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Oscar arbeitete jetzt für den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Seine neue Position war ihm beim Umgang mit den zweitausend naiven Wissenschaftlern, die in einer abgeschlossenen Kuppel in Osttexas lebten, eine große Hilfe. Allerdings wurde Oscars Leben dadurch noch komplizierter.

Er fand rasch heraus, dass er in Wirklichkeit gar nicht der offizielle Wissenschaftsberater des Nationalen Sicherheitsrates war. Eine routinemäßige Sicherheitsüberprüfung hatte Oscars persönlichen Hintergrund zu Tage gefördert. Der war ein ernsthaftes Problem, denn normalerweise stellte der Präsident kein Produkt einer illegalen südamerikanischen Genfabrik ein. In Anbetracht der Umstände war dies ein bedenklicher Präzedenzfall.

Obwohl Oscar seinen Senatsposten bereits niedergelegt hatte, erhielt er somit keine offizielle Anstellung im Nationalen Sicherheitsrat. Er war lediglich ›informeller Berater‹. Er nahm keinen offiziellen Rang in der Regierung ein und bekam nicht einmal Gehalt ausgezahlt.

Entgegen der Zusicherung des Präsidenten trafen keine ›Elitetruppen‹ in Buna ein. Offenbar hatte der Präsident zwar die entsprechenden Anweisungen gegeben, die Armeeführung aber hatte sich aus personellen und finanziellen Gründen entschieden, den Einsatz auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Die ›personellen und finanziellen Probleme‹ klangen ganz plausibel – die waren in der Armee gang und gäbe –, doch die tiefer liegenden Gründe waren natürlich politischer Natur. Die US Army als Institution kämpfte nur ungern gegen amerikanische Zivilisten. Die US Army war an dem schrecklichen und geheimen Hubschraubereinsatz am Ufer des Sabine River nicht beteiligt gewesen. Die Army hatte keine Lust, sich wegen schießwütiger geheimer Eingreiftruppen in die Nesseln zu setzen.

Um den Anschein zu wahren, teilte man Oscar mit, in Kürze werde ein Lieutenant Colonel vom NSR mit einem Eliteteam von unauffälligen Marinefliegern eintreffen. Doch auch der Lieutenant Colonel ließ aufgrund unerwarteter außenpolitischer Entwicklungen auf sich warten.

Eine amerikanische Fast-Food-Kette hatte mehrere niederländische Bürger mit schlecht sterilisiertem Hamburgerfleisch vergiftet. Zur Vergeltung hatten aufgebrachte Niederländer mehrere Restaurants angegriffen und niedergebrannt. In Anbetracht der gespannten niederländisch-amerikanischen Beziehungen war dies ein ernsthafter Zwischenfall und nahezu ein Casus belli. Konfrontiert mit dieser außenpolitischen Krise, stieß der Präsident Drohungen aus und verlangte eine Entschädigung und offizielle Entschuldigungen. In Anbetracht der Umstände wollte die Regierung das Thema des militärischen Durcheinanders nicht weiter forcieren.

Dies alles war enttäuschend. Oscar ließ den Kopf trotzdem nicht hängen. Es fuchste ihn, dass man ihm ein offizielles Amt vorenthielt, wundern aber tat es ihn nicht. Er machte sich gewiss keine Illusionen und erwartete nicht, dass das Präsidialbüro besser funktionierte als irgendein anderer Bereich der gegenwärtigen Regierung. Außerdem hatte ein unklarer Status auch seine Vorteile. Trotz der Demütigung besaß Oscar nun weit mehr Macht als zuvor. Oscar war jetzt ein Geheimagent. Das war machbar.

Oscar gelang es in kurzer Zeit, bei den im Keller unter dem Oval Office wirkenden neuen Mächten an Einfluss zu gewinnen. Er studierte ihre Dossiers, prägte sich die Namen und Ablaufdiagramme ein und festigte seine Stellung, indem er bescheiden um kleine Gefallen bat. Es fiel nicht schwer, ihm diese kleinen Gefallen zu gewähren, doch er achtete darauf, dass eine Ablehnung einen Grabenkrieg bei der Belegschaft des Weißen Hauses ausgelöst hätte. Auf diese Weise setzte er seinen Willen durch.

Ein drängendes Problem löste er dadurch, dass er die Laborpolizei auflöste. Die Angehörigen der Polizeitruppe ließ er in einem ungekennzeichneten Frachthubschrauber aus Texas ausfliegen. Sie wurden einer staatlichen Ausbildungseinrichtung in Westvirginia überstellt. Die Laborpolizisten wurden nicht entlassen, geschweige denn, dass man sie wegen Amtsvergehen und Bestechlichkeit angeklagt hätte; ihr Budget allerdings wurde auf Null gesetzt, und das Personal verschwand einfach für immer im Labyrinth staatlicher Versetzungen.

Somit hatte das Labor kein Budget mehr, aus dem man eine Polizeitruppe hätte bezahlen können. Aber es war machbar. Schließlich verfügte das Labor über gar keine Geldmittel mehr. Alle arbeiteten ohne Bezahlung. Sie lebten vom Tauschhandel, vom Gartenbau, vom Verkauf überschüssiger Büroausrüstung und unterschiedlichen kleineren Nebenjobs.

Die folgenden Tage waren die intensivsten und produktivsten in Oscars ganzer politischer Laufbahn. Die Lage im Labor war ein einziges Durcheinander. Es hätte des Organisationsgeschicks eines Genies bedurft, daran etwas zu ändern. Oscar war kein Genie. Allerdings vermochte er mangelnde Genialität durch weniger Schlaf und größeren Arbeitseinsatz wettzumachen.

Die erste größere Herausforderung bestand darin, die Folgen der Invasion durch die Moderatoren abzumildern. Es galt, die Moderatoren davon abzuhalten, die Anlage zu beschädigen und zu plündern. Oscar bewerkstelligte dies dadurch, dass er den Moderatoren mitteilte, sie seien nun die Besitzer der Anlage. Zwar könnten sie vorsätzlich alles demolieren, doch dann würden die Lebenserhaltungssysteme zusammenbrechen, die Atmosphäre würde umkippen, und all die wertvollen seltenen Tiere würden sterben. Die Moderatoren würden wie alle anderen in einem unbewohnbaren Glasghetto ersticken. Wenn sie sich jedoch mit den Wissenschaftlern arrangierten, besäßen sie einen riesigen genetischen Garten Eden, in dem sie ohne Zelte im Freien leben könnten.

Oscars Argumente zeigten Wirkung. Natürlich kam es zu einigen hässlichen Zwischenfällen, das hieß, die Prolos grillten ein paar besonders schmackhafte Exemplare. Der abscheuliche Gestank aber machte deutlich, dass in der Kuppel offenes Feuer für alle abträglich war. Im Laufe der Zeit stabilisierte sich die Lage.

Ein neues Komitee wurde gebildet, das die Bedingungen der Koexistenz von Wissenschaftlern und Dropouts ausarbeiten sollte. Ihm gehörten Greta, die Verwaltungsratsmitglieder, Kevin, Oscar, hin und wieder Angehörige von Oscars Mannschaft in beratender Funktion sowie verschiedene Gurus, Häuptlinge und Spezis aus Burningboys Umgebung an. Dieses neue Verwaltungsorgan brauchte einen Namen. ›Streikkomitee‹ konnte man es nicht nennen, denn das gab es bereits. Alsbald setzte sich die Bezeichnung ›Notstandsausschuss‹ durch.

Oscar bedauerte die Namensgebung, denn er hatte einen Abscheu gegen sämtliche Notstandsausschüsse; allerdings hatte die Bezeichnung auch einen großen Vorteil. Man brauchte sie nicht jedermann erklären. Die amerikanische Bevölkerung war das Schauspiel der kollabierenden staatlichen Institutionen, an deren Stelle Notstandsausschüsse traten, bereits gewohnt. Dass nun auch das Labor von einem ›Notstandsausschuss‹ geleitet wurde, war leicht zu verstehen. Man konnte dies als Prestigegewinn verbuchen, ganz so, als sei das Laboratorium ebenso grandios gescheitert wie der Kongress.

Oscar stellte die Plakatkampagne ein. Der Streik war endgültig beendet, und die neue Verwaltung machte einen neuen grafischen Look und einen neuen Medienansatz erforderlich. Nach einem Brainstorming mit seiner Mannschaft beschloss Oscar, Lautsprecher einzusetzen. Die fortwährenden Beratungen des Notstandsausschusses sollten über ein halbes Dutzend Lautsprecher übertragen werden, platziert in verschiedenen öffentlichen Bereichen innerhalb der Kuppel.

Dies erwies sich als kluge Entscheidung. Die Lautsprecher wirkten ansprechend provisorisch, sozusagen basisnah. Die Menschen wechselten beiläufig in den Bereich der politischen Agitation über und verließen ihn ebenso gleitend wieder. Die veraltete Technik stellte eine beruhigende, periphere Medienumgebung her. Die Menschen wurden sich der andauernden Krise gerade in dem Maße bewusst, wie es ihrem Bedürfnis entsprach.

Dank der Lautsprecher hatten das Personal und die sich mit ihnen vermischenden Eindringlinge den gleichen Informationsstand. Zusätzlich wurden an einigen Stellen geschmackvolle blaue ›Seifenkisten‹ aus Plastik aufgestellt, improvisierte Rednertribünen, auf denen besonders närrische oder aufgebrachte Leute ihr Anliegen loswerden konnten. Dies diente nicht nur als Sicherheitsventil und der Sondierung der Stimmung, sondern ließ den zusammengewürfelten Notstandsausschuss zur Abwechslung einmal besonders reif und verantwortungsbewusst dastehen.

Die Medienkampagne diente auch dazu, das Image von Captain (Ex-General, Ex-Corporal) Burningboy aufzupolieren. In Person und über Video wirkte der Proloanführer ausgesprochen verrückt und asozial. Seine Stimme allerdings klang tief und väterlich. Über Lautsprecher strahlte Burningboy die wohlmeinende Jovialität eines brandschatzenden Nikolaus aus.

Es wäre falsch gewesen, hätte man die Moderatoren lediglich als gewalttätige Außenseiter betrachtet. Auf den Straßen Amerikas trieben sich zahllose verzweifelte Menschen herum, die Moderatoren aber waren kein Mob von Wanderarbeitern. Die Moderatoren waren nicht einmal mehr eine ›Bande‹ oder ein ›Stamm‹. Am ehesten konnte man sie als regierungsferne Netzwerkorganisation bezeichnen. Die Moderatoren kleideten sich wie Wilde und redeten auch so, doch es mangelte ihnen nicht an technischem Raffinement. Sie waren nach Gesetzen organisiert, welche denen der herkömmlichen amerikanischen Kultur diametral entgegengesetzt waren.

Die Herren der Konsumgesellschaft hätten sich nie träumen lassen, dass der Verbraucherschutz als politische Philosophie einmal ebenso ernste Instabilitäten zeitigen könnte wie der Kommunismus. Doch die Instabilitäten hatten zugenommen, das Land war auseinandergebrochen. Die Zivilgesellschaft verkümmerte im gnadenlosen Griff des Geldes. Als die letzten öffentlichen Räume privatisiert wurden, fiel der amerikanischen Kultur das Atmen immer schwerer. Die Menschen waren nicht nur pleite, sie wurden auch noch von der Werbung in den Wahnsinn getrieben und von Reklamefritzen, die vor der Privatsphäre nicht haltmachten, gnadenlos ausspioniert. Ein immer aggressiver vorgehender Ausspähapparat bewirkte, dass immer mehr Menschen ihre offizielle Identität einfach aufgaben.

Es machte keinen Spaß mehr, amerikanischer Bürger zu sein. Die Pleiten sprengten alle Rekorde und mündeten in eine Ausstiegsbewegung. Steuerhinterziehung wurde zum Volkssport. Das amerikanische Volk verweigerte sich einfach. Auf öffentlichen Versammlungen wurden Ausweise verbrannt und Geldkarten zerschnitten. Die Menschen lebten fortan auf der Straße. Die Prolos betrachteten sich als die einzigen freien Amerikaner.

Das Nomadendasein war einmal die Basis der menschlichen Existenz gewesen; die Sesshaftigkeit hatte eine zivilisatorische Neuerung dargestellt. Jetzt hatte der Fortschritt das Vorzeichen gewechselt. Die Nomaden waren eine Alternativgesellschaft für Menschen, die mit den alten politischen und ökonomischen Werten einfach nicht mehr zurechtkamen.

Das glaubte zumindest Oscar. Als reicher Bewohner von Neuengland hatte er bislang keinen Grund gehabt, sich mit den Prolos intensiver zu beschäftigen. Nur wenige von ihnen nahmen an den Wahlen teil. Doch er hatte keine Vorurteile gegen die Prolos als gesellschaftliche Gruppe. Sie erschienen ihm nicht fremdartiger als die Wissenschaftler. Mittlerweile war ihm klargeworden, dass die Prolos einen realen Machtfaktor darstellten, und seines Wissens hatte bislang nur ein amerikanischer Politiker versucht, sie für sich zu gewinnen und sie zu stärken. Dieser Politiker war Green Huey.

Nachdem er die Moderatoren befriedet hatte, machte Oscar sich daran, die Wissenschaftler des Labors mit deren Anwesenheit zu versöhnen. Sein Hauptargument war, dass es offenbar keine Alternative gab.

Die Wissenschaftler waren sich der Unterstützung der Regierung immer sicher gewesen; andere Verbündete hatten sie nicht gebraucht. Nun war Schluss mit der Großzügigkeit der Regierung. Das war schlimm, doch die zugrunde liegende Realität war viel, viel schlimmer. Die Finanzverwaltung des Labors war nach einem Virenangriff zusammengebrochen. Das Labor war nicht bloß pleite, seine Bewohner konnten nicht einmal feststellen, wie sehr sie pleite waren. Daher vermochten sie auch nicht die Bedingungen zu umreißen, die hätten Abhilfe schaffen können.

Die Nachricht, dass der Präsident von ihren Nöten Notiz nahm, hatte der Moral im Labor Aufwind gegeben. Der Präsident hatte der Direktorin sogar eine vorbereitete Rede übermittelt, die von Greta brav verlesen wurde. Ein Thema allerdings wurde in der Rede verräterischerweise ausgespart, nämlich das Geld. Die Presseerklärung war im Wesentlichen ein langer Lobgesang auf die Fähigkeiten des Präsidenten, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Die Finanzierung des Labors war nicht das Problem des Präsidenten. Der Kongress verwaltete die Finanzen, hatte es aber trotz aller Anstrengungen noch immer nicht geschafft, einen Haushalt zu verabschieden.

Für ein staatliches Forschungslabor war dies eine Katastrophe epischen Ausmaßes, für die Prolos allerdings ganz normal.

Daher – so erklärte Oscar vor dem Notstandsausschuss – sei dies eine Frage des Zusammenlebens. Und ein Zusammenleben sei machbar. Nachdem sie die Bindungen an die herkömmlichen Regeln der politischen Realität kühn gekappt hätten, könne die neue Mischbevölkerung des Labors in der Glaskuppel nun nach Belieben schalten und walten. Die Menschen hätten kein Geld, dafür aber Wärme, Strom, Luft, Nahrung und Obdach: sie könnten ihre Energien nun auf das Überleben verwenden. Sie könnten die Turbulenzen draußen aussitzen, und da sie sich auch der staatlichen Aufsicht entzogen hätten, könnten sie sich alle auf ihre Lieblingsprojekte konzentrieren. Endlich einmal hätten sie Zeit, ihre eigentliche Forschungsarbeit voranzubringen. Dies sei ein wesentlicher Fortschritt, die Bedingungen wären nahezu paradiesisch, und nun läge es ganz an ihnen. Sie müssten lediglich mit ihren eigenen Widersprüchen zurechtkommen.

Nach Oscars Vortrag herrschte langes Schweigen. Die Mitglieder des Notstandausschusses blickten ihn verwundert an. Im Moment waren Greta, ihr engster Vertrauter und Förderer Albert Gazzaniga, Oscar, Yosh Pelicanos, Captain Burningboy und ein weiterer Vertreter der Moderatoren anwesend – ein junger Mann namens Ombahway Tuddy Flagboy.

»Oscar, du erstaunst mich«, sagte Greta. »Du verstehst es, das Unglaubliche plausibel erscheinen zu lassen.«

»Was ist denn so unglaublich daran?«

»Alles. Das ist eine staatliche Einrichtung! Die Moderatoren sind hier gewaltsam eingedrungen. Sie halten die Anlage besetzt. Sie halten sich illegal hier auf. Darin dürfen wir sie nicht unterstützen! Wenn der Präsident Truppen schickt, werden wir alle der Kollaboration angeklagt. Man wird uns festnehmen und entlassen. Nein, schlimmer noch. Man wird uns liquidieren.«

»So etwas hat es in Louisiana noch nicht gegeben«, sagte Oscar. »Weshalb sollte es jetzt dazu kommen?«

Gazzaniga ergriff das Wort. »Weil der Kongress und die Notstandsausschüsse den Luftwaffenstützpunkt in Louisiana im Grunde nicht wollten. Er bedeutete ihnen nicht genug, um tätig zu werden.«

»Wir bedeuten ihnen auch nichts«, versicherte ihm Oscar. »Es stimmt, der Präsident hat Interesse bekundet, aber hey, das ist jetzt schon eine ganze Woche her. Eine Woche bedeutet bei einer militärischen Krise eine ganze Ewigkeit. Hier sind keine Unionstruppen. Weil es hier nicht um eine militärische Krise geht. Die militärische Krise des Präsidenten findet in den Niederlanden statt, nicht in Osttexas. Zu einem Zeitpunkt, da der kalte Krieg in einen heißen umzuschlagen droht, wird er im Inland keine Truppen entsenden. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Moderatoren unsere Truppen sind. Sie sind besser als die Unionstruppen. Richtige Soldaten können uns nicht ernähren.«

»Tausende nichtzahlende Gäste können wir uns nicht leisten«, wandte Pelicanos ein.

»Yosh, vergiss doch mal für einen Moment die roten Zahlen. Wir brauchen sie uns nicht ›zu leisten‹. Sie sind imstande, uns zu ernähren und zu kleiden, wir brauchen ihnen dafür bloß Unterschlupf und politische Rückendeckung zu gewähren. Das ist eben das Schöne am Notstand, verstehst du? Wir können auf unbestimmte Zeit so weitermachen! Das ist die Apotheose des Streiks. Während des Streiks haben wir uns alle geweigert, uns mit etwas anderem als Wissenschaft zu beschäftigen. Jetzt, da wir uns im Notstand befinden, können die Wissenschaftler ihre Arbeit fortführen, während die Moderatoren die Rolle der anteilnehmenden Zivilbevölkerung spielen und uns unterstützen. Alles andere ignorieren wir einfach! Alles, was uns in der Vergangenheit geärgert hat, verschwindet einfach von unserem Radarschirm. Die sinnlosen kommerziellen Auflagen, die Regierungsaufsicht und die windigen Vertragspartner… das fällt alles weg. Das hat keine Bedeutung mehr.«

»Aber Nomaden verstehen nichts von Wissenschaft«, sagte Gazzaniga. »Weshalb sollten sie Wissenschaftler unterstützen, wenn sie die Anlage ebensogut plündern und anschließend wieder verschwinden könnten?«

»Hey«, meinte Burningboy. »Ich versteh was von Wissenschaft, Mann! Wernher von Braun! Ein ausgezeichnetes Beispiel. Dr. von Braun hat aus ‘nem Haufen von menschlichem Ausschuss noch was gemacht, genau wie Sie! Die waren sowieso für Dachau bestimmt, da konnte er sie ebensogut V-2-Raketen zusammensetzen lassen.«

»Was redet der denn da?« fragte Gazzaniga. »Wieso muss der immer solches Zeug quatschen?«

»Darum geht’s doch bei der Wissenschaft!« sagte Burningboy. »Ich kann sie definieren. Bei der Wissenschaft geht es darum, eine mathematische Beziehung zwischen Phänomen A und Phänomen B herzustellen. War das so schwer? Glauben Sie wirklich, das wär zu hoch für mich? Ich werd Ihnen was sagen, das weit über Ihren Horizont hinausgeht – Überleben im Gefängnis. Ihr Sonnyboys würdet einen schmerzhaften Zusammenprall mit der Nichtquantenrealität erleben, wenn jemand euer Physikbuch mit einem selbstgebastelten Messer durchbohren würde.«

»Das funktioniert einfach nicht«, sagte Greta. »Wir sprechen nicht einmal dieselbe Sprache. Wir haben nichts gemeinsam.« Sie hob dramatisch die Hand. »Seht euch doch nur mal seinen Laptop an! Er besteht aus Stroh.«

»Warum bin ich der Einzige, der das Naheliegende erkennt?« fragte Oscar. »Die Gemeinsamkeiten springen doch ins Auge. Nehmen wir nur mal die Ausrüstung der Nomaden – die Mahlwerke für Blätter, die Fermenter und die katalytischen Cracker. Sie verwenden Biotechnik. Auch für Computernetzwerke. Sie leben von diesen Dingen, verdammt noch mal.«

Gretas Miene verhärtete sich. »Ja, aber… das ist alles unwissenschaftlich.«

»Aber sie leben doch genauso wie ihr – nämlich von ihrem Ruf. Wir haben es hier mit den beiden unkommerziellsten Gemeinschaften Amerikas zu tun. Beide Gemeinschaften gründen gleichermaßen auf Reputation, Respekt und Prestige.«

Gazzaniga runzelte die Stirn. »Was ist das hier, eine Soziologievorlesung? Soziologie ist keine exakte Wissenschaft.«

»Aber es ist wahr! Ein Wissenschaftler möchte der Meistzitierte sein und so viele Preise und Auszeichnungen wie möglich gewinnen. Während die Moderatoren wie unser Captain hier die Position eines Netzgurus anstreben. Außerdem haben Sie beide keine Ahnung, wie man sich kleidet! Dazu kommt, dass Sie sich beide hervorragend darauf verstehen, sich fortwährend als unverstandene Opfer hinzustellen, obwohl Sie für den Niedergang unserer Gesellschaft unmittelbare Verantwortung tragen. Sie jammern ständig darüber, dass niemand cool oder smart genug ist, Sie zu verstehen. Und Sie räumen beide Ihren Dreck nicht auf. Deshalb werden Sie von den Leuten, die das Land regieren, auch beide wie Kinder behandelt!«

Die anderen musterten ihn bestürzt.

»Ich sage bloß, was Sache ist«, beharrte Oscar und hob zornig die Stimme. »Ich schwadroniere nicht. Mein Weitblick geht Ihnen, die Sie in den Elfenbeinkellern Ihrer jeweiligen Subkultur eingesperrt sind, einfach ab. Es hat keinen Sinn, die Sache schönzureden. Sie befinden sich in einer Krise. Das ist der springende Punkt. Sie haben beide die Nabelschnur zum Rest der Gesellschaft durchtrennt. Sie müssen Ihre dummen Vorurteile überwinden und ein mächtiges Bündnis schmieden. Wenn Sie dazu in der Lage sind, gehört die Welt Ihnen!«

Oscar beugte sich vor. Die Inspiration flammte in ihm wie das Licht platonischer Erkenntnis. »Wir können den Notstand überstehen. Wir können ihn sogar meistern. Wir können wachsen. Wenn wir jetzt das Richtige tun, werden wir auch Erfolg haben!«

»Na schön«, sagte Greta. »Beruhige dich. Ich habe eine Frage. Das sind doch Nomaden, nicht wahr? Was passiert, wenn sie weiterwandern?«

»Sie glauben, wir würden weglaufen«, sagte Burningboy.

Greta sah ihn an, betrübt darüber, ihn gekränkt zu haben. »Sie laufen doch immer weg, oder nicht? Ich dachte, auf diese Weise überleben Sie.«

»Nein, Sie sind die Leute ohne Rückgrat!« rief Burningboy. »Sie gelten doch als die Intellektuellen! Sie sollten uns Visionen vermitteln! Sie sollten den Menschen eine Ahnung der Wahrheit vermitteln, etwas, zu dem sie aufschauen können, zur Macht, zum Wissen, zur höheren Wirklichkeit. Aber was macht Ihr stattdessen? Ihr seid keine Titanen des Geistes. Ihr seid ein Haufen Verrückter, die in komischen Klamotten rumlaufen, die Eure Mama Euch gekauft hat. Ihr seid auch nichts weiter als wehleidige Speichellecker, die nach Almosen der Regierung lechzen. Ihr beklagt Euch, wir schmutzigen Halunken könnten Euch nicht angemessen würdigen – was habt Ihr in letzter Zeit eigentlich für uns getan? Was erwartet Ihr vom Leben, außer im Labor rumzuhängen und auf uns herabzusehen? Hört endlich auf, Euch zu bemitleiden – tut etwas Großes, ihr Nieten! Riskiert etwas, um Himmels willen. Bewirkt etwas!«

»Der spinnt«, sagte Gazzaniga, die Augen ganz groß vor Verwunderung. »Der Mann hat einfach keine Ahnung vom wirklichen Leben.«

Flagboys Handy läutete. Er sprach kurz hinein, dann reichte er das Telefon seinem Anführer.

Burningboy lauschte. »Ich muss los«, sagte er unvermittelt. »Es gibt eine neue Entwicklung. Die Jungs haben einen Gefangenen gemacht.«

»Was?« sagte Kevin. Als neuer Polizeichef reagierte er sogleich mit Misstrauen. »Wir haben uns doch darauf geeinigt, dass Sie nicht befugt sind, jemanden festzunehmen.«

Burningboy rümpfte seine große, fleischige Nase. »Man hat ihn im Wald östlich der Stadt aufgegriffen, Mr. Polizeichef, Sir. Mehrere Kilometer außerhalb Ihres Einflussbereichs.«

»Dann handelt es sich um einen Regulator«, meinte Oscar. »Um einen Spion.«

Burningboy sammelte seine Notizen und seinen Laptop ein und nickte widerwillig. »Ja.«

»Was werden Sie mit dem Gefangenen anfangen?«

Burningboy machte ein grimmiges Gesicht und zuckte die Achseln.

»Ich glaube, der Ausschuss sollte mit dem Gefangenen sprechen«, sagte Oscar.

»Oscar hat Recht«, erklärte Kevin. »Burningboy, ich kann nicht dulden, dass Sie in dieser Einrichtung aus eigenem Ermessen Verdächtige vernehmen. Wir werden ihn selbst vernehmen!«

»Was ist das hier, etwa ein geheimer Gerichtshof?« meinte Gazzaniga voller Abscheu. »Wir können doch nicht anfangen, Leute zu verhören!«

Kevin schnaubte. »Okay, gut! Albert, Sie sind entschuldigt. Kaufen Sie sich draußen ein Eis. In der Zwischenzeit werden die Erwachsenen sich mit dem Terroristen befassen.«

Greta verkündete eine fünfminütige Pause. Alarmiert von der Liveübertragung per Lautsprecher tauchten noch mehr Ausschussangehörige auf. Die Pause währte eine halbe Stunde. Die Präsentation der Habseligkeiten des Gefangenen trug sehr zur Belebung der Versammlung bei.

Der festgenommene Regulator hatte sich als Wilddieb verkleidet. Er hatte eine Armbrust aus Verbundmaterialien dabei, die Wilhelm Tell in Erstaunen versetzt hätte. Die Graphitpfeile waren mit selbstlenkenden gyroskopischen Federn und einem GPS-Ortungssystem ausgestattet. Der Kundschafter war zudem mit Steigeisen und Klettergürtel ausgerüstet, ideal für Spähaktionen aus Baumwipfeln hervor. Außerdem hatte er ein Keramikmesser dabei gehabt.

Bei einem gewöhnlichen Jäger wären diese tödlichen Gerätschaften nicht weiter aufgefallen, doch die weiteren Indizien sprachen gegen ihn: ein Hammer und Baumspikes. Baumspikes, die Sägeblätter zu beschädigen vermochten, waren bei radikalen Grünen weit verbreitet; diese Spikes aber waren mit Audiowanzen und Handy-Relais ausgestattet. Man hämmerte sie in die Baumrinde, wo sie dann Telefongespräche aufnahmen und weiterleiteten. Sie waren mit kleinen Poren ausgestattet und luden ihre Batterien mit dem Baumsaft auf.

Die Geräte wurden von Hand zu Hand weitergereicht und eingehend untersucht, ganz so, als habe man es jeden Tag mit gefangenen Saboteuren zu tun. Gazzaniga zückte ein Multifunktionswerkzeug und öffnete eines der Steigeisen. »Nanu«, sagte er. »Das Ding ist mit einer Mitochondrienbatterie ausgestattet.«

»Mitochondrienbatterien gibt es nicht«, wandte der neue Leiter der Geräteabteilung ein. »Nicht einmal wir verfügen über Mitochondrienbatterien, und wir haben sie schließlich erfunden.«

»Dann erklär mir mal jemand, wie man mit feuchter Gelatine ein Telefon betreiben soll«, meinte Gazzaniga. »Wissen Sie was? Die Spikes erinnern mich an die Geräte, mit denen wir Pflanzen überwachen.«

»Das wurde alles hier erfunden«, sagte Oscar. »Das ist Laboratoriumsausrüstung. Sie haben sie bloß noch nicht zweckentfremdet erlebt.«

Gazzaniga legte den Spike weg. Dann nahm er ein eingedelltes Blechei in die Hand. »Das Ding hier – also, sowas verbindet man mit dem Begriff Nomadentechnik. Schrottmetall, alles zusammengestoppelt, offenbar selbstgemacht… Aber wozu ist das gut?« Er schüttelte das Ei dicht an seinem Ohr. »Es klappert.«

»Das ist eine Pinkelbombe«, erklärte Burningboy.

»Eine was?«

»Sehen Sie die Löcher? Das ist der Timer. Da sind genetisch veränderte Maiskörner drin. Wenn sie mit warmem Wasser in Berührung kommen, schwellen die Samenkörner an. Sie zerstören eine Membran, und dann zündet der Brandsatz.«

Oscar besah sich eine der Brandbomben. Sie war von Hand gefertigt, mithilfe einer Lochstanze, einer Finne und eines großen Vorrats an Hass. Die Bombe war ein strohdummer Brandsatz ohne bewegliche Teile, reichte aber sicherlich aus, ein zerstörerisches Feuer zu entfachen. Die genmanipulierten Maiskörner waren spottbillig und passten ins Bild. Mais war so uniform in seinen Eigenschaften, dass man ihn sogar zur Zeitmessung einsetzen konnte. Es war eine ausgesprochen bösartige Vorrichtung. Als Produkt der Militärtechnik war sie schon schlimm genug. Als Produkt simpler Handwerkskunst war die Pinkelbombe erstaunlich effektiv. Oscar spürte die Verachtung und den Hass, die von ihr ausstrahlten.

Der mit Handschellen gefesselte Gefangene traf ein, eskortiert von vier Moderatoren. Der Mann trug einen langen Jagdanzug mit grau-braunem Tarnmuster und einen spitzen Hut. An seinen Schnürstiefeln klebte roter Dreck. Er hatte eine dicke Nase, große, behaarte Ohren, buschige Brauen, funkelnde schwarze Augen. Er war ein stämmiger, schwerer Mann in den Dreißigern mit schwieligen Pranken. Am unrasierten Kinn hatte er eine geschwollene Schramme und am Hals einen blauen Fleck.

»Was ist passiert?« fragte Greta. »Weshalb ist er verletzt?«

»Er ist vom Rad gefallen«, antwortete Burningboy knapp.

Der Gefangene schwieg. Allen Anwesenden war klar, dass er nichts sagen würde. Er stand unerschütterlich inmitten des Versammlungsraums, roch nach Rauch und Schweiß und strahlte tiefe Verachtung aus. Oscar musterte den Regulator mit professionellem Interesse. Dieser Mann war hier erstaunlich fehl am Platz. Es war, als habe man einen steinharten Zypressenstamm aus einem abgelegenen, von Fledermäusen bewohnten Sumpf gezogen und vor ihnen auf den Teppich gelegt.

»Du hältst dich also für einen harten Burschen, was?« fragte Kevin mit schriller Stimme.

Der Regulator übersah ihn geflissentlich.

»Wir werden dich schon zum Reden bringen«, knurrte Kevin. »Warte nur, bis ich meine Anarchie-Files lade, da steht drin, wie man jemanden verhört! Wir werden grässliche Dinge mit dir anstellen! Mit Draht und Streichhölzern und so.«

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Oscar höflich. »Sprechen Sie englisch? Parlez-vous français?«

Keine Reaktion.

»Wir werden Sie nicht foltern. Wir sind zivilisierte Menschen. Wir möchten bloß erfahren, was Sie mit diesen Überwachungsgeräten und Brandbomben vorhatten. Wir lassen gern mit uns reden. Wenn Sie uns sagen, was Sie vorhatten und wer Sie dazu beauftragt hat, lassen wir Sie gehen.«

Keine Antwort.

»Sir, ich sehe, dass Sie loyal zu Ihrer Sache stehen, aber Sie sind unser Gefangener, verstehen Sie. Unter diesen Umständen sollten Sie Ihr Schweigen brechen. Es ist moralisch vertretbar, dass Sie uns Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und Ihre Netzwerkadresse nennen. In diesem Fall könnten wir Ihren Freunden – Ihrer Frau, Ihren Kindern – mitteilen, dass Sie am Leben und in Sicherheit sind.«

Keine Antwort. Oscar seufzte. »Na schön, Sie wollen nicht reden. Wie ich sehe, ermüde ich Sie. Wenn Sie also wenigstens kundtun würden, dass Sie nicht taub sind…«

Die buschigen Brauen des Regulators zuckten. Er blickte Oscar an, fixierte ihn, als wollte er ihm einen tödlichen Bogenschuss in die Nieren verpassen. Dann sagte er: »Nette Armbanduhr, sehr hübsch.«

»Okay«, sagte Oscar. »Ich schlage vor, dass wir unseren Freund in das Spin-off-Gebäude schaffen, zu Hueys übrigen Kumpanen. Ich bin sicher, sie haben sich eine Menge zu erzählen.«

Gazzaniga war empört. »Was! Wir können den Kerl nicht zu diesen Leuten bringen! Er ist hochgefährlich! Das ist ein bösartiger Nomade!«

Oscar lächelte. »Na und? Hier gibt es Hunderte bösartiger Nomaden. Es hat keinen Sinn, mit ihm zu reden. Vergessen wir ihn einfach. Wir brauchen ihn nicht. Wir müssen uns bloß ernsthaft mit unseren eigenen Nomaden unterhalten. Die wissen alles, was er weiß, und noch viel mehr. Außerdem wollen uns unsere Freunde wirklich helfen. Können wir uns jetzt wieder beruhigen und zur Tagesordnung übergehen? Jungs, führt den Gefangenen weg.«


Im Anschluss an diesen Vorfall gerieten die Notstandsberatungen in ruhigeres Fahrwasser: es ging um Arbeitsmaterialien und Geräte. Auf diesem Gebiet hatten Nomaden und Wissenschaftler eine Menge Gemeinsamkeiten. Besonders zwingend war das Bedürfnis zu essen. Burningboy stellte drei seiner technischen Experten vor. Greta stellte ihre besten Biotechleute ab. Die Gespräche dauerten bis in die Nacht hinein.

Oscar verabschiedete sich, zog neue Sachen an für den Fall, dass er verwanzt war, und ging dann in den Park, um sich ungestört mit Captain Burningboy zu unterhalten.

»Mann, Sie haben’s wirklich faustdick hinter den Ohren«, meinte Burningboy versonnen, auf einer Handvoll trockener blauer Nudeln kauend. »Als der Bursche reingebracht wurde, hat sich der Ton total verändert. Ich wüsste gern, wie die reagiert hätten, wenn er ihnen gesagt hätte, dass wir ihn schon vor zwei Tagen geschnappt haben.«

»Ach, wir wussten doch beide, dass der Regulator nicht reden würde«, sagte Oscar. »Ich wollte ihn für den richtigen Moment aufsparen. Es ist nichts Unehrenhaftes dabei, sein Wissen im passenden Kontext preiszugeben. Schließlich haben Sie ihn ja wirklich gefangengenommen, und er ist ein Saboteur.« Sie senkten die Stimmen und schlichen auf Zehenspitzen an einem schlafenden Luchs vorbei. »Es hat einfach keinen Zweck, wenn man mit den Wissenschaftlern vernünftig redet, verstehen Sie. Wissenschaftler verachten den gesunden Menschenverstand, sie halten ihn für irrational. Will man erreichen, dass ihnen ein Licht aufgeht, braucht es starken moralischen Druck, etwas, das außerhalb ihres Erwartungshorizonts liegt. Sie haben hohe intellektuelle Mauern um sich aufgerichtet – gegenseitige wissenschaftliche Kontrolle, Passivkonstruktionen, der ständige Gebrauch der dritten Person plural…«

»Also, ich muss schon sagen, Oscar – die Nummer hat prima geklappt. Allerdings verstehe ich noch immer nicht, warum.«

Oscar überlegte einen Moment. Er genoss die privaten Unterhaltungen mit Burningboy, der einen aufmerksamen Zuhörer abgab. Der texanische Moderator war ein älterer, ungepflegter Gesetzloser mit einem langen Vorstrafenregister, doch er war auch ein wahrer Politiker, ein regionaler Spieler voller Einsichten, die unter der Sonne des Südens herangereift waren. Oscar verspürte das starke Bedürfnis, dem Mann eine freundschaftliche Erklärung zu geben.

»Es hat funktioniert, weil… Also, ich will Sie mal ins Bild setzen. Ihnen den großen philosophischen Zusammenhang erklären. Haben Sie sich jemals gefragt, weshalb wir gegen Hueys Leute im Labor niemals vorgegangen sind? Weshalb sie noch immer hier sind und sich im Spin-off-Gebäude verbarrikadiert haben? Der Grund dafür ist, dass wir einen Netzwerkkrieg führen. Wir ähneln einer Gruppe von Go-Steinen. Um einen Netzwerkkrieg zu überleben, braucht eine umzingelte Gruppe Augen. Es geht dabei um Verbindungen, um Wahrnehmung und das Schlachtfeld. Wir sind in dieser Gruppe eingeschlossen – aber wir sind nicht vollständig umzingelt, weil es in der großen Kuppel noch ein kleineres Gebäude voller Feinde gibt. Ich habe den Regulator bewusst zu ihnen sperren lassen, damit diese kleine Untergruppe nun genau wie wir ihr Nomadenkontingent hat. Die Leute spüren diese Symmetrie instinktiv, wissen Sie. Das zeigt auf unbewusster Ebene Wirkung. Es bedeutet etwas für sie, es verändert ihre Weltsicht. Die Anwesenheit von Feinden in der Kuppel könnte uns schwächen, aber der Umstand, dass wir den Widerspruchskern aushalten – der stärkt uns. Weil wir nicht totalitär sind. Wir sind nicht durch und durch einheitlich. Wir sind nicht spröde. Wir sind elastisch. Wir haben hier potenziellen Raum.«

»Ach ja?« meinte Burningboy skeptisch.

»Das Ganze ähnelt einem lebenden Fraktal. Das hat mit dem Abspalten von Themen zu tun. Hier sind wir, innerhalb dieser Wände. Außerhalb der Wände liegt Green Huey auf der Lauer, voll böser Absichten. Huey aber wird vom Präsidenten belauert – und der neue Präsident ist auf seine unverwechselbare Art eine noch bedrohlichere Persönlichkeit als der Gouverneur von Louisiana. Der Präsident regiert die USA, ein verwundetes, mit sich selbst beschäftigtes Land – eine kleine Welt inmitten einer größeren Welt voller Menschen, die die Geduld mit uns verloren haben. Sie bezahlen Amerika nicht mehr dafür, dass es behauptet, es sei ihre Zukunft. Und jenseits dieser Welt… nun, ich nehme an, da beginnt Gretas Welt. Ein rationaler Kosmos, wie Einstein und Newton ihn beschrieben haben. Der Kosmos der objektiven, nachprüfbaren Fakten. Und jenseits des wissenschaftlichen Begreifens… dort liegen die dunklen Phänomene. Die Metaphysik. Wille und Vorstellung. Vielleicht die Geschichte.«

»Glauben Sie diesen Quatsch wirklich?«

»Nein, ich glaube es nicht so, wie ich glaube, dass zwei plus zwei vier ergibt. Aber es ist machbar, das ist mein Motto. Was können Politiker überhaupt ›wissen‹? Geschichte ist kein Labor. Man tritt nicht zweimal in dieselbe Pfütze. Manche Leute aber verfügen über ein erhebliches Maß an politischer Einsicht, andere nicht.«

Burningboy nickte bedächtig. »Sie betrachten uns von weit, weit außerhalb, nicht wahr, Oscar?«

»Also, ich bin kein Nomade – zumindest bis jetzt noch nicht. Und bin auch kein Wissenschaftler. Ich bin mir meiner Unwissenheit bewusst, will mich dadurch aber nicht einschüchtern lassen – ich besitze Macht, ich muss handeln. Wissen ist bloß Wissen. Aber die Kontrolle des Wissens – das ist Politik.«

»Das war nicht das ›Außenseitertum‹, das ich im Sinn hatte.«

»Oh.« Plötzlich begriff Oscar, worauf Burningboy hinaus wollte. »Sie meinen meinen persönlichen Background.«

»Ja.«

»Sie meinen, ich wäre im Vorteil, weil ich außerhalb der menschlichen Rasse stehe.«

Burningboy nickte. »Das ist mir halt so aufgefallen. War es schon immer so für Sie?«

»Ja. Kann man so sagen.«

»Sind Sie die Zukunft, Mann?«

»Nein. Darauf würde ich mich nicht verlassen. Mir fehlen zu viele Einzelteile.«

Als es zu einem größeren Sexskandal kam, wusste Oscar, dass sich die Lage stabilisiert hatte. Eine junge Soldatin beschuldigte einen Wissenschaftler mittleren Alters, sie belästigt zu haben. Dieser Vorfall rief große Empörung hervor.

Oscar begrüßte die Entwicklung. Sie bedeutete, dass der Konflikt zwischen den beiden Populationen des Labors zu einer symbolischen, psychosexuellen, unpolitischen Ebene vorgedrungen war. In der Öffentlichkeit stritt man nun um tief verwurzelte Vorurteile und psychische Defizite, für die es keine Abhilfe gab und die daher im Grunde irrelevant waren. Das ganze Aufhebens aber war ausgesprochen nützlich, denn es hatte zur Folge, dass sich an allen anderen Fronten nun im Stillen enorme Fortschritte erzielen ließen. Das öffentliche Psychodrama band die Aufmerksamkeit, während die eigentlichen Probleme des Laboratoriums in den Hintergrund traten. Die eigentlichen Probleme lagen in den Händen der Leute, die sie ernst genug nahmen, um konstruktiv damit umzugehen.

Oscar nutzte die Gelegenheit, um sich mit einem Moderatorenlaptop vertraut zu machen. Man hatte ihm ein Gerät geschenkt, was er ganz richtig als große Ehre auffasste. Der Laptop hatte ein flexibles grünes Gehäuse aus plastifiziertem Stroh. Er wog etwa so viel wie eine Tüte Popcorn. Und statt der altehrwürdigen QWERTYUIOP-Anordnung wiesen die eleganten, empfindlichen Tasten der ersten Reihe seltsamerweise die Reihenfolge DHIATENSOR auf.

Oscar hatte schon des Öfteren gehört, dass die alte QWERTYUIOP-Tastatur niemals ersetzt werden würde. Offenbar war dies auf das Phänomen zurückzuführen, das als ›technische Sackgasse‹ bezeichnet wurde. QWERTYUIOP war eine äußerst ungünstige Tastenanordnung – ursprünglich hatte sie dazu gedient, Schreibkräfte bei ihrer Arbeit zu behindern –, und das Erlernen hatte so große Mühe erfordert, dass die Menschen sie niemals aufgeben würden. Es war das Gleiche wie mit der englischen Schreibweise oder den amerikanischen Standardmaßen oder dem absurden Toilettendesign; es war schlecht, aber eine soziale Tatsache. Die universelle Verbreitung von QWERTYUIOP verhinderte, dass sich Alternativen durchsetzten.

Zumindest hatte er das bislang geglaubt. Doch da stand eine solche Alternative vor ihm auf dem Tisch: DHIATENSOR. Die Anordnung war vernünftig. Sie war effizient. Sie funktionierte viel besser als QWERTYUIOP.

Pelicanos betrat das Hotelzimmer. »Noch immer auf?«

»Klar.«

»Woran arbeitest du gerade?«

»An Gretas Presseerklärungen. Außerdem muss ich bald mal mit Bambakias sprechen, ich habe den Senator in letzter Zeit vernachlässigt. Deshalb mache ich mir ein paar Notizen und lerne zum erstenmal in meinem Leben richtig tippen.« Oscar stockte. Er brannte darauf, Pelicanos von den faszinierenden sozialen Unterschieden zwischen Regulatoren und Moderatoren zu erzählen, die er entdeckt hatte. Von außen betrachtet waren die schäbigen Prolos nicht einmal mit dem Elektronenmikroskop zu unterscheiden – alle wesentlichen Unterschiede gründeten in der Architektur ihrer Netzwerksoftware.

Auf dem unsichtbaren Schlachtfeld ihrer Netzwerke hatte ein Kampf epischen Ausmaßes stattgefunden. Virtuelle Stämme und Gemeinschaften hatten Tausende unterschiedlicher Konfigurationen ausprobiert, sie bewertet, nach Kräften verbessert, ihnen beim Sterben zugesehen…

»Oscar, wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.«

»Prima.« Oscar schob den Laptop beiseite. »Sprich dich aus.«

»Oscar, du verstrickst dich zu sehr. Die andauernden Beratungen mit dem Notstandsausschuss, und dann schacherst du ständig mit den Leuten vom NSR herum, die dir nicht mal die Uhrzeit sagen wollen… Wir sollten unseren Standpunkt überprüfen.«

»Okay. Einverstanden.«

»Warst du in letzter Zeit mal im Labor? In der Luft sind lauter Transportflugzeugen die nichts transportieren. In Osttexas wimmelt es von Cops und Straßenblockaden.«

»Ja, wir bekommen draußen eine Menge Aufmerksamkeit. Wir sind ein richtiger Hit. Die Journalisten lieben diesen provokanten Mix.«

»Ich stimme dir darin zu, dass es interessant ist. Aber das hat nichts mit unserem Auftrag zu tun. Die jetzige Lage kam in unseren Plänen nicht vor. Wir sollten Bambakias im Wissenschaftsausschuss unterstützen. Das Wahlkampfteam sollte hier Urlaub machen. Niemand hat von dir erwartet, dass du zum Undercoveragenten wirst, der zeitweilig für den Präsidenten arbeitet, während du staatliche Einrichtungen mithilfe von Gangstern eroberst.«

»Hmm. Da hast du völlig Recht, Yosh. Das war nicht planbar. Aber es war machbar.«

Pelicanos setzte sich und faltete die Hände. »Weißt du, wo das Problem liegt? Wann immer du dein Ziel aus den Augen verlierst, verdoppelst du deine Anstrengungen.«

»Ich habe das Ziel niemals aus den Augen verloren! Das Ziel ist die Reformierung der amerikanischen Forschung.«

»Oscar, ich habe darüber nachgedacht. Das alles gefällt mir nicht. Zum einen mag ich den Präsidenten nicht besonders. Ich bin Demokrat. Ich hab’s ernst gemeint mit unserem Einsatz für Bambakias und den Reformblock. Ich will nicht für den Präsidenten arbeiten. Ich bin mit seiner Politik nicht einverstanden. Um Himmels willen, er ist Kommunist.«

»Der Präsident ist kein Kommunist. Er hat im Holzhandel Milliarden verdient und ist im Reservat im Casino-Business tätig.«

»Aber dem Linken Traditionsblock gehören Kommunisten an. Ich traue ihm nicht. Seine Reden gefallen mir nicht. Es gefällt mir nicht, dass er sich mit den Niederländern anlegt, anstatt vor der eigenen Tür für Ordnung zu sorgen. Er ist einfach nicht unsere Art von Politiker. Er ist grausam, hinterlistig, doppelzüngig und aggressiv.«

Oscar lächelte. »Zumindest schläft er nicht bloß an seinem Schreibtisch wie der vorige Präsident.«

»Besser König Baumstamm als König Storch, Mann.«

»Yosh, ich weiß, du bist kein Linker, aber du musst zugeben, dass der Linke Traditionsblock weit besser ist als die Linken Progressiven mit all ihren Verrückten.«

»Das hilft uns auch nicht weiter! Bambakias hätte dir bedingungslos vertraut – der Präsident will dir nicht mal einen richtigen Posten geben. Er lässt dich im Regen stehen. Und in der Zwischenzeit verlassen wir uns auf diese Moderatoren. Aber sich von Gangstern Schutz zu versprechen, hat einfach keine Zukunft.«

»Aber sicher doch.«

»Nein, hat es nicht. Die Prolos sind schlimmer als die Linken Progressiven. Sie sprechen ein komisches Kauderwelsch, tragen seltsame Kleidung, haben seltsame Laptops und eine seltsame Biotechnik. Sie sind ein buntes Völkchen, aber das ändert nichts daran, dass sie Gauner sind. Dieser Bursche, Captain Burningboy… er kriecht dir in den Arsch, aber er ist nicht der, für den du ihn hältst. Du glaubst, das sei ein charmanter alter Trottel, weiches Herz in rauer Schale, die Art Typ, der in dein Team passen würde. Ist er aber nicht. Er ist ein ultraradikaler Sektierer und verfolgt eindeutig seine eigenen Pläne.«

Oscar nickte. »Das weiß ich.«

»Und dann ist da noch Kevin. Du hast nicht genug auf Kevin geachtet. Du hast einen Banditen zum Polizeichef gemacht. Der Mann ist ein Mussolini in Taschenformat. Er macht sich an den Telefonen zu schaffen, an den Computern, an den Videokameras, die ganze Anlage ist verwanzt. Jetzt hat er eine Gruppe von Schnüfflern um sich geschart, eine schrullige Bande von kleinen alten Nomadenladies in einem Wohnwagenpark, die sich im Netz umtun, irgendwo in der verdammten Einöde von Wyoming… Der Kerl ist völlig verrückt. Das ist einfach nicht gut.«

»Aber Kevin ist aus Boston, genau wie wir«, sagte Oscar. »Intensive Überwachung vermindert die Gewalt auf den Straßen. Kevin erledigt den Job für uns, und er hält den Mund, wenn wir mal die Regeln verletzen. Er ist wirklich eine gute Wahl.«

»Oscar, du bist besessen. Vergiss die hübschen sozialen Konzepte und dieses ganze Gerede von wegen großem Zusammenhang. Befass dich wieder mit der Hauptsache, mit der Realität. Kevin arbeitet hier, weil du ihm Gehalt zahlst. Du bezahlst allen Angehörigen des Teams Gehalt, und dein Team, das sind die Leute, die die Anlage am Laufen halten. Sonst bekommt niemand Gehalt – alle essen bloß Prolonahrung und arbeiten in ihren Labors. Ich als dein Finanzberater sage dir: das kann nicht mehr lange so weitergehen. Du kannst den Leuten nicht so viel zahlen, dass sie eine Revolution machen würden.«

»Dazu reicht das Geld einfach nicht aus.«

»Du bist nicht fair zu deinem Team. Deine Leute sind Wahlkampfhelfer aus Massachusetts, Wunder gehören nicht zu ihrem Fach. Du hast ihnen nie gesagt, dass sie eine revolutionäre Junta bilden sollten. Diese Forschungseinrichtung steht ohne Geld da. Du bekommst nicht mal selber mehr Gehalt. Du hast nicht mal einen offiziellen Posten in der Regierung. Das Laboratorium lebt von deinem Kapital.«

»Yosh, Geld lässt sich immer beschaffen. Interessant wird es dann, wenn man ohne Geld regiert! Wenn man von seinem Prestige zehrt. Nehmen wir nur mal die Moderatoren als Beispiel. Im Grunde verfügen sie über eine funktionierende, auf Prestige gründende Wirtschaft. Alles ist bis ins kleinste Detail ausgearbeitet; beispielsweise verfügen sie über ein rotierendes elektronisches Wahlsystem nach australischem Vorbild…«

»Oscar, hast du überhaupt geschlafen? Isst du ordentlich? Weißt du, was du hier überhaupt machst?«

»Ja, das weiß ich. Das ist etwas anderes, als wir zunächst vorgehabt hatten, aber es muss getan werden. Ich lasse Huey alt aussehen.«

»Du trägst eine persönliche Fehde mit dem Gouverneur von Louisiana aus.«

»Nein. Das stimmt nicht. In Wahrheit kämpfe ich auf breiter Front gegen den größten politischen Visionär der Gegenwart. Und Huey ist mir um Jahre voraus. Er kümmert sich schon seit Jahren um seine Nomaden, gewinnt ihr Vertrauen, baut ihnen Infrastruktur. Er hat geschafft, die heimatlosen Streuner zur technisch fortschrittlichsten Gruppe in seinem Staat zu machen. Er hat sich zum Anführer einer Untergrund-Massenbewegung gemacht und verspricht, sein Wissen zu teilen und jedermann zu einem Hexer zu machen. Und sie verehren ihn, weil das ganze Gebilde ihrer Netzwerkökonomie auf diese Weise reguliert wird, still und heimlich und zielgerichtet. Das ist Korruption in einem phantastischen Maßstab – das ist so weitab aller finanziellen Gepflogenheiten, dass man kaum mehr von Korruption sprechen kann. Er hat eine Alternativgesellschaft geschaffen, mit einer alternativen Machtstruktur, die ganz auf ihn zugeschnitten ist: auf Green Huey, den König der Sümpfe. Ich arbeite hier so schnell und so hart ich kann, weil Huey mir bereits bewiesen hat, dass es funktioniert – im Grunde funktioniert es so gut, dass es schon gefährlich ist. Amerika ist am Ende, und Green Huey ist ein lächelnder Tyrann, der im Begriff steht, eine neurale Diktatur zu errichten!«

»Oscar, ist dir eigentlich bewusst, wie verrückt das klingt? Weißt du, wie hohl das klingt?«

»Ich spreche mich aus. Du weißt, dass ich dir immer reinen Wein eingeschenkt habe, Yosh.«

»Okay, du sprichst dich aus. Aber ich kann das nicht. Ich kann nicht so leben. Ich glaube nicht daran. Es tut mir Leid.«

Oscar starrte ihn an.

»Ich kann so nicht mehr weitermachen, Oscar. Ich will richtiges Essen, ich will ein festes Dach über dem Kopf. Ich kann nicht die Augen schließen und blind springen, das Risiko kann ich nicht eingehen. Ich habe einen Menschen zu versorgen. Meine Frau braucht mich, ich muss mich um sie kümmern. Du hingegen – du brauchst mich nicht mehr. Und zwar weil ich ein Finanzberater bin! Du schaffst hier eine Lage, in der ich keine Funktion mehr habe. Keine Rolle. Keinen Job. Es gibt hier nichts für mich zu tun.«

»Weißt du was? Der Gedanke ist mir bis jetzt noch nicht gekommen. Aber warte mal; es muss eine Art von Einkommenstransfer geben. Es ist noch ein wenig Geld da, wir brauchen Gerät und dergleichen…«

»Du errichtest hier ein seltsames, fremdartiges kleines Regime. Mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Das ist eine Kultgesellschaft. Sie gründet darauf, dass Menschen einander tief in die Augen sehen und sich auf den Rücken klopfen. Theoretisch ist das interessant, aber wenn es irgendwann scheitert und auseinanderbricht, dann entstehen Lager und es kommt zu Säuberungen wie zur Zeit der Kommunisten. Wenn du dazu entschlossen bist, Oscar, kann ich dir nicht helfen. Dann kann dir niemand mehr helfen. Ich will nicht bei dir sein, wenn das Kartenhaus zusammenfällt. Weil du dann ins Gefängnis wandern wirst. Bestenfalls.«

Oscar lächelte schwach. »Dann glaubst du also nicht, dass ich auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren könnte?«

»Ich scherze nicht. Was ist mit deinem Team, Oscar? Was ist mit uns? Du bist wirklich ein begnadeter Wahlkampfmanager. Aber das hier ist kein Wahlkampf. Es ist nicht mal mehr ein Streik oder ein Protest. Das ist ein Staatsstreich im Kleinen. Du bist der Militärguru eines abtrünnigen Lagers. Selbst wenn die Leute vom Team bereit sein sollten, bei dir zu bleiben, wie kannst du es verantworten, sie einem solchen Risiko auszusetzen? Du hast sie nie gefragt, Oscar. Sie haben nie die Wahl gehabt.«

Oscar richtete sich auf. »Yosh, du hast recht. Die Analyse ist vernünftig. Ich kann das meinen Leute nicht antun; das ist unmoralisch, schlecht. Ich muss ihnen die Lage in aller Deutlichkeit schildern. Sollten sie mich verlassen, muss ich mich damit eben abfinden.«

»Das Gouverneurbüro in Boston hat mir einen Job angeboten«, sagte Pelicanos.

»Der Gouverneur? Ach, geh! Das ist doch ein abgehalfterter Schaumschläger von der Vorwärts-Amerika-Partei.«

»Vorwärts-Amerika ist eine Reformpartei. Der Gouverneur organisiert eine Antikriegskoalition, und er hat mich gebeten, das Amt des Schatzmeisters zu übernehmen.«

»Im Ernst? Schatzmeister, hm? Das wäre ein ziemlich guter Posten.«

»Der Pazifismus hat in Massachusetts Tradition. Und zwar quer durch alle Parteien und Blöcke. Außerdem muss das jemand tun. Der Präsident meint es wirklich ernst. Er blufft nicht. Er will den Krieg. Er schickt Kanonenboote über den Atlantik. Er schikaniert dieses kleine Land, bloß um seine Stellung zu Hause zu festigen.«

»Glaubst du das wirklich, Yosh? Ist das wirklich deine Meinung?«

»Oscar, du hast keinen Durchblick mehr. Du bist Nacht für Nacht hier und plagst dich mit den winzigen Unterschieden zwischen Nomadenstämmen ab. Du willst hier in dieser kleinen Glaskugel den Drahtzieher spielen. Aber du verlierst die Landeswirklichkeit aus dem Blick. Ja, Präsident Two Feathers ist auf dem Kriegspfad! Er verlangt eine Kriegserklärung vom Kongress! Er will das Kriegsrecht ausrufen! Er fordert ein Kriegsbudget, über das er allein verfügen kann. Er will, dass die Notstandsausschüsse übergangen und über Nacht abgeschafft werden. Er ist ein virtueller Diktator.«

Oscar kam der verrückte Gedanke, dass der Verlust der Niederlande ein kleiner Preis wäre, wenn es dem Präsidenten gelänge, auch nur die Hälfte dieser lobenswerten Ziele zu verwirklichen. Allerdings verkniff er sich die Entgegnung. »Yosh, ich arbeite für den Präsidenten. Er ist mein Boss, er bestimmt, wo’s lang geht. Wenn das deine Überzeugung ist, dann ist unsere Situation als Kollegen wirklich unhaltbar.«

Pelicanos schaute bekümmert drein. »Tja, deswegen bin ich gekommen.«

»Ich bin froh, dass du gekommen bist. Du bist mein bester und ältester Freund, mein engster Vertrauter. Aber persönliche Gefühle müssen zurückstehen, wenn es um so grundlegende politische Differenzen geht. Wenn es so ist, wie du sagst, dann trennen sich unsere Wege. Du solltest nach Boston zurückkehren und den Posten des Schatzmeisters übernehmen.«

»Ich tu’s nicht gern, Oscar. Ich weiß, du brauchst mich. Jemand muss sich um dein Privatvermögen kümmern; du solltest deine Anlagen im Auge behalten. Vor uns liegen schwere Marktturbulenzen.«

»Marktturbulenzen gibt es ständig. Damit komme ich klar. Ich bedaure es, dich zu verlieren. Du hast mich den ganzen Weg über begleitet.«

»Bis hierher und nicht weiter, Mann.«

»Sollte man mich in Boston verurteilen, könntest du vielleicht bei deinem Freund, dem Gouverneur, ein gutes Wort von wegen Gnadenerlass einlegen.«

»Ich schicke dir eine Mail«, sagte Yosh. Er rieb sich die Augen. »Ich muss jetzt meinen Schreibtisch ausräumen.«


Pelicanos’ Weggang hatte Oscar tief getroffen. In Anbetracht der Umstände gab es keine andere Lösung. Das war traurig, aber nicht zu ändern, genau wie sein Abfall von Bambakias, als er in den Nationalen Sicherheitsrat übergewechselt war. Manche Themen verlangten eben nach klaren Entscheidungen. Ein kluger Mann konnte auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen, aber sieben oder acht waren einfach zu viel.

Es war einige Zeit her, seit Oscar zum letzten Mal mit Bambakias gesprochen hatte. Allerdings hatte er die Netzberichterstattung verfolgt. Der verrückte Senator war so beliebt wie nie zuvor. Er hatte sein ursprüngliches Gewicht vollständig zurückerlangt; vielleicht wog er mittlerweile sogar etwas mehr. Seine Mitarbeiter präsentierten ihn der Öffentlichkeit im Rollstuhl; sie schoben ihn sogar bis in den Senat. Das Feuer aber war erloschen. Sein Leben war zerbrochen und wurde von Telepromptern beherrscht.

Mit dem neu installierten Satellitentelefon des NSR arrangierte Oscar eine Videokonferenz mit Washington. Bambakias hatte eine neue Sekretärin, die Oscar noch nie gesehen hatte. Er schaffte es, einen halbstündigen Termin zu vereinbaren.

Als er endlich durchkam, blickte ihm Lorena Bambakias vom Bildschirm entgegen.

Lorena sah gut aus. Sie konnte einfach nicht anders, als gut auszusehen. Allerdings wirkte sie auf dem Bildschirm ein wenig spröde und steif. Lorena hatte gelitten.

Ihr Anblick versetzte ihm einen Stich. Es überraschte ihn, wie sehr er sie vermisst hatte. Er war immer auf Zehenspitzen um Lorena herumgeschlichen, sich der von ihr ausgehenden weiblichen Bedrohung in höchstem Maße bewusst; allerdings hatte er ganz vergessen gehabt, wie viel sie ihm bedeutete, wie sehr sie das Leben repräsentierte, das er aufgegeben hatte. Die gute alte Lorena – reich, gebildet, amoralisch und kultiviert –, eigentlich genau sein Typ; eine Vertreterin der Oberschicht, das klassische Luxusweibchen, eine Frau, die wirklich gut beieinander war. Lorena so zu sehen – ausgehöhlt von Schmerz –, ging ihm an die Nieren. Sie ähnelte einer wundervollen Schere, mit der man Stacheldraht durchtrennt hatte.

»Es ist schön, dass Sie anrufen, Oscar«, sagte Lorena. »In letzter Zeit machen Sie sich rar.«

»Es ist nett, dass Sie das sagen. Wie läuft es bei Ihnen? Sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Ach, wir hangeln uns von einem Tag zum anderen durch. Die Ärzte meinen, er mache große Fortschritte.«

»Wirklich?«

»Ja, es ist schon erstaunlich, was man im amerikanischen Gesundheitssystem mit ein paar Millionen Dollar ausrichten kann. Er ist guter Dinge.«

»Tatsächlich.«

»Er ist wirklich guter Dinge. Sein Zustand ist stabil. Die meiste Zeit über ist er sogar bei klarem Verstand.«

»Lorena, habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, wie unendlich Leid mir das alles tut?«

Sie lächelte. »Der gute alte Oscar. Wissen Sie, ich habe mich dran gewöhnt. Ich komme damit klar. Ich hätte nicht geglaubt, dass das möglich wäre – vielleicht ist es auch gar nicht möglich –, aber es ist machbar. Aber wissen Sie, was mir wirklich Sorgen bereitet? Nicht die Sympathiebekundungen oder die Medienberichterstattung, die Fanclubs und all das… Sondern diese Idioten, die glauben, eine Gemütskrankheit sei etwas Glamouröses, Romantisches. Sie meinen, verrückt zu werden sei eine Art spirituelles Abenteuer. Das ist es nicht. Ganz im Gegenteil. Es ist furchtbar. Es ist banal. Ich lebe mit jemandem zusammen, der banal geworden ist. Mein geliebter Mann war der am wenigsten banale Mensch, dem ich je begegnet bin. Er hatte so viele Facetten und sprühte vor Ideen; er war energisch, klug und charmant. Jetzt ähnelt er einem großen Kind. Einem nicht sehr hellen Kind, das man täuschen und manipulieren, aber mit dem man nicht vernünftig reden kann.«

»Sie sind sehr tapfer. Ich bewundere Sie für Ihre Haltung.«

Lorena brach in Tränen aus. Sie massierte sich mit ihren wunderschön gepflegten Fingerspitzen die Augen. »Jetzt weine ich, aber… Das macht Ihnen doch nichts aus, oder? Sie sind einer der wenigen, die uns damals wirklich nahe standen.«

»Es macht mir nichts aus.«

Nach einer Weile schaute Lorena hoch, das angespannte Gesicht gefasst und heiter. »Aber Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie es Ihnen geht.«

»Mir, Lorena? Es könnte gar nicht besser gehen! Hier tun sich erstaunliche Dinge. Unglaubliche Entwicklungen, äußerst faszinierend.«

»Sie haben stark abgenommen«, sagte sie. »Sie sehen müde aus.«

»In letzter Zeit hatte ich unter Allergien zu leiden. Solange die Luft gefiltert wird, geht es mir gut.«

»Wie ist Ihr neuer Job beim Präsidenten? Es muss aufregend sein, im NSR zu arbeiten, jetzt wo ein Krieg vor der Tür steht.«

Oscar öffnete den Mund. Es stimmte; er arbeitete für den Nationalen Sicherheitsrat, und es stand ein Krieg vor der Tür, und trotz seiner Randstellung und seines geringen Interesses an Außenpolitik wusste er eine ganze Menge. Er wusste, dass der Präsident eine Flotte schrottreifer Schlachtschiffe über den Atlantik schicken wollte. Er wusste, dass der Präsident ungeachtet der Entscheidung des Kongresses fest entschlossen war, einen Ersatzkrieg zu provozieren. Er wusste, dass die rostzerfressene amerikanische Flotte in einer Zeit der zielgenauen billigen Missiles und der Flugdrohnen so leicht zu treffen war wie eine reglos verharrende Entenschar.

Außerdem wusste er, dass er seinen Job verlieren und wahrscheinlich wegen Spionage angeklagt werden würde, wenn er mit einer Senatorengattin darüber spräche. Oscar klappte den Mund wieder zu.

»Ich bin bloß Wissenschaftsberater«, sagte er schließlich. »Der Senator weiß bestimmt mehr darüber als ich.«

»Möchten Sie ihn sprechen?«

»Sehr gern.«

Lorena verschwand. Oscar klappte den Nomadenlaptop auf, warf einen Blick auf den Bildschirm, klappte ihn wieder zu.

Der Senator kam ins Bild. Er trug einen Pyjama und einen Hausmantel aus blauem Samt. Sein Gesicht wirkte plump, wie poliert und eigentümlich formlos, als habe die dahinter stehende Persönlichkeit die Verbindung zu den Gesichtsmuskeln verloren.

»Oscar!« dröhnte Bambakias. »Der gute alte Oscar! Ich denke jeden Tag an Sie.«

»Schön zu wissen, Senator.«

»Sie leisten prima Arbeit in der Forschungseinrichtung. Wirklich prima Arbeit. Ich wünschte, ich könnte Ihnen dabei helfen. Vielleicht sollten wir morgen mal rüberfliegen! Das wäre schön. Wir würden Ergebnisse erzielen.«

Lorenas Stimme ertönte. »Morgen ist eine Anhörung, Alcott.«

»Anhörungen, immer nur Anhörungen. Na gut. Aber ich halte mich auf dem Laufenden! Ich halte mich auf dem Laufenden. Ich weiß, was vorgeht, ja wirklich! Sie bewirken dort gewaltige Dinge. Man hat mir gesagt, Sie hätten kein Budget. Überhaupt keins. Und da holen Sie Arbeitslose rein! Ein genialer Schachzug! Wie Sie immer sagen, Oscar – man muss einen politischen Widerspruch auf die Spitze treiben. Dann kann man’s denen unter die Nase reiben. Eine großartige Taktik.«

Oscar war gerührt. Offenbar befand sich der Senator in einer manischen Phase, doch in seinem Überschwang war er viel leichter zu nehmen – es war, als habe man es mit dem Zerrbild seines früheren Charisma zu tun.

»Sie haben schon so viel für uns getan, Senator. Wir haben nach Ihren Plänen ein Hotel gebaut. Die Einheimischen sind davon schwer beeindruckt.«

»Ach, das ist doch nicht der Rede wert.«

»Nein, im Ernst, Ihr Design hat eine Menge Zuspruch gefunden.«

»Nein, das ist wirklich nicht der Rede wert. Sie sollten mal die Pläne sehen, die ich auf dem College ausgearbeitet habe. Riesige, intelligente freitragende Konstruktionen. Gewaltige reaktive Strukturen aus Membran und Streben. Man könnte sie mit Zeppelinen einfliegen und in der Wüste bei Hungernden absetzen. Hab sie für die Katastrophenhilfe der UN entwickelt – damals, als die USA noch Mitglied der UN waren.«

Oscar blinzelte. »Katastrophenhilfe?«

»Die Unterkünfte wurden nie gebaut. Zu viel High-Tech für die hungernden, technisch unterentwickelten Dritte-Welt-Bewohner, hieß es. Bürokraten! Ich habe mir den Arsch aufgerissen für das Projekt.« Bambakias lachte. »Die Katastrophenhilfe hat kein Geld. Dafür besteht keine Nachfrage. Ich habe das Konzept später verändert und stattdessen kleine Stühle konstruiert. Mit kleinen Stühlen ist auch kein Geld zu machen. Das war beide Male ein Fehlschlag.«

»Senator, einen dieser kleinen Stühle haben wir hier im Büro der Direktorin. Er zieht eine Menge Bewunderung auf sich. Die Einheimischen lieben ihn.«

»Was Sie nicht sagen. Schade nur, dass Wissenschaftler zu wenig Geld haben, um teure Möbel zu kaufen.«

»Ich wüsste gern, ob Sie die Katastrophenpläne noch irgendwo archiviert haben, Alcott. Ich würde sie mir gerne mal ansehen.«

»Sie ansehen? Mann, Sie können sie haben. Das ist das mindeste, was ich für Sie tun kann, nach allem, was Sie wegen mir durchgemacht haben.«

»Das würde mich wirklich freuen, Senator. Ich mein’s ernst.«

»Klar, Sie sollen sie bekommen! Alles, was Sie wollen! Eine Art Notverkauf meiner Erfindungen. Wissen Sie, Oscar, sollten wir in Europa einmarschieren, könnte es zu einem atomaren Schlagabtausch kommen.«

Oscar senkte beschwichtigend die Stimme. »Das glaube ich nicht, Al.«

»Die spielen mit den großen USA, diese kleinen holländischen Arschlöcher. Die mit ihren Holzschuhen und Tulpen. Wir sind eine Supermacht! Wir können sie pulverisieren.«

Lorena schaltete sich ein. »Ich glaube, es ist Zeit für deine Medikamente, Alcott.«

»Ich weiß, wie Oscar wirklich über den Krieg denkt! Ich bin unbedingt dafür. Ich bin ein Falke! Wir haben uns lange genug von diesen rot-grünen Euro-Würstchen herumschubsen lassen. Meinen Sie nicht auch, Oscar?«

Eine Krankenschwester kam ins Bild. »Sagen Sie dem Präsidenten, wie ich darüber denke!« beharrte der Senator, während ihn die Krankenschwester wegführte. »Sagen Sie Two Feathers, ich stehe zu ihm, was auch kommen mag.«

Lorena kam wieder ins Blickfeld. Sie wirkte angespannt.

»Sie haben eine Menge neue Mitarbeiter, Lorena.«

»Oh. Das.« Sie sah in die Kamera. »Ich habe Sie gar nicht mehr auf Moira angesprochen, nicht wahr?«

»Moira? Ich dachte, das Problem wäre ein für allemal gelöst und eingemottet?«

»Ach, nach ihrem Gefängnisaufenthalt hat sich Moira von ihrer besten Seite gezeigt. Bis Huey sich bei ihr gemeldet hat. Jetzt arbeitet Moira in Baton Rouge für Huey.«

»O nein.«

»Aber anschließend wurde es für das Team wirklich schlimm. Die Moral der Mitarbeiter litt unter Alcotts Krankheit, und als unsere ehemalige Pressesprecherin bei Huey anheuerte… also, ich nehme an, Sie können sich die Folgen vorstellen.«

»Haben Sie viele Leute verloren?«

»Also, wir stellen eben neue ein, das ist alles.« Sie schaute hoch. »Vielleicht kommen Sie ja eines Tages zu uns zurück.«

»Das wäre schön. Vielleicht wenn die Wiederwahl ansteht.«

»Das wäre doch eine wahre Herausforderung… Sie tun ihm so gut. Sie haben ihm schon immer gut getan. Diese dumme Sache mit den alten Bauplänen. Das hat ihn wirklich gerührt, einen Moment lang war er richtig klar im Kopf. Er war wieder ganz der Alte.«

»Ich wollte ihn nicht bloß aufmuntern, Lorena. Ich will die Pläne wirklich haben. Bitte sorgen Sie dafür, dass sie mir zugeschickt werden. Ich glaube, ich kann sie brauchen.«

»Oscar, was machen Sie dort eigentlich? Mir kommt das alles sehr seltsam vor. Ich glaube nicht, dass das im Interesse der Demokraten liegt. Das ist keine sinnvolle Reform, das hatten wir nicht im Sinn.«

»Das stimmt – im Sinn hatten wir das jedenfalls nicht.«

»Dahinter steckt diese Penninger, nicht wahr? Die ist nicht gut für Sie. Sie ist nicht Ihr Typ. Sie wissen doch, dass Moira über Sie und Greta Bescheid weiß, nicht wahr? Und Huey ebenfalls.«

»Das weiß ich. Ich kümmere mich darum. Allerdings ist das eine große Herausforderung.«

»Sie sind so blass. Sie hätten bei Clare Emerson bleiben sollen. Sie ist zwar eine Weiße, aber sie war sanftmütig und hat Ihnen gut getan. Sie wirkten damals so glücklich.«

»Clare ist in den Niederlanden.«

»Clare kommt zurück. Wegen des Krieges und überhaupt.«

»Lorena…« Er seufzte. »Sie haben mit einer Menge Journalisten zu tun. Ich auch, okay? Ich habe mit Clare geschlafen, aber vor allem ist sie Journalistin und wird es auch bleiben. Bloß weil sie wohlmeinend berichtet hat, heißt das noch lange nicht, dass sie gut für mich ist. Schicken Sie Clare nicht zu mir. Das ist mein Ernst. Schicken Sie mir die alten Baupläne, die Alcott angefertigt hat, als er noch ein wilder Design-Student war, der keinen müden Dollar verdiente. Ich kann sie wirklich brauchen. Aber schicken sie nicht Clare.«

»Ich möchte nicht erleben, dass Sie von Ehrgeiz zerfressen werden, Oscar. Ich habe erlebt, was das heißt, und es ist schlimm, schlimmer als Sie meinen. Es ist grauenhaft. Ich möchte, dass Sie glücklich sind.«

»Diese Art Glück kann ich mir im Moment nicht leisten.«

Unvermittelt lachte sie. »Also gut. Sie haben Recht, ich habe auch Recht. Wir werden das alles überleben. Irgendwann wird alles wieder in Ordnung kommen. Daran glaube ich noch immer, Sie nicht? Grübeln Sie nicht so viel. Seien Sie nachsichtig mit sich. Okay?«

»Okay.«

Sie unterbrach die Verbindung. Oscar stand auf und streckte sich. Das mit Clare hatte sie bestimmt nicht ernst gemeint. Sie neckte ihn bloß ein wenig. Er hatte sie vorübergehend aus ihrem Unglück erlöst; Lorena war nach wie vor eine Spielerin, ihr gefiel die Vorstellung, dass er noch immer ihrem Team angehörte und dass sie sich um ihn sorgte. Er hatte es geschafft, sie für kurze Zeit abzulenken. Es war eine gute Idee gewesen, bei ihr anzurufen. Er hatte alten Freunden einen Gefallen getan.


Oscar machte sich daran, sein Vermögen zu liquidieren. Jetzt, da Pelicanos sich nicht mehr um seine Konten und Anlagen kümmerte, war der Zeitbedarf einfach zu groß. Und tief in seinem Innern wusste er, dass Geld im Moment eine Belastung darstellte. Er ermutigte Tausende von Menschen, sich aus der herkömmlichen Wirtschaft auszuklinken und eine ihnen völlig fremde Lebensweise anzunehmen, während er selbst abgesichert war. Huey hatte bereits ein paar spitze Kommentare dazu abgegeben; der Umstand, dass Huey selbst ein Multimillionär war, vermochte seine sarkastischen öffentlichen Ausfälle nicht zu verhindern.

Außerdem hatte Oscar nicht vor, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Er beabsichtigte, damit die Forschung zu unterstützen – solange, bis kein Geld mehr übrig wäre.

Pelicanos’ Fortgang hatte erhebliche Auswirkungen auf das Team. Als Majordomus war Pelicanos die Stütze der Mannschaft gewesen und hatte stets der Stimme der Vernunft Gehör verschafft, wenn Oscar übers Ziel hinausschoss.

Oscar versammelte sein Team im Hotel, um die Lage zu klären und offen über alles zu reden. Als Erstes verdoppelte er die Gehälter. Die Angestellten sollten dies als Gefahrenzulage betrachten. Sie wären im Begriff, auf unbekanntes Gebiet vorzustoßen und dabei hohe Risiken einzugehen. Aber wenn sie Erfolg hätten, wäre dies der größte politische Erfolg ihres Lebens. Er schloss seine aufmunternde Ansprache mit ein paar Floskeln.

Einige kündigten daraufhin. Sie nahmen das Reisegeld in Empfang und verabschiedeten sich. Audrey Avizienis kündigte; sie war seine Oppositionsrechercheurin und viel zu skeptisch und nüchtern, um unter derart dubiosen, halbgaren Bedingungen zu bleiben. Bob Argow kündigte ebenfalls. Er war Systemadministrator und tat seine Beschwerden deutlich kund: absurde Sicherheitsvorgaben seitens Kevin Hamiltons und Horden selbsternannter Netzgötter auf Seiten der Moderatoren, die programmierten, wie sie Kleider herstellten: von Hand, krumm und schief und immer bloß einen Stich auf einmal. Auch Negi Estabrook nahm ihren Abschied. Es hatte keinen Sinn mehr, für eine derart dezimierte Mannschaft zu kochen, außerdem ernährten sich die Nomaden hauptsächlich von Schweinefraß aus dem Labor. Rebecca Pataki ging ebenfalls. Sie fühlte sich fehl am Platz und mehr oder weniger verlassen, außerdem hatte sie Heimweh nach Boston.

Somit blieben Oscar nur noch vier hartnäckige Gefolgsleute. Fred Dillen, der Hausmeister, Corky Shoeki, der Roadie und neue Majordomus, und seine Sekretärin und Terminplanerin Lana Ramachandran. Dazu kam noch seine Imageberaterin Donna Nunez, die vernünftigerweise erklärte, sie wolle deshalb bleiben, weil das Labor im Hinblick auf sein Image gerade interessant werde. Also gut, dachte er grimmig; er hatte nur noch vier Leute, da würde er halt von vorne anfangen. Außerdem blieb ihm ja noch Kevin. Und im Laboratorium liefen zahllose verwendbare Leute herum. Und er arbeitete für den Präsidenten. Er würde den NSR um Hilfe bitten.


Zwei Tage später traf Hilfe vom Nationalen Sicherheitsrat ein. Die persönlichen Beauftragten des Präsidenten hatten dem Labor endlich militärische Unterstützung geschickt. Die Militärhilfe traf ein in Gestalt eines jungen Lieutenant Colonel der Air Force aus Colorado. Es war der Mann, der Nachtschicht gehabt hatte, als Oscar entführt worden war und als Kevin in seiner Verzweiflung beim Präsidenten angerufen hatte.

Der Lieutenant Colonel war ein aufrechter, schneidiger Mann mit stahlgrauem Blick. Er war in voller Uniform und hatte ein scharlachrotes Barett auf. Auch drei Fahrzeuge hatte er aus Texas mitgebracht. Im ersten saß ein Trupp schneller Bodeneingreiftruppen, Soldaten in so schwerer Kampfmontur, dass sie kaum gehen konnten. Im zweiten und dritten Wagen war die Mediencrew des Lieutenant Colonels untergebracht.

Der Lieutenant machte einen pompösen Rundgang durchs Labor, vorgeblich um die Sicherheitsvorkehrungen zu prüfen, vor allem aber, um sich den staunenden Einheimischen zu präsentieren. Oscar bemühte sich, eine sinnvolle Aufgabe für ihn zu finden. Er stellte den Lieutenant Colonel seinen Sicherheitsexperten vor: Kevin und Captain Burningboy.

Beim Briefing sagte Kevin nur wenig – Kevin schien peinlich berührt. Burningboy zeigte sich äußerst zuvorkommend. Der Moderatorencaptain begann mit einem detaillierten und erschreckenden Vortrag über die strategische Misere des Labors. Buna lag zwanzig Kilometer von der höchst durchlässigen Grenze zu Louisiana entfernt. Die trüben Sümpfe des Sabine River Valley wimmelten von rachsüchtigen Regulatoren. Wenngleich der Hubschrauberangriff auf die Regulatorenkommandos nicht publik geworden war, hatte er sie doch zur Weißglut gereizt.

Die Bedrohung für Buna war unmittelbar und ernst. Die Regulatoren überwachten das Labor rund um die Uhr mit Schwärmen von Flugdrohnen. Huey hatte den Plan aufgegeben, sich die Anlage einzuverleiben. Stattdessen wollte er sie ruinieren und zerstören. Die Regulatoren machten sich seine Ziele bereitwillig zu eigen. Es machte sie fuchsteufelswild, dass das Laboratorium Moderatoren beherbergte.

Das Briefing versetzte den Lieutenant Colonel in Aufregung. Tödlich gelangweilt von seinem Schreibtischjob und peinlich berührt von der kleinlichen Vertuschung seines glorreichen Angriffs, brannte er auf einen Kampf. Er hatte sich umfassend vorbereitet. Sein Freiwilligentrupp von Ninjakämpfern hatte Unmengen professioneller Ausrüstung dabei: schusssichere Westen, schallgedämpfte Präzisionsgewehre, Sensoren, die auf menschlichen Körpergeruch ansprachen, minensichere Stiefelsohlen, Infrarothelme für den Nachtkampf, sogar ganz spezielle gefriergetrocknete, selbsterhitzende Feldrationen.

Nachdem sich der Lieutenant Colonel am Boden ein Bild von der Lage gemacht hatte, verkündete er, die Zeit für Luftaufklärung sei gekommen, draußen in den Sümpfen. Sein Berichterstatterteam sollte beschäftigt werden; die Helikopter sollten als Verbindungsrelais dienen und gegebenenfalls Luftunterstützung geben.

Oscar hatte aufgrund seiner Verbindungen zum NSR bereits einiges über den Lieutenant Colonel in Erfahrung gebracht. Jetzt, da er dem Mann persönlich gegenüberstand, wurde ihm alsbald klar, dass der Colonel eine Gefahr für sich und alle in Schussweite befindlichen Personen darstellte. Er war jung, ehrgeizig und strohdumm; er war ein atavistisches Wesen aus den blutgetränkten Tiefen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Gleichwohl gab Oscar sich alle Mühe.

»Colonel, Sir, die überschwemmten Wälder des Sabine River Valley sind gefährlicher, als man meinen möchte. Wir haben es hier nicht mit bloßen Sümpfen zu tun, sondern mit Katastrophengebieten. Seit sich das Wetter verändert hat, tritt der Sabine River häufig über die Ufer, und eine Menge Farmland hat sich wieder in Wildnis verwandelt. Aber das ist kein unberührter Urwald dort draußen. Das sind unbewohnte, vergiftete Gebiete ohne ökonomischen Wert. Alles, was sich zu Bauholz machen ließ, wurde längst abtransportiert, und jetzt wachsen dort giftige Pflanzen und Büsche von halber Baumgröße. Es wäre ein Fehler, die Regulatoren zu unterschätzen, denn sie kennen sich dort aus. Die Cajun-Nomaden sind nicht bloße Jäger und Fischer und Sumpfbewohner; sie verstehen sich auch auf Audioüberwachung.«

Natürlich war es zwecklos. Der Lieutenant Colonel, seine Kämpfer und die empfänglichen fliegenden Kriegsberichterstatter brachen am nächsten Morgen zu einer Patrouille auf.

Kein Einziger kehrte zurück.


Drei Tage nach diesem lautlosen Debakel erklärte Captain Burningboy er wolle ebenfalls aufbrechen. Burningboy war nun wieder ›General‹, und da er seinen Ruf erfolgreich wiederhergestellt hatte, hielt er den Zeitpunkt für gekommen, sich zu verabschieden.

Kevin gab auf dem Gelände der Polizeistation eine Party für den General. Greta und Oscar nahmen in Abendkleidung daran teil und traten zum erstenmal in der Öffentlichkeit als Paar auf. Da man sie auch als Paar entführt und gerettet hatte, war dies nur folgerichtig. Beide waren mit der Machtausübung vollauf beschäftigt. Auf Kevins Party gab es zudem richtiges Essen. Nachdem sie tagelang von den Biotech-Rationen der Nomaden gelebt hatten, legten Wissenschaftler und Prolos einen wahren Wolfshunger an den Tag.

Oscar bedauerte Burningboys Weggang. Er sah keinen Sinn darin. Burningboy, der bereits betrunken war, nahm Oscar beiseite und erläuterte ihm mit schonungsloser Offenheit seine Beweggründe. Sein Fortgang hatte mit sozialen Netzwerkstrukturen zu tun.

»Früher sind wir mit derlei Dingen genauso umgegangen wie die Regulatoren«, vertraute Burningboy ihm an. »Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Das hat bei denen aber eine Aristokratie entstehen lassen – die Sonnenlords, die Edelmänner, die Respektierten, bis hinunter zu den lausigen Neuligen. Wir Moderatoren setzen auf Wahlen. Daher gibt es Fluktuation; Leute können ihren Ruf mindern, ihn verspielen und wiedergewinnen. Außerdem – und das ist der springende Punkt – verhindern wir auf diese Weise Enthauptungsschläge. Der Staat hat es immer auf die ›kriminellen Rädelsführer‹ abgesehen. Er will den ›Kopf des Vereins‹, den so genannten Mastermind.«

»Die Unterhaltungen mit Ihnen werden mir wirklich fehlen«, sagte Oscar. Es war lange her, seit er sich das letzte Mal in komplettem Sonntagsstaat, das heißt mit Gamaschen, Schärpe und Hut, in der Öffentlichkeit gezeigt hatte. Er hatte das Gefühl, als sei er eine Million Meilen von Burningboy entfernt und empfange die Signale eines fernen Planeten.

»Hören Sie, Oscar, nach dreißig Jahren des imperialistischen Infokriegs hat jeder Mensch auf der gottverdammten weiten Welt Verständnis für Gegenaktionen und politische Subversion. Wir wissen mittlerweile alle, wie man es anstellt, wir wissen, wie man das herrschende Paradigma klein kriegt. Wir sind Genies darin, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und all unsere Institutionen zu demontieren. Es gibt keine einzige funktionsfähige Institution mehr.« Burningboy legte eine Pause ein. »Bin ich vielleicht zu radikal? Mache ich Ihnen Angst?«

»Nein. Das ist die Wahrheit.«

»Und deshalb gehe ich nun ins Gefängnis. Wir Moderatoren kennen drüben in Neumexiko einen einsichtigen Richter. Der wird mich wegen einer völlig unbedeutenden Sache einlochen. Also sitze ich zwei, drei Jahre in einem Staatsgefängnis mit minimalem Sicherheitsstandard ab. Ich glaube, wenn ich erstmal behaglich im Knast sitze, könnte ich das Schlamassel, das Sie hier angerichtet haben, überleben.«

»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie tatsächlich ins Gefängnis gehen, Burningboy.«

»Sie sollten’s mal ausprobieren, Amigo. Dort lebt die unsichtbare Bevölkerung Amerikas. Im Gefängnis gibt es alles, was man sich wünscht. Die Leute haben eine Menge Zeit. Es gibt eine eigenartige Untergrundwirtschaft auf der Basis von Drogen und Tätowierungen. Man hat viel Zeit zum Nachdenken. In einem Gefängnis bereut man wirklich seine früheren Fehler.« Burningboys Blick schweifte in die Ferne. Oscar verlor den Kontakt zu ihm; es war, als stünde er auf dem blumenbestreuten Deck eines Walkürenschiffes, unterwegs zur Küste von Avalon. »Außerdem haben ein paar von den armen Schweinen tatsächlich schlechte Zähne. Wenn ich im Knast bin, kann ich wieder als Zahnarzt praktizieren. Habe ich Ihnen schon mal gesagt, dass ich früher Zahnarzt war? Das war, bevor der Impfstoff gegen Karies meinen Berufsstand vernichtet hat.«

Oscar hatte ganz vergessen gehabt, dass Burningboy einmal Zahnarzt gewesen war. Der Mann hatte tatsächlich einen Doktortitel erworben. Oscar fand dies bestürzend, nicht nur weil die Vernichtung dieses hehren Berufsstandes ein Gradmesser war für den sozialen Niedergang Amerikas. Es beunruhigte ihn, dass er anfing, wichtige Informationen zu wichtigen Leuten zu vergessen. War er mit neunundzwanzig bereits zu alt? Baute er allmählich ab? Hatte er sich übernommen? Vielleicht lag es daran, wie Burningboy sich kleidete und wie er redete. Er war ein Dropout, ein Prolo, eine Randfigur. Man konnte ihn nur vorübergehend ernst nehmen.

»Ich bedaure nichts«, sagte Burningboy und leerte sein Cocktailglas in einem Zug. »Ich habe meinen Leuten hier eine Menge Ärger eingebrockt. Das war nicht meine Idee – das war Ihre verdammte Idee –, aber sie hätten es nicht getan, wenn ich nicht mein Okay gegeben hätte. Wenn man das Leben von Hunderten von Menschen verändert, sollte man auch einen hohen Preis dafür zahlen. Bloß um andere davon abzuschrecken, es einem nachzutun, wissen Sie. Und deshalb tue ich das einzig Ehrenhafte. Meine Leute verstehen das.«

»Das ist also das einzig Ehrenhafte? Seine Strafe absitzen. Schulden begleichen.«

»Stimmt. Ich habe die Verantwortung getragen, und jetzt trete ich ab. Zumindest werde ich nicht enden wie Green Huey«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass Huey nicht mehr zurück kann, mein Sohn. Er kann das Kreuz nicht ablegen und die Dornenkrone nicht absetzen. Er kann sich nicht von der Bühne stehlen und sich still in eine Ecke setzen. Er ist der brandheiße selbsternannte Superretter der Erniedrigten und Beleidigten, und so eine Nummer kann man in Amerika nicht abziehen, ohne dass jemand auf einen schießt. So läuft das hier eben. Huey wirkt im Moment überlebensgroß, aber er ist auch nur aus Fleisch und Blut. Irgendjemand wird Huey töten. Der einzelgängerische Scharfschütze, ein paar Attentäter außerhalb des Autokorsos…« Auf einmal blickte er Oscar merkwürdig an. »Ich hoffe bloß, er wird von keinem abgeknallt, den ich persönlich kenne.«

»Es wäre sehr bedauerlich, wenn der Gouverneur zu Schaden käme.«

»Ja, klar.«

Oscar räusperte sich. »Wenn Sie uns verlassen, General, wer soll dann das Kommando übernehmen?«

»Sie. Sie führen doch schon die ganze Zeit das Kommando. Haben Sie das etwa noch nicht gemerkt? Sie sollten allmählich aufwachen, mein Sohn.«

»Hören Sie, ich gebe keine Befehle. Ich rede bloß mit den maßgeblichen Parteien.«

Burningboy schnaubte.

»Okay, dann lassen Sie mich meine Frage anders formulieren. An wen soll ich mich wenden, wenn ich mit den Moderatoren reden möchte?«

»Na schön.« Burningboy zuckte die Achseln. »Ich werde Sie meinem gesalbten Nachfolger vorstellen.«

Burningboy geleitete ihn ins Innere der Polizeistation. Hinter der verschlossenen Tür des Polizeichefs drang lautes Stöhnen hervor. Burningboy holte eine Plastikkarte aus seinem Medizinbeutel und öffnete die Tür. Kevin hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt. Zwei Nomadenfrauen massierten ihm die bloßen Füße. Er war schwer betrunken und trug einen lächerlichen Partyhut.

»Na schön, Ladies«, lallte Kevin. »Das reicht fürs erste. Meinen aufrichtigen Dank.«

»Die Mittelfußknochen sind wirklich hinüber«, sagte die erste Masseuse voller Würde.

»Dürfen wir eine ganze Stunde berechnen?« fragte die zweite.

»Das ist mein Nachfolger«, sagte Burningboy. »Unser neuer Sicherheitsboss. Captain Scubbly Bee.«

»Das ist ja prima«, meinte Oscar. »Das ist eine gute Neuigkeit. Unglaublich. Das ist so toll, dass mir die Worte fehlen.«

Kevin schwang die öligen Füße vom Schreibtisch. »Ich habe mich anwerben lassen. Ich bin dem Mob beigetreten. Ich bin ein gemachter Mann, ich bin jetzt ein Moderator.«

»Das ist mir schon klar«, erwiderte Oscar. »Neuer Name inklusive. ›Scubbly Bee‹, nicht wahr? Was soll das bedeuten? Oder heißt es ›Stubbly‹?«

»Nein, Scubbly. Scubbly Bee.« Kevin deutete auf einen Aktenvernichter. »Ich hab gerade meinen Ausweis vernichtet. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für ein tolles Gefühl das ist. Das ist die beste Party meines Lebens.«

»Was bedeutet ›Scubbly Bee‹ eigentlich? Da muss ja etwas unheimlich Wichtiges dahinterstecken, sonst würde es nicht so dämlich klingen.«

Kevin grinste. »Ich weiß es, und Sie müssen ‘s rausfinden, Mann.«

Burningboy schüttelte Kevin die Hand. »Ich breche bald auf«, sagte er. »Bleiben Sie nüchtern, Captain. Ich will nicht mehr erleben, dass Sie betrunken sind.«

»Ich bin überhaupt nicht betrunken«, nuschelte Kevin. »Das kommt von den Endorphinen, die meine Füße ausgeschüttet haben.«

Burningboy ging hinaus und legte den beiden willigen Nomadenfrauen die Arme um die Schultern. Oscar setzte sich. »Ich hoffe, Sie haben nicht auch noch Ihre Wählerregistrierung gelöscht.«

»Als wenn wir hier etwas von der Fernwahl in Boston hätten.«

»Er hat Ihnen wirklich die volle Verantwortung für die Nomaden übertragen, die sich in dieser Anlage aufhalten?«

Kevin gähnte. »Also, wenn die Party vorbei ist, werd ich ernsthaft mit Ihnen reden, Mann. In der Zwischenzeit sollten Sie was essen. Oder auch was trinken. Schließlich bezahlen Sie das alles.«

»Ich werde Sie nicht lange von der Party fernhalten, Captain Bee. Ich möchte bloß freundschaftlich mit Ihnen plaudern.«

»Wenn’s so ist, sollten Sie mich ›Scubbly‹ nennen.« Einhergehend mit theatralischen Zuckungen streifte Kevin die Socken über seine geröteten, nach Einreibemittel stinkenden Füße. »Sie wollen unbedingt wissen, warum er das getan hat, nicht wahr? Sie müssen immer auf dem Laufenden sein, Sie können nicht bis morgen warten. Also, er will mich reinlegen, so ist das. Er steigt vom heißen Stuhl runter und lässt mich darauf Platz nehmen. Er glaubt, die Regulatoren hätten die Grenze überschritten und näherten sich mit allem, was sie haben. Das wollte er nämlich, das war sein Plan. Die Regulatoren werden die Anlage in Grund und Boden stampfen, und dann müssen sie mit einer massiven Vergeltungsaktion seitens des Staates rechnen.«

»Der Plan scheint mir ziemlich weit hergeholt, finden Sie nicht?«

»Aber deshalb hat er sich überhaupt drauf eingelassen, Mann. Er ist nicht deshalb hergekommen, weil er Ihren geliebten Wissenschaftlern helfen wollte. Sie denken zu geradlinig, Sie kapieren einfach nicht, welche Prioritäten diese Leute haben. Sie erwarten von der US-Regierung weder Recht noch Gerechtigkeit. Sie glauben nicht mal, dass die Regierung vernünftig handelt. Das ganze staatliche System hat sich von ihnen abgekoppelt und ist in den Tiefen des Weltraums verschwunden. Das ist wie schlechtes Wetter für sie. Etwas, das man eben erträgt.«

»Sie irren sich, Kevin – ich verstehe das durchaus.«

»Wenn sie handeln wollen, dann wollen sie etwas damit erreichen. Und wichtig sind für sie die anderen Prolos. Sie sind wie Stämme, die durch die gewaltige, feindselige Wüste Ihrer Gesetze und Ihres Geldes wandern. Aber die Moderatoren hassen die Regulatoren. Die Regulatoren sind stark und verbreiten Furcht und Schrecken. Ein Gouverneur hält seine schützende Hand über sie. Sie haben einen Luftwaffenstützpunkt eingenommen. Alles, was die Moderatoren besitzen, sind ein paar Dutzend Geisterstädte und Nationalparks.«

Oscar nickte aufmunternd.

»Dann tauchten Sie auf. Plötzlich bot sich die Gelegenheit, diese Anlage einzunehmen. Das hier ist eine staatliche Forschungseinrichtung, viel besser als ein Luftwaffenstützpunkt zum Ausschlachten. Das Labor hat einen ausgezeichneten Ruf. Seine Eroberung würde eine tödliche Beleidigung für die Regulatoren darstellen, denn ihr Gönner Huey hat die Anlage erbaut und glaubt, sie gehöre von Rechts wegen ihm. Er ist verrückt nach dieser ganzen grünen Gen- und Hirnscheiße. Deshalb hat Burningboy Ihnen geholfen. Und deshalb setzt er sich ab, bevor es ernst wird. Er hat der anderen Seite eine Falle gestellt, und wir sind für ihn bloß der giftige Köder.«

»Woher wissen Sie das alles?«

Kevin öffnete eine Schublade. Er nahm einen großen, höchst illegalen Revolver und eine Flasche Whiskey heraus. Er trank einen Schluck Whiskey, dann stellte er Zigarrenkisten mit Klappdeckeln auf die spiegelnde Oberfläche des Schreibtischs. »Weil er es selbst gesagt hat, Mann. Sehen Sie sich das mal an.«

Kevin öffnete die erste Zigarrenkiste. Darin waren Abhörwanzen mit handbeschrifteten Etiketten festgepinnt. »Wissen Sie eigentlich, wie schwer es ist, eine solche Anlage von Wanzen zu säubern? Es ist technisch unmöglich, so schwer ist es. Es gibt keine funktionierenden Detektoren für Wanzen – das ist alles Mist! Eine gute Wanze kann man praktisch nicht aufspüren, außer man sucht alles ab. Und das hab ich getan. Ich teile Gruppen von Moderatoren ein, die gerade nichts Besseres zu tun haben, und dann bearbeiten wir alle infrage kommenden Oberflächen mit engzähnigen Kämmen. Die Wanzen sind wie Läuse, das ist eine gottverdammte gesellschaftliche Krankheit. Ich hab Wanzen hier gefunden, die vor vierzehn, fünfzehn Jahren angebracht wurden. Ich hab eine richtige Sammlung angelegt! Schauen Sie mal!«

»Sehr eindrucksvoll.«

Kevin klappte die Zigarrenkiste zu und deutete feierlich darauf. »Wissen Sie, was das ist? Das ist das Böse, so ist das. Es ist schlimm, es ist schlicht und einfach böse von uns, dass wir uns das antun. Wir besitzen als Volk und Nation keinen Anstand, Oscar. Wir sind mit dieser Technik zu weit gegangen, wir haben unsere Selbstachtung verloren. Das ist ein Massenmedium, Mann. Ein böses, das Privatleben ausspionierendes Medium. Aber wir haben es gewollt und setzen es auch ein, weil wir glauben, wir müssten informiert sein. Wir sind gezwungen, allem uneingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Jedem Scheiß, der uns im Grunde nichts angeht.«

Oscar schwieg. Er wollte Kevin nicht unterbrechen, wenn er schon mal in Geständnislaune war.

»Also hab ich die Wanzen eingesammelt und stattdessen meine eigenen angebracht. Weil ich ja nun der Hacker bin, der zum Superuser geworden ist. Ich habe nicht bloß die Computer hier geknackt. Ich habe die ganze Umgebung geknackt. Ich habe jederzeit zu allem Zugang, was hier drinnen vorgeht. Ich bin ein Cop. Aber ich bin mehr als ein Cop. Ich meine, ein Cop ist was Normales – ein weißer Angloamerikaner, der den aufmüpfigen Ureinwohnern seine Vorstellung von Ordnung aufzwingt. Scheiße, das war früher in allen amerikanischen Städten so. Und ich war scharf darauf, es zu tun, Mann. Ich hab mich selbst geliebt, ich hielt mich für ‘nen Magier. Es war hochinteressant, anderen Leuten beim Sex zuzusehen. Aber nach dem sechzigsten, siebzigsten wird’s langweilig, Mann. Einfach langweilig.«

»Tatsächlich?«

»Aber klar doch. Und es hat seinen Preis. Seit ich Sie kennen gelernt habe, hab ich’s kein einziges Mal mehr gemacht! Ich trau mich nicht! Weil ich der Geheime Oberbulle bin. Ich jage jeder anständigen Frau einen höllischen Schrecken ein. Unanständige Frauen sehen das ein wenig anders. Außerdem hab ich einfach keine Zeit mehr für meine Bedürfnisse! Der Großinquisitor ist anderweitig viel zu beschäftigt. Ich muss die ganzen Mitschnitte nach Schlüsselwörtern abscannen. Jedesmal, wenn irgendwo was vorgefallen ist, muss ich die Videos durchforsten. Irgendwelchen Wanzen geht der Saft aus, oder sie werden gefunden, oder jemand tritt darauf. Im Wald halten sich Kobolde versteckt. In der Luft schwirren Sonden rum. Es gibt Betrunkene, verirrte Kinder, Kleindiebstähle. Es gibt Feueralarm und Autounfälle. Und ich muss mich drum kümmern. Um jeden Mist!«

»Kevin, Sie wollen mich doch nicht etwa im Stich lassen?«

»Sie im Stich lassen? Mann, ich bin für den Job wie geschaffen. Ich bin am Ziel meiner Träume. Bloß verwandele ich mich dadurch in ein Monster. Das ist alles.«

»Kevin, ich finde, Sie sind gar kein so übler Bursche. So schlimm ist es hier gar nicht. Hier herrscht kein Chaos. Die Lage ist stabil.«

»Klar, ich sorge ja für Ordnung. Aber mit Recht und Gesetz hat das nichts zu tun, Oscar. Hier herrscht Ordnung, aber es gibt kein Gesetz. Wir lassen zu, dass uns die Dinge entgleiten. Wir lassen zu, dass die Lage kritisch und unberechenbar wird. Wir nehmen zu Augenblicksentscheidungen Zuflucht. Ich sorge für Ordnung, weil ich insgeheim ein Tyrann bin. Ich habe alles mögliche, bloß keine Legitimität. Ich habe keine Bremsen. Ich habe keine Ehre.«

»Damit kann ich leider nicht dienen.«

»Sie sind Politiker, Oscar. Aber Sie haben mehr verdient. Sie sollten ein Staatsmann sein. Sie sollten mir ein wenig Ehre verschaffen.«

Ein Telefon läutete. Kevin stöhnte auf, nahm einen Laptop zur Hand und drückte eine Funktionstaste. »Eigentlich dürfte niemand diese Nummer kennen«, klagte er.

»Ich dachte, das hätten Sie mittlerweile im Griff.«

»Eine typische Politikerbemerkung. Ich habe ein paar Sicherungen, Dummies und Firewalls installiert, und Sie glauben gar nicht, wie viele Netzangriffe darin hängenbleiben.« Er warf einen Blick auf den Rückverfolgungsbericht auf dem Laptopbildschirm. »Was, zum Teufel, ist das?« Er nahm den Anruf entgegen. »Ja?«

Fünfundvierzig Sekunden lang lauschte er aufmerksam. Oscar nutzte die Gelegenheit, um Kevins Büro in Augenschein zu nehmen. Ein so unoffiziell wirkendes Büro hatte er noch nicht gesehen. Pin-up-Bilder, schmutzige Kaffeetassen, rituelle Masken, kaputte Telekommunikationshardware, aufgehängt an billigen Nägeln…

»Es ist für Sie«, sagte Kevin schließlich und reichte Oscar den Hörer.

Der Anrufer war Jules Fontenot. Fontenot war aufgebracht. Es war ihm nicht gelungen, Oscar über einen herkömmlichen Anschluss zu erreichen. Schließlich hatte er über ein Geheimdienstbüro in Baton Rouge die Polizeizentrale des Labors angerufen. Der Aufwand hatte ihn erbost.

»Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass unser Telefonsystem in einem so schlechten Zustand ist, Jules. Seit Ihrem Fortgang hat sich hier eine Menge verändert. Aber ich freue mich, von Ihnen zu hören. Ich weiß Ihre Hartnäckigkeit zu schätzen. Was kann ich für Sie tun?«

»Sind Sie immer noch sauer auf Green Huey?« krächzte Fontenot.

»Ich war niemals ›sauer‹ auf Huey. Profis werden nicht sauer. Ich hatte mit ihm zu tun.«

»Oscar, ich bin im Ruhestand. Daran soll sich auch nix ändern. Ich wollte nie wieder so ‘nen Anruf tätigen. Aber ich hatte keine andre Wahl.«

Was war los mit dem Mann? Das war Fontenot, keine Frage, aber sein Akzent hatte sich drastisch verstärkt. Es war, als spräche der Mann über einen digitalen Cajun-Dialekt-Vocoder.

»Jules, Sie wissen, dass ich Ihren Rat stets geschätzt habe. Ihr Fortgang hat daran nichts geändert. Sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben.«

»Flüchtlinge aus Haiti. Verstehn Sie? Ein Lager für haitianische Flüchtlinge.«

»Haben Sie eben ›Haiti‹ gesagt? Meinen Sie frankophone Schwarze aus der Karibik?«

»Genau! Kirchenleute aus Haiti. Huey hat ihnen politisches Asyl gewährt. Hat ihnen weit draußen ‘n kleines Musterdorf gebaut. Die wohnen jetzt in meinen Sümpfen.«

»Ich verstehe, Jules. Evakuierungen, haitianische Flüchtlinge, Notunterkünfte, französische Sprache, das sieht ganz nach Huey aus. Wo liegt das Problem?«

»Also, irgendwas stimmt da nicht. Nicht bloß deshalb, weil’s Fremde sind. Angehörige einer anderen Religion. Schwarze, religiöse Flüchtlinge, die Voodoo praktizieren und kreolisch sprechen. Da steckt noch mehr dahinter. Huey hat irgendwas mit ihnen angestellt. Drogen vielleicht. Oder es hat was mit Genetik zu tun. Sie verhalten sich merkwürdig. Ausgesprochen merkwürdig.«

»Jules, entschuldigen Sie, aber ich muss mich vergewissern, dass ich Sie richtig verstanden habe.« Oscar gab Kevin hektisch Zeichen – SCHNEIDEN SIE DAS MIT. SCHALTEN SIE IHREN LAPTOP EIN. MACHEN SIE SICH NOTIZEN! »Jules, wollen Sie damit sagen, der Gouverneur von Louisiana benutze haitianische Flüchtlinge als Versuchskaninchen für Verhaltensexperimente?«

»Ich würd’s vor Gericht nicht beschwören – weil ich niemanden dazu kriege, mal hier rauszukommen und sich das anzusehen! Es beschwert sich niemand, das ist das Problem. Das sind die glücklichsten gottverdammten Haitianer auf der ganzen Welt.«

»Das ist bestimmt was Neurales. Eine Stimmungsbeeinflussende Behandlung.«

»Kann sein. Aber das ist was anderes als die Drogen, die ich kenne oder von denen ich gehört hab. Mir fehlen einfach die Worte, um die Lage zu schildern. Mir fehlen einfach die Worte.«

»Und Sie möchten, dass ich zu Ihnen komme und mir das ansehe.«

»Das hab ich nicht gesagt, Oscar. Ich meine bloß… na ja, die hiesige Polizei ist bestochen, die Staatsmiliz ist geschmiert, der Geheimdienst hört mir nicht mehr zu, niemand schert sich drum. Da leben Haitianer von einer kahlen, untergehenden Insel, und niemand schert sich drum. Keine verdammte Menschenseele.«

»Ich schon, Jules. Das können Sie mir glauben.«

»Ich komme einfach nicht damit klar. Ich kann nachts nicht mehr schlafen, ich muss ständig dran denken.«

»Behalten Sie die Ruhe. Sie haben richtig gehandelt. Ich werde etwas unternehmen, ganz bestimmt. Kann ich Sie irgendwie erreichen? Vertraulich, abhörsicher?«

»Fehlanzeige. Ich hab mein Handy weggeschmissen.«

»Wie soll ich dann weiter vorgehen?«

»Ich bin im Ruhestand! Verdammt noch mal, Oscar, sagen Sie bloß niemandem, dass ich die Sache bekannt gemacht habe! Ich lebe jetzt hier. Ich liebe diesen Ort. Ich will hier sterben.«

»Das ist nicht richtig, Jules, und das wissen Sie. Das ist eine äußerst ernste Angelegenheit. Entweder Sie sind drin im Spiel, oder Sie sind draußen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

»Okay. Ich bin draußen.« Die Verbindung wurde unterbrochen.

Oscar wandte sich an Kevin. »Haben Sie das Wesentliche mitbekommen?«

»Wer war das? Ein Verrückter?«

»Das war mein ehemaliger Sicherheitschef, Jules Fontenot. Er war während des Wahlkampfs für die Sicherheit zuständig. Zufällig ist er ein Cajun. Er ist ausgestiegen, kurz bevor ich Sie kennen gelernt habe, und seitdem ist er draußen im Bayou und angelt.«

»Und jetzt tischt er ihnen dieses Ammenmärchen auf und versucht, Sie in die Sümpfe von Louisiana zu locken?«

»Stimmt. Und ich werde auch hingehen.«

»Moment, Cowboy. Überlegen Sie erst mal. Was ist wahrscheinlicher? Dass Huey Gräuellager im Bayou unterhält oder dass man Ihren ehemaligen Freund, den Cajun, gegen Sie einsetzt? Das ist eine Falle, Mann. Damit die Sie kidnappen können, wie sie’s schon mal versucht haben. Die werden sie zusammenschlagen und den Alligatoren zum Fraß vorwerfen.«

»Kevin, ich weiß Ihre Hypothese zu schätzen. Das ist umsichtig und bodyguardmäßig gedacht. Aber ich will Ihnen verraten, was es politisch damit auf sich hat. Ich kenne Fontenot. Er war Special Agent des Secret Service. Ich habe dem Mann mein Leben anvertraut – und das Leben des Senators, das Leben der ganzen Mannschaft. Vielleicht hat er jetzt wirklich vor, mich zu kidnappen und zu ermorden. Aber wenn Huey es schafft, aus Jules Fontenot einen Verräter zu machen, dann hat das Amerika, wie wir es kennen, aufgehört zu existieren. Das würde bedeuten, dass wir zum Untergang verdammt sind.«

»Dann wollen Sie also nach Louisiana gehen und Nachforschungen anstellen.«

»Natürlich. Die Frage ist bloß, wie und unter welchen Umständen. Ich werde mir über dieses Projekt gründlich Gedanken machen.«

»Okay, dann komme ich mit.«

Oscar kniff die Augen zusammen. »Warum sagen Sie das?«

»Dafür gibt’s ‘ne Menge Gründe. Ich denke, ich bin Ihr Bodyguard. Ich gehöre zu Ihrem Team. Sie bezahlen mich. Ich bin der Nachfolger von diesem Fontenot, von dem Sie so respektvoll reden. Vor allem aber bin ich’s leid, dass Sie mir immer vier Schritte voraus sind.« Kevin schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Schauen Sie mich an, Mann. Ich bin ein ausgesprochen smarter, kluger, hinterlistiger Typ. Ich bin ein Hacker. Und zwar ein guter! Ich bin eine solche Netzlegende, dass ich staatliche Forschungslabors einnehmen kann. Ich passe perfekt zu den Moderatoren. Ich hab sogar Umgang mit NSR-Agenten. Aber was ich auch anfange, Sie treiben’s immer noch toller. Sie sind mir immer einen Schritt voraus. Ich bin ein Techniker, und Sie sind ein Politiker und schalten einfach schneller als ich. Sie nehmen mich nicht mal ernst.«

»Das stimmt nicht. Ich weiß, dass Sie jemand sind, der zählt! Ich nehme Sie hundertprozentig ernst, Captain Scubbly Bee.«

Kevin seufzte. »Reservieren Sie mir einfach ein Plätzchen hinten in ihrem Einsatzbus, okay? Mehr verlange ich gar nicht.«

»Ich muss mit Greta über diese Entwicklung sprechen. Sie ist meine Expertin für Hirnforschung.«

»Gut. Kein Problem. Einen Moment.« Kevin stand auf und humpelte barfuss zu einem Desktoprechner. Er machte eine Eingabe. Auf dem Bildschirm erschien ein Übersichtsplan des Laboratoriums. Er betrachtete ihn aufmerksam. »Okay. Dr. Penninger befindet sich in ihrem supergeheimen Labor im vierten Stock der Personalabteilung.«

»Was? Ich dachte, Greta ist auf der Party.«

»Dr. Penninger hasst Parties. Sie langweilt sich so schnell. Haben Sie das nicht gewusst? Ich tue Dr. Penninger gerne einen Gefallen. Dr. Penninger ist anders als die meisten Frauen – man kann sich mit ihr ernsthaft über wichtige Dinge unterhalten. Sie hat für den Fall, dass wir angegriffen werden, eine sichere Zuflucht gebraucht, und da hab ich ihr ein nettes kleines Geheimlabor über der Personalabteilung eingerichtet. Sie hat die Clowns ja gefeuert, deshalb ist dort jetzt jede Menge Platz.«

»Woher wissen Sie, dass sie sich im Moment dort aufhält?«

»Das soll wohl ein Witz sein. Ich bin für die Sicherheit verantwortlich, und sie ist die Direktorin. Ich weiß immer, wo sich die Direktorin gerade aufhält.«

Nach ausgiebigem Händeschütteln verließ Oscar die Party und machte sich auf die Suche nach Greta. Dank Kevins lückenloser Überwachung war dies nicht schwer. Kevin und seine Prologangs hatten Greta einen kleinen, provisorischen Arbeitsplatz eingerichtet. Oscar tippte einen vierstelligen Code ein, worauf sich die Tür öffnete. Es war dunkel im Raum, und Greta hatte sich über ein Mikroskop gebeugt, das die einzige Lichtquelle darstellte. Sie hatte beide Augen an das Doppelokular gepresst, ihre Hände steckten in kleinen AFM-Sektionshandschuhen. Sie hatte sich einen Laborkittel über die schicke Partykleidung geworfen. Der Raum war so kahl wie eine Klosterzelle, und Greta machte keinen Mucks: lautlos und systematisch hantierte sie mit einem winzigen Bestandteil des Universums.

»Ich bin’s«, sagte er.

»Oh«, machte Greta. Sie schaute hoch, nickte und blickte wieder durchs Okular.

»Weshalb hast du die Party verlassen?«

»Warum nicht? Du hast mir ja sowieso keine Beachtung geschenkt.«

Es erstaunte und erregte ihn sogar ein wenig, dass Greta eingeschnappt war. »Wir sind beide im Notstandsausschuss. Wir sind täglich mehrere Stunden zusammen.«

»Wir sind nicht zusammen. Du hast das Interesse an mir verloren. Du vernachlässigst mich.«

Oscar überlegte. Mittlerweile war sein Interesse jedenfalls geweckt. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr er diesen Aspekt einer Beziehung genoss. Offenbar waren Frauen für ihn als Verhandlungspartner interessanter denn als Geliebte oder Beziehungspartner. Er fühlte sich sehr zerknirscht deswegen.

»Greta, das Eingeständnis fällt mir nicht leicht, aber du hast recht. Jetzt, da alle wissen, dass wir ein Paar sind, haben wir nie Zeit füreinander. Wir haben uns heute Abend gemeinsam in der Öffentlichkeit gezeigt, und ich habe dich taktlos alleingelassen. Das gebe ich zu. Es tut mir leid. Ich möchte es wieder gutmachen.«

»Du solltest dich mal anhören. Das klingt so, als würdest du vor einem Ausschuss reden. Wir beide sind jetzt Politiker. Du redest mit mir wie ein Diplomat. Ich muss Reden des Präsidenten lesen, die voller Lügen sind. Ich komme nicht mehr dazu, an etwas zu arbeiten, das mich interessiert. Ich reibe mich in einer nicht enden wollenden politischen Krise auf. Ich hasse die Verwaltungsarbeit. Mein Gott, ich habe solche Schuldgefühle«

»Warum? Die Arbeit ist wichtig. Irgendjemand muss sie tun. Du machst deine Sache gut! Die Leute respektieren dich.«

»Als wir in irgendwelchen Strandhotels schmutzigen, beinahe gewalttätigen Sex hatten, habe ich mich nicht so schuldig gefühlt. Das war zwar nicht der Mittelpunkt meines Lebens oder so, aber es war jedenfalls interessant. Ein gutaussehender, charmanter Kerl mit einem heißen Körper, das ist schon faszinierend. Viel interessanter, als dabei zuzusehen, wie meine Forschung den Bach runtergeht.«

»O nein, du nicht auch noch«, sagte Oscar. »Erzähl mir nicht, du wolltest dich jetzt, nachdem ich so viel Arbeit investiert habe, gegen mich wenden. So viele Menschen haben mich bereits verlassen. Sie glauben einfach nicht, dass es funktionieren könnte.«

Sie betrachtete ihn mit jähem Mitleid. »Armer Oscar. Du hast mich völlig falsch verstanden. Das ist nicht der Grund, weshalb ich mich schuldig fühle. Ich fühle mich schuldig, weil ich weiß, dass es funktionieren wird. Ich habe mich lange mit den Moderatoren unterhalten… Jetzt hab ich’s wirklich begriffen. Die Wissenschaft wird sich wirklich verändern. Sie wird immer noch ›Wissenschaft‹ sein. Sie wird ihre intellektuelle Struktur behalten, aber ihre politische Struktur wird völlig anders sein. Anstatt schlecht bezahlter Staatsangestellter wird es eine Avantgarde von dissidenten Intellektuellen geben, die für die Entrechteten arbeiten. Und das wird sich für uns auszahlen. Weil wir mit ihnen besser fahren werden als mit der Regierung. Die Prolos sind gar nicht so neu; sie ähneln großen, langhaarigen College-Studenten mit Körpergeruch. Mit solchen Leuten kommen wir klar. Das tun wir ständig.«

Seine Miene hellte sich auf. »Bist du sicher?«

»Das wird eine neue Akademie werden, mit ein paar feudalen Elementen. So wie im Mittelalter, als die Universitäten selbstständige Territorien waren, als die Gelehrten Amtsstäbe und kleine viereckige Hüte trugen, und wenn der Universität etwas nicht passte, schickte sie Horden von Studenten auf die Straßen, wo sie solange Rabatz machten, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatten. Bloß dass wir nicht mehr im dunklen Mittelalter leben, sondern im Zeitalter des Getöses, des Lärms. Wir haben die Gesellschaft zerstört, mit unserem Wissen und der Beliebigkeit seiner Anwendung. Wir leben im Zeitalter des Lärms, und wir Wissenschaftler passen uns den Gegebenheiten an. Wir müssen keine Regierungsfunktionäre sein, die jede Menge Geld zur Verfügung haben, bloß weil sie der Regierung militärisch-industrielles Wissen zur Verfügung stellen. Das alles war einmal. Von nun an werden wir wie andere kreative Intellektuelle auch sein. Wir werden sein wie Künstler oder Violinbauer, mit einer kleinen Anhängerschar, die unsere Arbeit verfolgen und uns unterstützen.«

»Wundervoll, Greta. Das hört sich prima an!«

»Wir werden kluge, attraktive, sexy Wissenschaft betreiben, mit wenig Ausrüstung. Das ist die Zukunft der amerikanischen Forschung. Wir können es nicht den Europäern nachmachen, die alle möglichen moralischen Bedenken und Ängste haben hinsichtlich der Auswirkungen der Technik auf die Menschen; das macht keinen Spaß, das ist unamerikanisch. Von nun an werden wir wie Orville Wright in seinem Fahrradschuppen sein. Leichter wird es für uns nicht werden. Sondern schwerer. Aber wir werden unsere Freiheit haben. Unsere amerikanische Freiheit. Das ist ein Vertrauensbeweis für die menschliche Vorstellungskraft.«

»Du bist eine Politikerin, Greta! Du hast hier einen Durchbruch erlebt. Ich bin vollkommen einer Meinung mit dir.« Er fühlte sich so stolz.

»Klar – es könnte wundervoll werden, wenn das jemand anders machen würde. Es geht mir gegen den Strich, der Wissenschaft das anzutun. Ich bedaure es zutiefst. Aber ich stehe am Scheidepunkt, und es bleibt mir einfach keine andere Wahl.«

»Was würdest du denn lieber tun?«

»Was ich lieber tun würde?« wiederholte sie. »Ich würde lieber die Arbeit über die Auswirkung der Acetylcholin-Freisetzung im Hippocampus fertigstellen. Was anderes habe ich nie gewollt! Ich träume davon, dass dieses fürchterliche Durcheinander eines Tages ein Ende haben und dass man mir dann wieder gestatten wird, das zu tun, was ich tun will.«

»Ich weiß, dass du dir das wünschst. Mittlerweile verstehe ich das sehr gut. Ich weiß auch, was es bedeutet, Greta: es bedeutet, dass ich dich im Stich gelassen habe.«

»Nein. Doch. Aber das ist unwichtig. Das große Ganze wird funktionieren.«

»Ich sehe nicht, wie das zugehen sollte.«

»Warte, ich zeig’s dir.« Sie nahm ihre Handtasche und ging hinaus. Eine Lampe ging an. Er hörte das Geräusch fließenden Wassers. Plötzlich wurde Oscar bewusst, dass er den eigentlichen Anlass seines Besuchs ganz vergessen hatte. Huey und sein angebliches Flüchtlingslager voller Haitianer. Er war überzeugt, dass Huey, der besessen war von der Vorstellung, dass die Hirnforschung ganz groß im Kommen war, in seinem Überschwang etwas Schreckliches getan hatte. Er wusste, dass es etwas mit Gretas Hirnforschung zu tun haben musste. Tragischerweise hatte Greta selbst keinerlei Interesse an den praktischen Implikationen ihres Tuns. Sie war allergisch gegen jede Art von Einschränkungen. Sie konnte sich nicht abfinden mit den uferlosen politischen und moralischen Implikationen der reinen Wissenschaft. Dies langweilte sie zu Tode. Das hatte mit Wissenschaft einfach nichts zu tun. Das hatte nichts Wissenschaftliches an sich. Dem Fortschritt versagten die Bremsen. Was sollte in einer solchen Welt aus den Wissenschaftlern werden? Was, zum Teufel, sollte man mit ihnen anfangen?

Sie kam wieder zurück. Sie hatte sich im Bad ein wenig frisch gemacht. Sie hatte schwarzen Eyeliner aufgetragen, und auf ihren Wangen prangte bunte Kriegsbemalung.

Er war verblüfft.

»Das war nicht meine Idee«, sagte sie abwehrend. »Das hat sich deine Imageberaterin einfallen lassen – für die Party heute Abend. Ich wollte mich eigentlich für dich so schminken, aber es kam mir einfach zu lächerlich vor. Deshalb hab ich in letzter Minute alles wieder entfernt.«

»Aber das war ein großer Fehler«, sagte er und lachte. »Das ist wunderschön. Das ist wirklich heiß. Das ist mehr als nur erstaunlich. Das ist so ungewöhnlich. Ich kann’s einfach nicht glauben.«

»Vor dir siehst du eine sechsunddreißigjährige jüdische Frau, die sich in eine verrückte Außenseiterin verwandelt hat.«

»Aber nein. Nur deshalb, weil du Greta Penninger bist, funktioniert es überhaupt. Das ist die noch mit Hose und Laborkittel bekleidete, mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Direktorin eines staatlichen Labors, die sich als Stadtguerilla outet.« Er biss sich auf die Lippe. »Dreh dich mal um. Zeig dich.«

Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. Sie hatte sich einen Kopfschmuck aus billigen Perlen an den Hinterkopf gesteckt. »Das gefällt dir, nicht wahr? Vielleicht ist es gar nicht so übel. Ich sehe nicht seltsamer aus als der Präsident, meinst du nicht?«

»Greta…« Er räusperte sich. »Du glaubst gar nicht, wie gut das funktioniert. Für mich haut es hin. Es macht mich ganz heiß und fickerig.«

Sie blickte ihn überrascht an. »Hm. Meine Mutter meinte immer, mit einem guten Make-up fängt man Männer.«

»Zieh den Kittel aus. Und auch die Bluse.«

»Warte mal. Nimm die Hände weg.«

»Weißt du, wie lange es her ist? Eine ganze Ewigkeit. Ich kann mich nicht mal mehr an letztes Mal erinnern.«

»Okay! Später! Im Bett! Wenn du wieder normale Farbe hast.«

Er fasste sich an die Wange. Die Haut war brennend heiß. Verwundert fasste er sind an die Ohren. Sie fühlten sich an wie frittiert. »Wow«, murmelte er. »Ich bin überwältigt.«

»Das ist doch bloß Make-up.«

»Nein, das stimmt nicht. Jetzt weiß ich, weshalb Donna hier bleiben wollte – jetzt weiß ich, weshalb Donna meinte, es werde doch gerade erst interessant. Diese Frau ist ein kleines Genie. Du kannst nicht behaupten, das ginge dir nicht unter die Haut. Das ist eine ebensolche Lüge, als würde man behaupten, ein Keuschheitsgelübde und ein Nonnenschleier seien bloß Worte und ein Fetzen schwarzen Stoffs. Klar, es ist bloß ein Symbol, aber es versetzt einen doch in ein völlig anderes moralisches Universum. Ich glaube, ich habe soeben eine Art Erleuchtung.«

»Nein, Oscar. Ich glaube, du hast eine Art Anfall.«

»Das funktioniert. Das ist riesig. Wir denken in viel zu beschränkten Bahnen. Wir müssen aus dem Gefängnis ausbrechen. Wir müssen den Krieg in die Reihen des Gegners tragen. Hör mal. Ich muss nach Louisiana reisen.«

»Was? Warum?«

»Wir reisen zusammen. Gemeinsam sind wir unschlagbar. Louisiana ist genau das Richtige für uns. Wir werden einen Triumphzug durch den Staat veranstalten. Wir drängen Huey und die Regulatoren total in die Defensive. Wir reisen mit einer Flotte von Limousinen, einhergehend mit einem Maximum an Medienresonanz. Wir mieten Wahlkampfbusse, wir veranstalten eine Wahlkampftour. Wir besorgen uns ein paar ordentliche Trucks und Hubschrauber. Wir decken den ganzen Bundesstaat ab. Es wird unheimlich romantisch werden. Du wirst dich in einen sexy Wissenschaftspopstar verwandeln. Wir fertigen Pin-ups von dir an, T-Shirts, Aufkleber, wir bringen dein Parfüm auf den Markt und deine Dessous. Überall, wo wir hinkommen, gründen wir kleine Forschungslabors. Von Bambakias habe ich erstaunliche Baupläne bekommen, die wir unmittelbar umsetzen können. Wir veranstalten einen Volksmarsch durch Baton Rouge. Wir besetzen das Parlamentsgebäude. Wir wagen uns in die Höhle des Löwen. Wir nageln Huey fest und versetzen ihm den Todesstoß.«

»Oscar, du hast wirklich einen Anfall. Du plapperst dummes Zeug.«

»Ach. Tatsächlich?«

»Wir können nicht nach Louisiana fahren. Das ist zu gefährlich. Wir können das Labor im Moment nicht verlassen. Hier herrscht Notstand. Die Menschen haben Angst, tagtäglich werden es weniger.«

»Hol mehr Leute her.«

»Wir können so viele Moderatoren herholen, wie wir wollen, aber es ist kein Platz für sie.«

»Dann erweitere das Labor. Besetze Buna.«

»Oscar, du machst mir Angst, wenn du so bist.«

Er senkte die Stimme. »Tatsächlich?«

»Ein bisschen schon.« Ihr Gesicht war trotz der Kriegsbemalung gerötet.

Er hatte Herzklopfen. Er atmete mehrmals tief durch. Er hatte den Zustand der Raserei hinter sich gelassen. Er fand sein Gleichgewicht allmählich wieder; er schwebte auf einer höheren Ebene; er befand sich im Zustand der Verzückung. »Schatz, ich werde mich auf eine Geheimmission begeben. Ich glaube, sie ist von entscheidender Bedeutung, aber es könnte sein, dass ich nicht zurückkehre. Das ist vielleicht das letzte Mal, dass wir miteinander allein sind. Ich weiß, ich habe dich beunruhigt. Ich weiß, ich bin nicht all deinen Erwartungen gerecht geworden. Vielleicht sehe ich dich nie wieder, aber ich verlasse dich erfüllten und frohen Herzens. Ich werde nie vergessen, wie du jetzt aussiehst. Du bist etwas so Besonderes und bedeutest mir so viel, dass ich es gar nicht in Worte kleiden kann. Du bist ein solch brillantes, strahlendes Wesen.«

Sie fasste sich an die Stirn. »O mein Gott. Ich weiß einfach nicht, was ich mit dir anfangen soll, wenn du so bist… Du bist so überzeugend! Also schön, nichts für ungut, komm mit und zieh dich aus. Auf dem Labortisch haben wir jede Menge Platz.«

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