten können. Aber das werde ich trotzdem tun – ich werde die Bewohner dieses Bundesstaates zu den gescheitesten, tüchtigsten, kreativsten Menschen auf Gottes grüner Erde machen. Sie haben mir einen ganz schönen Dämpfer verpasst – aber Scheiße, Mann, das ist jetzt Geschichte. Jetzt bleibt Ihnen nichts anderes mehr übrig, als dem guten alten Huey zu helfen. Weil Sie an der Macht kleben, ständig um Nachsicht betteln, ihre Vergangenheit verstecken. Jetzt sind Sie ein Freak in zweifacher Hinsicht. Aber wenn Sie sich jetzt auf Hueys Seite schlagen – und wenn Sie Ihre Geliebte mitbringen, welche die eigentliche Quelle all dieser Wohltaten ist und im selben Boot sitzt wie Sie –, dann können Sie Ihr Leben von Grund auf neu anpacken. Dann ist der Himmel die Grenze.«

»Zunächst müsste ich erst mal meinen Zorn bezähmen, Etienne.«

»Ach, Unsinn! Wahre Spieler kennen keinen Groll. Weshalb sollten Sie sich über mich ärgern? Ich akzeptiere Sie wirklich. Ich liebe Ihr verdammtes Vergangenheitsproblem. Wissen Sie, ich hab Sie endlich durchschaut. Wenn Amerika zur Ruhe kommt und völlig normal wird, dann sind Sie endgültig draußen. Sie werden sich immer die Nase an der Glasscheibe plattdrücken und anderen Leuten beim Champagnertrinken zusehen. Nichts, was Sie tun, wird von Dauer sein. Sie werden ein Monstrum sein, ein Schatten, und zwar bis an Ihr Lebensende. Aber wenn Sie von Anfang an bei der bevorstehenden Revolution des menschlichen Geistes mitmischen, mein Sohn, dann können Sie das gottverdammte Massachusetts haben. Ich schenk’s Ihnen.«

»Hey, Huey! Yo! Waren Sie schon immer so verrückt, oder kommt das vom Dope?«

Huey überging Kevins Einwurf, doch seine Miene verfinsterte sich noch mehr. »Ich weiß, Sie können mich deswegen angreifen. Klar, nur zu. Posaunen Sie ruhig raus, was für ein Freak Sie jetzt sind. Erzählen Sie den Leuten, dass sich die ehemalige Geliebte Ihres Senators – Moira ist jetzt übrigens in Frankreich – wegen des schmutzigen Tricks, mit dem Sie seinen armseligen Arsch gerettet haben, an Ihnen gerächt hat. Treten Sie als Feuerschlucker vor die Öffentlichkeit hin und stecken Sie sich nur selbst in Brand. Oder nehmen Sie Vernunft an und kommen Sie zu mir an Bord! Sie werden genau das Gleiche tun wie vorher auch. Aber anstatt die Leute zu einer neuen Lebensweise zu beschwatzen – Scheiße, Worte bleiben sowieso nicht haften –, können Sie sie ihnen jetzt ins Gehirn blasen. Dann gibt es für sie kein Zurück mehr. Ebensowenig wie für Sie.«

»Weshalb sollte ich Tausende von Menschen in Monster verwandeln? Weshalb sollten sie so unglücklich werden wie ich?«

»Wieso unglücklich? Die Methode funktioniert! Sie funktioniert großartig!«

»Hey, Huey! Geben Sie auf, Mann! Ich kenne diesen Burschen. Den werden Sie niemals glücklich machen! Der weiß nicht mal, was das Wort bedeutet! Damit kommen Sie nicht durch, Mann – dem geht’s jetzt doppelt so schlecht wie früher!«

Huey riss der Geduldsfaden. Er gab seinen Bodyguards ein Zeichen. Zwei mit Pistolen bewaffnete Schläger traten aus dem vergoldeten Schatten des eleganten Hotelzimmers. Kevin verstummte.

»Macht ihm die Hände los«, befahl Huey einem der Bodyguards. »Bringt ihm Hut und Mantel. Er ist ein Spieler. Wir führen eine ernsthafte Unterhaltung.«

Der Bodyguard band Oscars Hände los. Oscar massierte sich die Handgelenke. Der Bodyguard legte Oscar eine dunkle Jacke um die Schultern.

Huey rückte ein wenig näher. »Oscar, lassen Sie uns Klartext reden. Das ist ein großes Geschenk. Sicher, anfangs ist es ziemlich schwer, genau wie Fahrrad fahren. Im Grunde ist es Multitasking. Ich behaupte nicht, es sei perfekt. Nichts Technisches ist je perfekt. Es geht hier um etwas ganz Reales. Es beschleunigt den Herzschlag – der Chip muss ein bisschen höher getaktet werden. Und es ist wirklich Multitasking, also haken manche Operationen bisweilen… Während andere plötzlich an die Oberfläche gelangen… Und hin und wieder fahren sich zwei simultane Gedankenströme einfach fest; dann bleiben Sie an dem Punkt stehen und müssen den Arbeitsspeicher löschen. Aber wenn Sie sich eine ordentliche Kopfnuss verpassen, dann booten Sie gleich wieder.«

»Ah, ja.«

»Glauben Sie mir, ich rede wirklich offen mit Ihnen. Das ist kein dummes Zeug, sondern ich sage, was Sache ist. Klar, Sie haben gewisse Sprachprobleme und neigen dazu, vor sich hinzumurmeln. Aber, mein Sohn… Sie sind doppelt so tüchtig wie zuvor! Sie können zweisprachig denken! Wenn Sie dran arbeiten, können Sie mit Ihren beiden Händen erstaunliche Dinge gleichzeitig tun. Und am besten ist, wenn Sie zweigleisig denken und die Züge fangen an, Fahrgäste auszutauschen. Darum geht’s doch überhaupt bei der Intuition – dass man etwas weiß, ohne zu wissen, dass man’s weiß. Das hat was mit dem Unbewussten zu tun – mit Gedanken, von denen man nichts weiß. Aber wenn man wirklich Nägel mit Köpfen macht und über zwei Dinge gleichzeitig nachdenkt – dann verlaufen die Vorstellungen ineinander. Sie vermischen sich. Sie befruchten einander. Sie tragen wahrhaft reiche Frucht. Das ist Inspiration. Das ist die schönste geistige Regung, derer Sie überhaupt fähig sind. Das einzige Problem dabei ist, dass die Gedanken bisweilen so großartig sind, dass Sie leichte Probleme mit der Selbstbeherrschung bekommen.«

»Ja, das mit der Selbstbeherrschung ist mir bereits aufgefallen.«

»Nun, mein Sohn, die meisten Menschen stellen ihr Licht unter den Scheffel und handeln niemals impulsiv. Deshalb landen sie am Ende ja auch in Gräbern ohne Grabstein. Ein richtiger Spieler zeigt Initiative, er ist ein Mann der Tat. Ja, klar, ich geb’s zu: das mit der Impulsivität ist eine zweischneidige Angelegenheit. Deshalb braucht ein großer Spieler gute Berater. Und wenn Sie keinen spitzenmäßigen, mit allen Wassern gewaschenen politischen Berater haben, dann können Sie die Rolle vielleicht selber übernehmen.«

»Heeeey!« schrie Kevin. Huey hatte er abgeschrieben; jetzt wandte er sich plötzlich an die unter dem Balkon versammelte Menschenmenge. »Hey, Leute! Euer Gouverneur hat den Verstand verloren! Er will euch vergiften und alle in verrückte Zombies verwandeln!«

Die Bodyguards packten Kevins gefesselte Arme und prügelte auf ihn ein.

»Ich werde gefoltert!« schrie Kevin. »Die Cops foltern mich!«

Huey drehte sich um. »Verflucht noch mal, Boozoo, schlag ihn doch nicht in der Öffentlichkeit! Bring ihn erst nach drinnen. Und du, Zach, hör auf, jedesmal deine verdammten Fäuste einzusetzen. Nimm den Totschläger. Dafür ist er schließlich da.«

Obwohl er gefesselt war, gab Kevin sich nicht so leicht geschlagen. Er wirbelte auf der Stelle herum, hüpfte auf und ab. Sein Geheul nutzte ihm wenig, denn die Menge war von den Kopfhörern in Beschlag genommen. Doch es tanzten nicht alle, und einige blickten zum Balkon hoch.

Boozoo holte den Totschläger hervor. Kevin trat unbeholfen nach ihm. Boozoo wich einen Schritt zurück, stolperte über den Fuß eines anderen Aufpassers, verfing sich plötzlich in den Beinen eines weißen Balkonstuhls aus Metall. Er fiel nach hinten, schlug mit voller Wucht auf dem Boden auf. Der zweite Bodyguard wollte vorspringen, kam jedoch dem um sich schlagenden Boozoo in die Quere, stürzte auf die Knie und heulte auf.

»Ach, Scheiße«, grummelte Huey. Er zog eine verchromte Automatikpistole unter dem Jackett hervor und schoss geistesabwesend auf Kevin. In die Brust getroffen, wurde Kevin rückwärts geschleudert, krachte gegen das Geländer und stürzte in die Tiefe.

Huey trat verdutzt ans Geländer, verdrehte den Kopf und blickte nach unten. Die Pistole funkelte noch immer in seiner Hand. Die Feiernden sahen die Pistole und spritzten entsetzt auseinander.

»O je«, stöhnte der Gouverneur.


»Ich weiß immer noch nicht, was ich mit ihm anfangen soll«, sagte der Präsident. »Er hat am helllichten Tag vor tausend Augenzeugen einen Menschen ermordet, aber er hat immer noch Anhänger. Am liebsten würde ich ihn ja einsperren, aber… na ja. Wir haben so viele Leute durchs Gefängsnissystem durchgeschleust, das ist eine bedeutende demographische Gruppe.«

Oscar und der Präsident der Vereinigten Staaten machten einen Spaziergang im Garten des Weißen Hauses. Ebenso wie das Weiße Haus wurde auch der Rosengarten regelmäßig nach Wanzen abgesucht. Viel half es nicht, aber solange sie in Bewegung blieben, war es machbar.

»Der Sinn für Anstand hat ihm immer schon gefehlt, Mr. President. Selbst in Louisiana weiß jeder, dass Huey zu weit gegangen ist. Man wird bis nach seinem Tod warten, bevor man eine Brücke nach ihm benennt.«

»Was halten Sie von Washington, Oscar? Ist das jetzt eine andere Stadt, was meinen Sie?«

»Ich muss gestehen, es stört mich, dass ausländische Truppen in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten stationiert sind, Mr. President.«

»In dem Punkt bin ich Ihrer Meinung. Aber das hat das Problem gelöst. Leute, die auf der Straße wohnen und ganze Stadtteile abriegeln… Das darf eine Regierung in der Hauptstadt nicht dulden. Amerikanische Truppen hätten nicht mit der notwendigen Härte durchgreifen können, um die Macht der dezentralen Netzwerkgangs zu brechen. Die Holländer aber räumen auf den Straßen auf, und wenn es zehn Jahre dauert. Die ziehen die Sache durch.«

»Das ist jetzt eine andere Stadt, Sir. Viel ordentlicher als früher.«

»Sie könnten hier leben, nicht wahr? Wenn das Gehalt stimmen würde? Wenn sich das Team des Weißen Hauses um Sie kümmern würde.«

»Ja, Sir; ich glaube, ich könnte überall leben, wohin die Pflicht mich ruft.«

»Das hier ist jedenfalls nicht Louisiana.«

»Eigentlich mag ich Louisiana, Mr. President. Ich halte mich noch immer über die dortige Entwicklung auf dem Laufenden. Der Staat hat in vielerlei Hinsicht Leitfunktion. Ich habe in Louisiana ein paar sehr gute Erfahrungen gemacht.«

»Tatsächlich.«

»Wissen Sie, die Niederländer wurden so hart und entschlossen, als der Meeresspiegel stieg. Ich denke, in Louisiana tut sich was. Allmählich glaube ich, es hat eine Menge für sich, sich im Schlamm zu suhlen.«

Der Präsident starrte ihn an. »Sie haben doch wohl nicht vor, öfters im Schlamm zu baden.«

»Bloß hin und wieder, Sir.«

»Bei einer unserer früheren Unterhaltungen habe ich Ihnen gesagt, wenn Sie sich an Ihre Anweisungen hielten, würde ich Ihnen einen Posten im Weißen Haus verschaffen. Seitdem hat Ihr Werdegang einige interessante Wendungen genommen, ohne dass mir indes irgendwelche Zweifel an Ihrer Befähigung gekommen wären. Diese Regierung hat mit Bigotterie – oder Skandalen – nichts am Hut, und nun, da die verfassungsmäßige Ordnung einigermaßen wiederhergestellt ist, beabsichtige ich, den Agenten- und Cowboyunsinn nach Möglichkeit zurückzuschrauben. Ich regiere dieses Land jetzt wirklich – auch wenn ich hin und wieder auf niederländische Truppen zurückgreifen muss –, und wenn ich das Oval Office verlasse, will ich ein vernünftiges, regierbares, anständiges und manierliches Land hinterlassen. Und ich glaube, Sie könnten dabei eine Rolle spielen. Möchten Sie mehr darüber hören?«

»Sehr gern, Sir.«

»Wie Ihnen wohl bewusst ist, gibt es in diesem Land noch immer sechzehn verdammte Parteien! Und ich habe nicht vor, mich der Wiederwahl mit der Rückendeckung einer Würstchenpartei wie den Sozpats zu stellen. Wir brauchen eine radikale Neuordnung des Parteiengefüges und eine grundlegende politische Konsolidierung. Wir müssen die verkrusteten Strukturen aufbrechen und ein praktikables, vernünftiges, bipolares System etablieren. Dabei steht die Normalität gegen alles andere.«

»Ich verstehe, Sir. Genau wie in der guten alten Zeit. Stehen Sie nun links oder rechts?«

»Ich stehe unten, Oscar. Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden, und ich weiß, wo ich stehe. Alle anderen können meinetwegen oben stehen. Sie sollen ruhig abheben und mit ihren Vogelhirnen verrückte Hightechideen ausbrüten, und die, welche auf den Boden fallen, ohne zu zerbrechen, die gehören mir.«

»Mr. President, ich gratuliere Ihnen zu dieser Formulierung. Ihnen hat sich hier ein Möglichkeitshorizont eröffnet, der es Ihnen gestattet, zu tun, was Ihnen beliebt, und was Sie da sagen, klingt machbar.«

»Meinen Sie? Gut. Das ist Ihre Rolle. Sie werden als Mittelsmann zwischen dem Weißen Haus und der gegenwärtigen Parteienstruktur fungieren. Sie werden die Radikalen und Verrückten aussondern und sie im oberen Flügel sammeln.«

»Ich bin nicht untenorientiert, Sir?«

»Oscar, wenn es kein Oben gibt, gibt es auch kein Unten. Es funktioniert nur, wenn ich meine eigene Opposition erschaffe. Der obere Block ist von ausschlaggebender Bedeutung, wenn das Spiel funktionieren soll. Der obere Flügel muss brillant sein. Er muss wahrhaft attraktiv sein. Er muss visionär sein und nahezu vernünftig. Und die praktische Umsetzung seiner Ziele darf ihm niemals, unter keinen Umständen, gelingen.«

»Ich verstehe.«

»Besondere Sorge bereitet mir die Koalition zwischen Prolos und Wissenschaftlern. Diese Leute sind eigensinnig. Sie erpressen bereits ganze Industrien mit der Drohung, sie auszuforschen. Das ist gegenwärtig die einzige wahrhaft neue und kraftvolle politische Bewegung. Die kann ich unmöglich in mein Lager aufnehmen. Ich kann sie nicht bestechen. Ich kann sie nicht beschwatzen. Die sind naturgemäß radikal, weil sie die aktuelle Entsprechung der Triebkraft darstellen, welche die westliche Gesellschaft in den vergangenen sechs Jahrhunderten transformiert hat. Sie zu vernichten wäre kriminell, das würde das Land lobotomisieren. Sie gewähren zu lassen, wäre allerdings unverantwortlich.«

Der Präsident holte tief Luft. »Weil die Spin-offs ihrer Forschung den amerikanischen Kapitalismus aufgebaut und anschließend ruiniert haben, weil sie den Meeresspiegel haben ansteigen lassen, den Boden vergiftet, die Ozonschicht zerstört, Radioaktivität freigesetzt, den Himmel mit Kondensstreifen und den Boden mit Beton versiegelt haben, weil sie für die Überbevölkerung, den Reproduktionskollaps und das Feuer in Wyoming verantwortlich sind… Nein, es ist sogar noch schlimmer. Noch viel, viel schlimmer. Jetzt liegen unsere Gehirne wie eine jungfräuliche Neue Welt offen vor ihnen ausgebreitet, und jeder einzelne Mensch ist ein Hinterweltler, ein unzivilisierter Indianer. Irgend jemand muss sich ernsthaft mit diesen Leuten befassen. Und ich finde, Sie sind genau der Richtige dafür.«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen, Sir.«

»Die haben keine Ahnung von den politischen Realitäten, aber wenn man nichts unternimmt, werden sie der Willkür Tür und Tor öffnen. Ich meine: man muss subtil vorgehen. Ihnen eine attraktive Perspektive eröffnen, damit sie sich weniger wie Dr. Frankenstein und mehr wie Künstler verhalten. Moderne Poesie, das wäre ausgezeichnet. Kostet so gut wie nichts, bewirkt hohe Erregung in sehr kleinen Gruppen, hat absolut keine sozialen Auswirkungen. Also, ich denke an die Mathematik. Nichts Praktisches, völlig abgehoben und abstrakt.«

»Der abstrakten Mathematik kann man nicht trauen, Sir; sie hat bisher noch immer zu praktischen Anwendungen geführt.«

»Dann Computersimulation. Äußerst zeitaufwändige, komplizierte, detailreiche Simulationen, die in der Realität niemandem schaden können.«

»Ich glaube, das wäre schon eher geeignet, das von Ihnen gewünschte Ergebnis zu erzielen, Sir, aber offen gesagt nimmt kein Wissenschaftler die Cybernetik mehr ernst. Dieser Forschungspfad ist völlig ausgelatscht, das ist ein alter Hut. Selbst die Bioforschung und die Genetik sind mittlerweile weitgehend ausgereizt. Jetzt geht es um die Hirnforschung, Sir. Das ist das Einzige, was ihnen noch bleibt.«

»Sie haben darunter zu leiden gehabt. Vielleicht könnten Sie sie überreden, etwas Netteres auszuprobieren. Etwas Phantastischeres.«

»Mr. President, da wäre noch etwas. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, erwarten Sie von mir, dass ich sie infiltriere und verrate?«

»Oscar, ich bitte Sie, Politiker zu sein. Es ist nicht Ihr Job, der Willkür Tür und Tor zu öffnen. Das gehört nicht zu Ihrem Berufsbild. Es geht um Gerechtigkeit, um Ruhe im Land und um die Steigerung des allgemeinen Wohlstands. Eine Aufgabe, an der wir Politiker eindeutig gescheitert sind. Wissen Sie was? Es ist nicht schön, einem Land dabei zuzusehen, wie es durchdreht. Aber sowas kommt vor. Das passiert bisweilen auch großen Ländern, den größten Völkern der Erde. Japan, Deutschland, Russland, China… und wir Amerikaner hatten gerade eine ganz üble Kugel im Lauf. Wir sind immer noch ganz benommen. Dabei hatten wir noch Glück. Beim nächsten Mal könnte der Schuss losgehen.«

»Sir, glauben Sie nicht, man sollte der wissenschaftlichen Gemeinde – so wie die Dinge liegen – reinen Wein einschenken? Sie besteht aus Bürgern dieses Landes, oder nicht? Das sind ziemlich helle Leute, wenn auch ein wenig engstirnig. Ich glaube nicht, dass eine Täuschungstaktik auf längere Sicht Erfolg hätte.«

»Auf längere Sicht sind wir alle tot, Oscar.«

»Mr. President, Sie bieten mir da wirklich einen Traumjob an. Ich bin mir der Bedeutung bewusst und fühle mich geehrt durch Ihr Vertrauen. Ich glaube sogar, ich wäre der geeignete Mann dafür. Aber bevor ich mich auf eine so – wie soll ich sagen? Auf eine so utilitaristische, macchiavellistische Unternehmung einlasse, möchte ich etwas von Ihnen wissen. Ich möchte, dass Sie offen zu mir sind. Werden Sie von den Niederländern bezahlt?«

»Die Niederländer haben mir nie etwas gezahlt.«

»Aber es gab eine Übereinkunft, nicht wahr?«

»Könnte man so sagen… Ich sollte Sie mal nach Colorado mitnehmen. Ich sollte Ihnen das Bauholz zeigen. Wissen Sie, seit wir amerikanische Eingeborene ins Drogen- und Casinogeschäft eingestiegen sind, haben wir kleine Gebiete dieses unseres großen Landes zurückgekauft. Überwiegend billige Gebiete, die Teile, die für kommerzielle Nutzung nicht mehr infrage kamen. Lässt man sie lange genug in Ruhe, sagen wir, sieben Generationen lang, dann erholen sie sich bisweilen wieder ein wenig. Aber es wird nie mehr so wie früher sein. Die Artenvernichtung ist unumkehrbar. Ein futuristischer Sumpf voller selbsterschaffener Monster ist wirklich nicht das Gleiche wie ein ursprüngliches Feuchtgebiet. Wir haben für billiges Geld den Büffel ausgerottet und die einheimischen Blumen, das Gras und die Urwälder, und jetzt ist das alles unwiederbringlich verloren. Und das ist schlimm. Sehr schlimm. So schlimm, dass wir es nie wieder gutmachen können. Das ist wie ein schauriges Kriegsverbrechen. Es lastet auf Amerika wie der Völkermord auf Deutschland, wie die Sklaverei auf dem Süden. Wir haben unsere Mitgeschöpfe in Spielzeuge verwandelt. Und die Niederländer haben in dieser Beziehung Recht. All die Leute, deren Häuser im Moment von Überschwemmungen bedroht sind, haben völlig Recht, moralisch, ethisch und praktisch. Ja, wir Amerikaner haben mehr Treibhausgas in die Atmosphäre entlassen als jedes andere Land der Welt. Wir sind das größte Einzelproblem. Ja, ich beabsichtige, die niederländische Politik teilweise auf dieses Land zu übertragen. Nicht alles, bloß das, was ich für vernünftig halte. Und dieser Wandel wäre niemals möglich geworden, wenn sie unser Land erobert hätten. Die einzige Möglichkeit bestand darin, die Niederlande zu erobern.«

»Dann sind Sie also wirklich ein holländischer Agent.«

»Oscar, das Land gehört uns. Sie haben kapituliert. Wir sind ein großes, allmählich ertrinkendes Land, das ein kleines, rasch ertrinkendes Land erobert hat. Das ist die Realität, das ist die Welt, in der wir leben.«

»Mr. President, ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich bin froh, dass ich die Wahrheit jetzt kenne. Es ist eine vernichtende Wahrheit, die soeben meinen ganzen Ehrgeiz zerstört hat, aber ich bin froh, dass ich jetzt Bescheid weiß. Das ist mein höchster persönlicher Wert, und den will ich nicht verraten. Ich will den Job nicht.«

»Dann werden Sie nie wieder in dieser Stadt arbeiten, mein Sohn. Dafür werde ich sorgen.«

»Das weiß ich, Mr. President. Ich danke Ihnen für Ihr freundliches Angebot.«


Der Mississippi hatte New Orleans in zwei Hälften geteilt, was den unkonventionellen Charme der Stadt aber bloß erhöht hatte. Die gespenstische Isolierung des Französischen Viertels war durch den Umstand, dass es nun eine Insel war, noch gesteigert worden; es erinnerte jetzt an Venedig, einschließlich der Gondeln.

Die offiziellen Paraden auf der Canal Street gingen gesittet vonstatten, doch auf der Bourbon Street, wo es zu spontanen Zusammenkünften kam, die keinen anderen Zweck verfolgten, als sich zu amüsieren, war es sehr laut.

Greta trat von den Fensterläden weg, deren grüne Farbe abblätterte. »Es tut so gut, hier zu sein«, sagte sie.

Oscar genoss die Mardi Gras-Feiern. Als einziger Nüchterner in einer riesigen, drängelnden Menschenmenge Betrunkener fühlte er sich wohl. Dabei sein, aber nicht ganz zugehörig. Das war das Leitmotiv seines Lebens. »Weißt du, ich hatte uns Plätze auf einem der Paradeflöße besorgen können. Wir hätten Perlen, Armreifen und Software unters Volk werfen können. Das hätte bestimmt Spaß gemacht.«

»Noblesse oblige«, murmelte sie.

»Das ist eine hiesige Teamgeschichte. Eine ganz, ganz alte Tradition. Die Tanzkarten sind seit Mitte des achtzehnten Jahrhundert für die Debütantinnen reserviert, aber man hat mir gesagt, ein Platz auf einem Floß wäre durchaus zu ergattern. Wenn man weiß, an wen man sich wenden muss.«

»Vielleicht nächstes Jahr«, sagte sie. An der mahagonigetäfelten Tür wurde leise geklopft. Hotelangestellte in weißen Jacketts und mit Sträußchen im Knopfloch schoben einen ratternden Servierwagen aus Sandelholz in den Raum. Austern, Shrimps, eisgekühlter Champagner. Greta ging ins Schlafzimmer hinüber, um sich umzuziehen. Die Einheimischen machten sich lautlos am leinengedeckten Tisch zu schaffen, zündeten den Kerzenleuchter an, öffneten die Flasche, füllten die Gläser. Oscar geleitete sie geduldig auf den Flur. Dann schaltete er das Licht aus.

Greta kam zurück und nahm den Kerzenleuchter in Augenschein. Sie trug ein dunkelbraunes Spitzenkleid aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg und eine federbesetzte Gesichtsmaske. Die Maske gefiel ihm ausnehmend gut. Selbst mitten im Mardi Gras verlor sie nicht ihre Faszination.

»Schokotrüffel?« meinte sie lüstern.

»Hab ich nicht vergessen. Später.« Oscar hob das Champagnerglas, bewunderte die goldenen Bläschen, setzte es wieder ab.

»Du trinkst noch immer keinen Alkohol, nicht wahr?«

»Nur zu. Ich bewundere ihn bloß. Mit einem Auge.«

»Ich nippe mal eben«, sagte sie und leckte sich unter dem federbesetzten unteren Rand der Maske über die breite Oberlippe. »Ich habe ein kleines Problem mit der Selbstbeherrschung…«

»Warum solltest du dich zügeln? Es ist Mardi Gras.«

Sie setzte sich. Sie probierten vom Shrimpcocktail. Es gab auch unglaublich scharfe kleine Meerrettichscheiben. »Hab ich dir schon erzählt, dass ich mich einer Zellreinigung unterzogen habe?«

»Du machst Witze.«

»Ich hab’s gehasst, weißt du. Weil ich mich nicht selbst dazu entschlossen habe. Außerdem hatte ich hohen Blutdruck, und es bestand die Gefahr eines Schlaganfalls. Deshalb hab ich das Gehirngewebe reinigen lassen.«

»Und, wie war’s?«

»Es fühlte sich alles ganz normal an. Sehr flach. Als lebte man in einer Schwarz-weiß-Welt. Ich musste den früheren Zustand wiederherstellen, es macht mir nichts mehr aus, ich musste einfach.« Sie legte ihre langen, bleichen Hände auf den Tisch. »Wie steht’s mit dir? Kannst du aufhören?«

»Ich will nicht aufhören. Ich find’s gut.«

»Es ist schlecht für dich.«

»Nein, ich liebe die Zweigleisigkeit. Das gefällt mir wirklich an diesem kleinen Geschenk oder Gebrechen. All die anderen Beschwernisse, die elenden kleinen Vorurteile, die Rassenprobleme, das ethnische Problem… Es ist nicht so, dass dies alles verschwinden würde, weißt du. Das wäre zu viel erwartet. Diese Probleme werden niemals verschwinden, aber die neuen Probleme drängen die alten in den Hintergrund. Außerdem bin ich jetzt multitaskingfähig. Ich kann wirklich zwei Dinge gleichzeitig tun. Ich bekomme viel mehr geschafft. Ich kann fulltime an einer Sache arbeiten, während ich mich fulltime für ihre Legalisierung einsetze.«

»Dann verdienst du also wieder Geld.«

»Ja, das habe ich vor.« Oscar seufzte. »Das ist uramerikanisch. Das ist mein einziger Weg in die Legitimität. Mit echtem Geld kann ich Kandidaten finanzieren, Prozesse führen, Stiftungen gründen. Es hat keinen Zweck, uns mit unseren Bären und Tambourins am Rand der Gesellschaft herumzudrücken und für ein paar Almosen zu tanzen. Die Hirnforschung wird sich in Kürze zu einer Industrie weiterentwickeln. Zu einer massiven, erderschütternden, neuen amerikanischen Industrie. Irgendwann wird es die größte Industrie überhaupt sein.«

»Du willst meine wissenschaftlichen Erkenntnisse industriell nutzen? Obwohl es derzeit illegal ist, obwohl die Leute es für gefährlich halten, sich damit überhaupt zu beschäftigen? Wie stellst du dir das vor?«

»Du kannst mich nicht daran hindern.« Oscar senkte die Stimme. »Niemand kann mich hindern. Die Entwicklung wird ganz allmählich vonstatten gehen, ganz behutsam, so still und leise, dass man zunächst gar nichts davon mitbekommt. Bloß ein behutsames Lüften des Schleiers. Ganz sachte, ganz subtil. Ich werde den Schleier vom Reich des abstrakten Wissens heben und dieses in die reale, schmutzige Welt des Schweißes und der Hitze verpflanzen. Es wird nicht schmutzig und gemein sein, sondern schön und unvermeidbar erscheinen. Die Menschen werden es haben wollen, sie werden danach verlangen. Irgendwann werden sie darum flehen. Und am Ende, Greta, wird es vollständig mir gehören.«

Ein langes Schweigen. Greta fröstelte heftig auf ihrem Stuhl, und die Federmaske rutschte herab. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Sie nahm eine silberne Muschelgabel in die Hand, probierte von dem reglosen grauen Klecks auf ihrem Teller und legte die Gabel wieder weg. Dann blickte sie ihn forschend an. »Du bist älter geworden.«

»Ich weiß.« Er lächelte. »Soll ich die Maske wieder aufsetzen?«

»Geht es in Ordnung, sich wegen dir Sorgen zu machen? Das tue ich nämlich.«

»Das geht in Ordnung, aber nicht während des Mardi Gras.« Er lachte. »Du möchtest dir Sorgen machen? Mach dir Sorgen um die Leute, die mir in die Quere kommen.« Er schluckte eine Muschel.

Erneutes langes Schweigen. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt. Greta kannte alle möglichen Arten des Schweigens. »Wenigstens lässt man mich jetzt wieder im Labor arbeiten«, murmelte sie. »Es steht nicht zu befürchten, dass man mich wieder mit einer leitenden Position betrauen wird. Ich wünschte nur, ich wäre besser in meiner Arbeit. Das ist das Einzige, was ich bedaure. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit und wäre besser.«

»Aber du bist von allen die Beste.«

»Ich werde alt, das spüre ich. Ich spüre, wie mein Verlangen schwindet, dieses verzehrende Gift. Ich wünschte bloß, ich wäre besser, Oscar, mehr nicht. Man sagt, ich sei ein Genie, aber ich bin immerzu unzufrieden. Daran kann ich nichts ändern.«

»Das muss schlimm sein. Soll ich dir ein Privatlabor besorgen, Greta? Du hättest mehr Freiraum, du könntest es selber leiten. Vielleicht würde dir das helfen.«

»Nein, danke.«

»Ich könnte dir ein hübsches Labor bauen. An einem Ort, wo es uns beiden gefällt. Wo du dich konzentrieren kannst. Vielleicht in Oregon.«

»Ich weiß, dass du ein Institut bauen könntest, aber ich will dir nicht auf der Tasche liegen.«

»Du bist so stolz«, sagte er traurig. »Es wäre machbar. Wir könnten heiraten.«

Sie schüttelte ihren maskierten Kopf. »Wir werden nicht heiraten.«

»Wenn du eine Woche Zeit für mich hättest, eine Woche im Vierteljahr. Das ist nicht viel verlangt. Vier Wochen im Jahr.«

»Vier ganze Wochen im Jahr würden wir einander nicht ertragen. Und zwar weil wir beide besessen sind. Du hast keine Zeit für eine richtige Ehe, und ich auch nicht. Und selbst wenn wir heirateten, selbst wenn es klappen würde, dann würdest du doch bloß mehr wollen.«

»Ja, schon. Das stimmt. Natürlich würde ich mehr wollen.«

»Ich sag dir, wie es laufen würde, denn ich habe das schon erlebt. Du wärst der Hausmann, Oscar. Ich würde meine Achtzig-Stunden-Woche abreißen, und du würdest dich um mich kümmern, wenn ich denn mal da bin. Vielleicht könnten wir Kinder adoptieren. Ich würde niemals Zeit für deine Kinder haben, aber meine Schuldgefühle wären ausreichend groß, um ihnen Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Du würdest dich ums Haus kümmern und ums Geld und vielleicht um den Ruhm, und du würdest für uns kochen und wer weiß noch was tun. Wahrscheinlich würdest du auf diese Weise dein Leben erheblich verlängern.«

»Du glaubst, das gefiele mir nicht«, sagte er. »Ich fände das gar nicht so schlecht. Es klingt authentisch. Das Problem dabei ist, es ist unmöglich. Ich kann keine Familie zusammenhalten. Ich kann nicht sesshaft werden. Ich habe noch nie erlebt, dass es funktioniert hätte. Seit vergangenem August hatte ich Affären mit drei verschiedenen Frauen. Früher sind die Frauen aufeinander gefolgt. Damit komme ich nicht mehr klar. Jetzt laufen die Affären parallel nebeneinander her. Dir den Ring und den Brautschleier zu geben, würde mich nicht ändern. Das ist mir mittlerweile klar, ich muss das zugeben. Ich habe keinen Einfluss darauf, ich kann es nicht kontrollieren.«

»Ich hasse deine Frauen«, sagte sie. »Andererseits stelle ich mir vor, wie sie für mich empfinden müssen, wenn sie denn überhaupt von mir erfahren. Das ist zumindest ein kleiner Trost.«

Er zuckte zusammen.

»Du hast mich nicht glücklich gemacht. Du hast mich kompliziert gemacht. Ich bin sehr kompliziert geworden. Jetzt fliege ich zum Mardi Gras, um mich mit meinem Geliebten zu treffen.«

»Ist das so schlimm?«

»Ja, es ist schlimm. Ich empfinde jetzt so viel Schmerz. Andererseits fühle ich mich viel wacher als zuvor.«

»Glaubst du, wir haben eine gemeinsame Zukunft, Greta?«

»Ich bin nicht die Zukunft. Dort draußen ist eine Frau, die sich herausgeputzt hat und stark betrunken ist. Heute wird sie mit ihrem Mann schlafen, und wenn sie klug sein sollte, wird sie sagen: Ach, was soll’s. Sie wird beim Mardi Gras schwanger werden. Sie ist die Zukunft. Ich bin nicht die Zukunft, ich war nie die Zukunft. Ich bin nicht mal die Wahrheit. Ich bin bloß eine Tatsache.«

»Ich glaube, ich bin doch ein Mensch«, sagte Oscar, »denn ich nehme die Fakten nur häppchenweise auf.«

»Wir werden niemals heiraten, aber irgendwann werden wir das hinter uns gelassen haben. Dann könnte ich mit dir am Strand Spazierengehen. Etwas für dich empfinden, einfach als Mensch, auf eine stillere, einfachere Weise. Wenn ich etwas derartiges zu geben habe, dann am Ende meines Lebens. Wenn ich alt bin, wenn der Ehrgeiz schwindet.«

Oscar erhob sich und ging zur Glastür. Ihre Bemerkung schmerzte ihn, denn er war sich ganz sicher, dass es genauso kommen würde, später, wenn sie einmal alt wäre. Weisheit und Gemeinsamkeit. Aber sie würde dies mit jemand anderem erleben. Nicht mit ihrem Geliebten. Sondern mit einem zu ihr aufblickenden Doktoranden oder vielleicht einem Biografen. Bestimmt nicht mit ihm. Er trat auf den Balkon, schob die Manschetten hoch und stützte sich auf das prächtige schmiedeeiserne Geländer.

Eine große Festgruppe arbeitete sich unter der blauweißen Fahne einer nicht mehr existierenden multinationalen Bank systematisch die Bourbon Street entlang. Die grimmig dreinschauenden Feiernden trugen nüchterne dreiteilige Maßanzüge und polierte Schuhe. Die meisten derartigen Gruppen schleuderten billige Perlen unters Volk, die Prolos aber ließen sich nicht lumpen: sie warfen mit Bargeld.

»Sieh dir mal diese Typen an!« rief Oscar.

Greta trat zu ihm. »Wie ich sehe, tragen sie Ferienkleidung.«

Eine an einem Angelgewicht befestigte Fünf-Dollar-Note kam von der Straße hochgeflogen und prallte von Oskars Schulter ab. Er hob sie auf. Es war tatsächlich richtiges Geld. »So etwas sollte man denen nicht gestatten. Das könnte einen Tumult auslösen.«

»Sei kein Griesgram. Ich fühle mich jetzt besser. Los, bringen wir das Bett zum Einsturz.«

Sie zog ihn ins Schlafzimmer. Die schwüle Luft vibrierte vor erotischer Spannung. »Soll ich die Maske aufbehalten?«

Er zog das Jackett aus. »Aber ja. Die Maske passt zu dir.«

Er machte sich besonders umsichtig und einfallsreich ans Werk. Während der langen Trennung hatte er genügend Zeit gehabt, sich diese Begegnung vorzustellen. Er hatte ein erotisches Schema mit mehreren Ebenen und einer Reihe variabler Subroutinen ausgetüftelt. Die Laken waren schweißdurchtränkt, und Gretas Halsadern traten hervor. Mit einem erstickten Schrei riss sie sich die Maske von den Augen, sprang aus dem Bett und eilte hinaus.

Er folgte ihr voller Besorgnis. Sie wühlte hektisch in ihrer Handtasche, zog einen Bleistiftstummel hervor.

»Was…« setzte er mit sanfter Stimme an.

»Pst!« Sie kritzelte etwas auf die Rückseite des New-Orleans-Reiseführers. Oscar legte sich einen Baumwollbademantel um die Schultern, schlüpfte in die Pantoffeln und trank eine halbe Flasche kaltes Mineralwasser. Als das Pulsieren in seinen Schläfen nachgelassen hatte, trat er wieder auf den Balkon.

Auf der Bourbon Street spielten sich erstaunliche Szenen ab. Der in einzelne Segmente unterteilte Balkon erstreckte sich über die ganze Länge des kleinen Hotels. Vier Frauen und drei weitere Männer hielten sich darauf auf. Zwischen den Zuschauern und der Menschenmenge auf der Straße fand ein bizarres Wechselspiel statt.

Frauen entblößten im Austausch gegen Plastikperlen vor Fremden ihre Brüste. Männer brüllten mit heiserer Stimme und verteilten Perlen. Die Frauen auf der Straße entblößten sich vor den Männer auf den Balkons, und die Frauen auf den Balkons entblößten sich vor den Männern auf der Straße. Es wurde nicht gefummelt, es gab keine Anmache; Kameras blitzten, und grellbunte Halsketten flogen, doch bei alldem galt ein rituelles Rührmichnichtan. Das Ganze wirkte eigentümlich alt und wunderlich, etwa wie untergehakte Tänzer bei einem Square dance.

Ein hübscher Rotschopf auf dem Balkon gegenüber quälte die Schar seiner Bewunderer. Die Frau küsste ihren Freund, einen grinsenden Betrunkenen im Teufelskostüm, dann beugte sie sich vor, ließ ihre zahlreichen goldenen, grünen und purpurfarbenen Halsketten über das Geländer baumeln und zupfte neckisch am Saum ihrer Bluse. Die Männer auf der Straße johlten lüstern und brüllten im Chor ihr Begehren hinaus.

Als sie die Menge bis zur Raserei gereizt hatte, schlang sie sich die Perlenketten um die Schultern und entblößte den Oberkörper. Das Warten hatte sich gelohnt. Ganz langsam liebkoste die Fremde ihre eine Brustwarze. Oscar fühlte sich wie ein Fisch am Haken.

Er trat wieder ins Hotelzimmer. Greta hatte ihre Kritzelei beendet. Ihr Gesicht war blass und nachdenklich.

»Was hattest du?« fragte er.

»Das war eigenartig.« Sie legte den Bleistift weg. »Ich habe nachgedacht. Ich kann während des Sex über Neurologie nachdenken.«

»Tatsächlich?«

»Also, es ist eher so, als träumte ich davon. Du hast mich sehr erregt, und ich war kurz vorm Kommen… du weißt doch, wie wundervoll es sein kann, unmittelbar vor dem Höhepunkt zu verweilen? Und gleichzeitig habe ich intensiv über die Wellenausbreitung in den Zellen des Stütz- und Hüllgewebes nachgedacht. Dann begriff ich plötzlich, dass die übliche Story mit den Kalziumwellen in der Neuroglia falsch ist, und ich stand kurz davor, ganz kurz davor, und da blieb ich stecken. Ich blieb kurz davor stecken. Ich konnte nicht loslassen und konnte nicht richtig kommen, und das Lustgefühl wurde immer intensiver. Ein Tosen war in meinem Kopf, mir wäre beinahe schwarz vor Augen geworden. Und dann wurde es mir mit einem Mal klar. Ich musste aufspringen und es notieren.«

Er trat an den Tisch. »Und wie funktioniert’s?«

»Ach«, sie schob den Zettel weg, »das ist bloß so eine Idee. Ich meine, jetzt, da ich es niedergeschrieben habe, erscheint es mir unmöglich, dass sich ein neurogliales Synzytium dergestalt verhält. Das ist ein kluger Gedanke, aber er stimmt nicht mit den Tracer-Untersuchungen überein.« Sie seufzte. »Es hat sich so gut angefühlt. Als es passierte. Mein Gott, war das gut.«

»Das wirst du nicht jedesmal erleben.«

»Nein. So viele gute Ideen habe ich nicht mehr.« Sie schaute hoch, die zerbissenen Lippen noch ganz geschwollen. »Denkst du dabei nicht auch an etwas anderes?«

»Doch, schon.«

»Und woran?«

Er zog sie ein wenig näher. »An andere Dinge, die ich mit dir anstellen könnte.«

Sie legten sich wieder ins Bett. Diesmal hatte sie einen Blackout. Er bemerkte nicht, wie sie das Bewusstsein verlor, denn ihr Körper bewegte sich noch immer rhythmisch, doch sie verdrehte die Augen. Als sie ihn ansprach, hatte er seinerseits einen Blackout.

»Bist du bei mir?« flüsterte sie blicklos.

»Ja, ich bin da«, keuchte er. Sie hatten sich miteinander vermischt, auf einer so tiefen, dem Bewusstsein unzugänglichen Ebene, dass sie kaum imstande waren, sich zu manifestieren. Aber sie hatten einen guten Moment gewählt, um die zentrale Bühne des Geistes in Beschlag zu nehmen. Ihre schwitzenden Leiber kamen zur Ruhe, verschmolzen miteinander in einem Zustand tiefer Entspannung. Auf einmal war alles ganz einfach, ein weites, mondbeschienenes Meer der Sexualität, das an eine ferne Küste schwappte. Sie atmeten im gleichen Rhythmus.

Als er erwachte, war es zehn Uhr morgens. Morgenlicht sickerte durch die Ritzen der Fensterläden und malte ein Streifenmuster an die Decke. Greta regte sich und gähnte, stupste mit dem Fuß gegen seinen Knöchel. »Es tut gut, hinterher ein Schläfchen zu machen.«

»Anscheinend wird es uns zur Gewohnheit, ohnmächtig zu werden.«

»Ich glaube, das Träumen tut uns gut.« Sie richtete sich auf. »Duschen…« Ihre Stimme wurde leiser, als sie davontappte. »Oh, es gibt hier ja sogar ein Bidet! Das ist toll.«

Er folgte ihr ins Bad. »Wir waschen uns. Wir ziehen uns an«, meinte er fröhlich. Der Sex lag jetzt hinter ihnen, sehnsüchtig erwartet, aber im Rückblick auch ein wenig belastend. Trotzdem fühlte er sich gut. Sie waren geläutert, die Spannung hatten sie sich ausgetrieben; jetzt hatten sie Spaß miteinander. »Wir setzen die Masken auf, wir gehen aus und trinken Kaffee. Ich fotografiere dich auf der Straße, das ist lustig.«

»Gute Idee.« Sie begutachtete im Spiegel ihre ruinierte Frisur und schnitt eine Grimasse. »Ein Martini zu viel…«

»Du siehst großartig aus. Ich fühle mich gut, ich bin ja so glücklich.«

»Ich auch.« Sie trat in die Dusche, das Wasser begann zu rauschen.

»Wir machen Urlaub«, sagte er versonnen. »Wir machen gemeinsam ein bisschen Urlaub, wir leben für den Augenblick, wir sind nicht anders als andere Menschen auch.«

Als sie angekleidet waren, traten sie auf den Balkon hinaus, wo sich um diese Zeit viele freundliche Fremde drängten. Als sich Greta blicken ließ, wurde sie von der Straße her sogleich mit lautem Grölen begrüßt.

Greta riss hinter ihrer Federmaske schockiert die Augen auf. »Du meine Güte«, sagte sie. »Ich habe immer gewusst, dass Männer nur das Eine wollen, aber dass sie es in aller Öffentlichkeit hinausbrüllen… Ich kann’s einfach nicht glauben.«

»Wenn du magst, zeig dich doch. Du bekommst Perlen dafür.«

Sie überlegte kurz. »Ich wäre dazu fähig, wenn du auf die Straße hinuntergehen und zu mir hochbrüllen würdest.«

»Das ist ein Wort. Warte, ich hole die Kamera.«

Sie lächelte durchtrieben. »Aber Sie müssen mir Perlen zuwerfen, Mister. Und sie müssen sehr hübsch sein.«

»Ich nehme die Herausforderung gerne an«, sagte Oscar.

Eine Kette mit grünen und goldenen Perlen flog zu Greta hoch. Sie versuchte, die Halskette aufzufangen, verfehlte sie jedoch. Auf der Straße hüpfte ein großer Mann mittleren Alters, mit Schnurrbart und Maske, auf und nieder und brüllte zu ihr hoch. Er schwenkte hektisch die Arme, als versuchte er, ein Flugzeug auf sich aufmerksam zu machen.

»Schau dir diesen Clown an«, meinte Oscar grinsend. »Der ist ganz aus dem Häuschen.«

Der Mann und seine lächelnde Begleiterin kämpften sich heldenhaft durchs Gewühl, bis sie unmittelbar unterhalb des Balkons eingekeilt waren.

»Dr. Penninger!« schrie der Mann. »Hey, zeigen Sie uns Ihr Gehirn!«

»Mist, jetzt hat er es verdorben«, sagte Oscar verärgert. »Das sind Paparazzi.«

»Hey, Oscar!« rief der Mann aufgekratzt. Er nahm die Maske ab. »Sieh mal, sieh mal!«

»Kennst du den?« fragte Greta.

»Nein…« Plötzlich machte Oscar große Augen. »Hey! Doch, den kenne ich! Yosh! Das ist Yosh Pelicanos.« Er beugte sich weit vor und rief in die Tiefe: »Yosh! Grüß dich!«

»Seht mal!« rief Yosh aufgeregt und deutete auf die maskierte und kostümierte Brünette an seiner Seite. »Das ist Sandra!«

»Was redet der da?« fragte Greta.

»Das ist seine Frau«, meinte Oscar erstaunt. »Das ist seine Frau Sandra.« Er legte die Hände trichterförmig um den Mund und schrie: »Sandra! Hallo! Schön, dich zu sehen!«

»Mir geht’s wieder besser!« rief Sandra. »Mir geht es sehr viel besser.«

»Das ist großartig!« erwiderte Oscar. »Das ist wunderbar! Kommt hoch, Yosh! Kommt hoch und trinkt einen Schluck mit uns!«

»Keine Zeit!« rief Yosh. Seine Frau wurde von den Passanten mitgerissen. Pelicanos ergriff ihre Hand und schirmte sie einen Moment ab. Sandra wirkte ein wenig unsicher im Gewühl, was in Anbetracht des neunjährigen Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik auch nicht weiter verwunderlich war.

»Wir müssen jetzt miteinander schlafen!« rief Sandra mit scheuem, aber strahlendem Lächeln.

»Gott segne Sie, Dr. Penninger!« brüllte Pelicanos, schwenkte die Maske und wich zurück. »Sie sind ein wahres Genie! Danke, dass es Sie gibt! Danke, dass Sie so sind, wie Sie sind!«

»Wer sind diese Leute?« fragte Greta. »Weshalb hast du sie eingeladen?«

»Das war mein Majordomus. Und seine Frau. Seine Frau war schizophren.«

»Das war seine Frau?« Greta stockte. »Also, dann hat sie bestimmt das NCR-40-Autoimmunsyndrom gehabt. Das spricht auf die Aufmerksamkeitstherapie mittlerweile recht gut an. Sie wird wieder vollständig gesund werden.«

»Dann wird er auch gesund werden.«

»Wenn er sich wieder beruhigt, geht es ihm bestimmt prima. Außerdem sieht er recht gut aus.«

»Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt. Ich habe ihn noch nie so glücklich erlebt.« Oscar zögerte. »Du hast ihn glücklich gemacht.«

»Na ja, vielleicht gebührt mir das Verdienst ja wirklich.« Sie lächelte. »Aber es war nicht meine Absicht, ihn glücklich zu machen. Die Wissenschaft heimst die Verdienste für Dinge ein, die sie gar nicht beabsichtigt hat. Man kann der Wissenschaft nicht zugute halten, dass sie bisweilen der Menschheit hilft. Andererseits heißt das aber auch nicht, dass man der Wissenschaft vorwerfen dürfte, sie füge der Menschheit Schaden zu.«

»Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann. Das ist unpolitisch gedacht.«

Greta nahm einen großen Schluck Champagner. Die Männer auf der Straße brüllten noch immer zu ihr hoch, sie aber strafte sie mit Nichtbeachtung. »Schau mal«, sagte sie unvermittelt. Sie drückte sich die Federmaske mit ihren langen Fingern ans Gesicht. Hinter der eulenhaften Verkleidung bewegten sich ihre Augen plötzlich in die entgegengesetzte Richtung.

Oscar zuckte zusammen. »Wow! Wie hast du das gemacht?«

»Ich kann das neuerdings. Ich habe geübt. Ich kann sogar zwei Dinge gleichzeitig betrachten. Sieh nur.« Sie verdrehte die Augen in den Höhlen wie ein Chamäleon.

»Allmächtiger! Und das schaffst du, einfach indem du es dir vorstellst?«

»Das ist die Macht des Geistes.«

»Unglaublich. Nein, sieh mich wieder an. Mit beiden Augen. Und jetzt mit einem Auge. Du meine Güte, so etwas Schockierendes habe ich noch nicht gesehen. Da kriege ich eine Gänsehaut. Mach das noch mal, Schatz. Mein Gott! Ich muss die Kamera holen.«

»Das macht dir keine Angst? Ich habe das bisher noch niemandem gezeigt.«

»Klar macht mir das Angst! Ich bin wie gelähmt vor Schreck. Es ist wundervoll. Wieso bin ich der einzige Mann auf der Welt, der weiß, wie sexy das ist?«

Er lachte. »Das ist umwerfend. Komm her und küss mich!«

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