Bruce Sterling Brennendes Land

1

Seinem Laptop zufolge sah Oscar sich das Video über die Unruhen in Worcester bereits zum einundfünfzigsten Mal an. Das ruckelige Acht-Minuten-Video war derzeit sein bevorzugtes Meditationsobjekt. Die Bilder waren körnig, aufgenommen von einer Überwachungskamera in Massachusetts.

Die Presse sprach in diesem Zusammenhang von den ›Worcester-Unruhen vom 1. Mai ‘42‹. Oscars professioneller Einschätzung zufolge hatte der Vorfall vom 1. Mai die Bezeichnung ›Unruhen‹ nicht verdient, denn er war zwar von extremer Destruktivität geprägt, jedoch in keinerlei Hinsicht aufrührerisch gewesen.

Die ersten Bilder zeigten für Massachusetts typische Passanten. Worcester war seit jeher eine ziemlich harte und hässliche Stadt, doch wie viele andere Gebiete im alten industriellen Nordosten auch hatte Worcester in letzter Zeit aufgeholt. Niemand in der Menge zeigte Anzeichen von Aggression oder Empörung. Keinerlei Vorgänge, welche die Aufmerksamkeit der Behörden oder der verschiedenen Formen automatischer Überwachung erregt hätten. Das waren ganz normale Passanten. Eine Schlange von Bankkunden vor einem Geldautomaten. Ein haltender Bus, aus dem Fahrgäste ausstiegen.

Dann wurde das Getriebe auf der Straße ganz allmählich dichter. Es waren mehr Menschen in Bewegung. Und auch wenn es nicht gleich auffiel, so hatten doch immer mehr Leute Koffer, Rucksäcke oder übergroße Taschen dabei.

Oscar wusste genau, dass diese so normal wirkenden Leute Teil einer Verschwörung waren. Was wirklich seine Bewunderung hervorrief, war ihre gute Kleidung, ihr unauffälliges, lässiges Verhalten. Obwohl sie eindeutig nicht aus Worcester, Massachusetts, stammten, verkörperte jeder Einzelne auf seine Art das Bild, das die Öffentlichkeit von Worcester hatte. Sie alle waren Ebenbilder und Doppelgänger, unheimliche, brillante Fälschungen, Fremde, die Böses im Sinn hatten, ohne dass es einem auf den ersten Blick aufgefallen wäre.

Sie passten in keines der geläufigen demografischen Profile von Unruhestiftern, Kriminellen oder gewalttätigen Radikalen. Sicherheitsmaßnahmen, die bei ihnen gegriffen hätten, hätten alle Stadtbewohner erfasst.

Oscar vermutete, dass es sich um radikale Prolos handelte. Um Dissidenten, Autonome, Zigeuner, Angehörige der Freizeitgewerkschaft. Diese Annahme schien vernünftig, denn ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung war arbeitslos. Über die Hälfte der Bevölkerung ging keiner traditionellen Beschäftigung mehr nach. Die moderne Wirtschaft brachte nicht mehr viele Erwerbsmuster hervor, welche die Zeit der Menschen in Anspruch nahmen.

Die Millionen Entwurzelten stellten ein unerschöpfliches Reservoir für Sekten, Prologangs und Straßenbanden dar. Große Banden waren heutzutage eine ganz alltägliche Erscheinung, doch diese Versammlung hier war kein Mob. Dies war auch keine gewöhnliche Straßengang oder Miliz, denn die Leute grüßten einander nicht. Offenbar wurden weder Befehle ausgegeben noch entgegengenommen, es gab keine Farb- oder Handzeichen, keine erkennbare Hierarchie. Die Leute schienen sich nicht zu kennen.

Tatsächlich – Oscar war dies erst nach wiederholtem Studium des Videos aufgefallen – nahmen sie einander nicht als Angehörige derselben Gruppe wahr. Weiterhin vermutete er, dass viele von ihnen – vielleicht die meisten – gar nicht wussten, was sie als nächstes tun würden.

Dann auf einmal brach Hektik aus. Auch beim einundfünfzigsten Mal war es immer noch verblüffend anzusehen.

Rauchbomben explodierten, hüllten die Straße in Nebel. Taschen, Koffer und Rucksäcke wurden geöffnet, und deren Besitzer zückten ein bislang unsichtbares Arsenal von Bohrern, Bolzenschneidern und Wagenhebern. Sie marschierten durch den wogenden Nebel und machten sich ans Werk, als ob sie täglich Banken demolierten.

Ein brauner Lieferwagen fuhr im Schritttempo vorbei, ein Lieferwagen ohne Nummernschilder. Während er die Straße entlangfuhr, blieben alle anderen Fahrzeuge stehen. Keines von ihnen würde sich je wieder in Bewegung setzen, denn die Schaltungen waren von einem hochfrequenten elektromagnetischen Impuls zerstört worden, der keineswegs zufällig auch die finanzielle Hardware der Bank lahmgelegt hatte.

Der braune Lieferwagen fuhr davon und kam nicht mehr zurück. Er wurde kurz darauf durch einen großen, amtlich wirkenden Abschleppwagen ersetzt. Der Abschleppwagen rumpelte über das Pflaster, hakte sich beim Geldautomaten ein und riss den gepanzerten Automaten mitsamt eines Schwalls von Mauersteinen aus der Wand. Zwei zufällige Passanten zurrten den Geldautomaten energisch mit Bungeeseilen fest. Der Abschleppwagen nahm daraufhin noch die geparkte Limousine eines Bankangestellten auf den Haken, dann fuhr er weg.

Jetzt sah man den Arm eines jungen Mannes in Nahaufnahme. Eine kräftige braune Hand drückte einen Knopf, worauf die Linse der Überwachungskamera mit Farbe besprüht wurde. Damit endete das Video.

Nicht aber der Überfall. Die Angreifer hatten die Bank nicht bloß ausgeraubt. Sie hatten alles fortgeschleppt, was nicht niet- und nagelfest war, einschließlich der Überwachungskameras, der Teppiche, der Stühle, der Beleuchtungskörper und Sanitärinstallationen. Die Verschwörer hatten die Bank vorsätzlich bestraft, aus Gründen, die nur sie selbst oder ihre unbekannten Anführer kannten. Sie hatten Türen mit Superkleber verklebt, Fensterscheiben zerschlagen, Strom- und Datenleitungen durchtrennt, stinkende Toxine in die Hohlräume in den Wänden gekippt, die Waschbecken und Abflüsse mit Beton gefüllt. Binnen acht Minuten hatten sechzig Menschen das Gebäude so gründlich ruiniert, dass man es nur noch abreißen konnte.

Die behördliche Untersuchung hatte weder zur Verurteilung, noch zur Ergreifung oder auch nur Identifizierung eines der ›Rädelsführer‹ geführt. Als man die Worcester Bank genauer unter die Lupe nahm, kamen zahlreiche schwerwiegende Unregelmäßigkeiten ans Licht. Der Skandal führte schließlich zum Rücktritt dreier Politiker des Staates Massachusetts und zur Verhaftung vierer Bankmanager sowie des Bürgermeisters von Worcester. Der Bankskandal von Worcester war daraufhin im Wahlkampf zum US-Senat zu einem wichtigen Thema avanciert.

Dieser Vorfall war wirklich bemerkenswert. Er umfasste Organisation, Beobachtung, Entscheidungen und Ausführung. Verantwortlich für die brutale Unternehmung war offenbar irgendein neuer Machtfaktor. Irgendjemand hatte dies alles aufs Sorgfältigste geplant und durchgeführt, aber wie? Wie hatten die Drahtzieher sich der Loyalität der vielen Mittäter versichert? Wie hatte man sie angeworben, sie ausgebildet, gekleidet, bezahlt, transportiert? Und was noch verwunderlicher war – wie kam es, dass sie nach der Tat alle Schweigen bewahrten?

Oscar Valparaiso hatte einmal geglaubt, Politik sei mit einem Schachspiel vergleichbar. Mit einem Schachspiel, so wie er es kannte. Mit Bauern, Springern und Damen, mit Machtzentren und Strategien, schwarzen und weißen Feldern. Die Beschäftigung mit dem Video hatte ihn eines Besseren belehrt. Das Phänomen, welches das Video zeigte, war keine Schachfigur. Es stand auf dem öffentlichen Schachbrett, das ja, doch es war weder ein Turm noch ein Läufer. Es war ein glitschiger Tintenfisch, ein Bienenschwarm. Es war eine neue Wesenheit, die ihrer eigenen Logik folgte und sich anschließend in die stillen Zwischenräume einer stark vernetzten und zunehmend zersplitterten Gesellschaft flüchtete.

Oscar seufzte, klappte den Laptop zu und blickte durch den Bus. Seine Wahlkampfhelfer lebten schon seit dreizehn Wochen in dem Bus, inmitten der langsam ansteigenden Müllflut. Sie hatten gesiegt, und nun fiel der Druck des anstrengenden Wahlkampfs allmählich von ihnen ab. Alcott Bambakias, ihr ehemaliger Auftraggeber, war als neuer Senator von Massachusetts gewählt. Oscar hatte ihm den Sieg errungen. Jetzt war die Kampagne ad acta gelegt.

Gleichwohl lebten noch immer zwölf Angestellte im Bus des Senators. Sie schnarchten in ihren Kojen, spielten Poker auf Klapptischen, trampelten auf großen, promiskuitiven Wäschehaufen herum. Hin und wieder wühlte einer in den Schränken nach etwas Essbarem.

Oscars Ärmel piepste. Er zog ein Stofftelefon hervor und brachte es geistesabwesend in Form. »Okay, Fontenot«, sagte er ins Mikrofon.

»Wollen Sie heute noch im Labor ankommen?« fragte Fontenot.

»Das wäre schön.«

»Was ist Ihnen das wert? Es gibt da ein Problem mit einer Straßensperre.«

»Die wollen uns erpressen, hab ich recht?« sagte Oscar und runzelte die Stirn unter seinem tadellos frisierten Haar. »Sie verlangen rundheraus ein Bestechungsgeld? Ist es wirklich so einfach?«

»Nichts ist mehr einfach«, sagte Fontenot. Der Sicherheitschef erging sich nicht in resignativem Sarkasmus. Er benannte lediglich eine Tatsache des modernen Lebens. »Das ist was anderes als die üblichen Straßenblockaden. Wir haben es hier mit der United States Air Force zu tun.«

Oscar ließ diese Neuigkeit einsinken. Sonderlich ermutigend klang sie nicht. »Und warum blockiert die Air Force einen Bundeshighway?«

»Hier in Louisiana läuft schon immer einiges anders«, meinte Fontenot. Im dünnen Lautsprecher des Telefons schwoll fernes Hupen zu einem Crescendo an.

»Oscar, ich glaube, Sie sollten sich das ansehen. Ich kenne Louisiana. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, aber dafür fehlen mir die Worte.«

»Ist gut«, sagte Oscar. »Bin gleich da.« Er stopfte das Telefon in den Ärmel. Er kannte Fontenot jetzt seit über einem Jahr, doch eine solche Einladung hatte er von ihm noch nicht erhalten. Fontenot forderte niemals andere Leute auf, die Risiken zu teilen, die sein Beruf mit sich brachte; dies wäre seinem Berufsverständnis als Bodyguard zuwidergelaufen. Oscar brauchte man nicht zweimal zu bitten.

Er stellte den Laptop ab und erhob sich. »Leute, hört mal her, es gibt hier ein Problem! Vor uns liegt wieder mal eine kleine Straßensperre.« Laute Unmutsäußerungen. »Fontenot kümmert sich drum. Jimmy, stellen Sie die Alarmanlage an.«

Der Fahrer hielt am Straßenrand und schaltete die eingebauten Schutzvorrichtungen ein. Oscar warf einen Blick aus dem Fenster. Eigentlich hatte der Wahlkampfbus keine Fenster. Von außen betrachtet war der Bus hermetisch verschlossen. Bei den großen Innenfenstern handelte es sich um Displays, verkabelt mit Außenkameras, welche die Umgebung ständig überwachten. Bambakias’ Wahlkampfbus zeichnete grundsätzlich alles auf Video auf. Im Notfall wurden die Beobachtungen gespeichert, katalogisiert und über Satellit in ein tief in den Rocky Mountains gelegenes Archiv übertragen. So eine Art Bus war das.

Im Moment beobachtete der Bus zwei hohe, grüne Wände aus düsteren Pinien und einen Stacheldrahtzaun mit morschen Pfosten. Sie hielten am Interstate Highway 10, zehn Meilen hinter dem gespenstisch anmutenden postindustriellen Städtchen Sulphur, Louisiana. Als der Bus durch Sulphur hindurchgerast war, hatte das Team mit Beklommenheit auf den Anblick reagiert. Im dichten Winternebel wirkte die Cajun-Stadt wie eine riesige Ölraffinerie, durchsetzt mit Grashütten und zerbeulten Wohnwagen.

»Ich steige aus«, verkündete Oscar, »und schaue mich mal um.«

Donna, seine Imageberaterin, brachte ihm ein Frackhemd. Oscar nahm seidene Hosenträger, Hut und seinen Mailänder Trenchcoat entgegen.

Während ihm die Stylistin in die Schuhe half, musterte Oscar seine Leute. Ein bisschen Action und frische Luft würden ihnen gut tun. »Wer möchte sich mit der U.S. Air Force anlegen?«

Jimmy de Paulo sprang vom Fahrersitz hoch. »Hey, Mann, ich bin dabei!«

»Jimmy«, sagte Oscar mit sanfter Stimme, »das geht nicht. Sie müssen den Bus fahren.«

»Schon klar«, meinte Jimmy und ließ sich wieder auf den Sitz plumpsen.

Moira Matarazzo richtete sich widerwillig in ihrer Koje auf. »Gibt es irgendeinen Grund, weshalb ich mitkommen sollte?« Moira war als Wahlkampfsprecherin monatelang den Kameras ausgesetzt gewesen. Jetzt hatte die normalerweise tadellos gekleidete Moira wirres Haar, rissige Lippen und pelzige Augenbrauen und trug einen zerknitterten Baumwollpyjama. Das böse Funkeln ihrer vom Champagner verquollenen Augen hätte selbst eine Mokassinschlange abgeschreckt. »Wenn es unbedingt sein muss, komme ich mit, aber ich sehe einfach keinen Grund dafür«, jammerte Moira. »Straßenblockaden sind manchmal gefährlich.«

»Dann solltest du auf jeden Fall mitgehen.« Bob Argow hatte gesprochen, der Systemadministrator. Bobs eisiger Tonfall machte unmissverständlich klar, dass er kurz vor der Explosion stand. Seit der Siegesfeier in Boston hatte Bob unablässig getrunken. Damit angefangen hatte er in der freudigen Erleichterung, und während die Meilen vorbeirollten und sich die Flaschen systematisch leerten, war er in eine klassische posttraumatische Depression verfallen.

»Ich begleite Sie, Mr. Valparaiso«, ließ sich Norman-der-Praktikant vernehmen. Wie üblich beachtete ihn niemand.

Die zwölf Wahlkämpfer standen nach wie vor auf der Gehaltsliste und verbrauchten Bambakias’ letztes Kampagnengeld. Offiziell nahmen sie gerade ihren hochverdienten ›Urlaub‹. Diese großzügige Geste war typisch für Alcott Bambakias, doch war dies auch dazu gedacht, die Wahlkampfmannschaft langsam aus der Nähe des neugewählten Senators zu entfernen. In seinem ultramodernen Hauptquartier in Cambridge war der charismatische Milliardär derzeit damit beschäftigt, eine völlig neue Mannschaft um sich zu versammeln, den Washingtoner Stab, der ihm beim Regieren helfen sollte. Nach monatelanger hektischer, aufopferungsvoller Teamarbeit hatte man die Wahlkämpfer mit einem Scheck und einem warmen Händedruck verabschiedet.

Oscar Valparaiso war Bambakias’ politischer Berater gewesen. Zudem hatte er den Wahlkampfeinsatz geleitet. Nach dem Wahlsieg hatte er mühelos eine neue Stelle gefunden. Nachdem im Hintergrund rasch ein paar Hebel in Bewegung gesetzt worden waren, hatte Oscar beim Wissenschaftsausschuss des US-Senats als politischer Berater angeheuert. Senator Bambakias würde diesem Ausschuss bald angehören.

Oscar hatte Ziele, einen Auftrag, Optionen, taktisches Geschick, eine Zukunft. Den anderen Mitgliedern des Wahlkampfteams gingen diese Dinge ab. Oscar war sich dessen bewusst. Er kannte diese Menschen nur allzu gut. In den vergangenen achtzehn Monaten hatte er sie eingestellt, sie bezahlt, sie geleitet, ihnen gut zugeredet, sie zu einem Team zusammengeschweißt. Er hatte Büros für sie angemietet, ihre hohen Ausgaben überwacht, ihnen Titel zugewiesen, ihren Zugang zum Kandidaten geregelt und bei finanziellen Problemen und romantischen Verwicklungen geschlichtet. Zu guter Letzt hatte er sie alle zum Sieg geführt.

Oscar war noch immer ein Machtzentrum, daher hielt sich seine Mannschaft instinktiv in seinem Kielwasser. Sie befanden sich ›im Urlaub‹, alle miteinander Politprofis, die darauf warteten, dass sich irgendetwas ergab. Der Korpsgeist in Oscars Gefolge aber war ebenso widerstandsfähig wie ein Glückskeks.

Oscar ergriff die braunrote Schultertasche und steckte nach reiflicher Überlegung eine kleine nichttödliche Sprühpistole hinein. Yosh Pelicanos, Oscars Majordomus und Stellvertreter, reichte ihm eine prallvolle Geldkarte. Pelicanos war sichtlich müde und nach den langen Siegesfeiern noch etwas verkatert, trotzdem aber voll auf dem Posten. Als zweiter Mann hinter Oscar legte Pelicanos Wert darauf, sich stets als verlässlich zu erweisen.

»Ich komme mit«, murmelte Pelicanos, während er nach seinem Hut suchte. »Ich muss mich bloß noch anziehen.«

»Du bleibst hier, Josh«, erwiderte Oscar gelassen. »Wir sind fern der Heimat. Du behältst den Bus im Auge.«

»Ich hol mir einen Kaffee«. Pelicanos gähnte und schaltete automatisch die Satellitennachrichten ein, was zur Folge hatte, dass ein Busfenster von einem Datenschwall ausgelöscht wurde. Er machte sich auf die Suche nach seinen Schuhen.

»Ich begleite Sie!« beharrte Norman strahlend. »Na los, Oscar, nehmen Sie mich mit!« Norman-der-Praktikant war der letzte vom Wahlkampf übriggebliebene Laufbursche. Zuvor hatten ganze dreizehn Praktikanten Bambakias’ Wahlkampftruppe angehört, doch die anderen unbezahlten Freiwilligen waren in Boston zurückgeblieben. Norman-der-Praktikant jedoch, ein Collegestudent vom MIT, hatte sich nicht abschütteln lassen, sondern unablässig weitergerackert, wobei er sich auf schier übermenschliche Weise verausgabte. Die Wahlkampfcrew hatte ihn mehr aus Gewohnheit denn aufgrund einer bewussten Entscheidung mit in die ›Ferien‹ genommen.

Die Tür öffnete sich mit einem scharfen pneumatischen Zischen. Zum ersten Mal nach der Durchquerung von vier Staaten traten Oscar und Norman ins Freie. Nachdem sie Hunderte von Stunden im Fahrzeug zugebracht hatten, betraten sie den Erdboden, als setzten sie den Fuß auf einen fremden Planeten. Oscar registrierte mit leichtem Erstaunen, dass das Bankett mit Tonnen von zerbrochenen Muschelschalen bedeckt war.

Das hohe Unkraut am Straßenrand war plattgedrückt vom Wind und bräunlich grün. Der Wind kam von Osten und wehte Schwefelgeruch heran – bioindustriellen Gestank. Ein Gestank wie von einer monströsen Brauerei, die mit genmanipulierten Zutaten arbeitete: wie von überzüchteter Hefe, die frischgemähtes Gras umwandelte. Silberreiher entfernten sich in V-Formation unter dem bedeckten Himmel. Es war Ende November 2044, und der Südwesten Louisianas bereitete sich halbherzig auf den Winter vor. Wer aus Massachusetts stammte, bekam davon nicht viel mit.

Norman hob ein Motorrad vom Träger am Heck des Busses. Die Motorräder waren in Cambridge, Massachusetts, entworfen und hergestellt worden und mit Gewerkschaftsabzeichen, Sicherheitswarnungen und Softwarehinweisen beklebt. Es sah Bambakias ähnlich, Motorräder zu kaufen, die mehr Elektronik eingebaut hatten als ein Langstreckenflugzeug.

Norman befestigte den Beiwagen und überprüfte die Batterie. »Keine Tricks«, warnte ihn Oscar, kletterte in den Beiwagen und legte sich den Hut auf den Schoß. Sie setzten die Schaumstoffhelme auf, dann fädelten sie sich hinter einem Plattformwagen mit Elektromotor auf den Highway ein.

Wie immer fuhr Norman wie ein Verrückter. Norman war jung. Er war noch nie ein Fahrzeug ohne automatische Steuerung und Gleichgewichtssysteme gefahren. Er fuhr ohne körperliche Anmut, als versuchte er, mit den Beinen Algebra zu betreiben.

Die Dämmerung senkte sich allmählich auf die Pinien herab. An der Ostseite der Brücke über den Sabine River staute sich der Verkehr auf zwei Kilometern Länge. Oscar und Norman flitzten übers Bankett, wobei der Beiwagen mit cybernetischer Gewandheit die Muschelschalen zermalmte. Die Insassen der im Stau gefangenen Wagen übten sich in stoischer Gelassenheit. Die großen Transportfahrzeuge – gespenstisch aussehende Biochemietanklaster und schmierige, übelriechende Fischtransporter – wendeten bereits. Straßenblockaden waren bedauerlicherweise an der Tagesordnung.

Die Tourismusbehörde von Louisiana unterhielt am Flussufer, unmittelbar an der Staatsgrenze, ein Informationszentrum für Touristen. Es handelte sich um ein rührend hässliches Gebäude im historischen Vorbürgerkriegsstil mit weißen Säulen.

Ein riesiger mattschwarzer Armeehubschrauber hockte auf seinen Kufen neben dem Highway, ein zutiefst grotesker mechanischer Wächter. Der schwarze Hubschrauber beleuchtete die Straße mit blendend hellen bläulichen Scheinwerfern. Die gewaltige Maschine war mit den skelettartigen Waffen der Luftwaffe gespickt. Die alten Luft-Boden-Waffen waren so wahnsinnig kompliziert und archaisch, dass sich ihre Funktionsweise Oscars Begreifen entzog. Waren das nun Pfeilschleudern? Teilchenbeschleuniger? Oder vielleicht Strahlenkanonen? Die Waffen wirkten wie eine albtraumhafte Mischung aus Neunaugenzähnen und Nähmaschinen.

Im blendend hellen Scheinwerferlicht des Hubschraubers hielten blauuniformierte Luftwaffenangehörige die Fahrzeuge an, welche Louisiana verlassen wollten. Die Insassen, texanische Touristen zumeist, wirkten angemessen eingeschüchtert.

Die Soldaten führten eine raffinierte Erpressung durch. Sie holten weiße Kühlboxen aus Dreirädern mit Faltdach und Tretantrieb hervor und konfrontierten die Reisenden mit deren Inhalt.

Norman-der-Praktikant studierte Ingenieurwissenschaft. Er riss seinen bewundernden Blick von den furchteinflößenden Waffen des Hubschraubers los. »Ich habe eher eine Art Party erwartet, wie bei den coolen Motorradzigeunern, die uns in Tennessee aufgehalten haben«, bemerkte Norman. »Vielleicht sollten wir uns besser aus dem Staub machen.«

»Da ist Fontenot«, entgegnete Oscar.

Fontenot winkte sie zu sich herüber. Sein Fortbewegungsmittel, ein gedrungenes, elektrisch angetriebenes Geländefahrzeug, hockte über dem Straßengraben. Der Sicherheitsbeauftragte trug einen langen gelben Regenmantel und dreckbespritzte Jeans.

Es war beruhigend, Fontenot zu sehen. Fontenot hatte für den Secret Service gearbeitet und war in Sicherheitsfragen ein alter Hase. Fontenot kannte mehrere amerikanische Präsidenten persönlich. Als er sein linkes Bein verloren hatte, war er für einen Ex-Präsidenten als Bodyguard tätig gewesen.

»Die Air Force ist gegen Mittag eingeflogen«, setzte Fontenot sie ins Bild, stützte sich auf die gepolsterte Stoßstange seines Geländefahrzeugs und senkte das Fernglas. »Haben Klebstoffbomben und Schaummittel abgeworfen. Dazu kommen die Sperrelemente und der Stacheldraht.«

»Ist wenigstens der Straßenbelag noch heil?« fragte Norman.

Fontenot strafte Norman mit herzlicher Nichtbeachtung. »Die Spur mit den Wagen aus Texas kann problemlos passieren, Fahrzeuge mit Nummernschildern aus Louisiana werden durchgewinkt. Widerstand gab es keinen. Die Reisenden aus anderen Bundesstaaten plündern sie aus.«

»Das klingt plausibel«, meinte Oscar. Er nahm den Helm ab, kämmte sich mit einem Taschenkamm und setzte den Hut auf. Dann stieg er behutsam aus dem Beiwagen, wobei er darauf achtete, sich nicht die Schuhe schmutzig zu machen. Das Ufer des Sabine River war in Louisiana ein einziger Sumpf.

»Warum tun sie das?« fragte Norman.

»Sie brauchen das Geld«, antwortete Fontenot.

»Wie?« meinte Norman. »Die Air Force?«

»Der Luftwaffenstützpunkt bekommt kein Geld mehr vom Staat, um seine Stromrechnungen zu begleichen. Entweder sie zahlen, oder das E-Werk stellt die Versorgung ein.«

»Die ständige Zwickmühle«, setzte Oscar hinzu.

Fontenot nickte. »Die Unionsregierung will den Stützpunkt schon seit Jahren auflösen, aber Louisiana ist in der Angelegenheit stur. Daher hat ihn der Kongress vergangenen März aus den Notstandsverordnungen rausgenommen. Als wäre eine ganze Luftwaffenbasis einfach in einem Erdloch verschwunden.«

»Schlimm. Wirklich schlimm. Das ist furchtbar!« sagte Norman. »Weshalb lässt der Kongress nicht ordnungsgemäß darüber abstimmen? Ich meine, es kann doch nicht so schwer sein, eine Militärbasis zu schließen?«

Fontenot und Oscar wechselten vielsagende Blicke.

»Norman, Sie bleiben besser hier und passen auf unsere Fahrzeuge auf«, meinte Oscar freundlich. »Mr. Fontenot und ich möchten mit den Militärs mal ein ernstes Wörtchen reden.«

Oscar schritt neben dem humpelnden Ex-Geheimagenten an der Schlange entlang. Bald darauf waren sie außer Normans Hörweite angelangt. Es tat gut, sich in der frischen Luft zu bewegen, wo man kaum abgehört werden konnte. Oscar fand, dass sich die besten Unterhaltungen immer dann ergaben, wenn keine Abhörvorrichtungen in der Nähe waren.

»Wir könnten sie einfach bezahlen, wissen Sie«, meinte Fontenot milde. »Das ist schließlich nicht die erste Straßenblockade, der wir unterwegs begegnet sind.«

»Ich hoffe doch, die Befürchtung, die Soldaten könnten auf uns schießen, ist grundlos?«

»Ach, die Air Force wird bestimmt nicht auf uns schießen.« Fontenot zuckte die Achseln. »Darum geht es nicht. Das ist rein politisch.«

»Unter anderen Umständen hätte ich sie ausgezahlt«, sagte Oscar. »Wenn wir den Wahlkampf verloren hätten, zum Beispiel. Aber wir haben nicht verloren. Wir haben gewonnen. Der Senator ist im Amt. Daher geht es jetzt ums Prinzip.«

Fontenot nahm den Hut ab, verteilte das Fett, das dieser absonderte, auf der Stirn und setzte den Hut wieder auf. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Ich habe eine Alternativroute ausgeknobelt. Wir könnten umkehren und über den Highway 109 Richtung Norden fahren, dann würden wir das Labor in Buna bis Mitternacht erreichen. Das würde uns eine Menge Ärger ersparen.«

»Gute Idee«, meinte Oscar, »aber schauen wir uns erst mal um. Ich glaube, ich wittere hier ein Thema. Der Senator sucht ständig nach neuen Themen.« Die Insassen der haltenden Autos starrten finster zu ihnen heraus. Fontenot konnte leicht als Einheimischer durchgehen, Oscar hingegen zog misstrauische und neugierige Blicke auf sich. Nur sehr wenige Leute im Südwesten Louisianas kleideten sich wie Angehörige der Politikerkaste.

»Das Thema stinkt jedenfalls zum Himmel«, pflichtete Fontenot ihm bei.

»Der hiesige Gouverneur ist eine ausgeprägte Persönlichkeit, nicht wahr? Eine solches Schauspiel… Eigentlich sollte er bessere Möglichkeiten kennen, die Unionsregierung zu provozieren.«

»Green Huey ist wahnsinnig. Aber das entspricht der Mentalität der Leute. Der Notstand, die Haushaltskrise – das ist hier unten kein Witz. Die Menschen sind hier sehr aufgebracht.«

Am Rande des vom Hubschrauber ausgeleuchteten Straßenabschnitts blieben sie stehen. Ein Lieutenant der Air Force unterhielt sich gerade durchs offene Wagenfenster mit einem texanischen Ausflüglerpärchen. Der Lieutenant war eine junge Frau; sie trug einen gepolsterten blauen Fliegeranzug und eine Schutzweste und hatte einen technisch raffinierten Flughelm am Webgürtel befestigt. Das mit Displays zugepflasterte Helminnere tickte und blitzte geschäftig.

Der Texaner musterte sie misstrauisch durchs Fahrerfenster. »Was gibt’s?« knurrte er.

»Die Air Force bietet heute Backwaren an, Sir. Wir haben Maisbrot, Muffuleta-Sandwiches, Croissants, Krapfen… Wie wär’s mit Zichorienkaffee? Ted, haben wir noch Kaffee übrig?«

»Habe gerade eine frische Kanne gemacht«, verkündete Ted lautstark und öffnete eine dampfende Klappe des Dreiradgefährts. Ted war schwer bewaffnet.

»Was meinst du?« wandte sich der Fahrer an seine Frau.

»Krapfen sind immer mit Puderzucker bestreut, da macht man alles schmutzig«, antwortete die Texanerin undeutlich.

»Wie viel kosten denn… äh… vier Croissants und zwei Tassen Kaffee? Mit Sahne?«

Die Soldatin murmelte etwas von ›freiwilligem Beitrag‹ Der Fahrer zückte die Brieftasche und reichte ihr schweigend eine Kreditkarte. Die Soldatin schob die Karte durch den Leseschlitz des tragbaren Scanners, wobei sie das Paar um eine beträchtliche Summe erleichterte. Dann reichte sie das Gebäck und den Kaffee durchs Wagenfenster. »Gute Fahrt«, sagte sie und winkte den Wagen weiter.

Das Pärchen fuhr los und beschleunigte heftig, sobald der Wagen außer Schussweite war. Die Soldatin blickte auf ein Anzeigegerät und winkte drei Wagen durch, die alle Nummernschilder aus Louisiana hatten. Dann stürzte sie sich auf das nächste Opfer.

Fontenot und Oscar schritten an den blendenden Scheinwerfern des Hubschraubers vorbei und wandten sich zum Touristenzentrum. Brusthoher, funkelnder Stacheldraht umgab das Gebäude. Die Fenster waren mit Folie verklebt. Militärische Satellitenantennen durchstießen das Dach. An der Tür stand ein bewaffneter Wachposten.

Der Wachposten verwehrte ihnen den Eintritt. Die Militärpolizeiuniform des jungen Mannes war eigentümlich zerknittert – offenbar hatte er sie aus der Tiefe eines muffigen Matchsacks hervorgeholt. Der Mann musterte sie: ein gut gekleideter Politiker in Begleitung seines Bodyguards. Gewiss nichts Ungewöhnliches. Der junge Soldat überprüfte sie mit einem Stabdetektor, ohne Oscars Vollplastik-Spraypistole zu bemerken, dann sprach er Oscar an. »Ihr Ausweis, Sir?«

Oscar reichte ihm eine funkelnde Chipkarte mit dem Siegel des Senats.

Kurz darauf wurden sie in das Gebäude geleitet. Im Empfangsraum hielten sich zwei Dutzend bewaffnete Männer und Frauen auf. Die Besatzer hatten die Möbel an die Wand gerückt und bewachten sämtliche Fenster und Eingänge. Durch die Decke drang gedämpftes Rumpeln und Knirschen, als wäre der Dachboden von riesenhaften, bewaffneten Waschbären bewohnt.

Die Angestellten des Touristenzentrums hielten sich noch immer im Gebäude auf. Die Mannschaft bestand aus gut gekleideten Südstaatenladies im mittleren Alter, mit adrett frisiertem und mit Schleifen verziertem Haar, hübschen Röcken und Schuhen mit flachen Absätzen. Man hatte die Damen weder festgenommen noch offiziell eingesperrt, sondern sie lediglich in eine Ecke des verdunkelten Büros gedrängt. Verständlicherweise machten sie eine gestressten Eindruck.

Der befehlshabende Offizier war sturzbetrunken. Oscar und Fontenot wurden vom Presseoffizier begrüßt. Auch der PR-Mann war blau.

Das Büro war mit tragbarem Militärgerät, einem überquellenden Schrank voller Formulare, Uniformen und flackernden Bildschirmen vollgestopft. Es roch nach verschüttetem Whiskey; der befehlshabende Offizier, vollständig bekleidet einschließlich der polierten Schuhe, lag auf einer khakifarbenen Pritsche. Der mit Visier und Rangabzeichen ausgestattete Helm verbarg sein Gesicht zur Hälfte.

Der Presseoffizier, ein stämmiger, uniformierter Veteran mit ergrauendem Haar und vernarbten Wangen, machte sich gerade an einem Computerterminal zu schaffen. Dicke Stränge faseroptischer Kabel gingen davon aus.

»Womit kann ich Ihnen helfen, Gentlemen?« sagte der Presseoffizier.

»Ich muss einen Bus durch die Sperre bringen«, sagte Oscar. »Einen Wahlkampfbus.«

Der Offizier blinzelte, wobei sich die Augenlider zeitlich versetzt hoben und wieder senkten. Seine Stimme schwankte nicht, obwohl er stark betrunken war. »Möchten Sie uns nicht ein paar Backwaren abkaufen?«

»Ich würde Ihnen den Gefallen gerne tun, aber unter den gegebenen Umständen würde es vielleicht ein wenig…« – Oscar zögerte – »unsensibel wirken.«

Der Presseoffizier tippte mit Oscars funkelnder Ausweiskarte auf den Rand seines Arbeitstisches. »Na ja, vielleicht überlegen Sie es sich ja noch, Mister. Es ist ein weiter Weg zurück nach Boston.«

Fontenot mischte sich ein. Fontenot schlug einen ruhigen, vernünftigen Ton ein, um die Lage zu entspannen. »Wenn Sie Ihre Aktionen für etwa eine halbe Stunde aussetzen, würde sich der Stau auflösen. Unser Bus könnte problemlos weiterfahren…«

»Das wäre eine Möglichkeit«, meinte der Offizier. Eine der Bildschirmanzeigen stabilisierte sich, und es ertönte eine triumphierende, kriegerische Fanfare. Der PR-Mann besah sich das Resultat. »Ah… Sie sind der Sohn von Logan Valparaiso!«

Oscar nickte und unterdrückte ein Seufzen. Man konnte sich darauf verlassen, dass ein gutes Suchprogramm die Privatsphäre durchlöcherte, doch wie weit der Angriff ging, ließ sich im Voraus nicht sagen.

»Ich kannte Ihren Vater!« verkündete der Presseoffizier. »Ich habe ihn mal interviewt, als er im Remake von El Mariachi mitspielte.«

»Was Sie nicht sagen.« Der Computer hatte ihnen eine gemeinsame Ebene eröffnet. Es war ein billiger Trick, ein Party-Trick, doch wie viele andere psychologische Winkelzüge funktionierte er recht gut. Auf einmal waren sie keine Fremden mehr.

»Wie alt ist Ihr Dad jetzt eigentlich?«

»Logan Valparaiso ist leider ‘42 gestorben. Nach einem Herzanfall.«

»Das ist wirklich schade.« Der Offizier schnippte bedauernd mit seinen Wurstfingern. »Er hat in ein paar tollen Actionfilmen mitgespielt.«

»Mein Vater hat es zuletzt etwas ruhiger angehen lassen«, meinte Oscar. »Er hat mit Immobilien gehandelt.« Sie logen beide. Die Filme waren zwar recht populär, aber sehr schlecht gewesen. Die Immobiliengeschäfte hatten der Geldwäsche im Auftrag von Hintermännern aus Hollywood gedient: emigrierte kolumbianische Mafiosi.

»Könnten Sie die Sperrung nicht vorübergehend für uns aufheben?« fragte Fontenot mit sanfter Stimme.

»Ich will Ihnen was verraten«, sagte der Mann. Die Bildschirmanzeigen waren noch immer in Bewegung, doch das war nicht mehr von Bedeutung. Sie tauschten Klatschgeschichten aus, kleine Vertraulichkeiten. Wer einen Filmstar zum Vater hatte, den erschoss man nicht. »Wir haben den Einsatz so gut wie abgeschlossen.«

Oscar hob die Brauen. »Ach. Das hört man gerne.«

»Ich führe bloß noch ein paar Aufklärungsscans durch… Wissen Sie, das Problem bei der Infoware ist nicht, in die Systeme hinein zu kommen. Vielmehr geht es darum, ohne größeren Schaden wieder heraus zu kommen. Wenn Sie sich also noch ein wenig gedulden würden, dann packen wir zusammen und verschwinden, ehe Sie sich’s versehen.«

Der befehlshabende Offizier ächzte in seinem Vollrausch und schlug auf die Pritsche ein. Der Presseoffizier eilte an die Seite seines Vorgesetzten und rückte fürsorglich die raue Decke und das aufblasbare Kissen zurecht. Als er zurückkam, brachte er eine Flasche Bourbon mit, die er unter der Pritsche hervorgezogen hatte. Er schenkte sich geistesabwesend einen Schluck in einen Pappbecher ein und schaute auf einen der Bildschirme.

»Was haben Sie gesagt?« meinte Oscar.

»Aufklärung. Das ist der Schlüssel zu einem reibungslosen Einsatzablauf. Wir haben Überwachungsdrohnen über dem Highway stationiert und überprüfen die Daten der Fahrzeughalter. Die Daten geben wir in diese Datenbank ein, überprüfen die Bonität und erstellen Kundenprofile, picken die Leute heraus, von denen zu erwarten ist, dass sie ohne großes Aufhebens bereit sind, einen großzügigen finanziellen Beitrag zu leisten…« Der Offizier schaute hoch. »Man könnte es auch als alternative, dezentralisierte Besteuerung bezeichnen.«

Oscar sah Fontenot an. »Ist das wirklich möglich?«

»Klar, machbar ist es schon«, antwortete Fontenot. Er hatte für den Secret Service gearbeitet. Der Geheimdienst kannte sich mit diesen Dingen aus.

Der PR-Mann lachte bitter. »So nennt der Gouverneur das gerne… Schauen Sie, das ist ganz normaler Infokrieg, wie wir ihn auch in Übersee ständig führen. Wir fliegen ein, zerstören lebenswichtige Computersysteme und erreichen das Einsatzziel mit null oder nur geringen Verlusten. Dann müssen wir verschwinden, auf und davon, und schon ist die Sache vergessen. Bitte umblättern.«

»Ja«, sagte Fontenot. »Wie bei der zweiten Panamakrise.«

»Hey«, meinte der Offizier stolz. »Ich war bei der zweiten Krise dabei! Das war ein klassischer Computerkrieg! Wir haben das dortige Regime allein dadurch gestürzt, dass wir den Datenfluss unterbrochen haben. Keine Toten! Kein einziger Schuss wurde abgefeuert!«

»Es ist immer gut, wenn es keine Toten gibt.« Fontenot krümmte knarrend seine Beinprothese.

»Musste die Arbeit beim Nachrichtendienst anschließend leider aufgeben, weil ich aufgeflogen war. Aber das ist eine lange Geschichte.« Ihr Gesprächspartner trank aus dem Pappbecher und machte ein todtrauriges Gesicht. »Möchten Sie einen Bourbon?«

»Aber sicher doch!« antwortete Oscar. »Vielen Dank!« Er nahm einen randvoll mit gelbem Schnaps gefüllten Pappbecher in Empfang und tat so, als kostete er davon. Oscar trank niemals Alkohol. Er hatte schon mehrfach miterlebt, wie der Alkohol Menschen auf qualvolle Weise zugrunde gerichtet hatte.

»Wann genau wollen Sie sich zurückziehen?« fragte Fontenot und nahm seinen Pappbecher mit munterem Eisenhower-Grinsen entgegen.

»Ach, um neunzehn Uhr. Vielleicht. So hat sich der Kommandant jedenfalls heute morgen geäußert.«

»Ihr Kommandant scheint sehr müde zu sein«, meinte Oscar.

Diese Bemerkung ärgerte den PR-Mann. Er setzte den Bourbon ab und musterte Oscar. Seine Augen glichen Austernschalen. »Yeah. Das stimmt. Mein Vorgesetzter ist müde. Er hat seinen Diensteid gebrochen, und er raubt US-Bürger aus, die Leute, auf die er vereidigt wurde. Sowas kann einen schon müde machen.«

Oscar hörte aufmerksam zu.

»Der Kommandant hatte keine Wahl, wissen Sie. Entweder er zieht diese Sache durch, oder er schaut zu, wie seine Leute in den Unterkünften verhungern. Es ist kein Geld mehr da. Es gibt kein Benzin, keinen Sold, keine Ausrüstung, nichts. Und das bloß deshalb, weil Ihr Hurensöhne in Euren Seidenanzügen es nicht schafft, den Haushalt zu verabschieden.«

»Mein Mann ist gerade erst nach Washington gegangen«, sagte Oscar. »Geben Sie uns eine Chance.«

»Mein Mann ist ein dekorierter Offizier! Er war bei Panama Drei, Irak Zwo und in Ruanda dabei! Er ist kein gottverdammter Politiker – er ist ein Nationalheld! Und jetzt brechen die Bundesstaaten auseinander, und der Gouverneur ist durchgeknallt, und er ist immer noch Kommandant und wird anschließend seinen Kopf hinhalten müssen. Wenn alles vorbei ist, wird er dafür büßen müssen. Die Untersuchungskommission wird ihn zerreißen.«

Oscar ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Eben deshalb muss ich nach Washington.«

»Für welche Partei arbeiten Sie?«

»Senator Bambakias wurde mit einer relativen Stimmenmehrheit von achtunddreißig Prozent gewählt«, sagte Oscar. »Er fühlt sich keiner Parteidoktrin verpflichtet. Er zieht Wähler aller Parteien an.«

Der PR-Mann schnaubte. »Ich will wissen, welcher Partei Sie angehören.«

»Den Demokraten.«

»Du meine Güte.« Der Mann neigte den Kopf und schwenkte die Hand. »Gehen Sie nach Hause, Yankee. Leben Sie.«

»Wir gehen gleich«, sagte Fontenot und setzte den Pappbecher ab, ohne davon getrunken zu haben. »Können Sie uns zufällig ein gutes Restaurant hier in der Gegend empfehlen? Ein Cajun-Lokal, meine ich? Wir sind zu zwölft.«


Der junge Wachposten an der Tür salutierte freundlich, als sie aus dem Touristenzentrum traten. Oscar steckte den Ausweis sorgfältig in die Brieftasche aus glattem Leder. Er wartete, bis sie außer Hörweite des Postens waren. »Er mag ja sturzbetrunken sein, aber über die hiesigen Restaurants weiß er jedenfalls Bescheid.«

»Mit sowas kennen Journalisten sich aus«, erwiderte Fontenot. »Wissen Sie was? Ich kenne den Burschen. Ich bin ihm schon mal begegnet, im Battledore in Georgetown. Er speiste gerade mit dem Vizepräsidenten. An seinen Namen kann ich mich ums Verrecken nicht mehr erinnern, an sein Gesicht aber schon. Er war mal ein bekannter Auslandskorrespondent, ein hohes Tier in den alten TV-Kabelnetzen. Das war, bevor er als Infokriegsagent geoutet wurde.«

Oscar ließ die Neuigkeit einsinken. Als politischer Berater kannte er natürlich viele Journalisten. Außerdem war er einer Reihe von Agenten begegnet. Journalisten hatten im Spiel der Macht sicherlich ihren Nutzen, Agenten aber hielt er für eine deformierte und nicht sehr kluge Subspezies des politischen Beraters. »Haben Sie unsere kleine Unterhaltung eben zufällig aufgezeichnet?«

»Ja«, sagte Fontenot. »Das mache ich meistens. Zumal wenn ich mir sicher bin, dass mein Gegenüber ebenfalls mitschneidet.«

»Sie sind ein guter Mann«, sagte Oscar. »Die Highlights der Unterhaltung würde ich gern zusammenfassen und an den Senator weiterleiten.«

Oscars und Fontenots Verhältnis während des Wahlkampfs war von höflichem Respekt gekennzeichnet gewesen. Fontenot war doppelt so alt wie Oscar, gerissen und paranoid, stets gewissenhaft darauf bedacht, die körperliche Unversehrtheit des Kandidaten zu gewährleisten. Jetzt, da der Wahlkampf unbeschadet überstanden war, wirkte Fontenot wesentlich lockerer als zuvor. Er machte den Eindruck, als habe er gerade einen Anfall von Offenheit. »Darf ich Ihnen einen kleinen Rat geben? Sie brauchen mir nicht zuzuhören, wenn Sie nicht möchten.«

»Sie wissen doch, dass ich stets auf Ihren Rat höre, Jules.«

Fontenot sah ihn an. »Sie wollen in Washington Bambakias’ Stabschef werden.«

Oscar zuckte die Achseln. »Das habe ich nie abgestritten, oder?«

»Sie sollten besser im Ausschuss bleiben. Sie sind ein aufgeweckter Bursche, und ich glaube, Sie könnten in Washington einiges zu Wege bringen. Ich habe miterlebt, wie Sie die hoffnungslosen Trottel in der Mannschaft wie Elitesoldaten behandelt haben, und da wusste ich, dass Sie mit einem Senatsausschuss ebenso gut zurechtkommen würden. Und es muss einfach etwas passieren.« In Fontenots Blick lag aufrichtiger Schmerz. »Amerika ist auf dem absteigenden Ast. Wir bekommen’s nicht in den Griff. Verdammt noch mal, schauen Sie sich doch mal um! Unser Land ist am Ende.«

»Ich möchte Bambakias helfen. Er hat gute Ideen.«

»Bambakias kann gute Reden halten, aber er hat nicht einen Tag innerhalb der Umgehungsstraße gewohnt. Er weiß nicht mal, was das bedeutet. Er ist Architekt.«

»Er ist ein sehr kluger Architekt.«

Fontenot grunzte. »Er wäre nicht der Erste, der Intelligenz mit politischer Klugheit verwechselt.«

»Also, ich glaube, letztlich beruht der Erfolg des Senators auf seinen Helfern. Auf der Senatsmannschaft, auf den Leuten, mit denen er sich umgibt. Auf seinem Team.« Oscar lächelte. »Hören Sie, nicht ich habe Sie eingestellt. Das war Bambakias. Er trifft gute Personalentscheidungen. Alles, was er braucht, ist eine Chance.«

Fontenot stellte den gelben Mantelkragen hoch. Es hatte zu nieseln angefangen.

Oscar breitete die manikürten Hände aus. »Ich bin gerade mal achtundzwanzig. Mir fehlen die nötigen Referenzen, um Stabschef eines Senators zu werden. Außerdem werde ich mit der Berufung in den Wissenschaftsausschuss alle Hände voll zu tun haben.«

»Außerdem«, äffte Fontenot ihn nach, »haben Sie da noch ein kleines persönliches Problem.«

Oscar blinzelte. Jedesmal, wenn dieses Thema angesprochen wurde, erfasste ihn Schwindel. Natürlich wusste Fontenot genau über sein ›kleines persönliches Problem‹ Bescheid. Es gehörte zu Fontenots Aufgabenbereich, über derlei Dinge informiert zu sein. »Das werden Sie doch hoffentlich nicht gegen mich verwenden wollen.«

»Nein.« Fontenot senkte die Stimme. »Ich könnte es tun. Ich bin ein alter Mann, ich bin altmodisch. Aber ich habe gesehen, wie Sie arbeiten, daher weiß ich es jetzt besser.« Er stampfte mit der Beinprothese auf den Boden. »Das ist nicht der Grund, weshalb ich Sie verlasse, Oscar. Aber ich gehe fort. Der Wahlkampf ist vorbei, Sie haben gewonnen. Sie haben einen großen Sieg errungen. Ich habe schon bei vielen Wahlkämpfen mitgemacht, aber Ihrer war vielleicht der schönste, den ich jemals erlebt habe. Trotzdem will ich in die Bayous zurück, es ist an der Zeit, mich aus dem Geschäft zurückzuziehen. Endgültig. Ich werde Ihren Konvoi unbeschadet nach Buna bringen, und dann bin ich weg.«

»Ich respektiere Ihre Entscheidung, wirklich«, sagte Oscar. »Doch es wäre mir lieber, Sie blieben uns erhalten – zumindest eine Zeit lang. Die Mannschaft respektiert Ihr Urteil. Und es könnte sein, dass wir in Buna auf Ihre Erfahrung angewiesen sind.« Oscar holte tief Luft, dann redete er mit größerem Nachdruck weiter. »Ich habe das mit den Jungs und Mädels im Bus noch nicht besprochen, aber ich habe mich über die Lage in Buna kundig gemacht. Und unser heutiges Ziel, der nette texanische Ferienort – also, ich habe eher den Eindruck, dass dort eine größere Krise auf uns wartet.«

Fontenot schüttelte den Kopf. »Für größere Krisen bin ich nicht zuständig. Ich freue mich aufs Altenteil. Ich werd angeln, ein wenig jagen. Ich besorg mir im Bayou eine Hütte mit einem Ofen und ‘ner Bratpfanne und will nie wieder was mit dem gottverdammten Netz oder irgendwelchen Telefonen zu tun haben.«

»Ich würde mich entsprechend erkenntlich zeigen«, schmeichelte Oscar. »Bloß noch einen Monat, einverstanden? Die vier Wochen bis zu den Weihnachtsferien. Sie stehen weiterhin auf der Gehaltsliste, solange Sie bei uns bleiben. Notfalls verdoppele ich Ihr Gehalt. Ein zusätzlicher Monatslohn.«

Fontenot wischte das Regenwasser von der Hutkrempe. »Das könnten Sie arrangieren?«

»Na ja, ich könnte das Geld nicht aus dem Wahlkampffonds nehmen, aber Pelicanos würde das für uns regeln. In diesen Dingen ist er ein wahrer Zauberer. Zwei Monatsgehälter für einen Monat Arbeit. Und zwar zu den Bedingungen, wie sie in Boston üblich sind. Das wäre schon die Anzahlung auf Ihre Hütte.«

Fontenot wurde schwach. »Also, da müsste ich drüber nachdenken.«

»Sie hätten die Wochenenden frei.«

»Wirklich?«

»Drei freie Tage am Wochenende. Schließlich suchen Sie ja eine neue Bleibe.«

Fontenot seufzte. »Tja…«

»Audrey und Bob würde es nichts ausmachen, sich ein bisschen umzuhören. Die beiden sind Weltklasse bei der Recherche und schlagen hier bloß die Zeit tot. Weshalb sollten Sie sich mit der Haussuche befassen? Die könnten Ihnen ein Traumhaus organisieren und einen seriösen Grundstücksmakler noch dazu.«

»Verdammt. So hab ich die Sache noch nicht betrachtet. Aber Sie haben recht. Das wäre viel wert für mich. Es würde mir eine Menge Ärger ersparen. Also gut, ich mach’s.«

Sie schüttelten sich die Hände.

Sie waren mittlerweile bei ihren Fahrzeugen angelangt. Norman-der-Praktikant war jedoch nirgends zu sehen. Mit quietschender Prothese kletterte Fontenot auf die eingebeulte Motorhaube seines Geländefahrzeugs und machte Norman schließlich mit dem Fernglas ausfindig.

Norman unterhielt sich mit mehreren Air-Force-Angehörigen. Sie standen dicht zusammengedrängt unter dem Schrägdach eines Picknicktisches aus Beton, von dem ein Holzsteg in die mit Zypressen bestandenen Tiefen des Sumpflandes am Rande des Sabine River führte. »Soll ich ihn holen?« fragte Fontenot.

»Ich hole ihn«, sagte Oscar. »Ich habe ihn mitgenommen. Sie können Pelicanos anrufen und die Crew informieren.«

Junge Leute stellten in Amerika eine kleine Minderheit dar. Wie die meisten Minderheiten neigten sie zur Fraternisierung. Norman war noch im richtigen Alter fürs Militär. Er lehnte an der graffitibeschmierten Dachstütze und redete heftig auf die Soldaten ein.

»… radardurchlässige Drohnen mit Röntgenlasern!« sagte Norman abschließend.

»Also, vielleicht haben wir ja welche, vielleicht aber auch nicht«, meinte ein junger Mann in blauer Uniform.

»Hör mal, das weiß doch inzwischen jeder, dass ihr die habt. Das ist genau wie mit diesen Satelliten, die aus dem Orbit Nummernschilder erkennen können – das ist ein alter Hut, die gibt es schon seit zig Jahren. Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Weshalb schnappt ihr euch nicht einfach den Gouverneur von Louisiana, wo ihr doch die technischen Möglichkeiten dazu habt? Ortet seinen Konvoi mittels Drohnen und folgt ihm. Wenn ihr seht, dass er seinen Wagen mal verlässt, schnappt ihr ihn euch einfach.«

Eine junge Frau ergriff das Wort. »Wir sollen uns Gouverneur Huguelet ›schnappen‹?«

»Ihr sollt ihn ja nicht umbringen. Das wäre zu auffällig. Ihn verdampfen, meine ich. Den Burschen einfach verdampfen! Schuhe, Anzug, alles! Man würde glauben, er… ihr wisst schon… er sei in irgendeinem Hotel damit beschäftigt, einer Nutte die Füße zu beknabbern.«

Die Air-Force-Leute brauchten eine Weile, um sich eine Meinung zu bilden. Der Vorschlag hatte sie offenbar irritiert. »Mit einem fliegenden Röntgenlaser kann man niemanden verdampfen.«

»Wenn er abstimmbar wäre, ginge es schon.«

»Abstimmbare Freie-Elektronen-Laser sind nicht radardurchlässig. Außerdem benötigen sie höllisch viel Energie.«

»Dann solltet ihr vielleicht vier oder fünf Flugkörper überlappend feuern lassen. Außerdem, wer braucht denn noch unförmige, veraltete freie Elektronen, wo es doch Quantenlöcher gibt? Quantenlöcher sind hervorragend abstimmbar.«

»Tut mir leid, wenn ich die Unterhaltung störe«, sagte Oscar. »Norman, wir werden im Bus gebraucht.«

Das Air-Force-Mädchen starrte Oscar an, ließ seine Erscheinung vom makellosen Hut bis zu den glänzenden Schuhen auf sich wirken. »Was ist das denn für einer?«

»Na ja… er arbeitet beim US-Senat.« Norman lächelte strahlend. »Ein guter Freund von mir.«

Oscar legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Wir müssen allmählich los, Norman. Wir haben gerade einen Tisch in einem Cajun-Restaurant reservieren lassen.«

Norman folgte ihm bereitwillig. »Ob ich dort wohl was trinken darf?«

»Laissez les bon temps roulez«, entgegnete Oscar.

»Das sind nette Kids«, erklärte Norman. »Ich meine, sie blockieren zwar die Straße und alles, aber im Grunde sind das doch richtig nette amerikanische Kids.«

»Das sind amerikanische Militärangehörige, die sich der Straßenräuberei schuldig machen.«

»Ja. Das stimmt. Das ist schlimm. Das ist wirklich schlimm. Wissen Sie was? Die sind in der militärischen Denkweise verhaftet, deshalb handeln sie unpolitisch.«

Sie überquerten die Grenze von Texas in tiefer, nebliger Nacht. Die Crew war vollgestopft mit frittierten Shrimps und gebackenem Alligatorschwanz, hinuntergespült mit endlosen Runden von Hurricanes und glühheißem Kaffee mit Brandy. Die Speisekarte in den Cajun-Lokalen war von epischem Umfang. Für Touristenbusse gab es sogar Ermäßigung.

Es war eine hervorragende Idee gewesen, dort einzukehren. Oscar spürte, dass sich die Stimmung seiner kleinen Mannschaft grundlegend geändert hatte. Die Crew hatte wirklich Spaß gehabt. Man hatte ihnen wiederholt gesagt, dass sie sich im Staate Louisiana befänden, doch nun spürten sie diesen Umstand auch in ihrem mächtig aufgepeppten Kreislauf.

Das hier war nicht mehr Boston. Das war nicht mehr das dicke Ende der Massachusetts-Kampagne. Sie befanden sich in einem Zwischenstadium und standen vielleicht, wenn man nur fest genug daran glaubte, am Anfang von etwas Besserem. Oscar war mit seinem Leben im Reinen. Sein Leben verlief nicht in normalen Bahnen, bot ihm aber äußerst interessante Herausforderungen. Nun wandte er sich der nächsten Herausforderung zu. Was sollte ihm schon passieren? Zumindest waren sie jetzt alle gesättigt.

Abgesehen von Jimmy, dem schwer beschäftigten Fahrer, der extra dafür bezahlt wurde, dass er sich nicht besinnungslos betrank, war nur noch Oscar im Bus wach. Oscar war zumeist der Letzte, der einschlief, und der Erste, der morgens aufwachte. Oscar schlief überhaupt nur wenig. Seit dem Alter von sechs Jahren schlief er nachts für gewöhnlich nur etwa drei Stunden.

Als kleines Kind hatte er in den langen Stunden des Wachseins einfach still dagelegen und sich überlegt, wie er mit den verrückten Kapriolen seiner Hollywood-Adoptiveltern umgehen sollte. Den Malstrom aus finanziellen Krisen, Drogen und Berühmtheit zu überleben, hatte großen Weitblick erfordert.

Auch später hatte Oscar sich die Nachteulenstunden zu Nutze gemacht: zunächst beim Studium der Betriebswirtschaft, dann bei dem Biotech-Start-up, wo er seinen langjährigen Buchhalter und Finanzberater Yosh Pelicanos und auch seine zuverlässige Terminplanerin und Sekretärin Lana Ramachandran kennen lernte. Nach dem Verkauf seiner ersten Firma hatte er die beiden behalten, auch in den Jahren des Booms an der Route 128 im Silicon Valley. Die Wirtschaft kam Oscars Begabungen und Neigungen entgegen, gleichwohl war er alsbald in die Parteipolitik übergewechselt. Eine erfolgreiche und innovative Kampagne zur Wahl des Bostoner Stadtrats ließ Alcott Bambakias auf ihn aufmerksam werden. Darauf war der Wahlkampf zum US-Senat gefolgt. Die Politik war sein neues Betätigungsfeld. Die Herausforderung. Das, worum es ihm ging.

Und deshalb war Oscar mitten in der Nacht wach und arbeitete. Im Allgemeinen beendete er den Tag mit Tagebuchaufzeichnungen, einer Zusammenfassung der getroffenen Entscheidungen und wichtiger Vorkommnisse. Heute formulierte er sorgfältig Anmerkungen zu dem Audiotape, das Fontenot von den Highway-Banditen der Air Force aufgenommen hatte. Er schickte die Datei Alcott Bambakias, verschlüsselt und mit dem Zusatz ›persönlich und vertraulich‹ versehen. Er hatte keine Ahnung, ob diese Momentaufnahme des modernen Chaos in Louisiana die sprunghafte Aufmerksamkeit seines Arbeitgebers fesseln würde. Trotzdem war es unbedingt notwendig, den Fluss der Nachrichten und Ratschläge übers Netz aufrecht zu erhalten. Nicht in der Nähe des Senators zu sein, mochte sich noch in mancherlei Hinsicht als nützlich erweisen, doch von ihm vergessen zu werden, wäre gleichbedeutend mit beruflichem Selbstmord gewesen.

Oscar sammelte sich und sandte eine freundliche Email an seine Freundin Clare, die in seinem Haus in Boston lebte. Er studierte und aktualisierte seine persönlichen Dateien. Er überprüfte und addierte die Ausgaben des heutigen Tages. Er machte einen Eintrag ins Tagebuch.

Er hatte schon viele Rückschläge erlitten, doch einer Herausforderung, bei der die Gefahr einer vollständigen Niederlage bestanden hätte, war er noch nicht begegnet.

Er klappte zufrieden den Laptop zu und legte sich schlafen. Er zuckte, wälzte sich umher. Schließlich setzte er sich auf und klappte den Laptop wieder auf.

Zum zweiundfünfzigsten Mal studierte er das Video von den Worcester-Unruhen.

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