Der abrupte Weggang von Dr. Felzian eröffnete Oscar ein weites Feld von Möglichkeiten. Da Bambakias ausgefallen war, musste er allein zurechtkommen. Er musste die Initiative ergreifen. Sie waren nur wenige, ihre Mittel waren beschränkt, von einem Budget konnte keine Rede sein. Unverfrorenheit war angesagt.
An Gretas erstem Tag als Direktorin gründeten ihre Anhänger ein Streikkomitee und besetzten den Hochsicherheitstrakt. Die Streikenden bewachten Tag und Nacht die Schleusen, knackten sämtliche von der Polizei installierte Sicherheitssperren und gaben brandneue Passierkarten aus. Die Besetzung des Hochsicherheitstrakts war ein ausgezeichneter strategischer Schachzug, denn der gewaltige Keramikturm beherrschte die Kuppel. Der Hochsicherheitstrakt war eine natürliche Festung.
Jetzt, da sie einen sicheren Zufluchtsort hatten, folgte der zweite Schritt: die Eroberung der Informationsmittel. Die Rechner des Hochsicherheitstrakts wurden einer längst überfälligen Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Dabei kamen eine erschreckende Anzahl von Hintertürchen der Polizei, zahlreiche unregistrierte Benutzer sowie Unmengen von Bespitzelungssoftware zum Vorschein. Die heimlichen Lauscher wurden sogleich eliminiert.
Das laborinterne Telefonsystem wurde nach wie vor von der Polizei kontrolliert. Die kleine Polizeitruppe des Labors war an und für sich ein lächerlicher Haufen, jedoch seit langem von Huey bestochen. Sie stellte die größte hiesige Bedrohung für Gretas gerade flügge werdende Verwaltung dar. Das Telefonsystem war mit Abhörvorrichtungen gespickt und konnte nicht wiederhergestellt werden.
Daher verzichteten die Streikenden vollständig auf das Telefonsystem und ersetzten es durch ein neu installiertes Netzwerk spottbilliger Nomadenhandys. Diese halblegalen Geräte waren über Relais verbunden, die an Wänden, Decken, Dächern und (im Verlauf einer besonders waghalsigen nächtlichen Aktion) an der Innenseite der Kuppel angebracht wurden.
Gretas erste offizielle Handlung als Direktorin bestand darin, die PR-Abteilung aufzulösen. Dies bewerkstelligte sie mittels der todsicheren Taktik, das PR-Budget einfach auf Null zu setzen. Die frei werdenden Mittel erstattete sie dem Kongress zurück. In Anbetracht der gegenwärtigen Krise der Staatsfinanzen war dieser Schachzug politisch kaum zu konterkarieren.
Im Labor selbst traf die Auflösung der PR-Abteilung auf große Zustimmung. Endlich brauchten sich die Angestellten nicht mehr durch das lästige Geschwätz der verhassten populärwissenschaftlichen Propagandaabteilung irritieren zu lassen. Keine kumpelhafte Anmache von oben herab mehr, keine obligatorischen Fortbildungsvideos, nichts als Stille und Zeit zum Nachdenken und Arbeiten.
An die Stelle der offiziellen PR des Laboratoriums trat Oscars revolutionäre Posterkampagne. Ein Streik hatte natürlich einen noch dringenderen Bedarf an effektiver Propaganda als das tote Establishment, und Oscar war dafür genau der richtige Mann. Die gewaltigen zyklopischen Kuppelwände waren für politische Plakate ideal. Oscar hatte noch nie eine Kampagne für Leute mit solch hohem Bildungsstand gefahren. Die altmodischen handwerklichen Techniken, die dabei vonnöten waren, bereiteten ihm großes Vergnügen.
Gretas postindustrielle Aktion war ein ausgesprochen unorthodoxer ›Streik‹, denn die Streikenden verweigerten nicht die Arbeit. Sie weigerten sich lediglich, etwas anderes als ihre Arbeit zu tun. Der allgemeine Tenor der Streikstrategie enthielt Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit im Verein mit passiv-aggressiver Kostenreduzierung.
Die Wissenschaftler führten ihre Forschungsvorhaben fort, weigerten sich aber, den vorgeschriebenen Papierkram zu erledigen. Sie weigerten sich, Zuschüsse zu beantragen, weigerten sich, die Miete für ihre Unterkünfte zu entrichten, weigerten sich, fürs Essen zu bezahlen und die Stromrechnungen zu begleichen. Sie lehnten alles ab außer neuen Geräten, eine tief verwurzelte Angewohnheit, die man Wissenschaftlern nachsehen musste.
Die verantwortlichen Mitglieder des Streikkomitees verweigerten auch die Annahme ihres Gehalts. Dies führte zu einer starken Polarisierung. Man konnte vernünftige Menschen nicht so leicht dazu bewegen, den Atem anzuhalten und einen Hechtsprung ins Unbekannte zu machen. Die meisten ›vernünftigen Leute‹ hatten sich mit der institutionalisierten Korruption des Laboratoriums längst abgefunden. Daher waren sie auch alle involviert. Daraus folgte, dass sie persönlich kompromittiert waren, uneins mit sich selbst, geplagt von Schuldgefühlen. Gretas beherzte Kerntruppe von Dissidenten war aus etwas härterem Holz geschnitzt.
Nachdem sie so rasch und unerwartet die taktische Initiative ergriffen hatten, errang der Streit eine Reihe kleiner, aber ermutigender moralischer Siege. Oscar hatte diese Situation bewusst herbeigeführt, um der Gemeinschaft Selbstvertrauen zu vermitteln. Der Mietstreik wirkte auf den ersten Blick sehr dramatisch, doch im Grunde konnte man dabei nicht verlieren. Innerhalb des Labors gab es keinen Wettbewerb um die Wohnungen. Im unwahrscheinlichen Falle einer Zwangsräumung hätten die Gebäude einfach leergestanden.
Die Weigerung, die Stromrechnung zu zahlen, hatte aus ähnlichen Gründen Erfolg, denn man konnte dem Labor den Strom nicht so einfach kappen. Da es sich um eine abgeschlossene Umgebung handelte, war die Kuppel auf eine ununterbrochene Stromversorgung angewiesen. Der Strom wurde von internen Generatoren bereitgestellt, und die konnte man nicht abstellen. Den Erbauern der Kuppel war es einfach nicht in den Sinn gekommen, dass deren Bewohner eines Tages rebellieren und die Bezahlung verweigern könnten.
Mit jedem erfolgreichen Schritt vom Status quo weg gewann Greta neue Anhänger hinzu. Die lange Zeit unterdrückten Wissenschaftler hatten seit jeher unter zahlreichen quälenden Problemen zu leiden gehabt. Da ihnen aber das politische Verständnis für ihre Notlage fehlte, hatten sie nie Forderungen erhoben – sie hatten einfach gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Jetzt aber hatten Organisation und Initiative ihrer Apathie ein Ende gesetzt. Die alten Schmerzen, längst als der natürlichen Ordnung zugehörig akzeptiert, erwiesen sich nun als Ausfluss der Unterdrückung übelwollender Ignoranten. Eine neue Machtstruktur war im Entstehen begriffen, mit neuen Methoden, neuen Zielen, neuen Möglichkeiten des Wandels. Der Hochsicherheitstrakt summte vor militantem Aktivismus.
Im Verlauf einer Woche hatte sich die Binnenatmosphäre der Kuppel aufgeladen wie eine Leidener Flasche; es knisterte vor politischem Potenzial. Gretas unerschrockener Radikalismus hatte die Stimmung aufgepeitscht.
Nachdem sie einen enormen Veränderungsdruck aufgebaut hatte, schickte Greta sich an, ihre eigene Position zu festigen. Der Direktorenposten war bislang nicht mit großen Vollmachten ausgestattet gewesen, doch sie schaffte es, alle Aufsichtsratsmitglieder zum Rücktritt zu drängen. Die ursprünglichen Aufsichtsratsangehörigen ließen natürlich nur höchst ungern von der Macht, doch der plötzliche Rücktritt und die Abreise Dr. Felzians hatten sie gelähmt. Ausmanövriert und diskreditiert, wurden sie alsbald von Gretas eifrigen Anhängern ersetzt, die ihr bedingungslos vertrauten und ihr freie Hand ließen.
Die Vertreter des Status quo wurden dezimiert, ehe sie ihren Widerstand organisieren konnten. Die vielen Jahre ohne ernsthafte Herausforderung und Auseinandersetzung hatten sie fett und behäbig werden lassen. Sie alle waren zerschmettert worden, ehe sie die Bedrohung auch nur erkannten. Greta hielt nach wie vor das Heft in der Hand. Dank Oscars Oppositionsrecherche und seiner Unmenge demografischer Profile verfügte sie über hervorragendes Hintergrundwissen. Auch das erzwungene Geständnis von Dr. Skopelitis war sehr nützlich gewesen, da Skopelitis sein Gewissen mit einer wahren Flut von E-Mails erleichtert und seine Mitwisser ausgeplaudert hatte.
Abseits dieser aufwühlenden und in aller Öffentlichkeit inszenierten ungezügelten Unmutsbekundungen war der eigentliche Machtwechsel erstaunlich glatt vonstatten gegangen. Felzian hatte das Labor stets wie der stellvertretende Leiter einer Highschool geführt; die eigentlichen Entscheidungen hatten in den fernen Händen von Dougal und seiner Senatsmannschaft gelegen.
Jetzt waren Dougal und seine Spezis am Ende. Das Machtvakuum war jedoch nur von kurzer Dauer. Oscars Team gehörten Politprofis an, die mühelos auch eine Senatsmannschaft hätten stellen können. Mit ein wenig Nachhilfe passten sie sehr gut vor Ort und rissen die ganze Operation alsbald an sich.
Oscar selbst diente Greta als (höchst inoffizieller) Stabschef. Pelicanos kümmerte sich um die Finanzen. Bob Argow und Audrey Avizienis befassten sich mit Belegschaftsangelegenheiten und der Spionageabwehr. Lana Ramachandran war für die Terminplanung, die Büroeinrichtung und die Presse zuständig. ›Corky‹ Shoeki, während Bambakias’ Wahlkampf für die Unterbringung und die Versammlungen zuständig, sorgte für Büroräume im Hochsicherheitstrakt. Kevin Hamilton leistete hervorragende Arbeit als Sicherheitschef.
Greta agierte als ihre eigene Pressesprecherin. Das würde sich irgendwann ändern müssen, doch während des Streiks war es ausgesprochen sinnvoll. Alle Streiknachrichten liefen über sie, und aufgrund der Solorolle, die sie in der Öffentlichkeit spielte, hatte es den Anschein, als hielte sie alle Fäden in der Hand. Auf diese Weise gewann sie das Charisma einer Heldin.
In Wirklichkeit hatten Greta und ihre idealistischen Gefolgsleute keine Ahnung, wie eine moderne Verwaltung organisiert sein sollte. Sie hatten noch nie Macht ausgeübt, daher verlangten sie eher nach eindrucksvollen Jobs mit Titel und Prestige, als sich auf die Kärnerarbeit zu konzentrieren, auf der das Regieren beruhte. Diese Charade kam Oscar sehr gelegen. Mittlerweile war er sich darüber im Klaren, dass er den größten Erfolg seiner Karriere feiern würde, wenn es ihm gelänge, den Fortbestand des Labors zu sichern, die Finanzierung zu gewährleisten und zu verhindern, dass die Anlage Huey in die Hände fiel.
Daher hielt Oscar sich im Hintergrund, fernab des eigentlichen Geschehens. Das neue Jahr nahm seinen Fortgang. Für viele Forscher war der Streik die optimale Gelegenheit, sich in aller Stille davonzumachen, der verbliebene harte Kern aber war erfüllt von revolutionärem Elan. Wie alle Revolutionäre machten auch sie die Erfahrung, dass sich jede Kleinigkeit zu einer moralischen und intellektuellen Krise auswuchs. Jeder einzelne Aspekt ihres früheren privaten und beruflichen Lebens verlangte nach radikalen Veränderungen. Die ehemaligen Unterdrückten verbrachten jede freie Stunde damit, gegenseitig ihr Bewusstsein zu entwickeln.
Und dies alles kam Oscar sehr zupass. Sein politischer Instinkt war geschärft wie nie, und seine Mannschaft, neurotische Besessene alle miteinander, liefen bei einer Krise stets zur Hochform auf.
Am 8. Januar 2045 waren Greta und ihr Küchenkabinett in einer besonders intensiven Debatte begriffen. Die Wissenschaftler berieten über Kandidaten für den neuen Verwaltunsgsrat, und zwar für die Zuständigkeitsbereiche Informationsgenetik und Biomedizin. Oscar, wie immer in Begleitung seines Bodyguards Kevin, hielt sich hinter einem Geräteturm versteckt. Er hatte vor, sie solange reden zu lassen, bis sie müde wurden. Dann wollte er ein paar rhetorische Fragen stellen. Und anschließend würden sie sich mit der Lösung einverstanden erklären, die er bereits vor einer Woche ausgeheckt hatte.
Während Kevin mehrere farbcodierte Proteinstäbchen verspeiste, hatte Oscar sich sein Essen bringen lassen. Seit sein Team das Labor übernommen hatte, überließen sie das Hotel notgedrungen einer neuen texanischen Mannschaft. In Anbetracht der flauen Wirtschaftslage in Buna war es nicht schwer gewesen, neue Leute zu finden.
Kevin hörte auf, in den elektronischen Innereien eines Telefons herumzustochern, klappte das Gehäuse zu und reichte das Gerät Oscar. Bald darauf unterhielt sich Oscar mit dem in Washington befindlichen Leon Sosik, ohne Mithörer fürchten zu müssen.
»Ich brauche Poster der russischen Konstruktivisten«, meinte er zu Sosik. »Alcotts Bostoner Mannschaft soll sich für mich mal im Museum umsehen. Ich brauche alles, was sie aus der Anfangszeit der Kommunistenära auftreiben können.«
»Oscar, es freut mich, dass Sie im Labor Spaß haben, aber vergessen Sie diese große Schneekugel. Sie werden hier in DC gebraucht, und zwar sofort. Unsere Anti-Huey-Kampagne ist soeben geplatzt und ausgebrannt.«
»Was? Warum? Ich brauche nicht nach Washington zu fliegen, um mich mit Huey zu befehden. Ich habe Huey hier am Wickel. Wir haben alle seine Spezis im Labor ausfindig gemacht. Die Streikposten lassen sie nicht mehr an ihren Arbeitsplatz. Geben Sie mir noch eine Woche Zeit, dann säubern wir auch noch die Polizei. Wenn diese Clowns erst mal von der Bildfläche verschwunden sind, kann ich mich hier ernsthafteren Themen zuwenden.«
»Oscar, bleiben Sie doch bitte beim Thema. Das Labor ist bloß ein lokaler Nebenschauplatz. Wir haben hier eine nationale Sicherheitskrise. Huey hat ein Radarloch.«
»Was soll das heißen?«
»Es geht um die nordamerikanische Radarsicherung. Um das militärische Radar der Air Force. Ein Teil des amerikanischen Grenzradars wurde von dem Luftwaffenstützpunkt in Louisiana aus gemanagt. Jetzt ist das Radar ausgefallen, und zwischen Texas und Georgia fehlt eine Überlappung. Die Bayous sind ein schwarzes Loch. Dort findet keine militärische Überwachung mehr statt.«
Oscar legte die Gabel weg. »Was, zum Teufel, soll das nun wieder heißen? Ich kann’s einfach nicht glauben. Wie ist das überhaupt möglich? Kein Radar? Ein zehnjähriges Kind kann mit einer Radaranlage umgehen!« Er holte tief Luft. »Also, die überwachen doch bestimmt noch den Luftverkehr. Ohne Radarüberwachung würde der Luftverkehr in New Orleans in kürzester Zeit zusammenbrechen. Kann die Air Force nicht das zivile Radar benutzen?«
»Der Gedanke liegt nahe, aber so funktioniert das nicht. Man hat mir gesagt, es gehe da um Softwareprobleme. Das zivile Radar wird mit Tausenden dezentralen Zellen betrieben. Es handelt sich um verteiltes Radar, um kleine Netzwerke. Damit kann die Air Force nichts anfangen. Das Militär hat eine hierarchische Systemarchitektur.«
Oscar überlegte rasch. »Wieso ist das ein politisches Problem? Das ist doch ein technisches Thema. Die Air Force soll sich drum kümmern.«
»Das geht nicht. Das sind alte staatliche Flugwarnsysteme, die stammen noch aus der Zeit des Ersten Kalten Krieges! Diese Militärhardware läuft mit einem antiquierten Programmcode. Das System ist einfach nicht flexibel – wir können von Glück sagen, dass es überhaupt noch läuft! Jedenfalls gibt es in Louisiana keine staatliche Radarüberwachung mehr. Und das bedeutet, dass feindliche Flugzeuge ungehindert in den Luftraum der Vereinigten Staaten eindringen können! An jeder Stelle südlich von Baton Rouge!«
»Aber ich bitte Sie, Leon. So schlimm wird es schon nicht sein«, sagte Oscar. »Ein so schwerwiegendes Problem kann dem Militär nicht entgangen sein. Da gibt es doch bestimmt Notfallpläne. Wer, zum Teufel, war eigentlich dafür verantwortlich?«
»Das weiß anscheinend niemand«, meinte Sosik düster. »Als die Notstandsausschüsse die Schließung der Basis beschlossen haben, ging das Radarproblem in den konkurrierenden Zuständigkeiten verloren.«
»Typisch«, brummte Oscar.
»Typisch, in der Tat. Äußerst typisch. Das ist einfach alles zu viel. Es gibt keine klaren Zuständigkeiten mehr. Große, lebenswichtige Themen fallen einfach durchs Raster. So kommen wir nicht weiter.«
Es bestürzte Oscar, dass Sosik so verzagt klang. Sosik hatte anscheinend zu viel Zeit am Krankenbett des Senators verbracht. Je mehr ihm die Realität entglitt, desto beredter und unwiderstehlicher wurde Bambakias. »Na schön, Leon. Ich schließe mich Ihrer Diagnose an, ich verstehe Ihren Standpunkt. Ich bin ganz einer Meinung mit Ihnen. Aber sehen wir den Tatsachen ins Gesicht – niemand beabsichtigt, in die Vereinigten Staaten einzudringen. Niemand verletzt mehr Landesgrenzen. Und wenn irgendein idiotischer Notstandsausschuss nun ein altes Radarsystem vergessen hat, was soll’s. Ignorieren wir das Problem einfach.«
»Wir können es nicht ignorieren. Das lässt Huey nicht zu. Er schlägt mächtig viel Kapital aus dem Thema. Er meint, dies beweise, dass der Luftwaffenstützpunkt in Louisiana für die nationale Sicherheit seit jeher unabdingbar war. Die Vertreter Louisianas machen uns im Kongress die Hölle heiß. Sie verlangen, dass wir ihnen einen von Grund auf neuen Stützpunkt bauen, und zwar auf der Stelle. Aber das würde uns Milliarden kosten, und das Geld haben wir einfach nicht. Und selbst wenn wir die Mittel lockermachen würden, können wir doch unmöglich ein größeres Bauvorhaben in Louisiana durchführen.«
»Sicherlich nicht«, sagte Oscar. »Straßenblockaden, eine Sankt-Florians-Mentalität, Kompetenzstreitigkeiten… Huey kommt das sehr gelegen. Wenn die staatlichen Auftraggeber erst einmal knietief im Sumpf stecken würden, könnte er ihnen ein Bein ausreißen und das ganze Budget ausbluten lassen.«
»So ist es. Also sitzen wir fest. Während wir auf der Patriotismus-Schiene auf Huey eingeprügelt haben, hat er das Blatt gegen uns gewendet. Er zieht sich das Hemd an, das wir ihm geschneidert haben. Wir haben ihm direkt in die Hände gespielt. Und das Radarloch können wir nicht ignorieren, weil er bereits Kapital daraus schlägt. Gestern Abend ist ein französisches unbemanntes Flugzeug nach Südlouisiana reingeschwirrt. Die fliegen über die Sümpfe und spielen französische Popmusik.«
»Französische Popmusik?«
»Multikanalsendungen von unbemannten Flugdrohnen. Das ist die frankophone Cajun-Karte.«
»Ich bitte Sie. Nicht einmal Huey kann ernsthaft glauben, jemand würde sich französische Popmusik anhören.«
»Die Franzosen glauben es. Die riechen Yankeeblut im Wasser. Die Franzosen hatten schon immer ein Faible für Sprachkonflikte. Jetzt können sie solange an ihren Verstärkern drehen, bis wir die letzte Burgerfiliale aus Paris abgezogen haben.«
»Leon, beruhigen Sie sich. Sie sind ein Profi. Sie dürfen sich von ihm nicht so aus der Fassung bringen lassen.«
»Aber er hat mich aus der Fassung gebracht, verdammt noch mal. Dieser Hurensohn hält sich einfach nicht an die Spielregeln! Er handelt widersprüchlich und legt uns nach Strich und Faden rein. Als ob er zwei Gehirne hätte!«
»Immer mit der Ruhe«, meinte Oscar. »Das ist eine unbedeutende Provokation. Was sollen wir Ihrer Meinung nach eigentlich unternehmen? Etwa Frankreich den Krieg erklären?«
»Also…« Sosik senkte die Stimme. »Ich weiß, das klingt merkwürdig. Aber hören Sie mich an. Eine Kriegserklärung würde das Problem der Notstandsausschüsse auf der Stelle lösen.«
»Was!« rief Oscar. »Sind Sie wahnsinnig? Wir können doch nicht Frankreich angreifen! Frankreich ist eine bedeutende Wirtschaftsdemokratie. Wir sind doch keine Nazis! Das kommt überhaupt nicht infrage!«
Oscar schaute hoch. Er sah sich einer Gruppe verblüffter Wissenschaftler gegenüber. Sie hatten ihre Diskussion unterbrochen und sich an der anderen Seite des Labortisches versammelt, wo sie nun die Ohren spitzten.
»Hören Sie, Oscar«, fuhr Sosik mit blecherner Stimme fort, »niemand redet davon, tatsächlich Krieg zu führen. Aber die Idee wird in DC eifrig diskutiert. Eine Kriegserklärung setzt praktisch das föderale System außer Kraft. An der Heimatfront könnte sich ein auswärtiger Krieg als wahre Trumpfkarte erweisen. Frankreich ist ein zu großer Brocken, da gebe ich Ihnen Recht – Mann, Frankreich ist immer noch Nuklearmacht! Aber wir könnten den Niederlanden den Krieg erklären. Die Niederlande sind ein kleines, unbewaffnetes Land, die Bevölkerung nichts weiter als ein Haufen armer Würstchen. Wir würden den Niederländern einen höllischen Schrecken einjagen, der Scheinkrieg würde etwa eine Woche dauern, und dann erklärt der Präsident den Krieg für gewonnen. Der Notstand ist vorbei. Wenn sich der Staub gelegt hat, haben wir wieder einen voll funktionsfähigen Kongress.«
Oscar nahm das Telefon aus dem Ohr, starrte es angewidert an und steckte es wieder hinein. »Hören Sie, Leon, ich rufe Sie später zurück. Ich bin im Moment zu beschäftigt.«
»Der Senator ist von der Idee begeistert, Oscar. Er glaubt, es könnte klappen. Das ist visionär.«
Oscar unterbrach die Verbindung. »Die spielen in Louisiana französische Popmusik«, wandte er sich an seine ungerufene Zuhörerschaft.
Albert Gazzaniga kratzte sich am Kopf. »Ein tolles Ding! Und weiter?«
Die Crux bei der Sache war natürlich das Geld. Es ging immer ums Geld. Geld war die Muttermilch der Politik. Und obwohl die Wissenschaftspolitik auf einem ganz anderen Blatt stand als die herkömmliche Politik, so war Geld doch auch hier die Muttermilch.
Bei jedem Streik ging es im Grunde um wirtschaftliche Macht. Alle Streikenden erklärten kühn, sie seien bereit, ihre Arbeitgeber auszuhungern, und wenn sie dies mit einer entsprechend schlechten Presse und moralischem Druck untermauern konnten, behielten sie bisweilen Recht.
Deshalb fiel die Erklärung leicht, dass Greta und ihre Mannschaft bereit waren, umsonst zu forschen, dass sie um nichts baten und sich weigerten, etwas anderes abzuliefern als die Ergebnisse, die sie selbst für wissenschaftlich relevant erachteten. Es war ein Kreuzzug. Doch auch ein Kreuzzug brauchte ständig Geld.
Daher suchten sich Oscar, Yosh und der allgegenwärtige Kevin einen stillen Winkel in der Hotelküche und redeten über die Finanzen.
»Wir könnten bei Bambakias ein paar Millionen lockermachen, um uns über die Runden zu bringen«, sagte Pelicanos. »Schließlich hat er ja genug.«
»Vergiss es«, meinte Oscar. »Der Senat ist zwar ein Milliardärsclub, aber wenn die anfangen, das Land aus der eigenen Tasche zu finanzieren, wäre das Feudalismus. Feudalismus ist unprofessionell.«
Pelicanos nickte. »Okay. Dann müssen wir die Mittel selbst aufbringen. Wie wäre es mit den Standardmethoden? Persönliche Anschreiben. Sponsorenessen. Tombolas, Garagenverkäufe, Wohltätigkeitsveranstaltungen. Wie wären da die Aussichten?«
»Also, wenn es sich um einen normalen Wahlkampf handeln würde…« Oscar rieb sich nachdenklich das Kinn. »Dann würden wir die Ehemaligen ihrer Uni ansprechen, jüdische Gemeinden, wissenschaftliche Vereinigungen… Und natürlich die Lieferanten des Labors. Im Moment sind sie verständlicherweise nicht gut auf uns zu sprechen, aber wenn die Anlage geschlossen werden sollte, bleibt ihnen gar nichts mehr. Wenn wir ihnen mit vollständiger Schließung drohen, könnten wir sie vielleicht dazu bewegen, uns ein bisschen Geld zu geben.«
»Gibt es irgendwelche reichen Wissenschaftler, die der Oberschicht angehören? Es muss doch ein paar reiche Wissenschaftler geben, oder?«
»Klar – in Asien und in Europa.«
»Ihr denkt einfach in zu kleinem Maßstab«, frotzelte Kevin.
Oscar blickte ihn nachsichtig an. Er mochte Kevin mittlerweile richtig gern. Kevin arbeitete hart; er war Herz und Seele des übelsten Aspekts ihres Coups. »Welcher Maßstab schwebt Ihnen denn vor, Kevin?«
»Ihnen ist gar nicht klar, was Sie hier eigentlich haben. Das Labor bietet perfekte Bedingungen für eine Nomadenversammlung. Das ist, als hätte man den Ort mit Straßensperren abgeriegelt. Weshalb fordern Sie nicht sämtliche Wissenschaftler Amerikas auf, hierher zu kommen und sich Ihnen anzuschließen?«
Oscar seufzte. »Kevin, haben Sie Nachsicht mit uns. Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Die Sache ist doch die, dass wir uns bemühen, zweitausend im Streik befindliche Personen zu ernähren und zu versorgen. Mit einer Million Menschen wären wir erledigt.«
»Nein, keineswegs«, widersprach Kevin. »Wenn sich Ihnen eine Million Wissenschaftler anschließen würden, wäre das kein Streik mehr. Das wäre eine Revolution. Sie würden nicht bloß dieses eine staatliche Labor übernehmen. Sie würden die ganze Stadt übernehmen. Wahrscheinlich sogar das ganze County. Vielleicht sogar einen Großteil des Landes.«
Pelicanos lachte. »Und wie sollten wir eine solche Horde schmarotzender Wissenschaftler versorgen?«
»Mithilfe der Nomaden, Mann. Wer sonst könnte so viele Menschen ohne Geld versorgen? Sie öffnen die Schleusen und bieten ihnen Unterschlupf an. Sie führen sie herum, Sie zeigen ihnen all die hübschen Pflanzen und Tiere. Sie schaffen ihnen endlich mal die Cops und Behörden vom Hals und weisen ihnen eine Rolle in Ihrer eigenen Unternehmung zu. Die Prolos wären die Versorgungseinheit Ihrer Eierkopftruppen. Das ist die Macht des Volkes, verstehen Sie, die Macht der Straße. Das ist eine Belagerungsarmee, wie auch Huey sie gerne einsetzt.«
Oscar lachte. »Die würden die Anlage auseinandernehmen!«
»Klar, das könnten sie tun – aber wenn sie sich nun dagegen entscheiden? Vielleicht würde ihnen die Anlage ja gefallen. Vielleicht würden sie darauf achtgeben. Vielleicht würden sie sie sogar ausbauen.«
Oscar zögerte. Den Bauaspekt hatte er bislang übersehen. Mit dem Bauaspekt war er bislang immer gut gefahren. Der Bauaspekt war der beste politische Joker, den er je gehabt hatte. Die meisten Politiker konnten allein mit Software und Schweiß keine Luxushotels errichten, aber die, welche dazu in der Lage waren, besaßen einen unschätzbaren Vorteil. Im Moment befand er sich gerade in einem solchen Bauvorhaben, und alles lief hervorragend. »Wie viel größer?«
»Wie groß sollte die Anlage denn werden?« fragte Pelicanos.
»Und wie viele Nomadenprolos würden sich unserem Bautrupp anschließen?«
»Soll ich eine Tabellenkalkulation laden?« fragte Kevin.
»Vergessen Sie’s, das wäre zu schön, um wahr zu sein«, meinte Pelicanos. »Klar, vielleicht könnten wir die verteilte Realisierung bis zu diesem Maßstab aufblasen. Aber wir könnten den Nomaden niemals vertrauen. Die stecken doch alle mit Huey unter einer Decke.«
Kevin schnaubte. »Die Regulatoren stecken mit Huey unter einer Decke, aber, Mann, die Louisiana-Prolos sind nicht die einzigen. Ihr habt zu viel Zeit in Boston verbracht. Wyoming stand in Flammen, Mann! Dort sind Prolos und Dissidenten aus ganz Amerika versammelt. Millionen von Prolos.«
Oscar zwang sich dazu, Kevins Vorschlag ernsthaft in Erwägung zu ziehen. »Ein Heer arbeitsloser Nomaden, die riesige, intelligente Kuppeln errichten… Wissen Sie, die Vorstellung ist ausgesprochen reizvoll. Ich will den Vorschlag nicht einfach von der Hand weisen. Das ist so modern und fotogen und nichtlinear. Das hat etwas damit zu tun, den Krieg in die Reihen des Feindes zu tragen.«
Pelicanos machte die Augen schmal. »Kevin, welches ist der fähigste Prolomob, den Sie kennen?«
»Na ja, die Regulatoren sind die fähigsten. Sie genießen Hueys Unterstützung und haben soeben einen Luftwaffenstützpunkt auseinandergenommen. Dann müssen sie wohl die schlagkräftigste Gruppe sein – das weiß inzwischen jeder. Aber dann gibt es da noch die Moderatoren. Die Moderatoren sind stark. Außerdem hassen sie die Regulatoren bis aufs Blut.«
»Wie kommt das?« Oscar beugte sich wie elektrisiert vor.
Kevin zuckte die Achseln. »Warum können sich verschiedene Prologruppen nicht ausstehen? Einer hat dem anderen die Freundin ausgespannt, jemand hat die Telefone gehackt. So sind die Prolos eben. Sie haben keine Gesetze. Auf einmal bricht eine Fehde aus. Das ist typisch für Stämme. Stämme verhalten sich immer so.«
Pelicanos kratzte sich am Kinn. »Weißt du was, Oscar, das Laboratorium ist eigentlich viel attraktiver als ein heruntergekommener Luftwaffenstützpunkt.«
»Da hast du unbedingt Recht, Yosh. Die Kuppel hat wirklich Ausstrahlung. Und es besteht echte Nachfrage.«
Es entstand ein langes, nachdenkliches Schweigen.
»Zeit für den Kaffee«, verkündete Oscar und ging welchen holen. »Wenden wir uns mal den Realitäten zu, Leute. Vergesst mal die hochfliegenden Pläne – was steht an? Unsere Aufgabe ist es, die Herrschenden ein wenig in Verlegenheit zu bringen, damit sie den staatlich angestellten Forschern mehr Leine lassen. Am Ende wird der Kongress dieser Einrichtung die Hälfte der Vorjahresmittel bewilligen. Im Gegenzug bekommen die Laborleute mehr Macht. Daher werden wir einen vernünftigen Kompromiss aushandeln. Wir führen die Forschungsarbeit fort, aber ohne Förderung und ohne Mauscheleien. Das wäre ein bemerkenswerter Fortschritt. Darauf könnten wir alle stolz sein.«
Er trank einen Schluck Kaffee. »Wenn wir hingegen Kevins Vorschlag folgen und zulassen würden, dass die Lage außer Kontrolle gerät… Nun, ich glaube, das wäre möglich. Hueys Umgang mit der Luftwaffenbasis beweist, dass es möglich ist. Aber es ist nicht machbar, weil es keine Bremsen gibt. Und es gibt deshalb keine Bremsen, weil ich die Entwicklung nicht steuern kann. Dazu fehlt es mir an der nötigen Autorität! Ich bin bloß ein Senatsangestellter!«
»Bis jetzt haben wir uns daran nicht gestört«, erklärte Kevin.
»Nun, da haben Sie Recht, Kevin, aber… Also, mir gefällt der Vorschlag nicht, weil er ideologisch unkorrekt ist. Ich bin Demokrat. Die Demokraten sind eine ernsthafte Reformpartei. Wir sind keine revolutionäre Vorhut, wir können die Arbeit nicht von sich selbst ausgrenzenden, gewalttätigen Verrückten erledigen lassen. Ich muss hier zahlreiche rechtliche und ethische Einschränkungen beachten. Ich darf nicht zulassen, dass eine staatliche Einrichtung einem riesigen Mob in die Hände fällt.«
Kevin schniefte. »Also, Huey hat es getan.«
»Huey ist Gouverneur! Huey stehen Legislative und Jurisdiktion zur Seite. Huey wurde vom Volk gewählt, die letzte Wahl hat er mit zweiundsiebzig Prozent der Stimmen bei neunzig Prozent Wahlbeteiligung gewonnen! Ich kann das Land nicht mit derart verrückten Aktionen paralysieren, dazu fehlt es mir einfach an der erforderlichen Macht! Ich bin kein Magier! Ich bin bloß ein unerfahrener Senatsangestellter. Ich setze meinen Kopf nicht bloß deshalb durch, weil irgendetwas theoretisch machbar ist. Verdammt noch mal, ich kann nicht mal mit meiner Freundin schlafen.«
Kevin blickte Pelicanos an. »Yosh, können Sie’s nicht arrangieren, dass der arme Kerl mit seiner Freundin schlafen kann? Sie hätte bestimmt Verständnis dafür. Der kriegt ja allmählich geistige Krämpfe. Er hat keinen Biss mehr«
»Also, das ist machbar«, sagte Pelicanos. »Du könntest deine Tätigkeit im Wissenschaftsausschuss beenden und hier als Gretas offizieller Stabschef weitermachen. Ich glaube nicht, dass jemand Anstoß daran nehmen würde, dass Greta mit einem ihrer Mitarbeiter schläft. Ich meine, technisch gesehen ist das sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, aber scheiß drauf.«
Oscar schaute finster drein. »Ich ziehe mich nicht aus dem Wissenschaftsausschuss zurück! Ihr begreift überhaupt nicht, was ich in letzter Zeit durchgemacht habe, wie ich die Strippenzieher in Washington bearbeitet habe. Übers Netz ist das unglaublich schwer; wenn man nicht ständig bei den Ratten vom Capitol Hill präsent ist, dann schreiben sie einen ab und machen einen fertig. Ich hab ihrer gottverdammten Systemadministratorin dreimal die Woche Blumen schicken lassen. Wenn ich wieder in Washington bin, muss ich wohl mit ihr ausgehen.«
»Okay, dann stehen wir also wieder am Anfang«, meinte Pelicanos düster. »Wir wissen noch immer nicht, was wir tun sollen, und wir haben nach wie vor kein Geld.«
Um drei Uhr morgens studierte Oscar gerade die Termine der nächsten Senatsanhörungen, als an der Tür geklopft wurde. Er sah Kevin an, der friedlich auf seinem Hotelbett schnarchte. Oscar holte seine Sprühpistole, vergewisserte sich, dass die Flüssigkeitskammer gefüllt war, und schlich zur Tür. »Wer ist da?« flüsterte er.
»Ich bin’s.« Es war Greta.
Oscar öffnete die Tür. »Komm rein. Was machst du hier? Hast du den Verstand verloren?«
»Ja.«
Oscar seufzte. »Hast du deine Kleidung auf Wanzen untersucht? Hast du dich vergewissert, dass dir niemand gefolgt ist? Weck bitte meinen Bodyguard nicht auf. Gib mir einen Kuss.«
Sie umarmten sich. »Ich weiß, ich bin schrecklich«, flüsterte sie. »Aber ich bin immer noch wach. Die anderen schlafen alle. Ich hatte einen Moment Zeit für mich. Und da hab ich mir gedacht, ich weiß, was ich will. Ich will bei Oscar sein.«
»Das geht einfach nicht«, sagte er und schob seine Hand in ihren Rock. »Damit gefährdest du alles, das ist wirklich leichtsinnig.«
»Ich weiß, dass wir uns nicht mehr treffen können«, sagte sie, lehnte sich an die Wand und schloss hingebungsvoll die Augen. »Ich bin keinen Moment unbeobachtet.«
»Mein Bodyguard schläft hier. Und er ist total schießwütig.«
»Ich wollte bloß mit dir reden«, sagte sie und zog ihm das Hemd aus der Hose.
Er führte sie ins Bad, schloss die Tür, schaltete das Licht ein. Ihr Lippenstift war verschmiert, und ihre Pupillen waren so groß wie Untertassen.
»Bloß reden«, wiederholte sie. Sie legte die Handtasche aufs Waschbecken. »Ich hab dir etwas Hübsches mitgebracht.«
Oscar schloss die Tür ab. Dann stellte er die Dusche an.
»Ein kleines Geschenk«, sagte sie. »Weil wir uns nicht mehr sehen. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten.«
»Ich werde mich kalt duschen«, verkündete er, »bloß für den Fall, dass Kevin misstrauisch wird. Wir können miteinander reden, aber sei leise.« Er knöpfte sich das Hemd auf.
Greta nahm ein mit Schleife versehenes Päckchen aus der Handtasche. Sie legte es auf die Ablage, dann drehte sie sich um und betrachtete Oscar versonnen. Oscar ließ das Hemd auf die kalten Fliesen fallen.
»Mach schnell«, sagte sie und entkleidete sich.
Sie warfen zwei Handtücher auf den Boden und ließen sich darauf nieder. Er drückte ihr die Ellbogen in die Kniekehlen, bog ihre Beine zurück und legte los wie ein Wahnsinniger. Die wechselseitige Vierzig-Sekunden-Raserei endete mit dem Getöse eines nahenden Zuges.
Als er wieder Luft bekam, brachte er ein schwaches Lächeln zustande. »Wir tun einfach so, als wäre nichts passiert. Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte sie und stemmte sich auf zitternden Armen hoch. »Jedenfalls geht’s mir jetzt besser.« Sie richtete sich auf, zog sich den Rock hinunter. Dann reichte sie ihm das Geschenk. »Hier, das ist für dich. Alles Gute zum Geburtstag.«
»Ich habe keinen Geburtstag«, sagte er.
»Ja, ich weiß. Aber ich habe dir trotzdem ein Geburtstagsgeschenk gemacht.«
Er schlüpfte in die Hose und nahm ihr Geschenk entgegen. Zu seinem gelinden Erschrecken fühlte sich das kleine, in Geschenkpapier verpackte Kästchen heiß an. Er entfernte das bunte Papier und klappte den Sperrholzdeckel auf. In dem Kästchen war ein rundlicher Gegenstand, eingepackt in chemische Heizelemente. Er nahm das Geschenk aus der heißen Umhüllung.
»Das ist eine Armbanduhr«, sagte er.
»Probier sie an!« meinte Greta lächelnd.
Er legte sein klassisches japanisches Chronometer ab und streifte Gretas Armbanduhr über. Die Uhr war heiß und feucht und hatte die Farbe von gekochten Gumboschoten. Er betrachtete die grünlich leuchtenden Ziffern der Anzeige. Die Uhr ging sechzig Minuten nach. »Das Ding sieht aus, als bestünde es aus Gallerte.«
»Es besteht tatsächlich aus Gallerte! Das ist eine Neuronenuhr!« sagte sie. »Die einzige weltweit! Wir haben sie im Labor hergestellt.«
»Erstaunlich.«
»Das kann man wohl sagen! Hör zu. Jedes Säugerhirn hat eine eingebaute 24-Stunden-Uhr. Im Mäusehirn ist sie im suprachiasmatischen Nukleus lokalisiert. Daher haben wir suprachiasmatisches Gewebe geklont und in ein Stützgel eingebettet. Die Ziffern bestehen aus enzymsensitiven Zellen, die Glühwürmchengene enthalten! Wir haben drei separate Neuronenklumpen implantiert, die ein intelligentes neurales Netzwerk bilden, das kumulative Fehler automatisch ausgleicht. Obwohl es sich um eine vollständig organische Uhr handelt, zeigt sie die richtige Zeit an! Das heißt, so lange sie Bluttemperatur behält.«
»Phantastisch.«
»Aber du musst sie füttern. Das kleine Paket enthält Rinderserum. Du kochst einfach einmal wöchentlich ein paar Milliliter davon auf und injizierst es in diese kleine Öffnung.« Sie stockte. »Rattenhirne produzieren auch Abfallprodukte, aber bloß ein paar Tropfen.«
Oscar drehte das Handgelenk herum und betrachtete das transparente Armband. Die Schließe bestand aus Mäuseknochen. »Das ist eine erstaunliche technische Leistung, nicht wahr?«
»Aber du darfst die Uhr nicht kalt werden lassen, sonst stirbt sie. Und wenn du ein Reset durchführen willst, öffnest du diese Klappe an der Rückseite und setzt sie dem Sonnenlicht aus. Wir haben dort Netzhautzellen angebracht. Wenn die Zellen Sonnenschein abbekommen, setzen sie Glutamat frei, das sich an die Rezeptoren bindet. Diese wiederum produzieren Stickstoffoxid, das Enzyme aktiviert, die Phosphat an ein Protein des Zellkerns binden. Das Protein sendet eine genetische Botschaft aus, worauf die Gene die Neuronen der Uhr zurückstellen!«
»Äh… gibt es dafür auch eine Bedienungsanleitung?«
Sie zögerte. »Ach, vergiss das. Du bist bloß ein Laie. Du brauchst die Funktionsweise der Uhr nicht zu verstehen.«
Oscar betrachtete das unheimliche Gerät. Es klebte an seinem Handgelenk wie rohe Leber. »Das ist ein selbstgemachtes Geburtstagsgeschenk«, sagte er. »Trotz all der Aufregung hast du dir die Zeit genommen, mir eine Uhr anzufertigen. Und zwar eigenhändig.«
»Es freut mich, dass sie dir gefällt.«
»Und ob sie mir gefällt. Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe.«
Ihre Brauen zuckten ein wenig. »Du findest sie doch nicht abstoßend?«
»Abstoßend? Um Gottes willen! Die Uhr ist der Entwicklung bloß ein paar Schritte voraus, das ist alles. Ich könnte mir vorstellen, dass ein solcher Artikel bei den Konsumenten großen Anklang finden würde.«
Sie lachte erfreut. »Ha! Genau. Das Gleiche habe ich auch meinen Mitarbeitern gesagt, als wir das Ding gebaut haben. Endlich haben wir ein Produkt für den Massenmarkt, nach dem wirklich Nachfrage besteht!«
Oscar war gerührt. »Man setzt dir schon seit Jahren zu von wegen ›reiner Wissenschaft‹, nicht wahr? Als ob die das Recht hätten, über deine Vorstellungskraft zu bestimmen, bloß weil sie deine Rechnungen zahlen. Also, ich will dir ein Geheimnis anvertrauen, Greta. So etwas wie ›reine Wissenschaft‹ gibt es nicht. ›Reine Wissenschaft‹ ist eine ebensolche bösartige Lüge oder arglistige Täuschung wie ›unabhängige Justiz‹ oder ›absolute Freiheit‹. Begehren ist niemals rein, und das Streben nach Wissen ist bloß eine andere Form von Begehren. Es gibt keinen Wissenszweig, der so rein und abstrakt wäre, dass er vor den Niederungen und dem Schmutz gefeit wäre. Wenn der menschliche Geist etwas verstehen kann, dann kann er es auch begehren.«
Sie seufzte. »Ich weiß nie, was ich davon halten soll, wenn du so redest… Am liebsten würde ich dir alles erzählen, was mir in letzter Zeit so durch den Kopf gegangen ist.«
»Versuch’s mal.«
»Es ist so… Man will etwas, aber man weiß, es ist schlecht für einen. Deshalb verkneift man sich’s, will es aber doch, verkneift es sich und will es – aber es ist einfach zu verlockend. Deshalb gibt man dem Wunsch nach, und dann passiert es. Und da stellt man fest, dass es gar nicht so schlecht ist, wie man dachte. Nicht halb so schlecht. Eigentlich ist es sogar gut. Richtig gut. Es ist wundervoll. Man fühlt sich besser. Man fühlt sich wie neugeboren. Stärker. Man versteht sich besser. Man hat Kontakt zu sich selbst. Man verleugnet sich nicht mehr. Man ist nicht mehr distanziert und rein. Man ist lebendig und nimmt Anteil an der wirklichen Welt. Man weiß, was man will.«
Oscar verspürte schwindelerregenden männlichen Triumph. Das Gefühl währte etwa drei Sekunden, erreichte seinen Höhepunkt und machte dann einer bösen Vorahnung Platz.
»Eine Liebesbeziehung ist nicht immer eitel Sonnenschein«, sagte er.
Greta schaute ihn verblüfft an. »Oscar, Lieber, ich rede nicht von Sex. Das ist ja alles gut und schön, und ich bin glücklich darüber, aber wir beide könnten so viel Sex haben, wie wir wollen, und es würde doch nichts ändern. Ich will damit sagen, dass du mir dadurch, dass du mir Macht gegeben hast, ein reales und dauerhaftes Geschenk gemacht hast, Oscar. Jetzt weiß ich endlich, was Macht bedeutet. Zum erstenmal im meinem Leben kann ich zu anderen Menschen sprechen. Wenn sie da alle vor mir sitzen, meine Leute, kann ich Ihnen die Wahrheit sagen. Ich kann sie überzeugen. Ich kann sie führen. Ich bin ihre Anführerin geworden. Ich verfüge über wahre Macht. Ich glaube, ich wollte immer schon Macht, aber ich habe dem Wunsch widerstanden, weil ich glaubte, Macht sei schlecht für mich – aber das ist sie nicht! Jetzt weiß ich, was Macht bedeutet, und mein Gott, sie tut ja so gut. Sie verändert mich vollständig. Ich will immer mehr davon.«
Gegen Ende ihrer zweiten Woche als Direktorin feuerte Greta die ganze Abteilung für Materialforschung. Dadurch wurde eine Menge Platz im betreffenden Labor frei, das an der Ostseite der Kuppel neben der botanischen Abteilung lag. Die lange Zeit vernachlässigten Botaniker waren über den Raumgewinn überglücklich. Die Schließung des unersättlichen Labors für Materialforschung war zudem ein finanzieller Segen für das Laboratorium.
Auch für Oscars Hotel war sie ein Segen. Das Hotel war voll belegt mit Gebrauchtmaterialienhändlern, anrüchigen Mittelsmännern, die in Buna eingetroffen waren, kaum dass die zum Verkauf stehende Hardware in ihrem Netz annonciert worden war.
Die meisten Materialwissenschaftler fanden sich grummelnd mit den vollendeten Tatsachen ab. Nicht jedoch Dr. David Chander. Chander hatte von Anfang an eifrig am Streik teilgenommen und war zudem ein heller Kopf. Um seiner Entlassung entgegenzuwirken, hatte er sich vom Streikkomitee taktisch beraten lassen. Er hatte seine Ausrüstung mit Superkleber an den Labortischen festgeklebt und sich in der Forschungseinrichtung verbarrikadiert. Da saß er nun und weigerte sich kategorisch, das Labor zu verlassen.
Kevin hatte vorgeschlagen, mit einem hydraulischen Rammbock in Chanders Labor einzudringen. Die Laboratoriumspolizei war zu durcheinander und verdrossen, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Kevin wäre liebend gern in die Rolle des entschlossenen Ordnungshüters geschlüpft, Oscar aber glaubte, dies würde ein ungünstiges Licht auf das neue Regime werfen. Gewalttätige Auseinandersetzungen wollte er nicht unterstützen; dergleichen war unprofessionell, nicht sein Stil.
Stattdessen beschloss er, den Mann niederzureden.
Oscar und Kevin stiegen zu Chanders im dritten Stock gelegenem Labor hoch, und Oscar meldete sich an. Er wartete geduldig, bis Chander die Tür aufgesperrt hatte. Dann schlüpfte er durch den Spalt und ließ den verärgerten Kevin auf dem Gang zurück.
Chander verrammelte die Tür sogleich wieder. »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, erbot sich Oscar. Er half Chander, das abmontierte Bein eines Laborstuhls mit einem mit Superkleber befestigten Türklotz zu verkeilen.
Im Gegensatz zur Mehrheit der Laboratoriumsangestellten trug Chander als Industrieforscher Anzug und Krawatte und einen seriösen Hut. Sein dunkelhäutiges Gesicht war aschfahl, die Augen vom vielen Stress verschwollen. »Ich habe mich schon gefragt, ob Sie wohl den Mut haben würden, mit mir persönlich zu sprechen«, sagte er und biss sich auf die fleischige Unterlippe. »Ich kann allerdings nicht behaupten, dass es mich wundert, dass Sie gekommen sind.«
Oscar öffnete eine Plastikbox. »Ich habe Ihnen ein paar Vorräte für Ihr Sit-in mitgebracht«, sagte er. »Etwas tiefgefrorene Suppe, schmackhafter Reis…«
»Sie wissen doch, dass ich im Hungerstreik bin, oder?«
»Davon habe ich noch nichts gehört«, log Oscar.
»Sorgen Sie dafür, dass die Telefone wieder eingeschaltet werden, dann werde ich Sie ausführlich über meine Probleme informieren.«
»Aber deswegen bin ich doch persönlich hergekommen«, meinte Oscar fröhlich. »Um mich mit Ihnen auszusprechen, von Mann zu Mann.«
»Damit werde ich mich nicht abfinden«, verkündete Chander. »Sie zerstört mein Lebenswerk, das ist einfach ungerecht. Ich kann ebenso lange warten wie der ganze Rest. Ich kann das Gleiche machen wie Sie. Ich habe auch Freunde und Unterstützer, ich habe Unterstützung seitens der Industrie. Ich bin ein ehrlicher Mann – was man von Ihnen nicht gerade behaupten kann. Wenn sich erst mal rumspricht, mit welchen Tricks Sie hier gearbeitet haben, wird man Sie alle vor Gericht stellen.«
»Aber ich bin Vertreter eines Senatsausschusses«, sagte Oscar. »Natürlich hat der Senat Verständnis für Ihre missliche Lage. Ich schlage vor, wir setzen uns, und Sie sagen mir, was Sie auf dem Herzen haben.«
Er nahm vorsichtig auf einem wackeligen Laborhocker Platz und zückte Notizblock und Füllfederhalter.
Chander zog eine Plastikkiste heran und ließ sich ächzend darauf nieder. »Hören Sie, der Kongress kann mir nicht helfen. Der Zustand des Kongresses ist hoffnungslos, die verstehen nichts von technischen Problemen. Die Sache ist die: Ich habe hier einen technischen Durchbruch geschafft. Das ist kein leeres Versprechen. Das ist keine hohle Phrase, mit der ich mich loskaufen will. Ich habe eine bedeutende technische Entdeckung gemacht! Und zwar schon vor zwei Jahren!«
Oscar blickte auf seine Notizen. »Dr. Chander… Wie Sie wissen, wurde hier im Laboratorium eine Produktivitätsvaluierung vorgenommen. Alle Abteilungen unterlagen den gleichen Bewertungskriterien: Genfragmentierung, Fließ-NMR und so weiter. Ihre Abteilung wurde innerhalb von vier Jahren fünfmal umstrukturiert. Ihre Erfolgsbilanz ist, offen gesagt, katastrophal.«
»Das streite ich nicht ab«, sagte Chander. »Aber das war Sabotage.«
»Das ist eine erstaunliche Behauptung.«
»Hören Sie. Das ist eine lange, unerfreuliche Geschichte, aber… Hören Sie, Grundlagenforschung und Firmensponsoring haben sich noch nie vertragen. Meine Probleme sind in keiner Weise wissenschaftlich, sondern allein im Management begründet. Hier geht es um die Weiterverarbeitung von organischem Material, wir suchen nach biologisch basierten Lösungen für traditionelle technische Probleme. Das eröffnet uns ein weites Arbeitsfeld. Unser Problem lag darin, dass der Firmensponsor in Detroit ansässig ist.«
Chander seufzte. »Ich habe keine Ahnung, weshalb die Automobilindustrie unsere Arbeit gefördert hat. Das war nicht meine Entscheidung. Aber seit sie vor fünf Jahren hier aufgetaucht sind, haben sie alles ruiniert. Ständig verlangen sie von uns Ergebnisse, dann wieder kappen sie den Zeitplan oder ändern unsere Entscheidungen ab. Sie mischen sich in alles ein. Sie schicken uns hirngeschädigte Automanager auf Studienurlaub, und die tauchen hier auf, stehlen seltene Tiere, entwickeln bescheuerte Zukunftsszenarien und quatschen Blödsinn. Wir haben hier die Hölle durchgemacht: Reengineering, Outplacement, zielorientiertes Management, totaler Kundenservice, was Sie wollen! Alle Zumutungen, die man sich nur vorstellen kann.«
»Aber die Industrie hat Ihnen die Forschungsmittel bewilligt. Das waren Ihre Firmensponsoren. Sie konnten für Ihre Vorschläge keine ausreichende staatliche Förderung lockermachen. Wenn Sie Ihre eigenen Sponsoren nicht glücklich machen können, was tun sie dann hier?«
»Was ich hier tue?« sagte Chander. »Ganz einfach! Darauf gibt es eine ganz simple, direkte Antwort. Es geht um Energie.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Elektromotive Energie! Mein Team und ich haben nach neuen Energiequellen für die amerikanische Transportindustrie gesucht. Und wir haben ein neues Arbeitsmodell entwickelt. Die mitochondrische ATP-Energie-Generation. Mit Signalumwandlung, Protein-Phosphorylierung, Membran-Diffusionspotenzialen… Wissen Sie überhaupt, was eine Mitochondrie ist?«
»Ich glaube, den Ausdruck habe ich schon mal gehört.«
»Die Mitochondrien sind die Energielieferanten der Zelle. Sie gewinnen Energie aus Adenosintriphosphat, deshalb leben wir überhaupt erst und atmen. Mitochondrien sind mikroskopisch klein. Aber stellen Sie sich vor…« – Chander breitete temperamentvoll die Arme aus –, »sie wären einen Meter groß.«
»Dann haben Sie also einen Teil einer lebenden Zelle geklont und einen Meter groß gemacht?«
»Ich konnte einem Laien noch nie gut was erklären… Nein, natürlich ist das Ding keinen Meter groß. Es handelt sich auch nicht um ein Mitochondrium, sondern um ein biomechanisches Konstrukt, das die Membranen und die Struktur eines Mitochondriums verwendet. Das alles wurde auf industriellen Maßstab vergrößert. Es handelt sich um eine riesige Waffel aus Membranen und Gelatinematrix. Es lebt nicht, es ist biologische Hardware, zu einer elektrochemischen Batterie modifiziert. Man könnte ein Auto damit antreiben. Sogar Lastwagen! Als Brennstoff wird Zucker verwendet.«
»Dann haben Sie also einen Autoantrieb auf Zuckerbasis entwickelt.«
»Jetzt haben Sie’s kapiert! Genau! Zucker, Wasser und ein paar Spurenelemente. Rein organisch und vollständig recycelbar. Keine Verbrennung, keine Emissionen und keine Toxine! Und es funktioniert bei Raumtemperatur.«
»Da haben Sie also einen neuartigen Autoantrieb entwickelt. Na prima. Davon sind bereits einige auf dem Markt – Schwungräder, Dampf, flüssiger Stickstoff. Wie ist die Beschleunigung?«
Chander boxte in die Luft. »So ist sie! Wie ein Faustschlag in die Magengrube! Das kommt von den Mitochondrien! Das ist die Technik, die die Muskeln bewegt! Sie ist schnell und sauber! Und sie funktioniert wirklich!«
»Wo liegt der Haken?«
»Es gibt keinen! Es funktioniert! Na ja, es wird noch besser funktionieren, wenn wir die Fehler des Prototyps ausgemerzt haben… Es gibt da ein paar Probleme mit dem osmotischen Druck und dem Durchfluss… ja, und wenn die Batterie infiziert wird, dann verrottet sie recht schnell. Aber das sind Anlaufschwierigkeiten. Das eigentliche Problem besteht darin, dass Detroit unser Produkt nicht haben will. Die wollen es nicht produzieren.«
»Also haben Sie einen großen Erfolg erzielt«, sagte Oscar. »Dann erklären Sie mir eines. Ihrem Labor standen mehr Fördergelder zur Verfügung als jeder anderen Materialforschungseinrichtung, aber Sie haben nie ein Produkt zustande gebracht. Sie sind hier Spitzenforscher, hatten aber eine größere Fluktuation als jedes andere Labor.«
»Das waren alles Spione!« entgegnete Chander. »Spione und Saboteure! Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu feuern.«
»Mir ist aufgefallen, dass sich Ihr Team Ihrem Arbeitskampf nicht angeschlossen hat.«
»Die Moral ist am Boden. Die wissen, dass wir auf der Abschussliste stehen. Sie wissen, dass all ihre Anstrengungen vergeblich waren. Sie hoffen einfach, dass die Erinnerung irgendwann verblassen wird.« Chander ließ die Schultern hängen.
»Das ist eine erstaunliche Geschichte. Ich werde mich bei Ihren Industriepartnern kundig machen.«
»Klar. Nur zu. Der zuständige Mann heißt Ron Griego und arbeitet als Projektmanager bei der Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Detroit.«
Oscar blinzelte. »Etwa Ronald K. Griego?«
»Sie kennen Ron Griego?«
»Ich glaube schon«, meinte Oscar stirnrunzelnd. »Ich glaube, die Angelegenheit wird sich in Kürze aufklären.«
Nachdem er Dr. Chander soweit besänftigt hatte, dass er zumindest wieder aß, suchten Oscar und Kevin Unterschlupf im dichten Laubwerk nördlich der Genfragmentierungsabteilung. Dann rief Oscar Griegos Sekretärin in Detroit an.
»Verzeihen Sie die Störung, Ma’am, aber ich glaube, Mr. Griego wird mich sprechen wollen. Würden Sie Ron bitte sagen, Oscar Valparaiso wäre am Apparat, Studentenjahrgang ‘37, und es sei dringend?«
Fünf Minuten später meldete sich Griego. Sie tauschten vorsichtig Freundlichkeiten aus.
»Dann bist du also doch in das Familiengeschäft eingestiegen, Ron?«
»Deshalb hat Dad mich nach Harvard geschickt«, sagte Griego. »Weshalb ist die Telefonverbindung so schlecht?«
»Verschlüsselt und umgeleitet. Tut mir leid. Hör mal, es geht um das Buna National Collaboratory.«
»Ich habe gehört, ihr wollt die Anlage schließen«, meinte Griego fröhlich. »Dort findet ein großer Streik statt. Natürlich ist das ein Schlag für unsere Zukunftsforschung, aber deswegen solltest du dir keine Sorgen machen. Wir von der Autoindustrie haben Verständnis für Arbeitsprobleme. Wenn wir den Kongress dazu bewegen könnten, die Abschreibungen der Forschungs- und Entwicklungsabteilung für das laufende Fiskaljahr beizubehalten, werden wir den Verlust des Laboratoriums in Buna wohl überleben.«
»Sorry, aber so einfach ist das nicht, Ron.«
»Aber ich mache es dir einfach«, meinte Griego verletzt. »Mach das Labor dicht, entlasse sämtliche Leute. Fahr die Anlage herunter, sperr die Türen ab, aus und vorbei, das war’s. Was könnte einfacher sein?«
»Oh, für mich ist das kein Problem – ich wollte sagen, dass es für dich vielleicht nicht so einfach wäre.«
»Ich hab’s gewusst«, stöhnte Griego. »Warum ist es mit dir niemals einfach, Valparaiso? Was hast du gegen uns? Wo liegt dein Problem?«
»Ich möchte bloß ein paar Dinge klären. Glaub mir, Ron, ich verstehe dich. Das muss ein Albtraum für dich gewesen sein – einen Netzkrieg gegen einen Haufen Verrückter zu führen, die eine magische Zuckerbatterie erfunden haben.«
»Mein Gott.«
»Entspann dich, Ron. Erinnerst du dich noch daran, wie ich die beiden Nutten vor der Campuspolizei versteckt habe? Ich habe dich nie angeschwärzt, und das habe ich auch jetzt nicht vor. Sei einfach bloß offen zu mir. Mehr verlange ich gar nicht.«
Es entstand ein langes, unbehagliches Schweigen. Dann platzte Griego unvermittelt heraus: »Komm mir bloß nicht so von oben herab, du ewiger Dritter. Glaubst du, es ist leicht, eine Forschungsabteilung zu leiten? Alles war in Ordnung, solange der Typ nichts vorzuweisen hatte. Herrgott, es hat doch niemand geglaubt, dass ein gottverdammter Zuckermotor jemals funktionieren würde. Das gottverdammte Ding ist eine riesige Bakterie in einem Kasten! Wir bauen hier Autos und keine Riesenbakterien! Und dann schaffen sie das Unmögliche und machen uns das Leben schwer! Das hier ist die klassische metallverarbeitende Industrie! Wir haben hier miteinander verzahnte Verwaltungseinheiten, die für Rohstoffe, Benzin, Ersatzteile und das Händlernetz zuständig sind… Wir können nicht vor unsere Benzinlieferanten hintreten und ihnen sagen, dass wir künftig Zuckerwasser verwenden wollen! Die Benzinlieferanten gehören uns! Das wäre ja, als sägten wir uns den eigenen Fuß ab.«
»Das mit den verzahnten Verwaltungseinheiten und den wechselseitigen Verflechtungen verstehe ich, Ron. Ich habe beim Wirtschaftsstudium gleich neben dir gesessen, weißt du noch? Kommen wir zum Punkt – was ist mit der Batterie?«
»Batterien weisen von allen Autokomponenten die höchste Gewinnspanne auf. Damit verdienen wir richtig Geld. Ansonsten kann man in unserem Geschäft nicht viel Geld verdienen. Die Koreaner bauen Autokarosserien aus Stroh und Papier! Wenn Autos billiger sind als Einkaufswagen, können wir die Industrie nicht stützen! Was sollen wir denn den Gewerkschaften sagen? Hier steht eine große amerikanische Tradition auf dem Spiel! Amerika definiert sich übers Auto: das Fließband, die Vorstädte, die Drive-ins, frisierte Kisten, Teenager-Sex, all das macht die Größe Amerikas aus! Wir können uns nicht bloß deshalb, weil irgendein eierköpfiger Idiot eine Maschine aus Käferinnereien gebaut hat, vollständig verleugnen! Dann bliebe nichts mehr von uns übrig! Der Kerl stellt eine Bedrohung für die Gesellschaft dar! Man musste ihn stoppen.«
»Danke, Ron. So kommen wir weiter. Sag mir Folgendes: Warum, zum Teufel, hast du ihm nicht einfach die Fördermittel entzogen?«
»Wenn das so einfach wäre! Wir waren aufgrund staatlicher Erlasse verpflichtet, in Grundlagenforschung zu investieren. So lautete der Deal. Dafür sollten wir Handelsprotektion genießen, bis wir wieder Atem geschöpft und unsere ausländischen Konkurrenten überholt hätten. Aber wenn wir die verdammten Koreaner mit so einem Schwung überholen, dann wird unsere Industrie einfach verschwinden. Die Leute stellen Autos her wie unsereins Toast röstet. Die Prolos bauen Autos aus Biomüll und kompostieren sie anschließend wieder. Wir wären alle zum Untergang verurteilt.«
»Das heißt, ihr habt einen großen technischen Durchbruch erzielt, der jedoch zur Folge hätte, dass eure Industrie ausgelöscht würde.«
»Ja. Genau so ist es. Es tut mir wirklich leid, aber das können wir einfach nicht machen. Wir müssen auf die Aktionäre Rücksicht nehmen, auch die Arbeitskräfte stellen einen Machtfaktor dar. Wir wollen doch nicht so enden wie die Computerleute. Mann, das hat doch wirklich keinen Sinn. Das wäre der totale Wahnsinn, völliger Schwachsinn. Wir würden uns selbst die Kehle durchschneiden.«
»Ron, nimm’s leicht, okay? Ich steh auf deiner Seite, ich kann deinen Argumenten folgen. Danke, dass du so offen warst. Ich verstehe jetzt deine Lage. Das passt ins Bild.«
Oscar atmete tief durch. »Weißt du, Ron, im Grunde geht es doch um die Wechselwirkung von Kommerz und Wissenschaft. Ich habe in letzter Zeit viel über das Problem nachgedacht, und mir ist klar geworden, dass die Großforschung im alten Stil nicht länger tragbar ist. Bloß Wilde und Kongressabgeordnete können glauben, die Wissenschaft sei die natürliche Freundin der Wirtschaft. Das war nie der Fall. Die Wahrheit hat keine Freunde. Bisweilen kommt es vor, dass die Interessen von Wissenschaft und Wirtschaft ein Stück weit überlappen, aber das ist noch längst keine Ehe. Das ist eine gefährliche Liaison. Wenn man in der Wirtschaft arbeitet, kann sich die Forschung unvermittelt gegen einen wenden und einen überrollen.«
»Da hast du Recht«, stimmte Griego ihm leidenschaftlich zu.
»Ron, es betrübt mich, dass du so unter Druck stehst. Wenn ihr die Forschung nicht finanzieren wollt, dann sollte diese Entscheidung der Industrie überlassen werden. Es geht nicht an, dass euch ferne, gleichgültige Bürokraten, die keine Ahnung haben, wie die Wirtschaft eigentlich funktioniert, vorschreiben, was ihr tun und lassen sollt. Und vor allem solltet ihr nicht eure und meine Zeit damit verschwenden, ein staatliches Labor zu sabotieren. Das ist eine kontraproduktive Ablenkung, die dazu führt, dass wir uns unnötig in die Haare geraten. Wir sind ernsthafte Spieler, Ron. Leute wie wir sollten wie reife Menschen darüber reden und zu einem Modus vivendi gelangen.«
Griego seufzte ins Telefon. »Okay, Oscar. Du kannst jetzt aufhören, Süßholz zu raspeln. Was hast du mit mir vor?«
»Also, ich könnte die ganze hässliche Angelegenheit ans Licht bringen. Dann gäbe es eine Untersuchung und Senatsanhörungen, und möglicherweise würde Anklage erhoben. Die ganze leidige Prozedur. Aber mal angenommen, dazu käme es nicht. Angenommen, ich würde dir persönlich garantieren, dass die Wunderbatterie dieses Burschen vom Antlitz der Erde verschwindet. Und dass dich das bloß fünfzig Prozent deiner gegenwärtigen Forschungsausgaben kosten würde.«
»Dann würde ich sagen, das ist zu schön, um wahr zu sein.«
»Nein, Ron. Das sind die neuen Regeln, die hier im Labor gelten. Die amerikanische Automobilindustrie hat für wissenschaftliche Durchbrüche einfach keine Verwendung mehr. Davon hattet ihr schon mehr, als ihr verkraften könnt. Ihr seid ein nationaler historischer Schatz, vergleichbar einer Büffelherde oder Valley Forge. Ihr braucht Schutz vor der Bedrohung der Grundlagenforschung. Anstatt staatlich angestellte Wissenschaftler dafür zu bezahlen, dass sie eure Industrie von der Klippe stoßen, solltet ihr den Forschern Schutzgeld dafür bezahlen, dass sie euch nicht mit ihrer Arbeit in die Quere kommen. Auf diese Weise stellt ihr sicher, dass eure Industrie auf der Stelle verharrt.«
»Das klingt wundervoll«, meinte Griego nachdenklich. »Ist das auch legal?«
»Warum nicht? Eure gewohnheitsmäßig betriebene Sabotage ist es jedenfalls nicht, trotzdem seid ihr jahrelang damit durchgekommen. Die Umsetzung meines Vorschlags brächte eine wesentliche Verbesserung des Status quo mit sich, denn dann gingen wir endlich ehrlich miteinander um. Als Geste des guten Willens erkläre ich mich bereit, nicht nur über deine jämmerliche Sabotage hinwegzusehen, sondern obendrein die Ausgaben deiner Forschungsabteilung zu halbieren!«
»Wo ist der Haken?«
»Der Haken ist folgender: Das Laboratorium steckt momentan in einer finanziellen Klemme, deshalb musst du uns einen ganzen Jahresetat vorab überweisen. Könntest du das mit den zuständigen Leuten in Detroit klären, dein Einverständnis vorausgesetzt?«
»Also, das muss ich mit Dad besprechen.«
»Red nur mit hohen Tieren, Ron. Sag Dad und den anderen Aufsichtsratsmitgliedern, wenn sie mein Angebot nicht unverzüglich annehmen, werde ich die ganze Geisteskraft des Labors auf dieses Projekt lenken. Dann liefern wir nächsten Juni die ersten Zuckermotoren aus. Und zwar mit einem gigantischen PR-Aufwand.« Er unterbrach die Verbindung.
»Ist das wirklich Ihr Ernst?« fragte Kevin. Er hatte mit großem Interesse zugehört.
»Ich weiß nicht«, sagte Oscar. »Es ist einfach gut gelaufen. Zufällig wusste ich, auf welche Knöpfe man beim guten alten Ronnie drücken muss, und da hatte ich plötzlich einen Einfall. Das ist ein sehr seltsamer, unorthodoxer Schachzug, aber damit sind wir drei oder vier Probleme auf einmal los. Wir bekommen eine willkommene finanzielle Atempause. Ron ist glücklich, wir sind glücklich, alle außer Chander sind glücklich, und Chan – der war sowieso erledigt. Und zwar weil er mir mit meinen eigenen Methoden Paroli bieten wollte.«
»Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, man könnte die Autoindustrie vor einer grundlegenden wissenschaftlichen Entdeckung wie der einer neuen Energiequelle schützen.«
»Kevin, wachen Sie auf. Sie müssen aufhören, wie ein Techniker zu denken. Wo haben Sie das eigentlich her? Begreifen Sie denn nicht, was das bedeutet? Zum ersten Mal bezahlt uns jemand dafür, dass wir nicht forschen. Das ist eine wahrhaft neue Energiequelle. Zum ersten Mal verfügen die staatlich angestellten Forscher über eine ökonomische Waffe – sie können den Krieg in die Reihen ihrer Gegner tragen. Wer schert sich schon um eine weitere verdammte Batterie? Wahrscheinlich handelt es sich ja eh um heiße Luft. Haben Sie schon mal ein atombetriebenes Auto gesehen? Bloß weil es technisch möglich ist, heißt das noch lange nicht, dass es praktisch machbar wäre.«
»Die Menschen werden trotzdem etwas damit anfangen. Ihr Politiker könnt die Verbreitung des technischen Wissens nicht kontrollieren. Man wird es nutzen, ganz gleich, was die Regierung davon hält.«
»Kevin, das weiß ich. Ich bin der lebende Beweis dafür. Dieses Prinzip hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin.«
Am 20. Januar um zwei Uhr morgens wurde an Oscars Hoteltür geklopft. Es war Fred Dillen, der Hausmeister, der auch für die Wäsche zuständig war. Fred war betrunken – die Mannschaft hatte die lang erwartete Vereidigung von Senator Bambakias gefeiert und zahlreiche patriotische Toasts auf die neue Administration von Präsident Two Feathers ausgebracht. Fred war in Begleitung einer untersetzten Weißen in den Dreißigern, die einen orangefarbenen Erste-Hilfe-Koffer dabei hatte.
»Ist die Party aus dem Ruder gelaufen?« fragte Oscar.
»Oscar, die Dame möchte mit Ihnen reden«, sagte Fred.
»Ich wusste nicht, welches Ihr Zimmer ist«, sagte die Sanitäterin mürrisch. »Musste mich unten durch einen Haufen Betrunkener durcharbeiten.«
»Freut mich, dass Sie mich gefunden haben. Hat es Schwierigkeiten gegeben?« fragte Oscar.
»Ja. Eine Verletzte, Mitte dreißig. Sie hat sich den Knöchel gebrochen. Aber sie meint, sie will nicht ins Krankenhaus. Sie will uns nicht mal ihren Namen und die Ausweisnummer sagen. Sie meint, sie will erst mit Ihnen sprechen.«
»In welches Krankenhaus wollen Sie sie bringen?«
»In die Unfallklinik in Buna. Sie wollte ins Laboratorium, aber dorthin können wir sie nicht bringen. Da gibt es diese riesigen Schleusen und diesen ganzen Sicherheitsscheiß, und außerdem sind wir nicht befugt, in einer staatlichen Einrichtung Erste Hilfe zu leisten.«
»Was ist passiert? Wie kam es zu dem Unfall?«
»Also, sie sagt, sie sei mitten in der Nacht über die Straße gelaufen und über irgendwas gestolpert.« Die Sanitäterin musterte Oscar angewidert. »Hören Sie, das ist alles höchst ungewöhnlich. Die meisten Leute, die sich ein Bein brechen, sind froh, einen Krankenwagen zu sehen. Die Frau aber wollte sich einfach nicht beruhigen. Sie hat mich angefleht, einen Mann namens Valparaiso aufzusuchen, und jetzt habe ich Sie gefunden. Möchten Sie was unternehmen? Sonst sage ich nämlich adiós, muchacho.«
»Nein, bitte überstürzen Sie nichts, ich komme mit. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld.« Oscar warf einen Blick auf das Namensschild der Sanitäterin. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mich zu suchen, Ms. Willis. Ich weiß, das ist alles sehr ungewöhnlich, aber Sie werden es nicht bereuen.«
Willis lehnte sich auf die abgewetzten Absätze ihrer weißen Turnschuhe zurück. »Na schön«, sagte sie lächelnd. »Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm.«
Oscar zog das Jackett an, steckte die Brieftasche ein und schlüpfte in die Schuhe. Er warf einen Blick auf den schlafenden Kevin. Eigentlich hätte er seinen Bodyguard aufwecken und ihn im Rollstuhl mitschieben sollen – aber es war zwei Uhr morgens, und der schwer arbeitende Kevin hatte gesoffen wie ein Loch. Oscar steckte sich ein Handy in die Tasche und trat auf den Korridor. Er schloss leise die Tür, dann reichte er Willis einen Zwanzig-Ecu-Schein.
Willis steckte das Geld in die orangefarbene Tasche mit Klettverschluss. »Muchas gracias, amigo.«
»Hoffentlich ist mit Greta alles in Ordnung«, meinte Fred nervös.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Oscar. Fred war nicht der hellste Kopf der Mannschaft. Aber er war äußerst loyal und gutmütig, ein Mann, der ein freundliches Wort mit hündischer Ergebenheit vergalt. »Sie können weiterfeiern. Wir möchten nicht, dass der Vorfall Aufsehen erregt. Erzählen Sie niemandem davon. Okay?«
»Oh«, sagte Fred. »Ist gut. Kein Problem, Oscar.«
Oscar und Ms. Willis stiegen die Treppe hinunter und durchquerten die Lobby. Holländische Partymusik schallte durch die Eingangsloggia. »Ein hübsches Hotel«, bemerkte Willis.
»Danke. Vielleicht möchten Sie mal ein Wochenende hier verbringen.«
»Bei meinem Gehalt? So viel Luxus kann ich mir nicht leisten.«
»Wenn Sie wegen dieses kleinen Vorfalls Diskretion wahren, Ma’am, biete ich Ihnen ein Drei-Tage-Wochende mit einem Begleiter Ihrer Wahl bei vollem Room-Service an.«
»Oh, das ist ein wirklich großzügiges Angebot. Diese Gretel muss Ihnen ja viel bedeuten.« Willis geleitete ihn auf den gepflasterten Gehsteig und die Straße hinaus. Eine große Ambulanz parkte unter den Pinien, mit eingeschalteten Scheinwerfern und offener Fahrertür. Willies winkte dem Fahrer freundlich zu, und dieser winkte mit offenkundiger Erleichterung zurück.
»Sie liegt hinten, auf der Trage«, sagte Willis. »Der Bruch ist ziemlich schlimm. Wollen Sie einen guten Rat, compadre? Sorgen Sie dafür, dass Ihre werten Freundinnen nicht im Dunkeln herumschleichen.«
»Das ist sicherlich ein guter Rat«, erwiderte Oscar. Er stellte sich auf die Stoßstange und blickte in den Krankenwagen. Greta lag auf einem mit Segeltuch bespannten Metallgestell, die Hände unter dem Kopf verschränkt.
Willis packte Oscar bei den Hüften und versetzte ihm einen heftigen Stoß. Oscar fiel in den Wagen hinein, worauf Willis die Doppeltür zuschlug. Im Innern des Wagens war es so finster wie in einem Grab.
»Hey!« rief Oscar.
Der Wagen fuhr an und schoss schwankend davon.
»Greta«, sagte er. Keine Antwort. Er kroch im Dunkeln an ihre Seite und wunderte sich nicht, dass sie nicht reagierte. Seine tastende Hand landete auf ihrem Brustkasten. Sie war bewusstlos. Aber sie war am Leben; sie atmete.
Oscar zog eilig das Handy hervor. Es erstaunte ihn nicht, dass es keine Funkverbindung hatte. Das Display aber sandte ein schwaches Leuchten aus, sodass er die Umgebung erkunden konnte. Er hielt das Handy an Gretas Gesicht. Sie war bewusstlos – obendrein hatte man ihr einen Klebestreifen über den Mund geklebt. Die Hände waren mit dünnem Plastikband gefesselt, wie die Polizei es verwendete. Mit ihrem Knöchel war natürlich alles in Ordnung.
Der Laderaum ähnelte nur auf den ersten Blick dem einer Ambulanz. Eine ramponierte Trage war vorhanden, jedoch keinerlei Erste-Hilfe-Ausrüstung. Es gab keine Fenster. Dem Kurvenverhalten nach zu schließen, war die trügerische Ambulanz gepanzert wie ein Tresorwagen. Man hatte ihn in eine gepanzerte Thermosflasche gelockt, sie verkorkt und war mit ihr losgefahren.
Vorsichtig pellte er Greta mit den Fingernägeln das Klebeband vom Mund. Er küsste zärtlich ihre schweigenden Lippen. In dem kleinen Gefängnis gab es keine Heizung. Greta fühlte sich kalt an. Er legte sich zu ihr auf die Trage und umarmte sie. Er drückte sie fest an sich, presste Wärme in ihren Körper. Die Intensität seines Mitgefühls bestürzte ihn. Sie war so menschlich. So unerreichbar und fern.
Man hatte sie gekidnapped. So einfach war das. Sie hatte jemandem zu viel Ärger gemacht und die Geduld eines abgrundtief bösen Spielers erschöpft. Jetzt waren sie unterwegs zu einem Mörderfriedhof. Man würde sie foltern, erniedrigen und schließlich mit Kugeln im Hinterkopf verscharren. Oder sie vergasen und anschließend verbrennen. Böse Menschen würden sich das Video ihres langsamen Sterbens anschauen.
Oscar erhob sich von der Trage. Er legte sich mit dem Rücken auf den Boden und trat gegen die vordere Trennwand, Er arbeitete sich durch die Beschichtung aus porösem Plastik durch, hinter der eine Wand aus massivem Metall zum Vorschein kam. Der fahrende Sarg dröhnte jetzt wie eine Trommel. Das war immerhin ein Fortschritt. Oscar trampelte mit erneuerter Anstrengung weiter.
Irgendwo im Laderaum schaltete sich ein Lautsprecher ein. »Würden Sie bitte aufhören, Lärm zu machen?«
»Was bekomme ich dafür?« fragte Oscar.
»Sie wollen doch bestimmt nicht, dass wir grob werden, compadre«, tönte es aus dem Lautsprecher. Es war Willis. »Bloß weil Sie uns nicht sehen können, heißt das noch lange nicht, dass wir Sie nicht sehen können. Wir sehen jeden verdammten Scheiß, den Sie da hinten machen. Und offen gesagt wär’s mir lieber, wenn Sie die Ware nicht begrabschen würden, solange sie bewusstlos ist. Das ist irgendwie abstoßend.«
»Sie glauben, ich wäre hier hilflos – aber ich habe immer noch Optionen. Ich könnte sie erwürgen. Ich könnte behaupten, Sie hätten das getan.«
Willis lachte. »Mann, hör sich einer diesen Typen an. Hören Sie, vato – wenn Sie Dummheiten machen, stellen wir einfach das Betäubungsgas an. Würden Sie sich bitte beruhigen? Wir sind nicht das Problem. Wir werden Ihnen nichts tun. Wir sind bloß der Lieferservice.«
»Ich habe eine Menge Geld«, sagte Oscar. »Ich wette, Sie könnten was gebrauchen.«
Keine Antwort.
Er wandte sich wieder Greta zu. Er durchsuchte ihre Taschen, fand aber nichts, womit er sich durch massives Metall hätte hindurcharbeiten können. Er versuchte, sie bequemer zu betten. Er legte ihre Füße hoch, rieb ihre gefesselten Handgelenke, massierte ihr die Schläfen.
Nach einer halben Stunde begann sie zu stöhnen und kam zu sich.
»Mir ist so schwindelig«, krächzte sie.
»Ich weiß.«
Sie regte sich. Sirrend spannte sich die Plastikfessel.
»Wir wurden gekidnapped. Das ist eine Entführung.«
»Oh. Verstehe. Jetzt erinnere ich mich wieder.« Greta orientierte sich allmählich. »Man hat mir gesagt, du hättest dich verletzt und ich sollte zu dir ins Hotel kommen. Und als ich die Kuppel verlassen hatte, da… haben sie mich einfach gepackt.«
»So ist es auch bei mir gelaufen«, meinte Oscar. »Sie haben uns wechselseitig als Köder benutzt. Ich hätte wohl wachsamer sein sollen. Aber warum? Wie, um Himmels willen, sollte man dann leben? So etwas kann man nicht vorausahnen. Eine Entführung ist vollkommen blödsinnig. Ein beschissenes Spiel.«
»Was werden sie mit uns machen?« fragte Greta.
Oscar bemühte sich, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu verleihen. Er hatte sich bereits aus der schwarzen Grube der Verzweiflung herausgearbeitet und wollte unbedingt vermeiden, dass Greta diese Erfahrung mit ihm teilte. »Das kann ich dir nicht sagen, weil ich nicht weiß, wer dahintersteckt. Aber sie haben uns nicht verletzt, und das bedeutet, sie haben noch etwas mit uns vor. Sie haben sich große Mühe gegeben, sich verkleidet, einen Wagen umgebaut und so weiter. Das sind andere Leute als die Verrückten, die es sonst immer auf mich abgesehen haben.« Er hob die Stimme. »Hey! Hallo! Würden Sie uns bitte sagen, was Sie von uns wollen?« Keine Antwort. Damit hatte er auch nicht gerechnet.
»Sie hören jedes Wort mit«, sagte er zu Greta. »Wir werden natürlich abgehört.«
»Können sie uns auch sehen? Es ist stockdunkel.«
»Ja, können sie. Ich glaube, die haben Infrarotkameras.«
Greta ließ das Gehörte einsinken. »Ich habe unheimlichen Durst«, meinte sie schließlich.
»Tut mir Leid.«
»Das ist Wahnsinn«, sagte sie. »Die werden uns umbringen, nicht wahr? Wir sitzen in der Patsche.«
»Greta, das ist reine Spekulation.«
»Das sind Gangster. Sie werden uns abknallen. Ich werde bald sterben.« Sie seufzte. »Ich habe mich immer gefragt, wie ich reagieren würde, wenn ich wüsste, dass ich sterben muss.«
»Tatsächlich?« meinte Oscar. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
»Wirklich nicht?« Sie regte sich. »Wie kommt das? Das ist doch eine interessante Frage. Ich hab mir immer vorgestellt, ich würde mich wie Evariste Galois verhalten. Die Mathematikerin, weißt du. Ich würde meine gewagtesten Spekulationen in mein Notizbuch eintragen und hoffen, dass sie eines Tages jemand versteht… Weißt du, wenn man das Problem durchdenkt, gibt es eine naheliegende Schlussfolgerung. Der Tod ist universell, aber den Zeitpunkt seines Todes zu kennen, ist ein unglaubliches Privileg. Und da man ihn wahrscheinlich nie erfahren wird, sollte man sich irgendwann mal ein paar Stunden Zeit nehmen und sein Testament machen. Findest du nicht? Das ist nach Maßgabe der Dinge die rationale Schlussfolgerung. Ich hab es wirklich mal getan – im Alter von elf Jahren.« Sie schöpfte Atem. »Seitdem leider nicht mehr.«
»Das ist schade.« Greta war offenbar völlig verängstigt. Sie plapperte unkontrolliert drauflos. Seine eigene Angst hatte sich vollständig verflüchtigt. Er war erfüllt von Beschützerinstinkt. Er fühlte sich beschwingt, nahezu trunken. Er würde alles tun, um sie zu retten.
»Aber ich bin nicht mehr elf. Jetzt weiß ich, was Erwachsene in dieser Lage tun. Mit großen Ideen hat das nichts zu tun. Man will nur eines, nämlich Sex.«
Diese Bemerkung traf Oscar unvorbereitet, hatte aber die Wirkung eines Streichholzes, das man an ein ölgetränktes Tuch hält. Die zugrundeliegende Wahrheit war so zwingend, dass ihm keine Entgegnung einfiel. Er wurde von so heftiger Angst und Erregung überschwemmt, dass es ihm beinahe das Hirn spaltete. Ihm klingelten die Ohren, und seine Hände begannen zu jucken.
»Und wenn ich gegenwärtig nicht gefesselt wäre…« flüsterte sie leidenschaftlich.
»Eigentlich«, wisperte er, »macht mir das nicht viel aus…«
Der Lautsprecher schaltete sich knackend ein. »Okay. Hören Sie auf der Stelle damit auf. Schluss damit. Das ist wirklich abstoßend.«
»Hey!« mischte sich eine männliche Stimme ein. »Lass sie doch.«
»Bist du verrückt?« entgegnete Willis.
»Mädchen, du warst nie im Krieg. Das ist die Nacht, bevor man getötet wird – Teufel noch mal, da hat man’s nötig. Da bespringt man alles, was einen Rock trägt.«
»Ha!« rief Oscar. »Das gefällt Ihnen nicht? Dann kommen Sie nach hinten und hindern Sie uns daran.«
»Lassen Sie’s nicht drauf ankommen.«
»Was können Sie uns schon anhaben? Wir haben nichts mehr zu verlieren. Sie wissen, dass wir ein Paar sind. Klar, das ist unser großes Geheimnis, aber wir haben nichts mehr zu verstecken. Sie sind nichts weiter als Voyeure. Sie bedeuten uns nichts. Zum Teufel mit Ihnen! Wir können tun, was wir wollen.«
Greta lachte. »So hab ich’s noch nicht betrachtet«, sagte sie impulsiv. »Aber es stimmt. Wir zwingen sie nicht zum Zuschauen. Sie können gar nicht anders.«
»Scheiße, ich will ihnen zuschauen«, sagte der männliche Entführer. »Die Einstellung gefällt mir! Ich stell ihnen extra Musik an.« Ein Radio wurde eingeschaltet. Es lief gerade ein flotter Cajun-Twostep.
»Nimm die Finger weg!« kommandierte Willis.
»Sei still! Ich kann zuschauen und gleichzeitig fahren.«
»Ich setz die beiden unter Gas.«
»Bist du denn wahnsinnig? Tu’s nicht. Hey!«
Der Wagen geriet heftig ins Schlingern. Matsch spritzte gegen die Kotflügel, und das überladene Fahrzeug kam von der Fahrbahn ab und drehte sich halb. Oscar prallte schmerzhaft gegen die Trennwand. Der Wagen kam zum Stehen.
»Jetzt hast du’s geschafft«, sagte Willis.
»Werd nicht hysterisch«, knurrte der Mann. »Wir werden schon rechtzeitig da sein.«
»Nicht, wenn gerade die Achse gebrochen ist, du elender Lüstling.«
»Hör auf rumzunerven, lass mich nachdenken. Ich seh mal nach.« Eine Wagentür öffnete sich quietschend.
»Ich habe mir den Arm gebrochen!« schrie Oscar. »Ich verblute!«
»Würden Sie bitte aufhören, so gottverdammt clever zu sein?« brüllte Willis. »Herrgott noch mal, sind Sie eine Nervensäge! Wieso machen Sie’s uns nicht allen leichter? Das hätte nicht sein müssen! Halten Sie den Mund und schlafen sie.« Es ertönte das bösartige Zischen von Gas.
Oscar erwachte im Dunkeln vom lauten Geräusch berstenden Metalls. Er lag auf dem Rücken, und auf seiner Brust lastete ein schweres Gewicht. Es war bedrückend heiß, und er hatte den Geschmack von Aluminiumpulver im Mund.
Es ertönte ein durchdringendes Kreischen und dann ein dumpfes Ploppen. Ein messerscharfer Keil Sonnenlicht fiel auf Oscar. Er stellte fest, dass er auf dem Boden eines riesigen Sarges lag, mit Greta lang hingestreckt auf seiner Brust. Er bewegte sich, schob mühsam ihre Beine beiseite, was einen stechenden Schmerz hinter den Augäpfeln zur Folge hatte.
Nachdem er ein paarmal tief die frische Luft eingeatmet hatte, begriff Oscar, wo er sich befand. Sie lagen noch immer in der Ambulanz, das Fahrzeug war jedoch umgestürzt. Jetzt lag er flach auf der schmalen Seitenwand. Greta hing über ihm, noch immer mit den Händen an die Holme der Trage gefesselt, die nun Teil der Decke waren.
Weitere dumpfe Schläge und das Kreischen von Metall. Auf einmal sprangen die Hintertüren auf und fielen auf den Boden.
Ein junger Mann in Overalls und mit Bürstenschnitt schaute herein, in der Hand eine Brechstange. »Hey«, sagte er. »Sie leben ja!«
»Ja. Wer sind Sie?«
»Hey, niemand! Ich meine… äh… Dewey.«
Oscar setzte sich auf. »Was geht hier vor, Dewey?«
»Keine Ahnung, aber Sie hatten wirklich Glück, dass Sie da drinnen überlebt haben. Was ist mit der Lady? Ist sie okay?«
Greta hing schlaff an den Handgelenken, den Kopf zurückgeworfen, die Augen zeigten das Weiße. »Helfen Sie uns!« sagte Oscar hustend. »Helfen Sie uns, Dewey. Sie werden es nicht bereuen.«
»Klar«, sagte Dewey. »Ich meine, ganz wie Sie wollen. Kommen Sie raus!«
Oscar kroch aus dem Laderaum der Ambulanz hervor. Dewey packte ihn beim Arm und half ihm auf die Beine. Oscar verspürte jähen Schwindel, dann aber pumpte das Herz Adrenalin durch seinen Körper. Die Welt wurde wieder schmerzhaft klar.
Der demolierte Krankenwagen lag auf einer unbefestigten Straße, gleich neben einem sumpfigen, träge dahinfließenden Fluss. Es war früher Morgen, kalt und dunstig.
Es stank nach verbranntem Polster. Der Wagen war von einem Explosivgeschoss getroffen worden – vielleicht von einer Granate. Die Wucht der Explosion hatte ihn von der Straße geschleudert, worauf er seitlich im roten texanischen Schlamm gelandet war. Der Motor war eine schwarze Masse aus zerfetztem Metall und geschmolzenem Plastik. Die Fahrerkabine war in zwei Teile zerlegt, sodass man die dicke, eingedellte Panzerung der Gefangenenzelle sah.
»Was ist passiert?« fragte Oscar.
Dewey zuckte fröhlich die Achseln. Seine Augen strahlten. »Hey, Mister – sagen Sie’s mir! Da hat heute Nacht offenbar jemand einen Volltreffer gelandet. Mehr kann ich nicht sagen, schätze ich.« Dewey war noch sehr jung, vielleicht siebzehn. Er hatte sich eine einschüssige Flinte auf den Rücken geschnallt. In der Nähe stand ein uralter, verrosteter Pickup mit texanischem Nummernschild. Auf der Ladefläche lag ein kaputtes Motorrad.
»Ist das Ihr Wagen?« fragte Oscar.
»Ja!«
»Haben Sie eine Werkzeugkiste dabei? Irgendwas, womit man Handfesseln durchschneiden kann?«
»Ich hab eine Motorsäge dabei. Bolzenschneider. Eine Abschleppkette. Hey, auf der Farm hat mein Dad sogar ein Schweißgerät!«
»Sie sind ein tüchtiger Bursche, Dewey. Ich würde mir Ihr Werkzeug gern einen Moment leihen, um meine Freundin loszuschneiden.«
Dewey blickte ihn verwirrt und besorgt an. »Sind Sie sicher, Mister, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist? Sie bluten ganz schön aus dem Ohr.«
Oscar hustete. »Ein Schluck Wasser. Der wäre jetzt gut.« Er fasste sich an die Wange, berührte eine klebrige Masse aus geronnenem Blut und sah zum Ufer. Es müsste wundervoll sein, den Kopf in kaltes Wasser zu stecken. Das war eine hervorragende Idee. Es war unbedingt notwendig, das Vorhaben hatte allerhöchste Priorität.
Er stolperte durch dichtes braunes Schilf, sank bis zum Knöchel in kalten Schlamm ein. Er fand eine freie Stelle in dem mit Algenschaum bedeckten Wasser und schöpfte sich Wasser über den Kopf. Blut floss aus seinem Haar hervor. Über dem rechten Ohr hatte er eine große, klaffende Platzwunde, die sich mit brennendem Schmerz und Übelkeit erregendem Pochen bemerkbar machte. Er riskierte es, ein paar Schluck vom Flusswasser zu trinken, und blieb vorgebeugt hocken, bis der Schock nachließ. Dann richtete er sich auf.
In zwanzig Metern Entfernung machte er ein zweites Autowrack aus, das im Fluss langsam auf und nieder stieg. Zunächst meinte Oscar, es handele sich um einen halb untergetauchten Tankwagen, doch dann stellte es sich zu seiner Überraschung als kleines U-Boot heraus. Das schwarze Unterwasserfahrzeug war vom Bug bis zum Heck mit daumengroßen Einschusslöchern übersät. Es war im Schlamm gestrandet und von einem sich ausbreitenden schillernden Ölfilm umgeben.
Bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt, kletterte Oscar die Uferböschung hoch. Als er sich der Ambulanz näherte, bemerkte er, dass viele Glasscherben der explodierten Windschutzscheibe blutverschmiert waren. Kein Mensch war zu sehen. Der regenfeuchte Feldweg war von zahlreichen Motorradspuren durchfurcht.
Plötzlich war aus dem Innern der zerstörten Ambulanz das gedämpfte Knattern von Deweys Motorsäge zu vernehmen. Oscar stapfte zum Heck und blickte hinein. Dewey hatte es aufgegeben, die Handfesseln durchtrennen zu wollen, und sägte stattdessen das angenietete Standbein der Trage durch. Er bog den Metallrahmen und schob die Handschellen durch die Lücke.
Oscar half ihm, Greta ins Freie zu schaffen. Ihre Hände waren bläulich und die Handgelenke aufgeschürft, doch sie atmete noch kräftig.
Sie war zweimal mit Gas betäubt worden und hatte einen Autounfall und ein Feuergefecht überlebt. Dann war sie in einer verschlossenen, gepanzerten Zelle eingesperrt gewesen. Greta musste dringend ins Krankenhaus. In ein hübsches, sicheres Krankenhaus. Ein Krankenhaus war für sie beide eine gute Idee.
»Dewey, wie weit ist es von hier bis nach Buna?«
»Nach Buna? Luftlinie etwa dreißig Meilen«, antwortete Dewey.
»Ich gebe Ihnen dreihundert Dollar, wenn Sie mich auf der Stelle nach Buna bringen.«
Dewey musste nicht lange überlegen. »Steigen Sie ein«, sagte er.
So weit von Buna entfernt fand Oscars Handy keine Relaisstation. An einem Lebensmittelladen im Dörfchen Calvary hielten sie an, und Oscar kaufte Verbandszeug und probierte ein Münztelefon aus, kam allerdings nicht bis zum Labor durch. Nicht einmal das Hotel in Buna konnte er erreichen. Mittels behutsamer Schläfenmassage und einer Büchse Mineralwasser gelang es ihm, Greta wieder aufzuwecken, doch sie hatte Kopfschmerzen, und ihr war übel. Sie musste ganz still liegen, und dafür kam nur die Ladefläche von Deweys Pickup infrage, auf der bereits das geborgene Motorradwrack untergebracht war.
In angespanntem Schweigen glitt Meile um Meile vorbei. Die verschlafene Landschaft des texanischen Ostens hatte er noch nie gemocht. Pinien, Sumpfland, kleine Flüsse, noch mehr Pinien, noch mehr Sumpfland, ein weiteres Flüsschen; hier war nie etwas passiert, und es würde auch nichts passieren. Gleichwohl war nun doch etwas Bedeutsames geschehen. Nun knisterte die ländliche Ödnis vor lautloser Bedrohung.
Vier Meilen vor Buna begegnete ihnen ein verrosteter Mietwagen. Der Wagen raste an ihnen vorbei. Dann hielt er mit quietschenden Bremsen, wendete und schloss wild hupend zu ihnen auf.
Dewey, der die ganze Zeit über an einer steinharten Stange Zuckerrohr gekaut hatte, hielt mit Kauen inne und spuckte gelbe Fasern durchs Ausstellfenster. »Kennen Sie den Kerl?« fragte er.
»Funktioniert die Flinte?« entgegnete Oscar.
»Mann, klar funktioniert die Flinte, aber für dreihundert Dollar knall ich niemanden ab.«
Der Verfolger streckte den Kopf aus dem Fenster und winkte. Es war Kevin Hamilton.
»Halten Sie«, sagte Oscar. »Der gehört zu mir.«
Oscar stieg aus. Er sah kurz nach Greta, die zusammengekrümmt auf der Ladefläche lag und gegen die Übelkeit ankämpfte. Dann ging er zu Kevin hinüber, der die Wagentür geöffnet hatte und heftig winkte.
»Fahren Sie nicht nach Buna rein!« rief ihm Kevin entgegen. »Da ist die Hölle los.«
»Schön, Sie zu sehen, Kevin. Können Sie mir helfen, Greta zu holen? Sie liegt auf der Ladefläche. Sie ist schwer angeschlagen.«
»Ist gut«, sagte Kevin. Er warf einen Blick zum Pickup. Dewey war soeben ausgestiegen, die Flinte hatte er sich unter den Arm geklemmt. Kevin langte unter den Fahrersitz und holte einen riesigen verchromten Revolver hervor.
»Ruhig Blut!« meinte Oscar. »Der Bursche steht auf meiner Gehaltsliste.« Er blickte bestürzt auf die Schusswaffe. Er hätte nie gedacht, dass Kevin dergleichen besaß. Der Besitz von Schusswaffen war streng verboten und machte nur Ärger.
Kevin packte die Waffe wortlos wieder weg, dann stieg er unbeholfen aus. Sie hoben Greta von der Ladefläche und legten sie auf den Rücksitz von Kevins schäbigem, übelriechendem Mietwagen. Dewey wartete geduldig neben seinem Pickup und kaute Zuckerrohr.
»Was soll die Waffe, Kevin? Wir haben auch so schon genug Probleme.«
»Ich bin auf der Flucht«, erklärte Kevin. »Im Labor hat eine Gegenrevolution stattgefunden – die wollen uns alle einsperren. Ich lasse mich doch nicht festnehmen, nein danke. Auf Ärger mit den Behörden kann ich wirklich verzichten.«
»Na schön, reden wir nicht mehr vom Revolver. Haben Sie Geld?«
»Ja, schon. Eine ganze Menge. Ich hab mir heute Morgen erlaubt, die Hotelkasse leerzuräumen.«
»Gut. Wären Sie so nett, dem Burschen dreihundert Dollar zu geben? Die hab ich ihm versprochen.«
»Klaro.« Kevin zog eine prallvolle Reisetasche hinter dem Fahrersitz hervor. Er blickte Greta an, die sich auf dem Rücksitz im vergeblichen Bemühen, eine bequemere Lage zu finden, hin und her wälzte. »Wo haben Sie denn Ihre Schuhe gelassen, Dr. Penninger?«
»Die sind im Pickup«, stöhnte Greta. Sie war sehr blass.
»Ich kümmere mich drum«, meinte Kevin. »Sie sind beide nicht auf dem Damm.« Kevin humpelte zum Pickup zurück, wechselte ein paar freundliche Worte mit Dewey und reichte ihm einen dicken Packen flabbriger Dollarnoten. Mit Gretas Schuhen kam er zurück, ließ den Motor an und fuhr los, weg von Buna. Dewey blieb am unkrautüberwucherten Straßenrand zurück, mit ungläubigem Grinsen in den Geldscheinen blätternd.
Kevin warf einen Blick auf den billigen chinesischen Navigationsbildschirm, der mit einem schwarzen Saugnapf am Armaturenbrett befestigt war. Dann kurbelte er feierlich das Fahrerfenster hinunter und warf Gretas Schuhe hinaus. »Ich glaube, es ist an der Zeit, zu erklären, wie ich Sie gefunden habe«, sagte Kevin. »Ich habe Ihre Schuhe verwanzt, Dr. Penninger.«
Oscar verarbeitete die Neuigkeit, dann sah er auf seine Füße hinunter. »Auch meine Schuhe?«
»Ja, die auch, aber bloß mit Kurzdistanzsendern. Ohne Audio-Übertragung.«
»Sie haben mir Abhörgeräte in die Schuhe eingebaut?« krächzte Greta.
»Ja. Nichts für ungut. Außerdem war ich nicht der einzige, der daran gedacht hat. In den Absätzen und Nähten Ihrer Schuhe waren sechs weitere Wanzen versteckt. Und zwar sehr hübsche Dinger – ich vermute, das haben Leute getan, die um einen viel größeren Einsatz spielen als ich. Ich hätte sie alle entfernen können, aber ich hab mir gedacht… hey, so viele? Da muss es sich um ein Gentlemen’s Agreement handeln. Da stelle ich mich besser hinten an.«
»Das kann ich einfach nicht glauben«, sagte Greta. »Ich dachte, wir stünden auf derselben Seite.«
»Reden Sie mit mir?« sagte Kevin und kniff die Augen zusammen. »Ich bin sein Bodyguard. Niemand hat jemals behauptet, ich wäre Ihr Bodyguard. Haben Sie mir schon mal Gehalt gezahlt? Haben Sie jemals mit mir geredet? In meinem Universum kommen Sie gar nicht vor.«
»Beruhigen Sie sich, Kevin«, sagte Oscar. Er klappte die Sonnenblende herunter, warf einen Blick in den geborstenen Spiegel und entfernte behutsam blutigen Schorf aus dem Haar. »Es ist gut, dass Sie unter diesen schwierigen Umständen so große Tatkraft bewiesen haben. Das war ein schwerer Tag für die Kräfte der Vernunft. Jedenfalls bieten sich uns jetzt vielfältige Möglichkeiten. Ihretwegen haben wir die taktische Initiative zurückerlangt.«
Kevin seufzte. »Unglaublich, was für eine Scheiße Sie da abspulen, obwohl Sie gerade eins auf den Kopf gekriegt haben. Wissen Sie was? Unsere Lage ist beschissen, aber ich find’s prima, wieder unterwegs zu sein. Da fühl ich mich zu Hause. Verstehen Sie? Ich bin mein ganzes Leben lang in kaputten Wagen vor den Cops geflüchtet. Das alte Spiel… Es gibt immer wieder Rückschläge, aber es ist immer noch besser, als wenn sie einen zu Hause besuchen würden.«
»Berichten Sie, was im Labor passiert ist«, sagte Oscar.
»Also, ich hatte ja die Videos der Überwachungskameras und merkte, dass Sie nicht ans Telefon gingen, und man hatte die Schuhe von Dr. Penninger verwanzt, da konnte ich mir denken, dass man Sie gekidnapped hatte. Also lass ich das Notebook stehen und gucke mal aus dem richtigen Fenster. Die Mannschaft des Sheriffs schleicht herum, um drei Uhr morgens. Gar nicht gut… Zeit für Plan B, den diskreten, kontrollierten Rückzug.«
»Und da haben Sie das Hotel ausgeraubt und sind geflüchtet?« fragte Greta und hob den Kopf.
»Er hat Kapital akkumuliert, um seinen Handlungsspielraum zu erweitern«, erklärte Oscar.
»Das war in Anbetracht der Umstände das Beste, was ich tun konnte«, meinte Kevin düster. »Denn es sah ganz danach aus, als wollte man die Führungsmannschaft aus dem Weg schaffen. Das ist die klassische Geheimdienstvorgehensweise. Ein Stamm, der große Probleme macht – der muss einen charismatischen Anführer haben. Als vernünftiger, moderner Cop will man ein Straßenmassaker möglichst vermeiden – das ist altmodisch, das macht einen schlechten Eindruck. Also nimmt man den großen Boss aufs Korn. Man schaltet ihn aus, verleumdet ihn irgendwie… Kindesmissbrauch bietet sich da an oder Zugehörigkeit zu einem Satanskult… Irgendeine üble Nachrede, von der was hängenbleibt… und wenn’s eng wird, entführt man ihn halt. Und während sich die Leute aus der zweiten Reihe noch wundern, wo die Bienenkönigin wohl sein mag, treibt man sie in die Enge. Wenn Mr. Wonderful irgendwann zurückkehrt, ist der Schwung weg. Sie geben einfach auf und zerstreuen sich.«
»Das würden sie bei uns niemals wagen«, sagte Greta. »Wir sind schließlich kein Mob, sondern Wissenschaftler.«
Kevin lachte. »Man spricht bereits über Sie beide. Das ist ein ausgewachsener Skandal. Sie sind gestern Nacht gemeinsam durchgebrannt und haben vorher noch die Kassen des Labors geplündert. Schrecklich peinlich für Ihre Freunde. Während sich Ihre Mitarbeiter und das Streikkomitee noch am Kopf kratzen, machen die Laborcops gegen Sie Stimmung. Weil niemand die Geschichte abstreitet, die sie in Umlauf bringen. Weil Sie nicht da sind, um sie richtigzustellen.«
»Also, das werde ich jetzt tun!« sagte Greta und stemmte sich mit gefesselten Händen hoch. »Ich gehe ins Labor und stelle mich vor sie hin.«
»Immer mit der Ruhe«, meinte Oscar. »Alles zu seiner Zeit.«
»Da befand ich mich also in einer üblen Lage«, fuhr Kevin fort. »Ich überlegte, wer wohl die Frechheit und den Mumm haben mochte, zwei so berühmte Leute zu kidnappen. Und dann diese vernichtenden Verleumdungen zu verbreiten…«
»Huey«, sagte Oscar.
»Wer sonst? Dann hab ich’s also jetzt mit Green Huey zu tun, weiter nichts, ja? Und wer soll mich gegen Huey unterstützen? Die Laborcops? Die stecken seit jeher mit Huey unter einer Decke. Die Polizei von Buna? Die kann man vergessen, die sind zu dämlich. Oder vielleicht die Texas Ranger? Die Ranger muss man ernst nehmen, aber sie würden mir nicht glauben, ich bin kein Texaner. Dann fiel mir Senator Bambakias ein – der Bursche ist vermutlich in Ordnung und mittlerweile ein ordentlich vereidigter Senator, aber leider momentan nicht ganz zurechnungsfähig. Also sacke ich die Chips ein und mache mich auf den Weg ins sonnige Mexiko. Aber bevor ich aufbreche, denke ich mir – was, zum Teufel, habe ich eigentlich zu verlieren? Ich werd den Präsidenten anrufen.«
»Den Präsidenten der Vereinigten Staaten?« fragte Greta.
»Ja, den. Und das hab ich auch getan.«
Oscar ließ sich das durch den Kopf gehen. »Wann haben Sie diesen Entschluss gefasst?«
»Ich habe heute Morgen um vier im Weißen Haus angerufen.«
Oscar nickte. »Hmmm. Ich verstehe.«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Sie hätten den Präsidenten persönlich gesprochen,« sagte Greta.
»Natürlich habe ich nicht mit dem Präsidenten gesprochen! Um vier Uhr morgens schläft der Präsident! Ich kann Ihnen sagen, wer um vier Uhr morgens im Nationalen Sicherheitsrat am Schreibtisch sitzt. Und zwar dieser brandneue junge Militäradjutant aus Colorado. Er gehört der Übergangsmannschaft an. Es ist sein erster Arbeitstag. Er hat die zweite Nachtschicht bekommen. Er ist ziemlich nervös. Bis jetzt hat er noch nie was Bedeutsames erlebt. Er ist nicht sonderlich erfahren. Und es ist auch gar nicht so schwer, an ihn heranzukommen – zumal ich ihn auf zwanzig bis dreißig Leitungen gleichzeitig anrufe.«
»Und was haben Sie dem neuen Präsidentenberater gesagt?« half Oscar behutsam nach.
Kevin sah auf die Navigationskonsole und bog nach links ab, wo es tiefer in den Wald hineinging. »Also, ich hab ihm gesagt, der Gouverneur von Louisiana habe soeben die Direktorin eines staatlichen Laboratoriums gekidnapped. Ich musste die Geschichte ein bisschen ausschmücken, um ihn bei der Stange zu halten – Hueys Bande hält sie als Geisel fest, französische Agenten sind beteiligt, halt sowas, wissen Sie. Ich hab ihm ein paar saftige Details aufgetischt. Zum Glück war der Typ hinsichtlich des Luftwaffenproblems auf dem Laufenden. Wusste genau Bescheid über das Radarloch und so. Verstehen Sie, der Typ ist Lieutenant Colonel und kommt zufällig aus Colorado Springs, wo es diese große Militärakademie gibt. Scheint so, als sei man in Colorado ausgesprochen besorgt wegen der Air Force. Die hassen Huey bis aufs Blut, weil er die Luftwaffenleute wie Schwächlinge aussehen lässt.«
»Dann hat der Colonel Ihnen die Geschichte also abgekauft?« fragte Oscar.
»Mann, keine Ahnung. Aber er meinte, er würde die Aufzeichnungen der Überwachungssatelliten überprüfen, und wenn sie meine Story stützten, würde er den Präsidenten aufwecken.«
»Erstaunlich«, sagte Greta, unwillkürlich beeindruckt. »Wegen so einer Sache wurde der alte Bursche noch nie geweckt.«
Oscar schwieg. Er versuchte sich vorzustellen, was passierte, wenn das für die nationale Sicherheit verantwortliche Präsidententeam am ersten Arbeitstag morgens um vier den Alarmknopf drückte. Welch seltsame Wesenheiten mochten dann aus den Ritzen des amerikanischen militärischen Unterhaltungskomplexes zum Vorschein kommen? Es gab so viele Möglichkeiten: Amerikas alterndes, gewaltiges Repertoire an Delta-Forces, SWATs und SEALs, diese spezialbewaffneten, aus dem Orbit operierenden, antiterroristischen, Aufputschmittel schluckenden Macho-Superschläger… Nicht, dass diese merkwürdigen Leute in der modernen politischen Realität jemals zum Einsatz kommen würden. Die militärische Killerelite entstammte einer längst untergegangenen Epoche und erfüllte nur noch rein zeremonielle Funktion. Ihre Angehörigen joggten in den unterirdischen Geheimbasen umher, machten Kniebeugen und Liegestütze, lasen die schlechten historischen Technothriller und schauten zu, wie ihr Leben und ihre Karriere allmählich dahinrosteten…
Zumindest war das die weit verbreitete Ansicht. Ansichten aber konnten sich ändern. Und nach der Erfahrung dieser Nacht hatte er den Eindruck, in einer anderen Welt zu leben.
»Wenn ich mich nicht täusche«, sagte Oscar, »hatten unsere Entführer vergangene Nacht ein Rendezvous am Sabine River. Sie hatten vor, uns über die Staatsgrenze zu schmuggeln und an Hueys Miliz zu übergeben. Dann aber wurden sie im Dunkeln von einer US-Eingreiftruppe angegriffen. Von bewaffneten Luftlandetruppen, die Hueys Leute auf dem Boden überraschten und sie niedermachten.«
»Wie konnte es nur dazu kommen?« fragte Greta schockiert. »Sie hätten nichttödliche Waffen einsetzen und die Entführer festnehmen sollen.«
»Luftlandetruppen sind keine Polizisten. Das sind fanatische Spezialeinheiten, die richtige Waffen einsetzen! Und als sie das französische U-Boot entdeckten, packte sie wohl die Wut. Man muss sich nur mal in ihre Lage hineinversetzen. Wenn ein schwerbewaffnetes US-Helikopter-Team ein französisches U-Boot entdeckt, das heimlich einen amerikanischen Fluss hinauffährt… Wenn man erst einmal den Abzug durchgedrückt hat, kann man es nicht mit einem Warnschuss bewenden lassen.«
Greta legte die Stirn in Falten. »Hast du das U-Boot wirklich gesehen, Oscar?«
»Aber ja. Ich kann nicht beschwören, dass es französischer Herkunft war, aber eines von unseren war es jedenfalls nicht. Unsere U-Boote sind größer als ein Wohnblock. Außerdem fügt sich so alles zusammen. Die Franzosen haben einen Flugzeugträger vor der Küste. Über den Bayous kreisen Drohnen. Die Franzosen setzen seit jeher Taucher zur Aufklärung ein… Also war das ein hübsches kleines französisches U-Boot. Arme Kerle.«
»Wissen Sie was«, sagte Kevin nachdenklich, »normalerweise kann ich Law-and-Order-Themen nicht viel abgewinnen, aber ich glaube, dieser Two Feathers gefällt mir. Man braucht ihn einfach bloß anzurufen! Dann weckt man ihn um vier Uhr morgens auf, und bevor es hell wird, ist das Problem behoben! Der neue Präsident lässt nichts anbrennen. Sein Vorgänger hätte sowas niemals fertiggebracht. In Amerika tut sich was, nicht wahr? Die Exekutive handelt, so ist das! Er ist der Chef der Exekutive – und da exekutiert er sie einfach!«
»Ich glaube nicht, dass der Präsident für seinen ersten Tag im Amt einen Schusswechsel zwischen bundesstaatlichen und Unionstruppen im Sinn hatte«, sagte Oscar. »Diese Entwicklung ist der amerikanischen Demokratie nicht förderlich.«
»Also, jetzt kriegen Sie sich aber mal ein!« spottete Kevin. »Kidnapping ist Terrorismus! Terroristen darf man nicht mit Samthandschuhen anfassen – so wird man mit denen niemals fertig! Diese Banditen haben genau das bekommen, was sie verdient haben! Und im Labor sollten wir genauso vorgehen. Wir müssen dort mit eisernem Besen kehren…« Kevin schaute ausgesprochen finster drein und umklammerte in heftiger Erregung das Lenkrad. »Mann, das geht mir echt auf den Keks, wenn ich daran denke, wie sich diese Spielzeugbullen da drinnen anschicken, die Eierköpfe zu knacken. Und hier sitze ich – Kevin Hamilton, zweiunddreißig Jahre alt, wieder mal auf der Flucht. Wenn ich bloß, sagen wir, zwanzig stämmige Iren aus dem Süden hätte, bewaffnet mit Billardstöcken und Tischbeinen. Im ganzen Labor gibt es bloß zwölf lausige Cops. Seit zehn Jahren haben sie nichts weiter getan, als Telefonleitungen anzuzapfen und Schmiergelder einzusacken. Wir könnten diese Hurensöhne mit Leichtigkeit vermöbeln.«
»Das sind ja ganz neue Töne, Kevin«, bemerkte Oscar.
»Mann, ich hab schließlich nicht gewusst, dass man einfach so mit dem Präsidenten reden kann! Ich bin ein Prolo und ein Hacker und ein Telefonfreak, wissen Sie. Das gebe ich gerne zu. Aber in meinem Alter ist man es irgendwann leid, die Leute ständig zu überlisten! Man hat einfach keine Lust mehr, sich ständig zu verstecken. Wie komme ich denn dazu, in den Ritzen zwischen den Bodenbrettern herumzupulen? Ich sag Ihnen was, Dr. Penninger – wenn Sie mir die Verantwortung für Ihre Sicherheit übertragen, würde sich einiges ändern.«
»Heißt das, Sie möchten Sicherheitschef des Laboratoriums werden, Mr. Hamilton?«
»Nein, natürlich nicht, aber…« Kevin stockte überrascht. »Doch, ja! Ja, klar! Ich bin der Richtige für den verdammten Job! Geben Sie mir die Bullenmarke. Geben Sie mir das verdammte Polizeibudget. Geben Sie die ganzen Abzeichen und Gummiknüppel mir. Scheiße, ja, ich kann alles tun, was Sie wollen. Machen Sie mich zu einer bundesstaatlichen Behörde.«
»Tja«, sagte sie. »Ich leite das Labor, und ich liege hier mit gefesselten Händen auf dem Rücksitz. Ich wüsste nicht, wer außer Ihnen dafür infrage käme, mir zu helfen.«
»Ich würde es schaffen, Dr. Penninger, ich schwör’s. Wenn wir nicht nur zu dritt wären, könnte ich die ganze Anlage einnehmen. Aber wie die Dinge liegen…« Er zuckte die Achseln. »Also, ich schlage vor, wir fahren einfach in der Gegend rum und machen ein paar Anrufe.«
»Ich fahre niemals ziellos herum«, erwiderte Oscar.
»Dann machen Sie einen Vorschlag, Mann. Wo sollen wir hin?«
»Wo befindet sich das nächstgelegene Camp der Moderatoren?«