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Im Hochsicherheitstrakt war Oscar vor Anschlägen sicher. Die Belästigungen durch irgendwelche Verrückten beeinträchtigten allerdings seine Tätigkeit. Die Gerüchte breiteten sich unter den Angestellten ebenso rasch aus wie ein Feuer an Bord eines Raumschiffs. Die Menschen gingen ihm aus dem Weg; er war ein Problem; er stand unter einem Fluch. Unter diesen Umständen hielt Oscar es für geraten, sich taktvoll zu entfernen. Er legte sich einen Rückzugsplan zurecht.

Oscar brachte den Wahlkampfbus in die Werkstatt des Laboratoriums. Er ließ den Bus als Einsatzwagen für Unfälle mit gefährlichen Materialien lackieren. Der Vorschlag ging auf Fontenot zurück, denn der listenreiche Ex-Agent war ein Meister der Verstellung. Fontenot erklärte, nicht einmal Straßenblockierer würden einen knatschgelben Rettungsbus aufhalten. Die Laborpolizisten waren erleichtert darüber, dass Oscar sich aus ihrem Zuständigkeitsbereich entfernte, daher stellten sie die erforderliche Warnfarbe und die Klebebuchstaben bereitwillig zur Verfügung.

Oscar fuhr vor dem Morgengrauen ohne Vorankündigung und Fanfare mit dem umlackierten Wahlkampfbus durch eine Schleuse. Nur die notwendigsten Mitarbeiter nahm er mit: Jimmy de Paulo, den Fahrer; Donna Nunez, die Stylistin; Lana Ramachandran, die Sekretärin; und als Passagier Moira Matarazzo.

Moira verließ die Mannschaft als Erste. Moira war Pressesprecherin; Moira war ausschließlich visuell und verbal orientiert. Das mit dem Hotelbau von Hand einhergehende transzendente Vergnügen hatte sie nie so recht verstanden. Außerdem fand sie die hermetische Welt des Laboratoriums, eine Welt, deren merkwürdige Bewohner ihren Interessen keinerlei Bedeutung beimaßen, zutiefst abstoßend. Moira hatte gekündigt und wollte nach Boston zurückkehren.

Oscar unternahm keinen ernsthaften Versuch, Moira zum Bleiben zu bewegen. Er hatte eingehend darüber nachgedacht und wollte das Risiko, sie bei sich zu behalten, nicht eingehen. Moira langweilte sich mittlerweile tödlich. Er wusste, dass er ihr nicht mehr vertrauen konnte. Gelangweilte Menschen waren einfach zu verwundbar.

Oscars Ausflug sollte dazu dienen, seine politischen Ziele zu erreichen und gleichzeitig die bewaffneten Verrückten abzuschütteln. Er beabsichtigte, unerkannt und unangemeldet durch Louisiana und Washington DC zurück nach Boston zu fahren, wo er rechtzeitig zu Weihnachten einzutreffen gedachte – während er übers Netz ständig Kontakt mit seiner Mannschaft in Buna hielt.

Oscar plante, zunächst in Holly Beach, Louisiana, Halt zu machen. Holly Beach war eine an der Golfküste gelegene Ansammlung wackliger Pfahlbauten, eine von Hurrikans heimgesuchte Region, die sich selbst leichtfertig als ›Cajun Riviera‹ bezeichnete. Fontenot hatte bereits für Oscars Visite vorgesorgt, das Städtchen erkundet und unter fremdem Namen ein Strandhaus gemietet. Fontenot zufolge, der sie dort erwartete, war Holly Beach so heruntergekommen, dass es dort nicht einmal Netzzugang gab; stattdessen begnügte man sich mit Handys, Satellitenschüsseln und Gasgeneratoren. Mitte Dezember – mittlerweile schrieb man den 19. – war der Küstenort so gut wie ausgestorben. Es war unwahrscheinlich, dass sie in Holly Beach von Paparazzi gefilmt oder von verrückten Attentätern belästigt werden würden.

Oscar hatte dort ein Stelldichein mit Greta Penninger arrangiert.

Im Anschluss an diese Strandidylle beabsichtigte Oscar, nach Washington weiterzufahren, wo er von seinen Kollegen aus dem Senatsausschuss bereits sehnsüchtig erwartet wurde. Wenn er den Ratten vom Capitol Hill gebührend gehuldigt hätte, wollte er in nördlicher Richtung nach Cambridge weiterfahren und den Wahlkampfbus in der Zentrale der Demokratischen Partei von Massachusetts abliefern. Bambakias wollte den Wahlkampfbus der Partei schenken. Endlich stand es dem Senator, stets ein beherzter Förderer der Partei, frei, seine Investition abzuschreiben.

In Boston angekommen, wollte Oscar seine Verbindung zum Senator erneuern. Außerdem hätte er Gelegenheit, nach Hause zu fahren und seine Angelegenheiten neu zu ordnen. Um das Haus machte er sich große Sorgen. Clare war mittlerweile nach Europa abgereist, und es war zu gefährlich, das Haus leerstehen zu lassen. Oscar wollte Moira anbieten, den Haussitter zu spielen, während sie in Boston nach einem neuen Job Ausschau hielt. Oscar war weder mit der Situation im Haus noch mit Moira glücklich, doch mit beiden musste irgendetwas geschehen. Da lag es nahe, das eine mit dem anderen zu verknüpfen.

Die Zeit verstrich rasch auf der ersten Etappe in den Südwesten Louisianas. Oscar hatte Jimmy gebeten, Musik anzustellen, und während Moira in ihrer Koje in einem Liebesroman schmökerte, vertrieben Oscar, Lana und Donna sich die Zeit damit, Greta Penningers großes Potenzial zu erörtern.

Oscar legte bei diesem Thema keine Zurückhaltung an den Tag. Das wäre auch zwecklos gewesen. Es hatte keinen Sinn, seine Affäre vor der eigenen Mannschaft zu verheimlichen. Auch über Clare hatten sie bestimmt von Anfang an Bescheid gewusst. Von Greta waren sie vielleicht nicht gerade begeistert, aber jedenfalls hatten sie etwas, um sich das Maul darüber zu zerreißen.

Bei dem Gespräch drehte es sich auch um Politik. Greta Penninger galt insgeheim als aussichtsreichste Kandidatin für den Direktorenposten des Laboratoriums. Seltsamerweise schienen die Wissenschaftler nicht wahrhaben zu wollen, dass ihr Direktorenposten wackelte. Die Wissenschaftler waren sich über ihre eigene Lage offenbar nicht ganz im klaren – sie sprachen lieber von ›Konsensentscheidungen‹ oder vielleicht vom ›Nachfolgeprozess‹ – bloß nicht von ›Politik‹. Doch es ging um Politik. Das Laboratorium brodelte von einer Form der Politik, die ihren eigenen Namen nicht auszusprechen wagte.

Das sollte nicht heißen, dass die Wissenschaft selbst Politik gewesen wäre. Wissenschaftliche Erkenntnisse waren von politischer Ideologie grundlegend verschieden. Die Wissenschaft war ein intellektuelles System, das objektive Daten über die Natur des Universums hervorbrachte. Die Wissenschaft enthielt falsifizierbare Hypothesen, reproduzierbare Ergebnisse und rigorose experimentelle Bestätigung. Wissenschaftliche Erkenntnisse waren ebenso wenig ein politisches Konstrukt wie das Element an Stelle 79 des Periodensystems.

Was die Menschen jedoch mit Wissenschaft anfingen, war ebenso politisch wie ihr Umgang mit Gold. Oscar hatte viele faszinierende Stunden auf das Studium der wissenschaftlichen Gemeinde und ihres merkwürdig orthogonalen Machtgefüges verwandt. Die eigentliche wissenschaftliche Arbeit kam ihm bedrückend verschroben und mühsam vor, während ein kompliziertes politisches Arrangement stets einen großen Reiz auf ihn ausübte.

Ein Wissenschaftler, der oft zitiert wurde und zahlreiche Entdeckungen vorzuweisen hatte, verfügte über politische Macht. Er hatte eine Reputation und besaß Einfluss. Folglich fand er in der wissenschaftlichen Gemeinde Gehör. Er bestimmte die Tagesordnung, wählte die Teilnehmer von Dienstbesprechungen aus, ordnete Beförderungen an, zeichnete Dienstreisen ab und beriet sich mit Kollegen. Weil er bereits vor der offiziellen Veröffentlichung Kenntnis von neuen Forschungsergebnissen erhielt, konnte er mühelos die Spitzenposition wahren. Ein solcher Wissenschaftler hatte keine Armee, keine Polizei und keine Schmiergeldkasse; auf leise, aber effiziente, wissenschaftliche Art und Weise aber hatte er die Basisressourcen der Gesellschaft fest in der Hand. Er vermochte den Fluss der Möglichkeiten nach Belieben umzulenken. Er war ein Spieler.

Geld war in der Wissenschaft per se von untergeordneter Bedeutung. Auf Wissenschaftler, die allzu unverhohlen zweckgebundenen Mitteln nachjagten oder um größere Zuschüsse katzbuckelten, fiel ebenso ein Makel wie auf Politiker, die verstohlen die Rassenkarte ausspielten.

Das System funktionierte offenbar. Es war sehr alt und hatte zahlreiche Schlupflöcher. Diese Schlupflöcher konnte man ausnutzen. Und das Laboratorium hatte sich bislang noch nie über einen längeren Zeitraum hinweg der Aufmerksamkeit eines Wahlkampfteams erfreut, dem lauter Spezialisten angehörten.

Der gegenwärtige Direktor, Dr. Arno Felzian, befand sich in einer schwierigen Lage. Felzian war seinerzeit zwar mäßig erfolgreich in der Genforschung tätig gewesen, hatte den Direktorenposten aber seiner Willfährigkeit gegenüber Senator Dougal zu verdanken. Marionettenregimes gediehen solange, wie das Imperium überdauerte, doch waren die fremden Unterdrücker erst einmal verschwunden, wurden ihre ehemaligen Verbündeten alsbald als Kollaborateure beschimpft. Senator Dougal, der langjährige Gönner des Laboratoriums und offizielle Strippenzieher, war mit Pauken und Trompeten untergegangen. Allein auf sich gestellt, wusste Felzian nicht mehr, was er mit sich anfangen sollte. Er war ein sprunghafter, zappeliger Jasager, dem der Souffleur abhanden gekommen war.

Den gegenwärtigen Direktor loszuwerden, war der logische erste Schritt. Ohne soliden Nachfolgeplan hatte das allerdings nur wenig Sinn. In der kleinen Welt des Laboratoriums würde der Fortgang des Direktors ein Vakuum hinterlassen, das alles aufzusaugen drohte, was nicht niet- und nagelfest war. Wer sollte den Platz des Direktors einnehmen? Die Mitglieder des Verwaltungsrats boten sich als Kandidaten an, doch das waren korrumpierte Opportunisten genau wie der Direktor. Zumindest lag diese Einschätzung bei jedem, der für den Direktorenposten infrage kam, nahe.

Oscar und seine Berater stimmten darin überein, dass es im gegenwärtigen Machtgefüge eine zentrale Bruchstelle gab: Greta Penninger. Sie gehörte dem Verwaltungsrat bereits an, was ihren Anspruch legitimierte und ihr eine Art Machtbasis verlieh. Und sie hatte eine noch unerschlossene Anhängerschaft – die eigentlichen Wissenschaftler des Laboratoriums. Es gab dort Forscher, die seit langem in ihrer Arbeit eingeschränkt waren und sich nach Kräften bemühten, relevante Laborergebnisse zu erzielen, während sie von der realen Welt nach Möglichkeit keine Notiz nahmen. Diese Forscher hatten sich jahrelang bedeckt gehalten, während die offizielle Korruption an ihrer Moral, ihrem Ehrgefühl und ihrem Auskommen zehrte. Falls das Laboratorium überhaupt reformierbar war, musste die Reform von den Wissenschaftlern ausgehen.

Oscar war optimistisch. Er war Demokrat, Anhänger einer Reformpartei, und er glaubte an die Wirksamkeit von Reformen. Als Gruppe waren die Wissenschaftler gewissermaßen noch jungfräulich; sie stellten ein unerschlossenes politisches Potenzial dar. Sie waren ein ausgesprochen seltsamer Haufen, doch sie waren weit zahlreicher, als er je vermutet hätte. Im Laboratorium wimmelte es von ihnen. Als ob die Wissenschaft alle die aufgesaugt hätte, die zu intelligent waren, um einer praktischen Tätigkeit nachzugehen. Ihre selbstlose Hingabe an ihre Arbeit war ihm ein Rätsel.

Oscar hatte sich von seinem anfänglichen Erstaunen bald erholt. Nach einem Monat eingehender Nachforschungen hatte er begriffen, dass dies gar nicht so schwer zu verstehen war. Es stand einfach nicht genug Geld zur Verfügung, um normale Menschen so gut zu bezahlen, dass sie so hart wie Wissenschaftler arbeiteten. Ohne das belebende Element des verschrobenen Idealismus einer gesellschaftlichen Randgruppe wäre das Wissenschaftssystem schon vor Jahrhunderten zusammengebrochen.

Er hatte erwartet, dass sich staatlich bezahlte Wissenschaftler mehr oder weniger wie Staatsbeamte verhalten würden. Stattdessen hatte er eine vergessene Welt entdeckt, eine Hightech-Osterinsel, wo ein Volk sanftmütiger Außenseiter riesige und ein wenig sinnlose intellektuelle Statuen erschuf.

Auch Greta Penninger gehörte diesem kleinen Volk an, dem Hochintelligenzler-Kopf-in-den-Wolken-Proletariat. Unglücklicherweise redete und kleidete sie sich auch entsprechend. Trotzdem war Greta wirklich vielversprechend. Mit einer kompletten Überarbeitung, mit neuer Garderobe, verbessertem Diskussionsstil, einem Thema, einer Tagesordnung, ein paar Argumenten und einer klugen Hintermannschaft würden sich ihre Mängel beheben lassen.

Zu dieser Einschätzung gelangte Oscars Team nach reiflicher Überlegung. Während sie die Lage erörterten, spielten Oscar, Lana und Donna Poker. Poker war genau das richtige Spiel für Oscar. Beim Pokern verlor er nur selten. Seinen Mitspielern kam nie in den Sinn, dass er auf Grund seines relativen Reichtums ungestraft verlieren konnte. Oscar spielte absichtlich gerade so gut, dass es spannend blieb. Dann überreizte er sein Blatt, verlor haushoch und gab vor, über seinen Verlust tief betrübt zu sein. Die glücklichen Gewinner strichen ihren Gewinn ein und schütteten von der Warte des Siegers ihr Mitgefühl über ihn aus. Sie waren so zufrieden mit sich und dermaßen überzeugt von seinem rührenden Mangel an Cleverness und Tücke, dass sie ihm alles verziehen.

»Es gibt da noch ein Problem«, sagte Donna, geschickt die Karten mischend.

»Und das wäre?« fragte Lana, eine Pistazie knuspernd.

»Der Wahlkampfleiter sollte nicht mit der Kandidatin schlafen.«

»Sie ist keine richtige Kandidatin«, wandte Lana ein.

»Ich schlafe nicht mit ihr«, meinte Oscar.

»Aber er wird«, sagte Donna.

»Teilen Sie aus«, drängte Oscar.

Donna gab die Karten aus. »Vielleicht ist es ja in Ordnung. Bloß ein Versuch. Er kann nicht hier bleiben, und sie kann nicht weg. Eine Romeo-und-Julia-Geschichte, ohne dieses schreckliche Ende.«

Oscar ging nicht darauf ein. »Ihr Einsatz, Lana.« Lana legte einen halben Euro auf den Tisch. Sie pokerten immer um Euro-Bargeld. Es war auch amerikanisches Geld im Umlauf, billiges Plastikgeld, aber die meisten Leute wollten kein amerikanischen Bargeld mehr annehmen. Jetzt, da das amerikanische Geld nicht mehr frei konvertierbar war, konnte man es nicht mehr recht ernst nehmen. Außerdem waren die größeren Scheine verwanzt.


Corky, Fred, Rebecca Pataki und Fontenot erwarteten sie bereits in Holly Beach. Unterstützt vom Team mit seinen Online-Katalogen hatten sie sich rührende Mühe mit dem gemieteten Strandhaus gegeben. Sie hatten sechsundneunzig Stunden Zeit gehabt, das heruntergekommene Haus in Ordnung zu bringen. Von außen war es unverändert: knarrende Treppen, geteerte Holzpfeiler und Veranden mit salzzerfressenem Bretterboden. Eine gelbe Käseschachtel mit Flachdach.

Im Innern der elenden Holzhütte aber gab es nun kleine Teppiche, geschmackvolle Vorhänge, behagliche Ölöfen, richtige Federkissen und geblümte Tapeten. Dazu zahlreiche Annehmlichkeiten, wie man sie unterwegs zu schätzen wusste: Duschhauben, Seife, Handtücher, Rosen, Bademäntel, Pantoffel. Lorena Bambakias hätte sich dadurch nicht täuschen lassen, trotzdem verstanden Oscars Mitarbeiter ihr Handwerk; sie hatten das Haus dem Zustand der Verwahrlosung entrissen.

Oscar stieg ins Bett und schlief fünf Stunden, eine lange Zeit für ihn. Er erwachte erfrischt und energiegeladen. Im Morgengrauen verzehrte er einen Apfel aus dem kleinen Kühlschrank und ging anschließend am Strand spazieren.

Es war windig und kalt, doch die Sonne ging gerade über dem stahlgrauen Golf von Mexiko auf und übergoss die Welt mit winterlicher Klarheit. Der Strand machte nicht viel her. Nachdem der Meeresspiegel in den vergangenen fünfzig Jahren um mehr als einen halben Meter angestiegen war, bot der unregelmäßige braune Küstenstreifen keinen schönen Anblick mehr. Der Ort, wo sich die Siedlung ursprünglich befunden hatte, lag nun im Wasser. Die Häuser hatte man auf einer ehemaligen Kuhweide neu aufgebaut. Zurückgeblieben war ein Netzwerk geborstenen Straßenpflasters, das von der Brandung überspült wurde.

Viele andere Siedlungen am Rande des Kontinents waren nicht so glimpflich davongekommen. Ständig wurden an amerikanischen Stränden Plankenwege, Teile von Kaianlagen und selbst komplette Häuser angespült.

Oscar schlenderte an einer Ansammlung zerknautschten Aluminiums vorbei. Das viele Treibgut erfüllte ihn mit wohliger Melancholie. Er hatte noch keinen Strand betreten, der nicht bedeckt gewesen war mit verrosteten Fahrrädern, vollgesogenen Sofas, pittoreskem, vom Sand blankgescheuertem medizinischem Abfall. Seiner Ansicht nach klagten Eiferer wie die Niederländer viel zu sehr über die Folgen des ansteigenden Meeresspiegels. Wie alle Europäer waren die Niederländer in der Vergangenheit verhaftet, unfähig, sich mit den neuen globalen Realitäten pragmatisch zu arrangieren.

Bedauerlicherweise ließ sich der gleiche Vorwurf auch gegen die Vereinigten Staaten erheben. Oscar sann über seine ambivalenten Gefühle nach, während er sorgfältig den Brandungsschaum von seinen polierten Schuhen streifte. Oscar betrachtete sich als amerikanischen Patrioten. In der Tiefe seines kalten, schweigenden Herzens war er der amerikanischen Politik so zugetan, wie sein Beruf und seine Kollegen es eben zuließen. Oscar respektierte und schätzte die archaische Förmlichkeit des US-Senats. Der Clubcharakter des Senats übte einen starken Reiz auf ihn aus. Die gemächlichen Debatten, die Garderoben, die Verfahrensregeln, der personalisierte, präindustrielle Sinn für Würde… Er glaubte, eine perfekte Welt müsse ganz ähnlich organisiert sein wie der US-Senat. Ein gefestigtes Reich alter Fahnen und dunkler Holztäfelung, wo in einer Festung gemeinsamer Werte verantwortungsvolle, kluge Debatten geführt wurden. Oscar betrachtete den US-Senat als starkes, würdevolles Gebäude, von tüchtigen politischen Architekten erbaut, um zu überdauern. Wären die Umstände günstiger gewesen, hätte er sich mit Freuden des Systems bedient.

Oscar aber war ein Kind seiner Zeit und wusste daher, dass ihm dieser Luxus verwehrt war. Er wusste, dass es seine Pflicht war, sich den gegenwärtigen politischen Realitäten zu stellen und sie zu meistern. Und die Realität sah so aus, dass die elektronischen Netzwerke die alte Ordnung innerlich ausgehöhlt hatten, ohne eine neue Ordnung an ihre Stelle zu setzen. Die erschreckende Geschwindigkeit der digitalen Kommunikation, die damit einhergehende Einebnung der Hierarchien, der Aufstieg der netzbasierten Zivilgesellschaft und der Verfall der industriellen Basis hatten die amerikanische Regierung überfordert.

Mittlerweile gab es sechzehn größere Parteien, unterteilt in widerstreitende Lager, geprägt von internen Grabenkriegen, von Überläufern und Säuberungen. Es gab Städte in Privatbesitz mit Millionen ›Kunden‹, die herzlich wenig auf das Gesetz gaben. Es gab mafiöse Preiskartelle, Geldwaschanlagen und grüne Tauschringe. Es gab Gesundheitsorganisationen in der Hand von verrückten Organhändlerbanden, bei denen jeder Quacksalber, der in der Lage war, sich ein Chirurgieprogramm herunterzuladen, komplizierte medizinische Techniken anwenden durfte. Vollkommen ortsungebundene Netzmilizen zapften alle möglichen Informationen ab. Im amerikanischen Westen gab es abtrünnige Counties, wo sich ganze Städte an Nomadenstämme verkauft hatten und einfach von der Landkarte verschwunden waren.

In Neuengland gab es Stadtzusammenschlüsse, die über mehr Rechenleistung verfügten als früher die ganze US-Regierung. Kongressangestellte bildeten unabhängige Gruppen. Die Exekutive verzettelte sich in endlosen Grabenkriegen mit zahllosen Dienststellen, die alle ausgezeichnet informiert, sehr aktiv im Netz und daher vollkommen unfähig waren, eine realistische Tagesordnung aufzustellen und sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Die Nation war verrückt nach Meinungsumfragen, die noch nie so zynisch manipuliert worden waren wie derzeit – die geringsten Anlässe brachten verbissene, auf einem einzigen Thema beruhende Bündnisse hervor und zogen zahllose automatisierte Klagen nach sich. Die konfuse Steuergesetzgebung hatte jede Verbindung zur Realität verloren, wurde vom E-Commerce gewohnheitsmäßig umgangen und von den Bürgern nur zähneknirschend geduldet.

Während der inländische Konsens immer weiter schwand, richteten die Notstandsausschüsse im Gefolge des verlorenen Wirtschaftskriegs mit China ein beispielloses Chaos an. Mit der offiziellen Erklärung des Notstands trat der Kongress seine ureigenen Rechte an einen Überbau angeblich zu schnellerem Handeln befähigter Exekutivausschüsse ab. Dieser verzweifelte Schritt hatte der alten Verfahrensweise lediglich eine neue übergestülpt. Das Land hatte jetzt zwei nationale Regierungen, die ursprüngliche, zögerliche, nur unvollständig verdrängte legale Regierung und die sprunghaften, immer schriller klingenden Verlautbarungen der Notstandscliquen.

Auch Oscar hatte hinsichtlich mancher Verfahrensweisen der Demokraten Bedenken, hielt das Parteiprogramm im Wesentlichen aber für vernünftig. Zunächst einmal galt es, die Notstandsausschüsse in die Schranken zu verweisen und aufzulösen. Sie waren von der Verfassung her nicht legitimiert; sie hatten kein unmittelbares Wählermandat; sie verstießen gegen grundlegende Prinzipien der Gewaltenteilung; sie ließen sich nicht richtig zur Rechenschaft ziehen; und vor allem waren sie durch und durch korrupt. Die Notstandsausschüsse schafften es einfach nicht, das Land erfolgreich zu regieren. Da sie emsig um die verschiedenen Interessengruppen bemüht waren, erfreuten sie sich zeitweise einiger Beliebtheit, doch je länger der Notstand andauerte, desto näher rückten sie einem in Zeitlupe ablaufenden Staatsstreich und der Übernahme der Macht.

Wenn die Ausschüsse entmachtet und die Notstandsverordnung außer Kraft gesetzt wären, wäre es an der Zeit, die Beziehungen zwischen Unionsregierung und Bundesstaaten zu reformieren. Die Dezentralisierung war einfach zu weit gegangen. Was früher einmal zu größerer Flexibilität geführt hatte, bewirkte nun heillose Konfusion. Man musste eine verfassungsgebende Versammlung einberufen und Schluss machen mit dem Territorialprinzip bei der Volksvertretung. Man musste einen vierten Regierungszweig ins Leben rufen, der auf nichtgeografischen Netzwerken beruhte.

Nach diesen größeren Reformen wäre die Bühne bereitet, um endlich die wahren Probleme des Landes anpacken zu können. Dies musste ohne Bosheit, ohne Hast und ohne abstoßende Attacken gegen die alte Parteigarde vonstatten gehen. Oscar glaubte, dass dies möglich sei. Die Lage war schlimm… sehr schlimm… auf den Außenstehenden musste sie geradezu hoffnungslos wirken. Gleichwohl verfügte die amerikanische Gesellschaft noch immer über große Kreativitätsreserven – falls es gelang, das Land wieder zu einen und in die richtige Richtung zu führen. Ja, es stimmte, die Nation war auseinandergebrochen, doch auch andere Länder hatten den Zusammenbruch ihrer Währung und den Niedergang ihrer Industrie miterleben müssen. Dieser Zustand war erniedrigend, aber vorübergehender Natur und daher auch zu überstehen. Im Grunde genommen war Amerikas vollständige Niederlage im Wirtschaftskrieg im Vergleich zu Flächenbombardements oder einer Invasion durch ausländische Mächte von eher untergeordneter Bedeutung.

Das amerikanische Volk musste sich damit abfinden, dass Software ökonomisch wertlos geworden war. Das war unfair, ungerecht, aber eine Tatsache. In mancherlei Hinsicht musste Oscar den Chinesen wegen ihres klugen Schachzugs, das gesamte englischsprachige Wissen übers Netz kostenlos zugänglich zu machen, Anerkennung zollen. Die Chinesen hatten nicht einmal die Landesgrenzen überschreiten müssen, um der amerikanischen Wirtschaft den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

In gewisser Weise konnte man diese brutale Konfrontation mit der analogen Realität Chinas als einen Segen betrachten. Oscars Ansicht nach war Amerika von der mühevollen Rolle der letzten Supermacht und des Weltpolizisten auf Dauer überfordert gewesen. Als amerikanischer Patriot war Oscar es recht zufrieden, eine Zeit lang die Soldaten anderer Länder in Särgen heimkehren zu sehen. Die Pflichten eines Weltpolizisten standen nicht im Einklang mit dem amerikanischen Nationalcharakter. Ordentliche, penible Völker wie die Schweizer und die Schweden gaben gute Polizisten ab. Amerika stand die Rolle des Weltfilmstars viel besser. Oder die des tequilabenebelten Profi-Bowlingspielers. Oder die des Bühnenkomikers mit dem beißenden Humor. Amerika war alles andere als eine trübsinnige, langweilige Nation von Offizieren mit sozialem Verantwortungsbewusstsein.

Oscar machte auf dem braun geriffelten Sandstrand kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Es tat ihm gut, einmal unerreichbar zu sein; den Laptop und selbst die Telefone aus seinen Ärmeln und Taschen hatte er im Wahlkampfbus zurückgelassen. Für einen Politprofi war es wichtig, hin und wieder zum Tagesgeschäft auf Abstand zu gehen und Ordnung und Perspektive in seine Gedanken und seine Intuition zu bringen. Oscar nahm sich nur selten Zeit für diese lebenswichtigen Momente – sollte er irgendwann einmal hinter Gittern landen, bliebe ihm noch Zeit genug, seine persönliche Philosophie zu entwickeln. Heute aber, in dieser vergessenen Welt des Sandes, des Windes, der Wogen und des kühlen Sonnenscheins, nahm er sich Zeit zum Nachdenken, und er spürte, wie gut es ihm tat.

Ein inwendiger Druck hatte sich bei ihm aufgebaut. In den vergangenen dreißig Tagen hatte er eine Menge in Erfahrung gebracht, hatte Unmengen ausgedruckter Daten geordnet, um die Angelegenheit zu beschleunigen, ohne dass er bereits eine weiterreichende Perspektive entwickelt hätte. Sein mit Daten vollgestopfter Kopf ähnelte einem Durcheinander von Felsblöcken. Er war nervös, angespannt, abgelenkt und wurde zunehmend gereizt.

Vielleicht war dies einfach die Durststrecke zwischen zwei Frauen.

Greta wurde im Laufe des Vormittags erwartet. Negi hatte einen wundervollen Lunch mit verschiedenen Meeresfrüchten für sie vorbereitet. Greta aber verspätete sich. Das Team speiste ausgiebig im Bus, ließ die Korken knallen und hielt die Fassade aufrecht, scherzte sogar über Gretas Nichterscheinen. Als Oscar hinausging, hatte sich seine Stimmung jedoch merklich verdüstert.

Er ging ins Strandhaus hinüber, um dort auf Greta zu warten, doch die Räume, die zuvor einen zwar etwas anrüchigen, aber doch einnehmenden Eindruck gemacht hatten, wirkten auf einmal nur noch schäbig. Warum machte er sich selbst etwas vor und unternahm solche Anstrengungen, ein Liebesnest zu imitieren? Richtige Liebesnester waren für die Liebenden voll wahrer Bedeutung, voller Dinge, die auf authentischen emotionalen Widerhall trafen. Voller Kleinigkeiten und alberner Andenken etwa, hier eine Feder, dort eine Muschel, ein Strumpfhalter, gerahmte Fotos, ein Ring. Ganz etwas anderes als diese gemieteten Vorhänge, dieses gemietete Bett, diese verräterisch neuen keimfreien Zahnbürsten.

Er setzte sich aufs quietschende Messingbett und blickte sich im Zimmer um, und auf einmal stellte sich die Welt für ihn auf den Kopf. Er hatte sich darauf eingestellt, charmant und geistreich zu sein, er hatte sich so darauf gefreut, aber sie kam nicht. Sie hatte ihn durchschaut. Sie war zu smart, um zu kommen. Er war allein in diesem kleinen, hässlichen Haus, schmorte im eigenen Saft.

Eine Stunde verstrich mit quälender Langsamkeit, und er war froh, dass sie nicht gekommen war. Er war froh um seiner selbst willen, denn es war dumm gewesen, sich eine Beziehung mit dieser Frau vorzustellen, aber er war auch froh um ihretwillen. Er war ein Raubtier, ein eiskalter Verführer. Er fühlte sich nicht niedergeschmettert durch ihre Zurückweisung, sah sich aber nun in einem realistischeren Licht. Er war ein Wesen der zitternden Spinnfäden und des funkelnden Chitins. Klug von der grauen Motte, zu Hause zu bleiben.

Er sah seinen Weg jetzt deutlich vor sich. Er würde nach Washington zurückkehren, den Ausschussbericht verfassen und weiter seine Arbeit tun. An seinen ersten Senatsauftrag würde niemand große Erwartungen richten. Für eine vernichtende Analyse der Laboratoriumszustände war das vorliegende Material mehr als ausreichend. Wenn das nicht drin war, dann konnte er immer noch die positiven Aspekte des Laboratoriums herausstellen: die Auswirkungen der Biotech-Spinoffs auf die regionale Wirtschaft beispielsweise. Er könnte den zukünftigen Glamour des nächsten großen Durchbruchs hinausposaunen: die industrielle Hightech-Nutzung der Neurowissenschaft. Was immer sie hören wollten.

Er konnte sich in eine Karriereratte verwandeln, in einen Politiktrottel. Diese bildeten einen großen, sich immer weiter vermehrenden Stamm. Er würde immer mehr kostbare Energie auf immer abgehobenere, langweiligere Themen verwenden. Er würde nie wieder einen politischen Wahlkampf organisieren, und er würde sicherlich keine politische Macht aus eigenem Recht erringen, aber wenn er nicht als politischer Wasserträger ausbrannte, würde er schon sein Auskommen finden. Vielleicht würde er ja am Ende mit einem Kabinettsposten belohnt oder mit einer Gastprofessur auf seine alten Tage…

Er trat ins Freie, denn im Strandhaus hielt er es nicht mehr aus. Die Bustür stand offen, doch der Mannschaft konnte er jetzt nicht vor die Augen treten. Er ging zum einzigen Lebensmittelladen in Holly Beach, einem drollig heruntergekommenen Gebäude mit unbehandelten Bodenbrettern und alten Fischernetzen an den Deckenbalken. An einer Wand stand ein deckenhohes Regal mit allerlei Tinneff. Fischermützen als Souvenirs. Angelschnur und Plastikköder. Getrocknete Alligatorköpfe, gespenstisch anmutender Schnickschnack aus Tilandsien und Koskosschalen. Billige raubkopierte Musikkassetten – es ärgerte ihn zutiefst, dass niederländische Musik jetzt so populär war. Wie schaffte es ein in jeder Hinsicht untergehendes Land mit einer winzigen, alternden Bevölkerung nur, bessere Popmusik hervorzubringen als die Vereinigten Staaten?

Er wählte ein Paar billiger Strandsandalen aus, ein im Grunde unnötiger Spontankauf. Hinter der Theke wartete ein dunkelhaariges halbwüchsiges Mädchen, eine Einheimische. Sie langweilte sich und fühlte sich in dem kalten, menschenleeren Laden einsam, und sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, ein Hallo-Fremder-Lächeln. Sie trug einen unförmigen Pullover und ein geblümtes Unterhemd aus billiger genmanipulierter Baumwolle, aber sie war gutmütig und hübsch. Auf einer merkwürdigen Parallelspur wurden von den Enttäuschungen des Tages entstellte sexuelle Phantasien wach. Ja, junge Frau aus den Bajous, ich bin wirklich ein gutaussehender Fremder. Ich bin intelligent, reich und mächtig. Vertrau mir, ich kann dich von hier fortbringen. Ich kann dir die Augen öffnen für die große, weite Welt, dich in die vergoldeten Korridore des Luxus und der Macht entführen. Ich kann dich kleiden, ich kann dich lehren, dich nach meinem Willen formen, dich vollkommen ummodeln. Du brauchst nichts weiter zu tun, als… Sie konnte nichts für ihn tun. Sein Interesse schwand.

Er verließ den Laden mit den in einer Papiertüte verpackten Sandalen und schritt die sandigen Straßen von Holly Beach entlang. Das Städtchen war dermaßen schäbig, dass es einen dekadenten Charme besaß, ähnlich wie ein Stück Treibgut. Im Sommer mochte Holly Beach auf seine Art durchaus interessant sein: Familien in Strohhüten, die sich im alten französischen Dialekt der akadischen Einwanderer unterhielten, tätowierte Männer, die sich an Grillgeräten zu schaffen machten, Arbeiter von den Ölplattformen auf Urlaub, die mit einem Schleppnetz irgendetwas Ledriges, Knochenloses fingen. Ein gefleckter Hund folgte ihm, schnüffelte an seinen Fersen. Nachdem er wochenlang mit Wickelbären und Karibus zusammengelebt hatte, war es merkwürdig, einem Hund zu begegnen. Vielleicht sollte auch er sich ein exotisches Tier anschaffen. Das war groß in Mode, außerdem wäre es eine nette Erinnerung an seinen Aufenthalt gewesen. Sein persönliches Genspielzeug. Einen munteren Fleischfresser. Irgendein Tier mit großen dunklen Flecken.

Er gelangte zum ältesten Haus des Städtchens. Es war so alt, dass es nicht hatte verlegt werden müssen, als der Meeresspiegel stieg; es stand schon seit Jahrzehnten am selben Platz. Die Hütte war früher einmal weit entfernt vom Strand gewesen, nun aber lag sie ganz nah am Wasser. Sie wirkte eigentümlich provisorisch, als wäre sie an Wochenenden von jemandes Schwiegersohn zusammengezimmert worden.

Stürme, Sand und die gnadenlose südliche Sonne hatten die verschiedenen Schichten billiger Farbe abgeschliffen, doch die Hütte war noch immer bewohnt. Oder sie war vermietet. Irgendjemand lebte ständig darin. Er entdeckte einen eingebeulten Briefkasten und eine vom Sand abgescheuerte Satellitenschüssel auf dem Metalldach, von der ein durchtrenntes Kabel nach unten führte. Drei hohe, splittrige Holzstufen, halb zugedeckt von feuchtem Sand, führten zu der an verrosteten Angeln befestigten Tür hinauf. Die Schwelle aus sandgestrahltem Holz mochte etwa sechzig Jahre alt sein und sah aus, als hätte sie schon sechshundert hinter sich.

Im winterlichen Nachmittagslicht übte die dunkle Holzmaserung eine faszinierende Wirkung auf ihn aus. Alte braune Nagellöcher. Weißer Möwenkot. Er hatte das deutliche Gefühl, dass hier ein sehr alter Mensch lebte. Alt, blind, schwach, ohne Anhang, die Familie verschwunden, das Ende der Geschichte.

Er legte die Handfläche zärtlich auf das sonnenwarme Holz. Das Wissen strömte auf ihn über, und auf einmal kostete er den Vorgeschmack seines eigenen Todes. Genau so würde es sein: Einsamkeit und heitere Gelassenheit. Kaputte Stufen, zu hoch, um sie jemals zu erklettern. Die Sichel der Sterblichkeit würde ihn treffen und nichts zurücklassen als leere Kleidungsstücke.

Erschüttert kehrte er raschen Schritts zum gemieteten Strandhaus zurück. Greta erwartete ihn. Sie trug eine graue Kapuzenjacke und hatte eine Reisetasche dabei.

Oscar eilte ihr entgegen. »Hallo! Tut mir leid! Haben Sie mich verpasst?«

»Bin gerade erst angekommen. Es gab Straßenblockaden. Ich konnte Sie nicht anrufen.«

»Das macht doch nichts! Kommen Sie rein, drinnen ist es warm.«

Er geleitete sie die Treppe hoch und durch die Tür. Greta blickte sich skeptisch um. »Es ist heiß hier drinnen.«

»Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind.« Er freute sich wie wahnsinnig, sie zu sehen. Beinahe wären ihm die Tränen gekommen. Er zog sich in die scheußliche Kochnische zurück und schenkte sich aus dem Hahn ein Glas rostrotes Wasser ein. Er trank einen Schluck, fasste sich wieder. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Ich wollte bloß…« Greta seufzte und nahm mit unfehlbarer Sicherheit auf dem hässlichsten Möbelstück des Raumes Platz, einem Klappstuhl mit Segeltuchbezug. »Ach, schon gut.«

»Sie haben nicht zu Mittag gegessen. Kann ich Ihren Mantel haben?«

»Eigentlich wollte ich gar nicht kommen. Aber ich will aufrichtig sein…«

Oscar setzte sich in der Nähe des Ofens auf den Boden und zog einen Schuh aus. »Wie ich sehe, sind Sie aufgeregt.« Er zog den anderen Schuh aus und schlug die Beine übereinander. »Das macht nichts, ich verstehe das sehr gut. Es war eine weite, schwierige Fahrt, unsere Situation ist schwierig. Ich freue mich einfach, dass Sie gekommen sind, das ist alles. Es macht mich glücklich, Sie zu sehen. Sehr glücklich. Ich bin gerührt.«

Sie schwieg und musterte ihn wachsam.

»Greta, Sie wissen, dass ich Sie gern habe. Nicht wahr? Das ist mein Ernst. Wir beide harmonieren miteinander. Ich weiß nicht genau warum, aber ich will es herausfinden. Ich möchte, dass Sie froh darüber sind, hergekommen zu sein. Wir sind endlich mal allein, das ist ein großes Privileg für uns, nicht wahr? Lassen Sie uns über alles sprechen, die Karten auf den Tisch legen. Lassen Sie uns gute Freunde sein.«

Sie hatte Parfüm angelegt. Sie hatte eine Reisetasche dabei. Sie hatte vorübergehend kalte Füße bekommen, doch ansonsten sah alles gut aus.

»Ich möchte Sie verstehen, Greta. Ich kann Sie verstehen, wissen Sie. Ich glaube, ich verstehe Sie schon ein wenig. Sie sind eine sehr kluge Frau, viel klüger als die meisten Menschen, aber Sie sind auch scharfsichtig und sensibel. Sie haben viel erreicht in Ihrem Leben, aber es steht Ihnen niemand zur Seite. Ich weiß, dass es so ist. Und das ist traurig. Wenn Sie mich lassen, werde ich Ihnen zur Seite stehen.« Er senkte die Stimme. »Ich kann Ihnen nicht die üblichen Versprechungen machen, weil wir keine gewöhnlichen Leute sind. Aber wir würden großartige Freunde sein. Vielleicht sogar ein Liebespaar. Warum nicht? Die Chancen stehen gegen uns, aber deswegen ist es noch lange nicht aussichtslos.«

Es war sehr still. Er hätte an Musik denken sollen.

»Ich glaube, Sie brauchen jemanden. Sie brauchen jemanden, der Verständnis für Ihre Interessen hat, einen Fürsprecher. Die Menschen schätzen Sie nicht um Ihrer Taten willen. Die Menschen benutzen Sie für ihre eigenen kleinmütigen Zwecke. Sie sind sehr tapfer und hingebungsvoll, aber Sie müssen sich aus Ihrem Panzer befreien. Sie können sich nicht andauernd zurücknehmen und höflich sein. Sie können sich nicht ständig diesen Dummköpfen anpassen, die sind nicht würdig, den Saum ihrer Schuhe zu küssen. Den Saum Ihres Gewandes. Ihres Laborkittels, meine ich.« Er atmete stockend ein. »Sagen Sie mir einfach, was Sie brauchen.«

»Ich habe mich in Ihnen getäuscht«, sagte sie. »Ich dachte, Sie würden über mich herfallen.«

»Nein, natürlich werde ich nicht über Sie herfallen.« Er lächelte.

»Hören Sie auf zu lächeln. Sie halten mich für naiv, nicht wahr? Ich bin nicht naiv. Hören Sie mir zu. Ich habe einen Körper, ich habe Hormone. Ich bin ein sexueller Mensch. Hören Sie, ich habe mich dort unter diesen Kameras zu Tode gelangweilt, ich war unruhig, ich wurde allmählich wahnsinnig, und dann tauchen Sie auf. Sie tauchen auf und wollen etwas von mir.«

Sie erhob sich. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, werde ich Ihnen sagen, was ich so dringend brauche. Ich brauche einen Mann, der kaltblütig und frei verfügbar ist, der nicht viel Aufhebens macht. Er muss mich seinerseits auf diese vollkommen direkte, offensichtliche Weise begehren. Sie aber sind nicht die Art Mann, die ich brauche. Überhaupt nicht.«

Die Stille dröhnte.

»Ich hätte Ihnen dies alles schon eher sagen sollen, bevor ich hergefahren bin und diese ganze Mühe auf mich genommen habe. Beinahe wäre ich auch nicht gekommen, aber…« Sie nahm erschöpft wieder Platz. »Also, es war ehrlicher, Ihnen dies alles ins Gesicht zu sagen, auf einen Rutsch.«

Oscar räusperte sich. »Kennen Sie Go? Go-bang? Wei-chi, wie die Chinesen sagen.«

»Ich habe davon gehört.«

Oscar stand auf und holte seine Reisetasche. »Senator Bambakias hat es mir beigebracht. Für sein Team ist es von essentieller Bedeutung, es entspricht unserer Denkweise. Wenn Sie sich also mit Politikern einlassen und etwas erreichen wollen, dann sollten Sie dieses Spiel auf der Stelle erlernen.«

»Sie sind wirklich ein seltsamer Mann.«

Er klappte ein mit rechtwinklig angeordneten Linien bedecktes Spielbrett auf und stellte zwei Schalen mit schwarzen und weißen Steinen daneben. »Setzen Sie sich zu mir auf den Teppich, Greta. Wir machen es wie die Asiaten.«

Sie ließ sich im Schneidersitz in der Nähe des Ölofens nieder. »Ich spiele nicht um Geld.«

»Dabei geht es nicht um Geld. Geben Sie mir Ihre Jacke. Gut. Das ist auch kein Schach. Das ist keine mechanisierte Schlacht nach westlicher Manier, in die man sich kopfüber stürzt. So etwas gibt es nicht mehr. Hier geht es um Netzwerke und Territorien. Man spielt auf dem Liniengitter – man setzt die Steine auf die Schnittpunkte. Wenn die Steine des Gegners vollständig umzingelt sind, kann man sie schlagen, aber das ist eher nebensächlich. Es geht nicht darum, Steine zu schlagen. Es geht um die Leere. Man kämpft um die leeren Stellen im Gitterwerk.«

»Um das Potenzial.«

»Genau.«

»Der Spieler mit dem größten Potenzial gewinnt.«

»Sie haben das doch schon einmal gespielt.«

»Nein, hab ich nicht. Aber das liegt ja auf der Hand.«

»Sie spielen Schwarz«, sagte er. Mit scharfem Klicken setzte er mehrere schwarze Steine aufs Brett. »Bevor wir anfangen, zeige ich Ihnen, wie’s geht. Sie setzen jeweils einen Stein. Die Steine beziehen Kraft aus ihrer Verknüpfung, aus dem Netzwerk, dem sie angehören. Und die einzelnen Gruppen müssen Augen haben, leere Augen. Das ist das Entscheidende.« Er umzingelte die schwarze Gruppe mit weißen Steinen. »Ein Auge allein reicht nicht aus, denn das könnte ich mit einem Zug blenden und damit die ganze Gruppe schlagen. Ich könnte die Gruppe vollständig umzingeln, einen Stein in die Mitte setzen, das Auge blenden und die komplette Gruppe schlagen, und zwar so. Mit zwei Augen aber – sehen Sie? – wird die Gruppe unschlagbar. Dann lebt sie.«

»Auch dann, wenn man sie vollständig umzingelt.«

»Genau.«

Sie zog die Schultern hoch und starrte aufs Brett. »Ich glaube, ich verstehe, weshalb Ihr Freund dieses Spiel mag.«

»Ja, es hat viel mit Architektur zu tun… Na schön, machen wir ein Übungsspiel.« Er entfernte die Steine vom Brett. »Sie sind Anfängerin, daher bekommen Sie neun Steine Vorgabe.«

»Das ist eine ganze Menge.«

»Das macht nichts, denn ich werde Sie trotzdem schlagen.« Mit den Fingerspitzen setzte er den ersten weißen Stein.

Sie spielte eine Weile. »Atari«, sagte er.

»Sie brauchen das nicht ständig zu wiederholen, ich sehe auch so, dass meine Gruppe bedroht ist.«

»Das ist eben so üblich.«

Sie spielten weiter. Oscar geriet ins Schwitzen. Er stand auf und drehte die Heizung herunter.

Er setzte sich wieder. Die Spannung zwischen ihnen hatte sich verflüchtigt. Sie waren ganz aufs Spiel konzentriert. »Sie werden mich schlagen«, verkündete Greta. »Sie kennen all diese fiesen Tricks in den Ecken.«

»Allerdings.«

Sie schaute hoch und sah ihm in die Augen. »Aber ich kann die Tricks lernen, und dann brechen schwere Zeiten für Sie an.«

»Ich weiß schwere Zeiten zu schätzen. Ich liebe Herausforderungen. «

Er gewann mit dreißig Punkten Vorsprung. »Sie lernen schnell. Lassen Sie uns eine ernsthafte Partie spielen.«

»Räumen Sie das Brett noch nicht leer«, sagte Greta. Sie betrachtete ihre Niederlage voller Genugtuung. »Die Muster sind so elegant.«

»Ja. Und sie sind jedesmal anders. Jedes Spiel hat seinen eigenen Charakter.«

»Die Steine erinnern mich an Nervenzellen.«

Er lächelte sie an.

Sie begannen eine neue Partie. Oscar spielte mit großem Ernst. Poker spielte er aus sozialen Gründen, doch eine Go-Partie nahm er niemals auf die leichte Schulter. Er spielte gut. Er war ein begabter Spieler, klug, geduldig und voller Finten, aber Gretas Spielweise war außergewöhnlich. Sie machte zwar Anfängerfehler, wiederholte sie aber niemals und zeigte außergewöhnliches Spielverständnis.

Diesmal gewann er mit neunzehn Punkten Vorsprung, jedoch bloß aufgrund seiner Skrupellosigkeit.

»Das ist wirklich ein schönes Spiel«, sagte sie. »So modern.«

»Es ist dreitausend Jahre alt.«

»Tatsächlich?« Greta stand auf und streckte sich, wobei ihre Kniegelenke laut knackten. »Ich könnte jetzt einen Drink vertragen.«

»Nur zu.«

Sie holte eine eckige Flasche mit blauem niederländischem Gin aus der Reisetasche.

Oscar ging in die Kochnische und entfernte die sterile Verpackung von zwei nagelneuen Bistrogläsern. »Möchten Sie den Schnaps mit Orangensaft verdünnen?«

»Nein, danke.«

Er schenkte sich Orangensaft ein und brachte ihr das leere Glas. Erstaunt beobachtete er, wie sie sich mit laborgeübter Sorgfalt drei Fingerbreit reinen Gin einschenkte.

»Etwas Eis? Ist alles da.«

»Danke, ist schon in Ordnung.«

»Hören Sie, Greta, Sie dürfen keinen reinen Gin trinken. Das führt geradewegs in den gesundheitlichen Ruin.«

»Von Wodka bekomme ich Kopfschmerzen. Tequila schmeckt mir nicht.« Sie setzte die gespitzte Oberlippe an den Rand des Glases und nahm einen tiefen Schluck. Dann schüttelte sie sich. »Uff! Sie trinken überhaupt nicht?«

»Nein. Und Sie sollten auch ein bisschen kürzer treten. Unverdünnter Gin tötet haufenweise Gehirnzellen ab.«

»Gehirnzellen töte ich um mein Leben gern, Oscar. Spielen wir.«

Sie begannen die dritte Partie. Der Schnaps hatte irgendetwas in ihrem Kopf gelockert, und sie spielte wie der Teufel. Er kämpfte, als gelte es sein Leben. Er konnte sich nur mit Mühe behaupten.

»Neun Steine Vorgabe sind zu viel«, sagte er. »Wir sollten uns auf sechs beschränken.«

»Sie gewinnen schon wieder, nicht wahr?«

»Vielleicht mit etwa zwanzig Steinen Vorsprung.«

»Fünfzehn. Aber wir brauchen die Partie nicht jetzt zu Ende zu spielen.«

»Nein.« Er hielt einen weißen Stein zwischen den Fingerspitzen. »Wir brauchen nicht zu Ende zu spielen.«

Er langte übers Brett. Er berührte sie ganz sanft unter dem Kinn. Sie sah ihn überrascht an, und er streichelte zärtlich an ihrem Kiefer entlang. Dann beugte er sich langsam vor, bis sich ihre Lippen berührten.

Ein gehauchter Kuss. Leicht wie Eiderdaunen. Er legte ihr die Hand in den Nacken und beugte sich weiter vor. Der scharfe Geschmack des Gins versengte seine Zunge.

»Gehen wir ins Bett«, sagte er.

»Das ist nicht sehr einfallsreich«, erwiderte sie.

»Ich weiß, aber lass es uns trotzdem tun.«

Sie erhoben sich vom Boden. Sie gingen zum Messingbett hinüber und legten sich hinein.

Es war der schlechteste Fick seines Lebens. Zögernder, ängstlicher, analytischer Sex. Sex ohne die Glut animalischer Hingabe. Die mit dem Akt einhergehende schlichte, befreiende Lust wurde im Vorhinein entwertet, während die postkoitale Zerknirschung und das Bedauern wie zwei geifernde Voyeure neben dem Bett dräuten. Das Ganze versandete eher, als dass sie fertig wurden.

»Das Bett ist sehr wackelig«, meinte sie höflich. »Es quietscht fürchterlich.«

»Ich hätte ein neues kaufen sollen.«

»Man kann doch nicht für eine Nacht ein neues Bett kaufen.«

»Ich kann nichts daran ändern; morgen fahre ich nach Washington weiter.«

Sie setzte sich in den zerschlissenen Laken auf. Ihre porzellanweißen Schultern waren von einem Netzwerk bläulicher Äderchen durchzogen. »Was wirst du denen in Washington sagen?«

»Was soll ich denn sagen?«

»Die Wahrheit.«

»Du sagst immer, es ginge dir um die Wahrheit, Greta. Weißt du auch, was es bedeutet, sie zu erlangen?«

»Selbstverständlich strebe ich nach Wahrheit. Mir geht es immer um die Wahrheit. Um jeden Preis.«

»Na schön, dann will ich dir ein paar Wahrheiten sagen.« Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, holte tief Luft und blickte an die Decke. »Das Laboratorium wurde von einem durch und durch korrupten Politiker erbaut. Als das Raumfahrtprogramm eingestellt wurde, verlor Texas viele Arbeitsplätze. Das digitale Zeitalter hatte man weitgehend verschlafen. Deshalb gab man sich große Mühe, in der Biotechnik Fuß zu fassen. Der Osten von Texas war freilich denkbar schlecht geeignet für den Bau eines Genlabors. Man hätte es in Stanford oder Raleigh bauen sollen oder an der Route 128. Dougal überzeugte nun die Verantwortlichen, das Labor im Niemandsland zu bauen, tief im Pinienwald. Dabei scheute er auch vor Panikmache nicht zurück. Er beschwatzte den Kongress, eine riesige, luftdicht abgeschlossene Sicherheitskuppel mit allen möglichen Sicherheitsvorkehrungen zu bauen, damit er die Taschen einer Clique von Zulieferern für den militärischen Bereich füllen konnte, die vom Geldsegen abgeschnitten und dringend auf Regierungsaufträge angewiesen waren. Und die Leute liebten ihn dafür. Sie wählten ihn wieder und wieder, obwohl er überhaupt keine Ahnung von Biotechnik hatte. Die Einwohner von Osttexas waren einfach zu rückständig, um eine Genindustrie aufzubauen, und daran vermochten auch massive Geldzuwendungen seitens der Regierung nichts zu ändern. Daher wanderten alle Spin-offs über die Staatsgrenze und landeten in den Taschen von Dougals Intimfreund und Gefolgsmann, einem skrupellosen Demagogen aus dem Cajun-Land. Green Huey ist ein Populist der übelsten Sorte. Er glaubt wirklich, die Gentechnik gehöre von Rechts wegen in die Hände von kaum des Lesens kundigen Sumpfbewohnern.«

Er sah Greta an. Sie hörte ihm zu.

»Daher hat Huey vorsätzlich – und ich muss zugeben, dass er dabei eine gewisse Genialität an den Tag gelegt hat – die besten Entdeckungen des Labors in Plug-and-Play-Rezepte umgemünzt, die selbst ein zwölfjähriges Kind anwenden könnte. Er hat in Louisiana mehrere stillgelegte Ölraffinerien übernommen und brodelnde gentechnische Hexenkessel daraus gemacht. In Louisiana darf jeder ungestraft mit der DNS herumpfuschen. Und weißt du was? Die Louisianer sind außergewöhnlich gut darin. Sie haben sich auf die Gentechnik gestürzt wie die Bisamratten ins Wasser. Auf dem Gebiet sind sie richtige Naturtalente. Sie lieben sie! Sie lieben Huey für das, was er ihnen gegeben hat. Huey hat ihnen eine neue Zukunft eröffnet, und sie haben ihn zum König gemacht. Die Macht hat ihn um den Verstand gebracht, er regiert den Staat vor allem auf Grund von Verordnungen. Niemand wagt es, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.«

Greta war blass geworden.

»Die Texaner haben Dougal nie abgewählt. So etwas würden die Texaner niemals tun. Es ist ihnen egal, wie sehr er sie bestohlen hat, er ist ihr Schutzherr, ihre Trutzburg, ihr Gottvater, er hat alles für Texas getan, und das reicht ihnen. Er hat gesoffen, bis die Leber schlapp machte, und konnte am Ende keine Entscheidungen mehr treffen. Dougal ist also endlich weg von der Bühne. Aber weißt du auch, was das für euch bedeutet?«

»Was denn?« fragte sie.

»Es bedeutet, dass die Party vorbei ist. Der Unterhalt dieser riesigen Gurkenkonstruktion verschlingt ein Vermögen, viel mehr, als dem wahren Nutzen der Anlage entspricht, und das Land ist pleite. Wer heutzutage genetische Forschung betreibt, tut dies zu niedrigen Kosten und in ganz normalen Gebäuden. Und zwar in einem anderen Wahlkreis.«

»Aber die Tiere«, sagte sie. »Die gentechnischen Anlagen.«

»Das ist das Tragische dabei. Man kann eine bedrohte Tierart nicht durch Klonen retten. Ich gebe zu, es ist besser, als dass sie vollständig ausgelöscht wird und für immer verloren geht. Aber das sind Kuriositäten, Sammlerstücke für die Superreichen. Eine lebende Spezies, das ist nicht bloß der DNS-Code, sondern die ganze Bandbreite einer großen, frei lebenden Population plus die erworbenen Verhaltsweisen, die Beutetiere und die natürlichen Feinde, und dies alles in einer natürlichen Umgebung. Auf Grund des Klimawandels aber gibt es keine natürliche Umgebung mehr.«

Als er sich aufsetzte, quietschten die Bettfedern. »Das Klima ist im Fluss. Man kann nicht ganze Biotope unter luftdichten Kuppeln einschließen. Heutzutage gedeihen vor allem zwei Pflanzenarten: genmanipuliertes Getreide und schnell wachsendes Unkraut. Daher gibt es so viel Bambus und Kudzu auf der Welt, und das hat nichts mit dem vom Aussterben bedrohten Frauenschuh zu tun und seiner kostbaren Ökonische auf irgendeinem gottverlassenen Berg. Politisch gestehen wir uns dies nur ungern ein, denn es bedeutet, das ganze Ausmaß unserer Verbrechen gegen die Natur anzuerkennen, aber dies ist die ökologische Realität. Das ist die Wahrheit, die du von mir hören wolltest. Das ist die Realität. Unmengen von Geld für die Bewahrung einiger Humpty-Dumpty-Eier auszugeben, das ist nichts weiter als eine gut gemeinte Geste.«

»Und das wirst du den Senatoren sagen.«

»Das habe ich nicht damit gemeint.« Oscar seufzte. »Ich wollte bloß aufrichtig zu dir sein.«

»Was willst du den Senatoren stattdessen sagen?«

»Was ich will? Ich will dich. Ich möchte, dass du auf meiner Seite stehst. Ich will deine Situation verbessern, und ich möchte, dass du mir hilfst und mich berätst.«

»Nein, danke, ich habe mein eigenes Team.«

»Nein, du hast gar nichts. Du hast eine äußerst kostspielige Forschungseinrichtung, die eine Leihgabe ist. Und du hast in Washington mit Leuten zu tun, die imstande sind, einen Luftwaffenstützpunkt abzuschreiben und darüber auch noch zu lachen. Nein, wenn ich mir dein Spiel aus deiner Perspektive anschaue, dann sehe ich zwei realistische Optionen. Zum einen kannst du vor dem Großreinemachen aussteigen. Such dir einen anderen Posten, vielleicht an einer Universität, und sei es in Europa. Wenn du es geschickt anstellst, könntest du deine Lieblingsdoktoranden und Lieblingsreagenzglasspüler bestimmt mitnehmen.«

Greta schaute finster drein. »Und Option Nummer zwei?«

»Verschaff dir Macht. Ein Präventivschlag. Übernimm das Laboratorium und rotte diese korrupten Hurensöhne mit Stumpf und Stiel aus. Mach reinen Tisch, setz dich an die Spitze der Entwicklung und lass frischen Wind herein.« Oscar stützte sich auf einen Ellbogen auf. »Wenn du im richtigen Moment durch die richtigen Quellen etwas durchsickern lässt und alles richtig machst und den richtigen Dreh hinbekommst, dann kannst du die ganzen Trittbrettfahrer loswerden und die meisten Leute retten, die ordentliche Arbeit leisten. Das Spiel ist sehr riskant und wahrscheinlich nur schwer zu gewinnen, und du würdest dir eine Unmenge Feinde fürs Leben machen. Das Ganze hätte aber auch sein Gutes: Wenn du selbst im Labor alles auf den Kopf stellst, dann wird der Kongress so darüber staunen, dass er sich nicht dazu durchringen wird, die Einrichtung dicht zu machen. Wenn du eine gute Presse bekommst und wenn denen dein Stil gefällt, dann werden sie dich vielleicht sogar unterstützen.«

Greta ließ sich erschöpft aufs Kissen niedersinken. »Hör mal, ich möchte einfach meine Laborarbeit tun.«

»Das ist keine Option.«

»Die Arbeit ist sehr wichtig.«

»Das weiß ich, aber das ist einfach keine Option.«

»Im Grunde glaubst du an gar nichts, hab ich Recht?«

»Das stimmt nicht«, widersprach er leidenschaftlich. »Ich glaube, dass kluge Menschen, die zusammenarbeiten, die Welt verändern können. Ich weiß, du bist sehr klug, und wenn wir zusammenarbeiten, kann ich dir vielleicht helfen. Wenn du nicht mitmachst, dann bist du ganz auf dich allein gestellt.«

»Ich bin nicht hilflos. Ich habe Freunde und Kollegen, die mir vertrauen.«

»Das ist gut. Dann seid ihr eben gemeinsam hilflos.«

»Nein, es ist nicht gut. Weil du nämlich mit mir schläfst. Und weil du sagst, dass du alles zerstören willst, wofür ich arbeite.«

»Aber das ist die Wahrheit! Wäre es besser, wenn ich mit dir schliefe und dir nicht sagte, was vor sich geht? Daran habe ich durchaus gedacht. Ich habe es bloß nicht über mich gebracht.«

»Ich bin dafür nicht die Richtige. Ich hasse die Verwaltungsarbeit. Ich kann mir keine Macht verschaffen. Darin bin ich nicht gut.«

»Greta, sieh mich an. Ich könnte es dir beibringen. Verstehst du? Ich organisiere Wahlkämpfe, ich bin ein Experte. Das ist mein Job.«

»Wie schrecklich das klingt.«

»Wir können es schaffen. Jedenfalls dann, wenn du zulässt, dass wir dich beraten und dir helfen. Mein Team und ich, wir haben einen Architekten, der bei den Meinungsumfragen auf gerade mal fünf Prozent kam, zum Senator von Massachusetts gemacht. Euer trauriges kleines Goldfischglas hat Leute wie uns noch nicht erlebt.«

»Tja…« Sie seufzte. »Da muss ich drüber nachdenken.«

»Gut. Tu das. Ich werde eine Weile fort sein. In Washington, Boston… Lass es dir ernsthaft durch den Kopf gehen.« Ihm knurrte der Magen. »Nach dem vielen Gerede bin ich überhaupt nicht müde. Du etwa?«

»Gott, nein.«

»Ich habe einen Mordshunger. Gehen wir essen. Du bist doch mit dem Wagen da, nicht wahr?«

»Mit einer Schrottkarre. Mit Verbrennungsmotor.«

»Fahren wir in die Stadt. Ich lade dich ein. Wir gehen aus und machen ein wenig die Stadt unsicher.«

»Bist du verrückt? Das kannst du nicht machen. Die Verrückten sind hinter dir her.«

Er winkte ab. »Ach, was soll’s. So kann man doch nicht leben. Wozu wäre das gut? Außerdem besteht hier kaum ein Risiko. Es brauchte schon eine größere Geheimdienstaktion, um uns in diesem Nest aufzuspüren. In einem beliebigen Restaurant bin ich hier viel sicherer als in Washington oder Boston. Das ist unsere einzige gemeinsame Nacht. Lass uns tapfer sein. Wagen wir es, glücklich zu sein.«


Sie zogen sich an, traten ins Freie und stiegen in den Wagen. Greta startete ihn mit einem Metallschlüssel. Der Motor grollte unangenehm. Dann klingelte Gretas Handy.

»Geh nicht ran«, sagte Oscar.

Sie hörte nicht auf ihn. »Ja?« Sie lauschte, dann reichte sie das Handy Oscar. »Für dich.«

Fontenot war dran. »Was, zum Teufel, machen Sie da?«

»Sie sind noch wach? Wir fahren essen.«

»Natürlich bin ich wach! Ich war in dem Moment wach, als Sie das Haus verlassen haben. Sie können nicht aus Holly Beach raus, Oscar.«

»Hören Sie, es ist mitten in der Nacht, niemand weiß, wo wir sind, wir sitzen in einem Mietwagen und suchen uns wahllos eine Stadt aus.«

»Sie wollen essen? Wir bringen Ihnen was. Und wenn Sie von irgendeinem Dorfsheriff angehalten werden? Dann wird Ihr Name ins Polizeinetz eingespeist. Glauben Sie, es wäre lustig, wenn sich ein Yankee mit Green Huey anlegt? Wachen Sie auf, Mann.«

»Sollte das geschehen, beschwere ich mich bei der amerikanischen Botschaft.«

»Sehr komisch. Nehmen Sie Vernunft an, okay? Ich habe das mit Holly Beach arrangiert, und leicht war es nicht. Wenn Sie jetzt ausscheren, kann ich die Verantwortung nicht übernehmen.«

»Fahr los«, wandte Oscar sich an Greta. »Jules, ich schätze Ihre Professionalität. Das tue ich wirklich, aber es muss sein, und für Diskussionen bleibt keine Zeit.«

»Na schön«, knurrte Fontenot. »Fahren Sie auf dem Highway nach Osten, ich hänge mich an Sie dran.«

Oscar unterbrach die Verbindung und reichte Greta das Handy zurück. »Hattest du schon mal einen Bodyguard?«

Sie nickte. »Einmal. Nachdem bekannt geworden war, dass ich den Nobelpreis bekommen sollte. Zusammen mit Danny Yearwood. Als die Neuigkeit heraus war, bekam Danny ständig Drohungen von den Tierrechtlern… Mich hat damals niemand bedroht, das war typisch. Alle stürzten sich auf Danny. Wir teilten uns den Nobelpreis, aber ich machte die ganze Laborarbeit… Während der Pressekonferenz wurden wir bewacht, aber die Typen warteten einfach ab. Später fielen sie vor dem Hotel über Danny her und brachen ihm beide Arme.«

»Ach.«

»Ich dachte immer, die Gegner der Experimente mit Fötalgewebe wären die wahren Verrückten. Die Tierrechtler brachen meistens bloß in Labors ein und befreiten die Tiere.«

Sie blickte wachsam in den Scheinwerferkegel hinaus, das Lenkrad mit beiden Händen umklammernd. »Danny war sehr großzügig, was die Urheberschaft anging. Er setzte meinen Namen bei der Veröffentlichung an die erste Stelle – es war meine Arbeitshypothese, ich erledigte die Laborarbeit, also war das nur gerecht, aber er war wirklich ein Engel. Er hat unermüdlich für mich gekämpft, er ließ nicht zu, dass man mich überging. Er hat sich nach Kräften darum bemüht, dass meine Arbeit anerkannt wird, und dann fielen sie über ihn her und schlugen ihn zusammen, und mich haben sie überhaupt nicht beachtet. Seine Frau hasste mich bis aufs Blut dafür.«

»Was macht Dr. Yearwood jetzt? Wie kann ich ihn erreichen?«

»Ach, der ist ausgestiegen. Er hat der Wissenschaft den Rücken gekehrt und ist jetzt im Bankgeschäft.«

»Du machst Witze. Er ist im Bankgeschäft? Er hat den Nobelpreis für Medizin bekommen.«

»Ach, seit dem schwedischen Bestechungsskandal zählt der Nobelpreis nicht mehr so viel… Einige Leute meinen, Danny und ich, eine Frau in den Zwanzigern, hätten den Preis vor allem deshalb bekommen, weil die ihre weiße Weste demonstrieren wollten. Mir ist es egal, ich arbeite einfach gern im Labor. Es gefällt mir, die Hypothese einzukreisen. Ich mag die ganze Vorgehensweise, das Formale daran. Ich mag die Strenge und die Integrität. Ich hab’s gern Schwarz auf Weiß, klipp und klar formuliert. Das ist Wissen. Wissen für die Ewigkeit.«

»Du liebst deine Arbeit wirklich, Greta. Meine Hochachtung.«

»Es ist sehr schwer. Wenn man berühmt wird, kann man einfach nicht mehr in Ruhe arbeiten. Man steigt in der Hierarchie auf, man wird aus dem Labor hinausbefördert, es gibt zahllose dumme Ablenkungen. Auf einmal geht es gar nicht mehr um Forschung. Es geht nur noch darum, dass die Kinder der Postdocs zu essen haben. Das ganze moderne System der Wissenschaft ist bloß noch ein Schatten dessen, was es im goldenen Zeitalter einmal war – während des Ersten Kalten Krieges. Aber…« Sie seufzte. »Ich weiß nicht. Persönlich kam ich eigentlich ganz gut zurecht. Anderen ist es viel schlimmer ergangen.«

»Zum Beispiel?«

»Da gab es mal diese Frau, Rita Levi-Montalcini. Weißt du über sie Bescheid?«

»Hilf mir auf die Sprünge.«

»Sie hat ebenfalls den Nobelpreis bekommen. Sie war Jüdin, lebte in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Italien. Eine Neuro-Embryologin. Die Faschisten waren hinter ihr her, und sie versteckte sich in einer Dorfhütte. Sie bastelte Sektionswerkzeug aus Draht und experimentierte mit Hühnereiern… Sie hatte kein Geld, sie durfte sich nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen, und die Regierung hatte es praktisch auf ihr Leben abgesehen, aber sie brachte trotzdem Ergebnisse zustande, bedeutsame Ergebnisse… Sie überlebte den Krieg und kam mit dem Leben davon. Sie flog nach Amerika, wo man ihr einen wichtigen Laborposten gab, und dort beendete sie ihr Leben mit neunzig Jahren als berühmte Hirnforscherin von Weltformat. Genau darum geht es.«

»Soll ich eine Weile fahren?«

»Tut mir leid, dass ich weinen muss.«

»Schon gut. Fahr rechts ran.«

Sie stiegen in der Dunkelheit aus und wechselten die Plätze. Oscar fuhr los, und die Reifen knirschten über das mit Muschelschalen bestreute Bankett. Es war lange her, dass er selbst am Steuer gesessen hatte. Er fuhr sehr vorsichtig, denn er wollte keinen Unfall bauen. Es wurde allmählich interessant. Der Sex war ein Debakel gewesen, aber Sex war nicht die Hauptsache. Er drang allmählich zu Greta durch. Darauf kam es an.

»Du darfst nicht zulassen, dass man mein Labor zerstört, Oscar. Ich weiß, das Labor wurde seinem Anspruch niemals gerecht, aber es ist etwas Besonderes und sollte nicht zerstört werden.«

»Das sagt sich so leicht. Vielleicht wäre es sogar machbar. Aber wie entschlossen bist du, für deine Ziele zu kämpfen? Wie hoch ist dein Einsatz? Was bist du bereit zu opfern?«

Abermals klingelte ihr Handy. Sie nahm den Anruf entgegen. »Schon wieder dein Freund«, sagte sie. »Er möchte, dass wir in ein Lokal mit Namen Buzzy’s gehen. Er hat für uns Plätze reserviert.«

»Mein Freund ist wirklich ein prima Goldschatz.«

Sie fuhren nach Cameron hinein und fanden das Restaurant. Das Buzzy’s war ein Musiklokal gehobenen Anspruchs mit gutem Touristenpublikum, und es hatte lange geöffnet. Die Musiker spielten ein klassisches Streichquartett. Typische angloamerikanische Ethnomusik. Es war erstaunlich, wie viele Anglos in der boomenden Klassikszene tätig waren. Weiße hatten offenbar ein angeborenes Talent für strenge, lineare Musik, dem die weniger problembehafteten ethnischen Gruppen nur wenig entgegenzusetzen hatten.

Fontenot hatte sie als Mr. und Mrs. Garcia angemeldet. Sie bekamen einen hübschen Tisch zugeteilt, nicht weit von der Küche und in praktischer Nähe zur Bar, wo eine Gruppe texanischer Touristen in Abendkleidung sich inmitten des Messings und der Spiegel um den Verstand soffen. Es gab Stoffservietten, Silberbesteck, eine aufmerksame Bedienung, Speisekarten auf englisch und französisch. Die Atmosphäre war angenehm, und es wurde noch behaglicher, als Fontenot eintraf und an einem Tisch in der Nähe des Eingangs Platz nahm. Es war beruhigend, einen Bodyguard zu haben, der hellwach und nüchtern alle eintretenden Gäste in Augenschein nahm.

»Ich habe Appetit auf Fisch«, verkündete Oscar. »Hummer wäre auch gut. Habe keinen vernünftigen Hummer mehr gegessen, seit ich aus Boston fort bin.«

»Écrevisse«, sagte Greta.

»Was ist das?«

»Oben auf Seite zwei. Eine hiesige Spezialität, solltest du unbedingt mal probieren.«

»Klingt großartig.« Er winkte den Ober heran und gab die Bestellung auf. Greta verlangte Hühnersalat.

Greta wendete den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern, in das er Mineralwasser eingeschenkt hatte, um weiterem Gin vorzubeugen. »Oscar, wie soll es weitergehen? Ich meine, mit uns beiden.«

»Ach, unsere Beziehung ist rein technisch betrachtet unmoralisch, aber solange man die Dinge auseinanderhält, macht das nichts. Du nimmst deine Arbeit wieder auf, und ich fahre an die Ostküste. Wenn ich zurückkomme, können wir diskret etwas arrangieren.«

»So macht man das in deinen Kreisen?«

»Wenn es funktioniert… Es wird allgemein akzeptiert. Sagen wir, wie beim Präsidenten und seiner Geliebten.«

Sie hob die Brauen. »Leonard Two Feathers hat eine Geliebte?«

»Nein, nein, der doch nicht! Ich meine den alten Knacker, der offiziell noch immer im Amt ist. Er hatte eine Freundin – Pamela Sowieso, der Nachname tut nichts zur Sache… Sie wird solange warten, bis er nicht mehr im Amt ist. Dann lässt sie sich das Enthüllungsbuch, das Parfüm, die Reizwäsche und die ganzen anderen Nebenrechte lizensieren… In dieser Währung wird sie bezahlt.«

»Und was hält die First Lady davon?«

»Ich glaube, sie denkt so darüber wie alle First Ladies. Sie hat geglaubt, sie würde mitregieren, und dann musste sie vier lange Jahre lang zusehen, wie die Notstandsausschüsse ihren Mann in aller Öffentlichkeit in die Enge trieben und aufspießten wie einen Frosch. Das ist die wahre Tragödie. Weißt du, politisch konnte ich mit dem Mann nichts anfangen, aber das alles mit anzusehen, war quälend für mich. Als er das Amt übernahm, wirkte der alte Bursche ganz in Ordnung. Er war zweiundachtzig, aber in der Partei der amerikanischen Einheit sind alle alt, der ganze rechtsprogressive Block ist überaltert… Das Amt hat ihn zerbrochen, so ist das. Es hat ihm in der Öffentlichkeit die alten Knochen gebrochen. Ich schätze, man hätte ihn wegen seiner Geliebten, diesem Uraltthema, outen können, aber der Präsident hatte auch so schon genug Probleme, da war es völlig unnötig, sein Sexleben zu ruinieren.«

»Davon habe ich nichts gewusst.«

»Die Leute wussten Bescheid. Irgendjemand weiß immer Bescheid. Die Mitarbeiter. Der Secret Service. Das heißt aber nicht, dass man sie dazu bringen kann, die Sache auch publik zu machen. Netzwerke sind ein ganz besonderer Fall. Sie sind niemals einheitlich und uniform, sondern stets unberechenbar. Es gibt bestimmt irgendwelche Halunken, die Videomaterial über den Präsidenten und Pamela haben. Vielleicht tauschen sie’s ja gegen ein paar Paparazzi-Fotos von Hollywoodstars ein. Das ist bedeutungslos. Mein Vater, der Filmschauspieler, wurde ständig geoutet, aber stets wegen irgendwelcher idiotischer Kleinigkeiten – einmal wurde er geoutet, weil er einen Typ im Poloclub niedergeschlagen hatte, aber niemals wegen seiner Mauscheleien mit Gangstern. Verrückte, die Zeit haben, können im Netz eine Menge seltsamer Dinge in Erfahrung bringen. Aber egal, wie viel sie erfahren, sie bleiben doch immer bloße Verrückte. Das sind keine Spieler, die zählen einfach nicht.«

»Und ich bin auch keine Spielerin und zähle deshalb nicht.«

»Das solltest du nicht so ernst nehmen. Keiner von euch hat jemals gezählt. Senator Dougal war euer Spieler. Euer Spieler ist jetzt nicht mehr da, das heißt, ihr habt das Spielbrett nicht besetzt. Das ist die politische Realität.«

»Ich verstehe.«

»Aber du kannst wählen. Du bist eine Staatsbürgerin. Du hast eine Stimme. Das ist wichtig.«

»Ja.«

Sie lachten.

Sie aßen Consommé. Dann brachte der Ober das Hauptgericht.

»Riecht herrlich«, sagte Oscar. »Wo ist mein Hummerlätzchen? Die Zange? Oder der Hammer?« Er betrachtete sein Gericht eingehender. »Warte mal. Was stimmt mit meinem Hummer nicht?«

»Das ist deine Écrevisse.«

»Was ist das eigentlich?«

»Ein Flusskrebs.«

»Was ist mit den Zangen? Der Schwanz sieht so eigenartig aus.«

»Das ist eine Züchtung. Natürliche Flusskrebse sind bloß sieben Zentimeter lang. Man hat sie genetisch verändert. Das ist eine hiesige Spezialität.«

Oscar starrte das gekochte Krustentier inmitten der Beilage aus gelbem Reis an. Das Gericht war ein riesiger genetischer Mutant. Die Proportionen stimmten einfach nicht. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er hatte schon zahlreiche gentechnisch veränderte Nahrungsmittel verspeist: Maiskörner vom halben Durchmesser seines Arms. Extradicke Zucchinis, schmackhaften Brocco-Blumenkohl, kernlose Äpfel, alles mögliche ohne Kerne… Das hier aber war ein genmanipuliertes Tier, das man bei lebendigem Leib gekocht und in einem Stück serviert hatte. Es wirkte bizarr, vollkommen unwirklich. Es ähnelte einem hummerförmigen Luftballon.

»Riecht herrlich«, wiederholte er.

Gretas Handy klingelte.

»Können wir denn nicht in Ruhe essen?« sagte Oscar.

Sie schluckte einen Mund voll essiggesättigten Hühnersalat. »Ich schalte das Handy ab«, sagte sie.

Oscar stupste versuchsweise eines der zahlreichen Hilfsbeine des Krebses an. Das gekochte Bein brach säuberlich wie ein Zweig ab, sodass man einen weißen Fleischrand sah.

»Zier dich doch nicht so«, meinte sie, »wir sind hier in Louisiana, okay? Steck dir den Kopf in den Mund und saug den Saft heraus.«

Die Musik brach unvermittelt ab, mitten im Satz. Oscar schaute hoch. Im Eingang standen einige Polizisten.

Es waren Polizisten des Bundesstaates, Männer mit flachkrempigen Hüten, Kopfhörern und Pistolen im Halfter. Sie drängten ins Restaurant. Oscar blickte rasch zu Fontenot hinüber, der mit verärgerter Miene diskret auf sein Handy tippte.

»Verzeihung«, sagte Oscar, »dürfte ich mir mal dein Handy borgen?«

Er schaltete Gretas Handy wieder ein und durchlief die erstaunlich komplizierte Anmeldeprozedur. Die Cops hatten sich im mittlerweile verstummten Publikum verteilt und sämtliche Ausgänge besetzt. Hinter der Bar standen Cops, ein Cop stand beim Küchenchef, andere Cops verschwanden lautlos in der Küche, vier Cops stiegen die Treppe hoch. Cops mit Laptops, Cops mit Videokameras. Drei Cops unterhielten sich mit dem Geschäftsführer.

Dann ertönte das Tuckern eines Helikopters, der auf der Straße landete. Als der Rotorenlärm verstummte, schrien plötzlich alle. Die darauf folgende Stille war sehr eindrucksvoll.

Zwei Kleiderschränke von Bodyguards in Zivilkleidung betraten das Restaurant, gefolgt von einem kleinen, rotgesichtigen Mann in Hausschuhen und purpurrotem Pyjama.

Der rotgesichtige Mann stürmte ins Restaurant, schlitterte auf den Pantoffeln über die Bodenfliesen. »HALLO ALLERSEITS!« Seine Stimme dröhnte wie eine Kesselpauke. »ICH bin’s!« Er schwenkte die Arme, wobei sich die Pyjamajacke öffnete und einen behaarten Bauch enthüllte. »Bitte entschuldigt die Störung! Was sein muss, muss sein! Entspannt euch! Alles unter Kontrolle!«

»Hallo, Gouverneur!« rief jemand. »Hey, Huey!« schrie ein anderer Gast, als hätte er sich ein Leben lang nach dieser Gelegenheit gesehnt. Die Gäste grinsten plötzlich, wechselten erfreute Blicke, rückten die Stühle zurück, strahlten. Sie hatten wirklich Glück. In ihr tristes kleines Leben war ein wenig Farbe eingekehrt.

»Dann wollen wir mal sehen, was die Jungs in der Küche zu bieten haben!« kreischte der Gouverneur. »Wir werden heute Abend richtig gut für euch sorgen, Leute! Das Essen geht auf meine Kosten! Klaro? Boozoo, du kümmerst dich drum! Auf der Stelle.«

»Yessir«, sagte Boozoo, einer der Bodyguards.

»Einen KAFFEE!« dröhnte Huey. Er war klein, hatte aber die Schultern eines Footballspielers. »Einen doppelten Kaffee! Es ist spät, also tut einen ordentlichen Schuss rein. Eine Mokkatasse. Ach was, eine gottverdammte richtige Tasse. Bringt mir jemand gleich zwei Tassen? Oder soll ich die ganze Nacht warten? Verdammt noch mal, riecht’s hier gut! Amüsiert ihr euch auch gut, Leute?«

Die Gäste johlten.

»Beachtet mich gar nicht!« brüllte Huey und zog beiläufig die Pyjamahose hoch. »Hab in Baton Rouge nichts Anständiges gekriegt, da musste ich herfliegen, um was gegen meinen knurrenden Magen zu unternehmen.« Er stapfte zielsicher ins Restaurant und näherte sich wie ein Schlachtschiff Oscars Tisch. Vor Oscar und Greta blieb er unvermittelt stehen, mit zuckenden Händen, die Stirn mit Schweißperlen besetzt. »Clifton, einen Stuhl.«

»Yessir«, sagte der zweite Bodyguard. Clifton riss einen Stuhl hoch, als schnappe er sich eine Baguette, und schob ihn seinem Boss energisch unter das Gesäß.

Jetzt waren sie zu dritt. Aus der Nähe ähnelte das Gesicht des Gouverneurs einem Vollmond; aufgedunsen, leuchtend und voller kleiner Krater. »Hallo, Etienne«, sagte Greta.

»Hallo, petite!« Zu Oscars Verdruss begannen sie sogleich eine Unterhaltung. Ihr Französisch war gespickt mit Idiomen.

Oscar sah zu Fontenot hinüber. In Fontenots Blick lag eine zweibändige Lektion in umsichtigem Verhalten. Oscar schaute wieder weg.

Ein Ober kam mit dem Kaffee angetrabt. Der Kaffee wurde serviert in einem hohen Glas, mit Schlagsahne und einem Schuss Bourbon. »Ich sterbe vor Hunger«, verkündete Huey mit gedämpfterer, weniger an die Öffentlichkeit gewandter Stimme. »Einen netten Schlammkäfer haben Sie da, mein Sohn.«

Oscar nickte.

»Ich liebe Schlammkäfer«, sagte Huey. »Geben Sie mir mal die Buttersoße.« Er krempelte sich die Pyjamaärmel hoch, streckte seine Schaufelhände aus und drehte den Schwanz des Krebses unter lautem Knacken ab. Er bog den Schwanz, stülpte das weiße, dampfende Fleisch nach außen. »C’est bon, mein Sohn!« Er stopfte sich den Krebsschwanz in den Mund, grub die Zähne hinein und zerrte am Fleisch. »Das ist wirklich GUT! So sollte ich die Bostoner Hummer zerreißen! Her mit der Speisekarte. Mein Yankee-Freund, der Seifenvertreter hier, will was bestellen. Der Küchenchef soll sich warm anziehen.«

Ihr Tisch war mittlerweile umringt von Obern. Sie drängten sich durch die Reihen der Polizisten, brachten Wasser, Sahne, Servietten, Butter, warmes Brot, Schälchen mit kalter Soße. Sie brannten darauf, Huey zu bedienen, machten sich gegenseitig die Ehre streitig. Einer reichte Oscar die Speisekarte.

»Bringen Sie dem Mann einen Reiseintopf«, kommandierte Huey und schnipste die Karte mit seinen dicken roten Fingern weg. »Bringen Sie ihm zwei Shrimp-Jambalayas. Große, gute Shrimps. Wir brauchen hier ein paar Riesenshrimps, der Kinderstar wirkt reichlich mager. Mädchen, du musst was Richtiges essen, nicht bloß Salat. Hühnersalat allein nährt eine Frau nicht. Sagen Sie doch mal, Oscar. Ein Mann muss essen, stimmt’s?«

»Stimmt, Gouverneur.«

»Ihr Freund isst nicht!« Huey zerdrückte die rote Zange des Krebses zwischen den Daumen. »Mr. Bombast. Mr. Architekt. Sowas geht mir auf den Geist! Wenn ich bloß an ihn und seine hübsche Frau denke, wie sie da oben im Norden ihren gottverdammten Apfelsaft nuckeln. Das raubt mir nachts den Schlaf!«

»Tut mir leid zu hören, dass Ihnen das Sorgen bereitet, Exzellenz.«

»Sagen Sie Ihrem Freund, er soll nicht so viel grübeln. Sie werden nicht erleben, dass ich Leib und Leben vernachlässige, bloß weil der kleine Mann in Boston nicht zu Potte kommt. Yankees wie Sie haben wir ständig hier unten. Sie finden Geschmack am süßen Leben, und dann denken sie nicht mehr daran, im Trüben zu fischen. Hungrige Jungs brauchen Aufheiterung.«

»Er wird essen, wenn Ihre Soldaten essen, Sir.«

Huey starrte ihn an, mutwillig kauend. »Also, Sie können ihm von mir ausrichten – und zwar heute noch –, dass ich sein kleines Problem beheben werde. Ich verstehe seinen Standpunkt. Hab’s kapiert. Er kann die gottverdammten Kameras und seinen Apfelsaft für sich behalten, denn ich werde ihm einen Gefallen tun. Ich werde vorausschauende Maßnahmen ergreifen, um die infrastrukturellen Probleme dieses Herrn zu beheben.«

»Ich werde dafür sorgen, dass der Senator Ihre Botschaft erhält, Sir.«

»Sie glauben wohl, ich mache Witze, Mr. Valparaiso? Sie glauben, ich scherze mit Ihnen?«

»Das würde mir niemals einfallen, Exzellenz.«

»Das ist gut. Das ist sehr gut. Wissen Sie was? Ich mochte die Filme Ihres Vaters.« Huey blickte sich über die Schulter um. »WO BLEIBT DIE MUSIK?« blaffte er. »Sind die Musiker etwa BESOFFEN? Die Band soll spielen!«

Die Musiker nahmen eilig ihre Plätze ein und stimmten ein Menuett an. Der Gouverneur trank schlürfend einen Schluck Kaffee, dann machte er sich wieder über den Riesenkrebs her. Er riss beide Zangen ab und verzehrte das Fleisch, dann saugte er mit allen Anzeichen von Genugtuung den scharf gewürzten Saft aus dem Kopf.

Die Ober servierten Teller mit Cajun-Spezialitäten. Oscar begutachtete das dampfende Festmahl. Er hatte nur selten so wenig Appetit gehabt.

»Was ist mit dir, Schätzchen?« fragte Huey unvermittelt. »Du bist so schweigsam heute.«

Greta schüttelte den Kopf.

»Du solltest wissen, was dieser Seifenvertreter vorhat, nicht wahr? Dougal ist aus dem Rennen, die Demokraten sind drin, jetzt muss das Geld woanders herkommen. Was meinen Sie? Ein hübsches kleines Labor an der Route 128? Das wär doch was.«

»Er macht nicht viele Versprechungen«, murmelte Greta.

»Das sollte er auch nicht, denn er kann den Bostoner Zaster nicht verteilen. Ich habe zwei Jungs im Senat, die ihm endlos zusetzen werden. Ich habe das gottverdammte Laboratorium gebaut! Ich! Ich weiß, was es wert ist. In Baton Rouge verabschieden wir im Geldbeschaffungsausschuss einfach ein neues Gesetz. Eine große Erweiterung fürs ›Bio Bayou‹. Vielleicht wird mein Labor nicht so groß wie Ihres, aber es braucht auch nicht groß zu sein, wenn man nicht alle möglichen raffgierigen Bakterienjockeys in sämtlichen fünfzig Staaten durchfüttern muss. Ich kenne den verdammten Unterschied zwischen Hirnforschung und diesen Hurensöhnen, die Grashüpfer katalogisieren. Das wissen Sie doch, oder?«

»Ja, das weiß ich, Etienne.«

»Es ist eine himmelschreiende Schande, dass Sie die Förderanträge in fünffacher Ausfertigung ausfüllen müssen. Eine Frau wie Sie braucht freie Hand! Nehmen wir mal an, Sie beschäftigen sich mit… mit der Blockade der Aufnahme von Methylspiropedirol durch die Dopaminrezeptoren der adrenergen Nerven außerhalb des Streifenhügels. Mag für einen Laien komisch klingen, macht aber den Unterschied zwischen geistiger Gesundheit und Schizophrenie aus. Ich möchte den gewählten Politiker sehen, der die Worte auch nur aussprechen kann! Aber das ist schwer im Kommen. Erst digital… dann biologisch… und jetzt kognitiv. Das ist sonnenklar. Sie glauben, wir sitzen hier in Akadien herum, die einzigen amerikanischen Einwanderer, die jemals einer ethnischen Säuberung unterworfen wurden, und schauen zu, wie ein Haufen großkopferter Fachidioten versucht, uns AUSZUBOOTEN? Uns verdammt noch mal AUSZUBOOTEN? Ins Auge geschissen, Schwester!«

»Mit Bewusstseinsforschung habe ich nichts zu tun, Etienne. Ich bin bloß Neuraltechnikerin.«

»Sie haben den Nobelpreis für Ihre Entdeckung der zellulären Grundlagen der Wahrnehmung bekommen, und Sie wollen behaupten, Sie beschäftigten sich nicht mit dem Bewusstsein?«

»Ich befasse mich mit Neuronen und Zellen der Neuroglia. Nicht aber mit dem Bewusstsein. Das ist kein wissenschaftlicher Begriff. Das ist Metaphysik.«

»Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das ist doch keine Metaphysik, wenn es vor Ihnen auf dem Tisch sitzt und einen Apfel im Mund hat. Hören Sie, wir kennen einander schon eine ganze Weile. Sie kennen doch den alten Huey, nicht wahr? Sie sind Hueys Freund, Sie können alles von ihm haben. Was immer Sie sich wünschen!«

»Ich will bloß in meinem Labor arbeiten.«

»Eben! Her mit den Spektrografen! Was wollen Sie haben, luftdichte Arbeitsbedingungen? In einer Meile Tiefe haben wir Schwefel- und Salzminen, Höhlen, die größer sind als das Stadtzentrum von Baton Rouge. Machen Sie dort unten, was Sie wollen! Versiegeln Sie hinter sich die Türen. Wissenschaft, die unerforschte Grenze, Schätzchen! Etwas Besseres kann Ihnen niemand bieten! Unterschreiben Sie nie wieder ein Gutachten zur Bewertung der Folgen! Forschen und veröffentlichen Sie, mehr verlange ich gar nicht! Forschen und veröffentlichen Sie einfach.«


Oscar und Greta kehrten um vier Uhr morgens zum Strandhaus zurück. Von der Veranda aus schauten sie zu, wie die Scheinwerfer der aus sechs Wagen bestehenden Polizeieskorte kehrtmachten und in der Dunkelheit verschwanden.

Das von Fontenot alarmierte Team hatte das Haus in der Zwischenzeit sorgfältig bewacht. Niemand hatte es betreten und durchsucht. Das immerhin war ein Trost. »Unglaublich, dass die Leute ihm die Hände geküsst haben«, sagte Oscar.

»Es waren bloß drei.«

»Sie haben ihm die Hände geküsst! Sie haben geweint und ihm die Hände geküsst!«

»Er hat für die Einheimischen einiges zum Besseren gewendet«, meinte Greta gähnend. »Er hat ihnen wieder Hoffnung gemacht.« Sie ging mit der Reisetasche ins Bad und schloss hinter sich die Tür.

Oscar betrat die Kochnische. Er öffnete den Kühlschrank. Seine Hände zitterten. Huey hatte ihn nicht geknackt. Er hatte nicht die Beherrschung verloren, doch er war entsetzt über Hueys Reaktionsschnelligkeit und den unerwarteten Preis, den er dafür hatte entrichten müssen, dass er im Einflussbereich des Gouverneurs leichtsinnig ein Risiko eingegangen war. Geistesabwesend nahm er einen Apfel aus dem Kühlschrank. Dann ging er ins Wohnzimmer und nahm in dem scheußlichen Lehnstuhl Platz. Gleich darauf stand er wieder auf. »Es wimmelte nur so vor bewaffneten Idioten, und die Leute haben ihm die Hände geküsst!«

»Der Gouverneur braucht Bodyguards, er lebt gefährlich«, sagte Greta hinter der Badezimmertür. »Oscar, weshalb hat er dich als ›Seifenvertreter‹ bezeichnet?«

»Ach, das. Das war die erste Firma, für die ich gearbeitet habe. Eine Biotech-Firma. Wir haben Emulgatoren für Geschirrspülmittel hergestellt. Die Leute machen sich oft falsche Vorstellungen. Sie glauben, Biotech müsse immer etwas Besonderes sein. Seife aber ist ein gängiger Konsumartikel. Wenn man die Herstellungskosten um fünf Prozent senken kann, rennen einem die Firmenaufkäufer die Türen ein…« Er verstummte. Greta putzte sich die Zähne, hörte gar nicht zu.

Als sie aus dem Bad kam, trug sie ein Nachthemd aus weißem Flanell. Es reichte ihr bis auf die Knöchel und hatte eine kleine pastellfarbene Schleife am Ausschnitt. Sie nahm einen kompakten Luftfilter aus der Reisetasche.

»Allergien?« fragte Oscar.

»Ja. Die Luft außerhalb der Kuppel… na ja, draußen riecht es immer so komisch.« Sie schaltete den Filter ein. Er summte laut.

Oscar vergewisserte sich, dass die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen waren. Seine Gefühle ihr gegenüber hatten in der Zwischenzeit unbemerkt einen turbulenten Wandel vollzogen. Die Begegnung mit dem Gouverneur hatte ihn innerlich aufgewühlt. Jetzt war er erregt, erfüllt von aufgestauter Emotion. Leidenschaftlich, aggressiv und besitzergreifend. Er war krank vor Eifersucht. »Willst du darin schlafen?«

»Ja. Nachts kriege ich immer kalte Füße.«

Oscar schüttelte den Kopf. »Du wirst nicht darin schlafen. Und wir gehen auch nicht ins Bett. Diesmal nehmen wir den Boden.«

Sie besah sich den Boden. Er war bedeckt mit einem hübschen Webteppich. Sie sah Oscar an und errötete bis über beide Ohren.

Kurz nach Sonnenaufgang erwachte er. Er hatte auf dem Teppich geschlafen. Greta hatte ihn mit dem Bettlaken und der Decke zugedeckt. Sie saß am Schreibtisch und machte Eintragungen in ihr Notebook.

Oscar musterte bedächtig die Wasserflecken an der Decke. Er hatte sich die Kniescheiben am Teppich wundgescheuert. Der Rücken tat ihm weh. Unter seiner Hüfte trocknete ein feuchter Fleck. Zum erstenmal seit Wochen war er mit sich wahrhaft im Reinen.

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