6

Greta traf nach Mitternacht in einem fahrerlosen Taxi ein. Oscar warf einen Blick auf den Türmonitor.

Ein Treibhaus-Nordostwind wehte, und dicke Schneeflocken wirbelten in den Lichtkegeln der wachsamen Straßenlaternen. Eine Polizeidrohne flitzte wie eine schwarze Lederschwalbe hinter Gretas Kopf vorbei. Oscar öffnete die Tür und spähte mit einem lahmen Grinsen hinter der Panzerung hervor.

Greta blickte finster wie eine Gewitterwolke. Er verzichtete darauf, sie zu umarmen. »Du hattest doch hoffentlich keine Schwierigkeiten herzukommen?«

»In Boston? Gott bewahre, nein.« Sie riss sich den Hut vom Kopf und klopfte den Schnee von der Krempe. »Dafür ist Boston zu zivilisiert.«

»Auf der Straße gab es einen kleinen Zwischenfall.« Oscar legte eine Pause ein. »Nichts Ernstes. Erzähl mir von der Konferenz.«

»Ich bin mit Bellotti und Hawkins ausgegangen. Sie wollten mich betrunken machen.« Oscar bemerkte erst jetzt, dass sie tatsächlich ziemlich betrunken war. Sie war voll. So behutsam, wie eine Krankenschwester einen Verband entfernt, nahm er ihr den Mantel ab. Greta war so gut gekleidet, wie sie es verstand; knielanger Wollrock, vernünftige Schuhe, grüne Baumwollbluse.

Er hängte den Hut und den zerknitterten Mantel in die Garderobe. »Bellotti und Hawkins sind wohl die Herren, die sich mit Fibrillen beschäftigen«, half er nach.

Ihre Miene hellte sich auf. »Also, die Konferenz ist ziemlich gut gelaufen. Die Nacht war schlimm. Bellotti hat die Drinks besorgt, und Hawkins hat mich nach Laborergebnissen gelöchert. Es macht mir nichts aus, über unveröffentlichte Ergebnisse zu reden, aber die beiden waren einfach nicht fair. Ihre heißen Ergebnisse haben sie für sich behalten.« Sie presste verächtlich die Lippen zusammen. »Es könnte kommerziell verwertbar sein.«

»Ich verstehe.«

»Das sind Industriegauner. Sie sind schlau, misstrauisch und gerissen. Hoffnungslose Fälle.«

Er führte sie durchs Wohnzimmer und schaltete die Küchenbeleuchtung ein. Im behaglichen Lampenschein wirkte ihr Gesicht starr und wächsern. Verschmierter Lippenstift. Wirres, sprödes dunkles Haar. Die ungezupften Augenbrauen wirkten besonders schlimm.

Greta musterte eingehend die Sockelstühle, den verchromten Tisch, die Arbeitsfläche aus Keramik, die eingebauten Resonanzkochflächen. »Das ist schon eine eigenartige Küche«, sagte sie verwundert. »So… sauber. Hier könnte man ein Labor einrichten.«

»Danke.«

Mit der Vorsicht einer Betrunkenen nahm sie in der weißen Plastikschale des Tulpenstuhls von Saarinen Platz.

»Es ist dein gutes Recht, dich zu beklagen«, sagte Oscar. »Du bist umgeben von Ausbeutern und Trotteln.«

»Das sind keine Trottel, sondern sehr fähige Leute. Es ist bloß… Also, ich arbeite nicht für die Industrie. Bei der Grundlagenforschung geht es um… Grundlagenforschung soll…« Sie schwenkte gereizt die Hand. »Wie sagt man noch gleich?«

»Dem öffentlichen Wohl dienen?« schlug Oscar vor.

»Ja, genau! Dem öffentlichen Wohl! Ich nehme an, das klingt total naiv in deinen Ohren. Aber eines weiß ich – es steht mir nicht zu, mein Bankkonto zu mästen, während die Steuerzahler mir Gehalt zahlen.«

Oscar langte durch die funkelnden Gleitborde des Schranks von Kuramata hindurch. »Möchtest du einen Kaffee? Ich habe gefriergetrockneten.«

Der finstere Blick kehrte zurück und nistete sich in ihren Augenbrauen ein, als wäre er eintätowiert. »Man kann nicht ernsthaft forschen und an den Wochenenden Geschäftsmann sein. Wenn man es ernst meint, hat man keine freien Wochenenden.«

»Heute ist Wochenende, Greta.«

»Oh.« In ihrem Blick lag eine alkoholgespeiste Mischung aus Überraschung und Bedauern. »Also, ich kann nicht das ganze Wochenende hier bleiben. Morgen um neun findet ein hochinteressantes Seminar statt. ›Cytoplasmatische Domänen‹.«

»Cytoplasma klingt umwerfend.«

»Aber heute Nacht bleibe ich hier. Lass uns etwas trinken.« Sie öffnete die Handtasche. »O nein. Ich habe den Gin vergessen. Der ist in meiner Reisetasche.« Sie blinzelte. »O Gott, Oscar, ich habe die Reisetasche vergessen! Ich habe sie im Hotel gelassen…«

»Außerdem hast du vergessen, dass ich nicht trinke«, sagte Oscar.

Sie presste sich die Handballen gegen die Stirn.

»Ist ja gut«, sagte Oscar. »Vergiss mal einen Moment die Arbeit. Ich habe Mitarbeiter. Wir können dir alles beschaffen, was du brauchst.«

Sie hatte gerade einen Durchhänger: Zweifel und Bitterkeit. »Komm, ich zeige dir das Haus«, meinte Oscar munter. »Das macht Spaß.«

Er geleitete sie ins Wohnzimmer. Möbliert war es mit einem elliptischen Tisch von Piet Heim, Freischwingersesseln aus Stahlrohr und Birkenholz und einem aufblasbaren Sofa aus Polyvinyl.

»Du hast ja moderne Kunst.«

»Das ist mein Kandinsky. Komposition VIII, von 1923.« Er berührte den Rahmen, rückte ihn um eine Haaresbreite zurecht. »Keine Ahnung, weshalb man das immer noch als ›moderne Kunst‹ bezeichnet, obwohl es mittlerweile hundertzwanzig Jahre alt ist.«

Greta betrachtete eingehend die farbenprächtige Leinwand, schaute nachdenklich Oscar an, wandte sich wieder dem Gemälde zu. »Weshalb bezeichnet man das überhaupt als ›Kunst‹? Ich sehe da bloß ein großes Durcheinander von Dreiecken und Farbklecksen.«

»Ich verstehe, dass es diese Wirkung auf dich hat, aber das liegt daran, dass du keinen Geschmack hast.« Oscar verkniff sich ein Seufzen. »Kandinsky war mit allen bedeutenden Künstlergruppen seiner Zeit bekannt: mit dem Blauen Reiter, den Surrealisten, Suprematisten, Futuristen… Kandinsky war ein Großer.«

»Hast du viel Geld dafür bezahlt?«

»Nein, hab’s billig bei einem Ramschverkauf des Guggenheim Museums bekommen. Die ganze Kunst aus der Zeit zwischen 1914 und 1989 – die kommunistische Ära weißt du, die Essenz des zwanzigsten Jahrhunderts – ist jetzt völlig aus der Mode. Kandinsky ist das genaue Gegenteil der heutigen ›modernen Kunst‹, aber ich halte ihn noch immer für unbedingt relevant, weißt du. Wassily Kandinsky spricht mich wirklich an. Wenn er heute noch leben würde… Ich glaube, er hätte dies alles verstanden.«

Sie schüttelte etwas benommen den Kopf. »Moderne Kunst… Wie sind sie damit bloß durchgekommen? Das ist doch ein einziger Beschiss.« Plötzlich musste sie niesen. »Entschuldigung. Meine Allergien machen sich bemerkbar.«

»Komm mit.«

Er führte sie zu seinem Mediencenter. Auf diesen Raum war er besonders stolz. Es war ein moderner Einsatzraum im zeitgenössischen Stil. An der Wand waren Stühle aus gelochtem Aluminium vor modularen Speichereinheiten mit Flachbildschirmen gestapelt. Dänische Regale, ein Handwagen, bunte Plastikbürokörbe von Kartell. Hübsche Mailänder Lampen… Kein Firlefanz, nichts Überflüssiges. Alles zurückgestutzt, ganz und gar effizient und nüchtern.

»Das gefällt mir«, sagte Greta. »Ich könnte mir vorstellen, in einer solchen Umgebung zu arbeiten.«

»Das freut mich. Ich hoffe, die Gelegenheit ergibt sich.«

Sie lächelte. »Warum nicht? Es gefällt mir hier. Der Raum entspricht dir.«

Er war gerührt. »Das ist nett, dass du das sagst, aber ich sollte wohl ehrlich sein… Die Ausstattung ist nicht von mir. Ich meine, den Kandinsky habe ich schon ausgesucht, aber nachdem ich meine Start-up-Firma verkauft hatte, habe ich das Haus gekauft und eine Innenarchitektin angestellt… Damals habe ich mich sehr aufs Haus konzentriert. Wir waren Monate damit beschäftigt. Giovanna hat hervorragende Arbeit geleistet, wir haben die Antiquitätenmärkte abgegrast…«

»Giovanna«, sagte sie. »Ein hübscher Name. Sie war bestimmt sehr elegant.«

»Das war sie, aber es hat nicht geklappt.«

Greta musterte die Kontrolllampen und die funkelnden gestapelten Stühle mit plötzlichem Misstrauen. »Und dann war da noch diese andere Frau – die Journalistin. Sie hat den Medienraum bestimmt sehr gemocht.«

»Clara hat hier gewohnt! Das war ihr Zuhause.«

»Und jetzt ist sie in den Niederlanden?«

»Ja, sie ist fortgegangen. Das hat auch nicht geklappt.«

»Wieso klappt es bei dir nicht, Oscar?«

»Keine Ahnung«, sagte er. Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Das ist eine gute Frage, nicht wahr?«

»Na ja«, meinte sie, »die Frage mag schon gut sein, aber vielleicht hätte ich sie nicht stellen sollen.«

»Nein, Greta, ich mag es, wenn du betrunken und gereizt bei mir auftauchst.«

»Das soll ich dir glauben?«

Er verschränkte die Arme. »Dann will ich dich mal richtig auf die Palme bringen. Weißt du, ich bin das Produkt ungewöhnlicher Umstände. Ich bin in einer ganz besonderen Umgebung aufgewachsen. In Logan Valparaisos Traumhaus. Eine klassische Hollywoodvilla. Mit Tennisplätzen. Palmen. Alles mit Monogrammen versehen, Zebrafelle und vergoldete Wasserhähne. Eine große Spielwiese für Logans Freunde, für all diese Millionäre, die in Mexiko reich geworden sind, und die Dopezaren aus dem amerikanischen Süden. Mein Dad hatte den denkbar schlechtesten Geschmack. Ich wollte, dass es hier anders aussieht.«

»Und was ist daran anders?«

»Nichts«, antwortete er bitter. »Ich wollte, das mein Zuhause einzigartig ist. Aber dieses Haus ist unwirklich. Weil ich keine Familie habe. Hier hat nie eine Frau gewohnt, der so viel an mir gelegen hätte, dass sie geblieben wäre. Ich selbst bin auch nur selten hier. Ich bin ständig unterwegs. Deshalb ist das Haus ein einziger Schwindel. Eine leere Fassade. Ich habe alles versucht, aber es war bloß eine törichte Phantasie, es ist alles gescheitert.« Er zuckte die Achseln. »Willkommen zu Hause.«

Sie schaute betreten drein. »Hör mal, das hab ich nicht gesagt.«

»Aber du hast es gedacht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, was ich denke.«

»Mag sein, du bist mir geistig überlegen. Aber ich weiß, wie du empfindest.«

»Das weißt du auch nicht.«

»Doch, das weiß ich. Natürlich weiß ich das. Das entnehme ich deinen Worten. Deinen Gesten. Deiner Mimik.« Er lächelte. »Schließlich bin ich Politiker.«

Sie schlug sich die Hand vor den Mund.

Dann umarmte sie ihn unvermittelt und drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Oberlippe. Er schlang die Arme um ihren schlanken Leib. Sie fühlte sich magnetisch an, hypnotisch, einfach umwerfend.

Sie beugte sich lachend in seiner fester werdenden Umarmung zurück.

Er zog sie zum aufblasbaren Sofa. Es quietschte, als sie darauf niedersanken. Er vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.

Sie schob ihm ihre schmale Hand unter den Hemdkragen. Er erkundete mit der Zunge ihr Kinn. Die wundervollen Höhlungen unter den Ohrläppchen. Die gestrafften Halssehnen.

Ihre Lippen lösten sich nur mühsam voneinander, als klebten sie aneinander. Greta wich einen Handbreit zurück. »Ich bin eifersüchtig«, sagte sie. »Das ist alles neu für mich.«

»Ich könnte dir alles erklären, weißt du.«

»Keine Erklärungen. Ich wette, im Schlafzimmerschrank sind noch Clares Kleider.« Sie lachte. »Zeig sie mir. Ich möchte sie sehen.«

Oben angelangt, drehte sie sich im Kreis und schwang leicht torkelnd die Handtasche. »Also, das Zimmer ist wirklich erstaunlich. Deine Kleiderschränke sind größer als mein Schlafzimmer.«

Er zog die Schuhe aus. Er streifte die Socken ab. Er machte sich an den Manschettenknöpfen zu schaffen. Weshalb dauerte es immer so lange, sich auszuziehen? Warum verschwanden Kleider nicht einfach, damit man gleich zur Sache kommen konnte? In Filmen verschwanden die Kleider immer.

»Ist das echtes Wildleder? Du hast Ledertapeten?«

Er sah zu ihr hin. »Soll ich dir beim Ausziehen helfen?«

»Es geht schon. Dass du mir einmal die Kleider vom Leib gerissen hast, reicht völlig.«

Sechs endlose Minuten später lag er keuchend in den Laken. Sie zog sich ins Bad zurück; ihr Haar war verwuschelt, ihre Wangen gerötet. Er hörte, wie sie erst das Bidet und dann alle anderen Wasserhähne anstellte – die Dusche, die Badewanne, das weiße und das schwarze Waschbecken. Greta experimentierte, sie testete die Ausrüstung. Er lag da, atmete tief und fühlte sich eigentümlich zufrieden, etwa wie ein kleines, aber brillantes Kind, das mit einem Stecken ein Bonbon unter einer Tür hervorgefischt hat.

Greta kam vom Duschen zurückgetappt, das schwarze Haar glatt anliegend und tropfnass, die Augen so glänzend wie die eines Wiesels. Sie schlüpfte ins Bett und umarmte ihn, feucht, mit kalten Füßen und nach teurem Shampoo duftend. Sie hielt ihn schweigend in den Armen. Er fiel in den Schlaf wie in eine Grube.

Als er mit brummendem Schädel erwachte, stand Greta vor dem geöffneten Kleiderschrank und betrachtete sich in der Spiegeltür. Bekleidet war sie mit Slip und Socken, die sie sich verkehrt herum über die schmalen, kalten Füße gestreift hatte.

Sie hielt sich ein Kleid an den Körper und ließ es auf sich wirken. Plötzlich erkannte Oscar das Kleid wieder. Er hatte Clare das Strandkleid gekauft, weil ihr Gelb so gut stand. Clare hatte es nicht gemocht, wie ihm jetzt wieder einfiel. Sie hatte das Kleid nicht ausstehen können. Clare mochte nicht einmal Gelb.

»Was war das eben für ein Lärm?« krächzte er.

»Irgendein Idiot hat unten gegen die Tür gehämmert«, antwortete Greta. Sie ließ das Kleid auf den Boden fallen, auf einen Haufen mit einem Dutzend anderer Kleider. »Die Polizei hat ihn festgenommen.« Sie wählte ein perlenbesetztes Abendkleid aus. »Schlaf weiter.«

Oscar wälzte sich herum, presste das Kissen an sich, suchte den Schlaf und fand ihn nicht. Er wurde wieder munter und beobachtete Greta verstohlen. Es ging auf fünf Uhr morgens zu.

»Bist du nicht müde?« fragte er.

Sie fing seinen Blick im Spiegel, verwundert darüber, dass er noch immer wach war. Sie schaltete die Schrankbeleuchtung aus, kam schweigend zu ihm herüber und schlüpfte ins Bett.

»Was hast du die ganze Zeit gemacht?«

»Ich habe das Haus erkundet.«

»Irgendwelche bedeutsamen Entdeckungen?«

»Ja, ich habe herausgefunden, was es heißt, mit einem reichen Mann befreundet zu sein.« Sie seufzte. »Kein Wunder, dass so viele scharf auf den Job sind.«

Er lachte. »Und was ist mit mir? Ich bin das Spielzeug einer Nobelpreisträgerin.«

»Ich habe dich im Schlaf beobachtet«, sagte sie versonnen. »Du hast richtig süß ausgesehen.«

»Warum sagst du das?«

»Wenn du schläfst, hast du einen leeren Terminkalender.«

»Also, jetzt steht was in meinem Terminkalender.« Er schob ihr die Hand über die knochige Hüfte und hielt sie mit festem, intimem Griff. »Termine sind mein Leben. Ich werde dein Leben verändern. Ich werde dich transformieren. Ich werde dich mächtig machen.«

Sie wand sich ein wenig. »Und wie willst du dieses kleine Wunder bewirken?«

»Morgen stelle ich dich meinem geschätzten Freund Senator Bambakias vor.«


Yosh Pelicanos, Oscars Majordomus, ließ um acht Uhr morgens Lebensmittel anliefern. Yosh ließ sich durch den Umstand, dass er hundert Meilen vom Ort des Geschehens entfernt war, nicht beirren. Er hatte eine Tastatur und eine Liste mit Oscars Wünschen, und so hatte die elektrische Hand der Netzökonomie vier in teure Plastikfolie eingeschweißte Pakete vor Oskars Tür abgestellt.

Oscar stellte den neuen Luftreiniger in der Frühstücksecke auf. Damit war Gretas Allergieproblem behoben. Allergien waren bei den Laborwissenschaftlern weit verbreitet; die gefilterte Luft war so rein, dass das Immunsystem unterfordert war, was eine Überempfindlichkeit zur Folge hatte.

Dann band Oscar sich eine Schürze über den Hausanzug und machte sich in der Küche ans Werk. Das Ergebnis war äußerst zufriedenstellend. Oscar und Greta arbeiteten sich durch geräucherten Lachs, Bagels und Waffeln hindurch und spülten mit Fruchtsaft und Kaffee nach. Als ihr Heißhunger gestillt war, labten sie sich noch an dreieckigem Roggentoast und Seehasenkaviar.

Oscar musterte Greta liebevoll über die geblümte Arbeitsplatte hinweg. Alles lief gut. Er glaubte ans Frühstücken. Ein Frühstück am Morgen danach war intimer und verbindlicher als ein romantisches Abendessen. Er hatte schon alle möglichen Frühstücke erlebt: verkaterte, beschämte Frühstücke voller unausgesprochener Ängste oder voll zum Zerreißen angespannter Höflichkeit; das Frühstück mit Greta aber war ein voller Erfolg. Wie sie da blitzsauber in dem weißen Frotteebademantel auf dem Stuhl von Saarinen saß, wirkte sie wie ein Mutantenschwan.

Sie strich sich schwarzen Kaviar auf den Toast und leckte sich einen Klecks von der Fingerspitze. »Es wird mir noch leid tun, nicht am Cytosplasma-Forum teilgenommen zu haben.«

»Nur keine Angst, ich habe dir die Konferenzvideos besorgt. Zu Mittag sind sie da. Du kannst die langweiligen Passagen im Medienraum überspringen.«

»Man nimmt nicht an Konferenzen teil, um sich die Videos anzusehen. Es geht um das Geschehen auf den Gängen und um die Schautafeln. Ich muss wieder hin. Ich muss mich mit meinen Kollegen treffen.«

»Nein, Greta, das brauchst du heute nicht. Du hast etwas Wichtigeres vor. Du musst mit mir nach Cambridge fahren und mit einem US-Senator konferieren. Donna wird jeden Moment kommen; sie war einkaufen und wird dich neu einkleiden.«

»Wer ist Donna?«

»Donna Nunez gehört zu meinem Team. Sie ist Imageberaterin.«

»Ich dachte, du hättest dein Team in Texas im Labor zurückgelassen.«

»Nein, Donna habe ich mitgenommen. Außerdem stehe ich ständig in Verbindung mit dem Team. Sie sind auf sich gestellt, sie sind dort sehr beschäftigt – sie bereiten den Boden. Und was Donna betrifft, so macht sie sich viele Gedanken über das Projekt. Du bist bei ihr in guten Händen.«

Greta legte den Toast entschlossen weg. »Also, so etwas mache ich nicht. Für mein Image habe ich keine Zeit.«

»Rita Levi-Montalcini hatte sie.«

Sie machte die Augen schmal. »Was weißt du über sie?«

»Du hast mir mal erzählt, diese Frau wäre sehr wichtig für dich gewesen. Deshalb habe ich meine Rechercheure auf sie angesetzt. Jetzt bin ich über dein Vorbild Dr. Rita im Bilde. Rita war Nobelpreisträgerin, in der Hirnforschung tätig und spielte eine bedeutende Rolle in der Forschungspolitik. Dr. Rita verstand es jedoch, mit ihrer Rolle umzugehen. Sie kleidete sich täglich wie eine Mailänder Schönheit.«

»Man kommt nicht dadurch zu Forschungsergebnissen, dass man sich herausputzt.«

»Nein, aber so managt man Wissenschaft.«

»Aber das will ich nicht! Ich will überhaupt nichts managen! Ich will bloß in meinem Labor arbeiten! Kapier das endlich! Warum lässt man mich nicht mehr arbeiten? Wenn man mich nur machen lässt, bin ich wirklich gut, dann brauchte ich das alles nicht mitzumachen!«

Oscar lächelte. »Ich wette, das hat dir Spaß gemacht. Können wir uns jetzt wie Erwachsene unterhalten?«

Sie schnaubte.

»Glaub ja nicht, ich wäre frivol. Du bist frivol. Du bist eine nationale Berühmtheit. Du bist keine abgerissene frischgebackene Doktorin, die sich in ihrem hübschen Riesenreagenzglas verstecken kann. Rita Levi-Montalcini trug maßgeschneiderte Laborkittel, ließ sich das Haar frisieren und hatte richtige Schuhe an. Und so wirst du das auch machen. Entspann dich und iss deinen Kaviar.«

An der Tür wurde geläutet. Oscar tupfte sich mit einer Serviette die Lippen ab, gürtete den Hausmantel und schlüpfte in die Pantoffeln.

Donna war eingetroffen, mit haufenweise Gepäck und mehreren Koffern. In einem zweiten Taxi hatte sie zwei winterlich vermummte Bostoner Spitzenkosmetikerinnen mitgebracht. Die drei Frauen unterhielten sich gerade angeregt mit einem jungen Weißen. Oscar kannte den Mann – er kannte nicht seinen Namen, aber er kannte das Gesicht, den Gehstock und die Stützschuhe. Der Fremde war aus der Gegend.

Oscar öffnete die Tür. »Schön, dass Sie da sind. Sie können die Ausrüstung in den Ankleideraum hochtragen. Unsere Klientin kommt gleich nach.«

Donna geleitete ihre Mitarbeiterinnen nach oben, eifrig in einem spanisch-englischen Mischdialekt plappernd. Oscar sah sich nunmehr dem Mann mit dem Gehstock gegenüber. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen, Sir?«

»Ja. Mein Name ist Kevin Hamilton. Ich verwalte den Wohnblock auf der anderen Straßenseite.«

»Ja, Mr. Hamilton?«

»Ich würde mich gern mal mit Ihnen über diese Leute unterhalten, die es auf Sie abgesehen haben.«

»Ich verstehe. Kommen Sie rein.« Oscar schloss die Tür hinter seinem Gast sorgfältig ab. »Gehen wir in mein Büro.« Er zögerte angesichts des Gehstocks und der orthopädischen Schuhe. »Aber wir können uns auch hier unten unterhalten.«

Er geleitete den humpelnden Hamilton ins Wohnzimmer. Plötzlich tauchte Greta auf, barfuss und im Bademantel.

»Also schön, wo soll ich hin?« fragte sie resigniert.

Oscar zeigte nach oben.

Hamilton hob grüßend den Gehstock.

»Hallo«, sagte Greta und stapfte die Treppe hoch.

Oscar führte Hamilton in den Medienraum und hob einen Aluminiumstuhl vom Stapel. Hamilton setzte sich mit offenkundiger Erleichterung.

»Sieht nett aus, die Kleine«, meinte er.

Oscar reagierte nicht und nahm ebenfalls Platz.

»Ich hätte Sie bestimmt nicht gestört heute Morgen«, sagte Hamilton, »aber in dieser Gegend gab es bisher keine Attentate.«

»Nein.«

»Gestern habe ich sogar eine E-mail bekommen, mit der Aufforderung, Sie umzubringen.«

»Ach! Was Sie nicht sagen.«

Hamilton kratzte sich im sandfarbenen Haar, aus dem eine Tolle und eine Art Blitzstrahl vorsprang. »Wissen Sie, wir sind uns noch nie begegnet, aber ich habe Sie häufiger hier gesehen, wie Sie kamen und gingen, mit unterschiedlichen Freundinnen. Als nun in dieser Junkmail behauptet wurde, Sie wären ein Kinderschänder, da wusste ich gleich, dass das nicht stimmt.«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Oscar. »Bitte fahren Sie fort.«

»Also, ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, den Relayserver in Finnland ausfindig gemacht, ihn geknackt und die Spur bis in die Türkei zurückverfolgt… Ich war gerade dabei, die türkischen Aktivitätsfiles runterzuladen, als ich Schüsse auf der Straße hörte. Natürlich überprüfte ich die Videoaufzeichnungen aus der Gegend, analysierte die Aufzeichnungen des Nachbarschafts-TV… Das war gestern, spät in der Nacht. Mittlerweile hatte ich Feuer gefangen. Deshalb hab ich die Nacht am Bildschirm durchgemacht.« Hamilton seufzte. »Und ich habe mich für Sie der Sache angenommen.«

Oscar riss erstaunt die Augen auf. »Sie haben sich ›der Sache angenommen‹?«

»Na ja, das Programm selbst konnte ich nicht lokalisieren, aber ich habe rausgefunden, woher die Daten eingespeist werden. Und da hab ich das System ausgetrickst. Ich habe gemeldet, ich hätte Sie umgebracht. Dann habe ich eine Mail verfasst, worin Ihr Tod bekannt gegeben wird, habe den Header gefälscht und die Mail eingespeist. Damit dürfte Ihr Problem behoben sein. Das Programm ist strohdumm.«

Oscar dachte darüber nach. »Möchten Sie etwas trinken, Kevin? Obstsaft? Oder einen Espresso?«

»Eigentlich bin ich völlig groggy. Ich glaube, ich leg mich gleich hin. Ich wollte Sie bloß mal ins Bild setzen.«

»Also, das ist eine gute Nachricht. Eine ausgezeichnete Nachricht. Sie haben mir einen großen Gefallen getan.«

»Ach, nicht der Rede wert«, meinte Kevin bescheiden. »Jeder gute Nachbar hätte das Gleiche getan. Das heißt, wenn er über die nötigen Programmierkenntnisse verfügt hätte. Was heutzutage natürlich niemand mehr tut.«

»Dürfte ich fragen, woher Sie die Programmierkenntnisse haben?«

Hamilton stützte das Kinn auf den Griff des Gehstocks. »Von meinem Dad, wenn ich ehrlich bin. Bevor die Chinesen die Infowirtschaft ruiniert haben, war mein Dad ein großes Tier im Silicon Valley.«

»Sind Sie von Beruf Programmierer, Kevin?«

»Sie machen wohl Witze. Es gibt keine Profiprogrammierer mehr. Diese Nieten, die sich heutzutage als Systemadministratoren bezeichnen, das sind doch gar keine richtigen Programmierer! Die klicken sich doch bloß irgendwelche Konserven von irgendwelchen privaten Sites runter und speichern sie ab.«

Oscar nickte aufmunternd.

Hamilton schwenkte den Stock. »Die Kunst des Programmierens hat sich seit zehn Jahren nicht mehr weiterentwickelt! Das kann sie auch gar nicht, weil kein kommerzieller Anreiz mehr dahintersteht. Die Euros haben sämtliche Netzprotokolle mühelos handhabbar gemacht, und die Chinesen kopieren alles, was publiziert wird… Daher sind die einzigen, die heute noch ernst zu nehmende Programme schreiben, ausgeflippte Computerwissenschaftler. Und die Nomaden – die haben Zeit genug. Und natürlich bestimmte weiße Hacker.« Hamilton gähnte. »Meine Füße machen mir schwer zu schaffen, wissen Sie. Das Programmieren hilft mir dabei, die Zeit zu vertreiben. Wenn man erst mal weiß, wie’s geht, ist die Arbeit wirklich interessant.«

»Kann ich wirklich nichts für Sie tun? Ich stehe in Ihrer Schuld.«

»Doch, ja, da wär was. Ich bin der Vorsitzende der Bürgerwache, und nach der Schießerei wird man mich sicherlich deswegen löchern. Es wäre schön, wenn Sie irgendwann mal vorbeikommen und mir helfen würden, die Leute zu beruhigen.«

»Es wäre mir eine Freude.«

»Also abgemacht.« Hamilton erhob sich, ohne sich an seinen offenkundigen Schmerzen zu stören.

»Ich bringe Sie hinaus, Sir.«

Als Hamilton hinausgehumpelt war, übertrug Oscar rasch den Inhalt seines Laptops in den Hauscomputer und machte sich sogleich an die Arbeit. Er schickte Avizienis und Bob Argow in Texas E-Mails und drängte sie, sogleich seine Nachbarschaft zu überprüfen. Nicht, dass er Kevin Hamilton misstraut hätte – Oscar hielt sich viel zugute auf seine offene Haltung gegenüber den Angloamerikanern –, doch die Neuigkeiten waren einfach zu schön, um wahr zu sein.


Um elf Uhr fünfzehn fuhren Oscar und Greta mit dem Taxi zu Bambakias’ Büro in Cambridge. »Weißt du was?« sagte Greta. »Das Kostüm ist gar nicht so steif, wie es aussieht. Eigentlich ist es sogar recht bequem.«

»Donna ist eben ein wahrer Profi.«

»Und es passt perfekt. Wie ist das nur möglich?«

»Ach, jeder smarte Überwachungsscanner kann auch die Körpermaße vermessen. Zunächst war das eine militärische Anwendung – es hat eine Weile gedauert, bis es seinen Weg in die Haute Couture gefunden hat.« Sie fuhren über die Longfellow Bridge und überquerten das Flussbecken des Charles River. Der Schnee von gestern hatte sich auf den Hängen der Greenhouse-Deiche bereits zur Hälfte in Matsch verwandelt. Greta blickte zu den fernen Gebäuden des Wissenschaftsparks hinüber. Donnas Helferinnen hatte ihr die Augenbrauen gezupft. Die geschwungenen Brauen verliehen Gretas schmalem Gesicht eine einschüchternde intellektuelle Ausstrahlung. Das Haar hatte jetzt richtig Form und einen Mit-mir-ist-nicht-zu-spaßen-Glanz. Greta strahlte Kompetenz aus. Sie sah wirklich aus wie jemand, auf den es ankam.

»In Boston ist alles so anders«, sagte sie. »Woran liegt das?«

»An der Politik«, antwortete er. »Boston ist in der Hand der Ultrareichen. Und die Bostoner Reichen sind wohlmeinend – das ist entscheidend. Sie besitzen Bürgerstolz. Sie sind Patrizier.«

»Möchtest du, dass es im ganzen Land so aussieht? Saubere Straßen und totale Überwachung?«

»Ich will bloß, dass das Land funktioniert. Ich will, dass das System funktioniert. Mehr nicht.«

»Selbst wenn es dann elitär und vakuumverschweißt wäre?«

»Die Kritikerrolle steht dir nicht. Du lebst in einer hermetisch abgeschlossenen Welt. Und die ist sogar luftdicht.«

Alcott Bambakias’ Büro lag in einem fünfstöckigen Gebäude in der Nähe des Inman Square. Zunächst war darin eine Fabrik für Süßigkeiten untergebracht gewesen, dann ein portugiesischer Treffpunkt; jetzt gehörte es Bambakias’ internationaler Design- und Baufirma.

Sie bezahlten das Taxi und betraten das Gebäude. Oscar hängte Hut und Mantel auf einen Flaschenbaum à la Duchamp. Im Empfangsbereich im ersten Stock, wo sechs maßstabsgetreue Modelle von eleganten chinesischen Hochhäusern ausgestellt waren, warteten sie auf die Einlasserlaubnis. China war das letzte Land, das die grenzenlosen Möglichkeiten von Wolkenkratzern noch nutzte, und Bambakias war einer der wenigen amerikanischen Architekten, die den chinesischen Geschmack trafen. Bambakias hatte auf dem dortigen Markt gute Geschäfte gemacht. In Europa genoss er einen nicht minder sagenhaften Ruf, während er zu Hause eher mit Missgunst zu kämpfen hatte. Er hatte in Italien geschwungene Sportarenen entworfen, in Deutschland massive Deichanlagen, in der Schweiz eine Öko-Survival-Anlage… Auch für die Niederlande hatte er einige Aufträge abgewickelt, bevor der Kalte Krieg dem ein Ende setzte.

Leon Sosik tauchte auf, um sie zu eskortieren. Sosik war ein korpulenter Mann in den Sechzigern mit den Schultern eines Profiboxers, roten Hosenträgern und Seidenkrawatte. Sosik trug nur selten Hut, denn er war stolz auf sein schönes Haar – der Altersglatze hatte er erfolgreich getrotzt. Er musterte Oscar von oben bis unten. »Na, wie geht’s?«

»Wunderbar. Ich möchte Ihnen Dr. Greta Penninger vorstellen. Dr. Penninger, das ist Leon Sosik, der Stabschef des Senators.«

»Wir haben schon viel von Ihnen gehört, Doktor«, sagte Sosik und ergriff behutsam Gretas frisch manikürte Fingerspitzen. »Ich wünschte, wir wären uns unter anderen Umständen begegnet.«

»Was macht der Senator?«

»Es ging ihm schon mal besser«, sagte Sosik. »Al nimmt sich alles so zu Herzen. Sehr zu Herzen.«

»Aber er isst doch wieder?«

»Merken tut man davon jedenfalls nichts.«

Oscar war bestürzt. »Aber Sie haben doch gesagt, er würde essen. Der Hungerstreik ist vorbei. Der Senator sollte rohes Pferdefleisch verschlingen. Wieso, zum Teufel, isst er nicht?«

»Er sagt, er habe Magenschmerzen. Er sagt… also, er sagt viel. Ich muss Sie warnen, Sie dürfen im Moment nicht alles, was er sagt, für bare Münze nehmen.« Sosik seufzte schwer. »Vielleicht können Sie ihn ja wieder zur Vernunft bringen. Seine Frau meint, darauf verstünden Sie sich.« Sosik langte geistesabwesend in die Hosentasche. »Dr. Penninger, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie auf Wanzen untersuche? Normalerweise erledigt das unser Sicherheitsexperte, aber der ist noch in Washington.«

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Greta.

Sosik fuchtelte in der Luft herum wie ein Weihwasser versprengender Bischof, ohne etwas zu finden.

»Untersuchen Sie mich ebenfalls«, sagte Oscar. »Ich bestehe darauf.«

»Al war wochenlang verwanzt«, meinte Sosik, das Ritual wiederholend. »Sein Nervensystem war verwanzt, sein Kreislauf war verwanzt, sein Magen war verwanzt, seine Eingeweide waren verwanzt. Er hat CT- und PET-Untersuchungen veröffentlicht, er hat markierten Apfelsaft getrunken – seine Innereien waren ein gottverdammter öffentlicher Zirkus. Und als wir ihn endlich wieder abgenabelt hatten, ist er durchgedreht.«

»Der Hungerstreik hatte ein gewaltiges Presseecho, Leon. Das können Sie mir glauben.«

Sosik legte den Scanner weg. »Klar, aber was ist mit diesem Irrenhaus in Louisiana? Wie, zum Teufel, ist das auf die Agenda gekommen? Al ist Architekt! Wir hätten bei den öffentlichen Bauten bleiben sollen, dann wäre alles in Butter.«

»Sie haben sich von ihm beschwatzen lassen«, sagte Oscar.

»Ich hab gewusst, dass das eine beknackte Idee war! Aber… Na ja, Al fand das in Ordnung. Al ist der Typ, der mit sowas durchkommt.«

Sosik geleitete sie in einen Aufzug aus Glas und Plastik. Bambakias hatte das ehemalige vierte Stockwerk entkernen lassen. Zurückgeblieben war ein höhlenartiger Raum mit freiliegenden Wasserleitungen, Belüftungsrohren und Aufzugkabeln, alles geschmackvoll mandarinfarben, türkis, apfelsinenfarben und preußischblau überpinselt.

Fünfunddreißig Personen lebten in den Büros, Bambakias persönlicher Mitarbeiterstab. Das Ganze war gleichzeitig Wohnung wie auch Atelier. Sosik führte sie an ergonomischen Bürostühlen, tablettartigen Präsentationstischen aus Kevlar und zuckenden Haufen cybernetischer Bauelemente vorbei. Draußen war es kalt, daher wurden die porösen Fußbodenmembranen von leise zischendem Dampf erwärmt.

Ein Büro in einer Ecke diente gleichzeitig als Medienraum und als medizinisches Zentrum. Die Überwachunsgeräte arbeiteten momentan nicht und säumten die Wände, die Bildschirme aber leuchteten lautlos und wechselten immer wieder die Anzeige.

Der Senator lag bäuchlings und nackt auf einem Massagetisch, den Steiss mit einem Handtuch bedeckt. Ein Masseur bearbeitete seinen Hals und seine Schultern.

Oscar war schockiert. Er hatte gewusst, dass Bambakias bei dem radikalen Hungerstreik eine Menge Gewicht verloren hatte, doch was das physisch für den Senator bedeutete, war ihm bislang nicht bewusst gewesen. Bambakias wirkte um zehn Jahre gealtert. Die Haut umschlotterte ihn wie ein zu weiter Overall.

»Schön, Sie zu sehen, Oscar«, sagte Bambakias.

»Ich möchte Ihnen Dr. Penninger vorstellen«, sagte Oscar.

»Nicht schon wieder eine Ärztin«, stöhnte der Senator.

»Dr. Penninger ist staatlich angestellte Wissenschaftlerin.«

»Ah, ja, natürlich.« Bambakias setzte sich auf und rückte das Handtuch zurecht. Seine Hand erinnerte an feuchtes Reisig. »Das reicht, Jackson… Bringen Sie meinen Freunden… was haben wir denn da? Bringen Sie ihnen Apfelsaft.«

»Wir könnten ein richtiges Mittagessen vertragen«, sagte Oscar. »Ich habe Dr. Penninger Bostoner Fischsuppe versprochen.«

Bambakias blinzelte; seine Augen lagen tief in den Höhlen und hatten farblose Ränder. »Mein Küchenchef ist in letzter Zeit etwas aus der Übung.«

»Soll das heißen, er kann keine Fischsuppe mehr machen?« scherzte Oskar. »Wie ist das möglich? Ist er vielleicht tot?«

Bambakias seufzte. »Jackson, sorgen Sie dafür, dass dieser fette Wahlkampfmanager seine gottverdammte Fischsuppe bekommt.« Bambakias blickte auf seine welken Hände nieder, studierte ihr Zittern mit großem Interesse. »Worüber haben wir gerade gesprochen?«

»Dr. Penninger und ich würden uns gern mit Ihnen über Wissenschaftspolitik unterhalten.«

»Natürlich. Dann ziehe ich mich mal an.« Bambakias eilte auf seinen knochigen Füßen zu einem beiseite gleitenden Wandschirm und schlüpfte durch die Öffnung. Man hörte, wie er mit schwacher Stimme nach seiner Imageberaterin rief.

Ein Rüschenvorhang hob sich wie ein Augenlid und ließ durch die dahinter liegenden Glasblöcke hellen winterlichen Sonnenschein ein. Das Eckbüro war ein kleines Wunder an Luftigkeit und Helligkeit; obwohl er halb leer war, wirkte der Raum gleichwohl vollständig und komplett.

Ein kleiner pelziger Roboter betrat das Büro mit ein paar Plastikpaketen in den Schlaucharmen. Er legte die Pakete behutsam auf dem Teppich ab und ging wieder hinaus.

Die abgelegten Pakete bewegten sich, während man das gedämpfte Knirschen und Quietschen von Scharnieren und Federn vernahm. Unter der transparenten Polsterung blitzten geodätische Stäbe und Kabel auf wie Vektorgrafiken. Plötzlich verwandelten sich die Pakete in zwei Stühle.

Greta öffnete ihre neue elegante Handtasche und führte ein Papiertaschentuch an die Nase. »Die Luft ist hier sehr gut, weißt du.«

Bambakias kehrte zurück, bekleidet mit einer grauen Seidenhose und Unterhemd, gefolgt von einer schweigsamen jungen Frau, bepackt mit Schuhen, Hemd und Hosenträgern. »Wo ist mein Hut?« fragte Bambakias gereizt. »Wo ist mein Umhang?«

»Die Stühle sind sehr interessant«, meinte Greta. »Erzählen Sie mir etwas darüber.«

»Ach, diese Entwürfe hatten keinen Erfolg«, sagte Bambakias und steckte einen mageren Arm in den zerknitterten Ärmel des Frackhemds. »Aus irgendwelchen Gründen vertrauen die Menschen den Rechnern nicht genug, um sich darauf zu setzen.«

»Ich vertraue den Rechnern«, versicherte ihm Greta und nahm Platz. Die inwendigen Speichen und Drähte passten sich mit einem Sirren an ihr Gewicht an, als würden Gitarrensaiten gespannt. Greta machte es sich gewandt mitten in der Luft bequem, eine Königin auf einem Thron aus smarten Essstäbchen und Spinnweben. Oscar bewunderte reaktive Spannkonstruktionen ebenso wie jedermann sonst, nahm aber mit erheblich weniger Schwung auf dem zweiten Stuhl Platz.

»Ein Architekt heimst Anerkennung für Designerfolge ein«, erklärte ihr Bambakias. »Die Misserfolge kann man mit Lorbeer bemänteln. Aber eigenwillige Entwürfe, die sich einfach nicht bezahlt machen – die verbirgt man am besten in seinem Büro.«

Angestellte entfernten wortlos den Massagetisch und schoben ein klappbares Krankenhausbett herein. Der Senator nahm auf der Bettkante Platz und zog die bloßen, mageren Füße hoch wie ein großer Meeresvogel.

»Ich habe auf dem Herweg ganz ähnliche Stühle bemerkt«, sagte Greta. »Aber die waren massiv.«

»Nicht ›massiv‹. Starr. Sprühfurnier.«

»Weniger ist mehr«, meinte Greta.

Während ihm seine Garderobiere Socken und Schuhe anzog, blitzte in den schlaffen Gesichtszügen des Senators ein Funken Interesse auf. »Wie war Ihr Name noch gleich?«

»Greta«, antwortete sie sanft.

»Und was sind Sie, Psychiater in?«

»Nah dran. Ich bin Neurowissenschaftlerin.«

»Ah ja. Ich glaube, das erwähnten Sie bereits.«

Greta wandte sich zu Oscar um und blickte ihn mitfühlend an. Seit Donna sie umgemodelt hatte, war ihrem Ausdruck eine neue, bestürzende Klarheit zu eigen – ihr flackernder Blick traf Oscar mitten ins Herz und verhakte sich darin wie eine Harpune.

Oscar beugte sich auf dem summenden Stuhl aus Klavierdraht vor und faltete die Hände. »Alcott, Lorena hat mir erzählt, Sie wären über die neuen Entwicklungen sehr verärgert.«

»›Verärgert‹?« wiederholte Alcott und reckte das Kinn, während ihm die Garderobiere die Krawatte band. »›Verärgert‹ trifft es nicht ganz. Ich würde sagen, ich sehe die Lage ›realistisch‹.«

»Na ja… Realismus ist Ansichtssache.«

»Ich habe eine Staats- und Unionskrise ausgelöst. Militärisches Gerät im Wert von vierhundertundzwölf Millionen Dollar wurde von anarchistischen Banditen geklaut und ist in den Sümpfen verschwunden. Das war der schlimmste derartige Vorfall seit Fort Sumter im Jahre 1861; weshalb sollte ich mich nicht darüber ärgern?«

»Aber, Al, das haben wir doch nicht gewollt. Man kann uns für diese Entwicklung nicht verantwortlich machen.«

»Aber ich war dort«, beharrte Bambakias. »Ich war bei diesen Leuten. Ja… ich habe mit ihnen geredet, ich habe ihnen mein Ehrenwort gegeben… Ich habe Videos, die das belegen! Lassen Sie uns die Videos noch einmal anschauen. Wir sollten sie uns zusammen anschauen. Wo ist mein Systemadministrator? Wo ist Edgar?«

»Edgar ist in Washington«, sagte die Garderobiere.

Das hohlwangige Gesicht des Senators straffte sich merklich. »Muss ich denn alles selbst machen?«

»Ich habe die Belagerung mitverfolgt«, sagte Oscar. »Ich bin sehr dafür, die Entwicklung zu beschleunigen.«

»Aber ich war dort!« wiederholte Bambakias. »Ich hätte ihnen helfen können. Ich hätte Barrikaden bauen können. Ich hätte Generatoren kaufen können… Aber als sich das Gas ausbreitete, verloren sie den Verstand. Das hat mich wirklich betroffen gemacht. Das war kein Spiel mehr. Wir waren keine Spieler. Wir waren alle wahnsinnig geworden.«

Es entstand ein angespanntes Schweigen.

»Er hat im Netz viel Zeit mit den Leuten vom Stützpunkt verbracht«, erklärte die Garderobiere demütig. »Es war beinahe so, als wäre er bei ihnen gewesen. Ganz persönlich.« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich hole seinen Hut«, sagte sie und ging mit hängendem Kopf davon.

Ein Servierwagen wurde hereingeschoben, gedeckt für zwei Personen. Die Fischsuppe wurde serviert.

Oscar verrückte den federleichten reaktiven Stuhl und knallte demonstrativ mit der Leinenserviette. »Das war keine Niederlage, Al. Bloß ein Scharmützel. Auf dem guten alten Go-Brett ist noch viel Platz. Die Senatsperiode dauert mindestens sechs Jahre.«

»Denen nützt das nichts. Die sind jetzt alle in Lagern untergebracht! Wie kann die Regierung nur so zynisch sein? Man hat unsere Soldaten dem Mann überlassen, der sie unter Gas gesetzt hat!« Bambakias deutete auf den hinter ihm flackernden Bildschirm. »Ich habe mitverfolgt, wie er das gedeichselt hat. Dieser Huey. Als ob er sie gerettet hätte. Dieser Hurensohn steht in der Öffentlichkeit als ihr Retter da!«

»Also, das war ein wirklich schlimmer Zwischenfall, aber wenigstens gab es keine Toten. Wir können die Sache jetzt abschließen. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Oscar ergriff den funkelnden Suppenlöffel und kostete umständlich. Wie immer schmeckte die Fischsuppe köstlich.

»Moment mal«, sagte er zu Greta, die keine Anstalten machte zu essen. »Da stimmt was nicht.« Er richtete sich auf. »Was ist mit Ihrem Küchenchef, Alcott? Verwendet der etwa Konserven?«

Bambakias runzelte die Stirn. »Was?«

»Das ist nicht Ihre Spezialität.«

»Natürlich ist sie das. Ganz bestimmt.«

»Probieren Sie mal«, sagte Oscar.

Greta bekundete mit einem Kopfnicken ihr Einverständnis, was eigentlich gar nicht notwendig gewesen wäre, denn der Senator war bereits vom Bett hochgesprungen und hatte sich ihren Löffel geschnappt. Er probierte die Suppe.

»Hat einen metallischen Beigeschmack«, meinte Oscar augenzwinkernd.

Bambakias probierte noch zwei Löffel. »Unsinn«, knurrte er. »Schmeckt delikat.«

Sie langten schweigend zu. »Ich besorge noch einen Stuhl«, murmelte Greta. Sie stand auf und ging hinaus.

Bambakias nahm auf Gretas Stuhl Platz und mampfte eine Handvoll Muschelcracker. Die Garderobiere kam zurück und legte den Hut und den Umhang des Senators in der Nähe ab. Bambakias beachtete sie nicht, sondern beugte sich in angespannter Konzentration auf den Teller hinab. Seine Hände waren wie gelähmt; er konnte den Löffel kaum festhalten.

»Ich könnte jetzt einen Milchshake vertragen«, bemerkte Oscar. »Wie die, die wir während des Wahlkampfs immer getrunken haben.«

»Eine gute Idee«, meinte Bambakias geistesabwesend. Er reckte das Kinn, deutete mit zwei Fingern darauf und sagte ins Leere: »Vince, zwei Wahlkampf-Power-Milch-shakes.«

»Hat Sosik Ihnen schon die neuesten Umfrageergebnisse gezeigt, Al? Sie haben bei dieser Episode besser abgeschnitten, als Sie meinen.«

»Nein, da irren Sie sich beide. Ich habe alles vermasselt. Ich habe eine schwere Krise heraufbeschworen, bevor ich auch nur vereidigt wurde. Und jetzt bin ich ein ebensolcher mieser Krimineller wie der ganze Rest, mir bleibt keine andere Wahl – von jetzt an muss ich das Spiel nach ihren Regeln spielen. Und der Senat ist ein Scheißspiel.«

»Was sagen Sie?« erwiderte Oscar.

Bambakias schluckte mühsam und hob den knochigen Zeigefinger. »In diesem Land gibt es sechzehn Parteien. Mit derart fragmentierten Strukturen lässt sich nicht regieren. Und die Parteien spiegeln bloß das zugrunde liegende Chaos wider. Das Erziehungssystem ist zusammengebrochen. Das Gesundheitssystem ist so schlecht, dass es einen Schwarzmarkt für Organe gibt. Wir leben im permanenten Ausnahmezustand.«

»Damit sagen Sie mir nichts Neues«, scherzte Oscar. Er blickte neidisch auf Bambakias’ Teller. »Wollen Sie das aufessen?«

Bambakias beugte sich mit wölfischem Funkeln auf seinen Teller hinunter.

»Okay, kein Problem.« Oscar hob die Stimme und wandte sich an die verborgenen Mikrofone. »Vincent, Beeilung mit den Milchshakes! Und bringen Sie noch mehr Suppe. Und Brötchen.«

»Ich will keine verdammten Brötchen«, murmelte Bambakias. Seine Augen tränten, sein Gesicht war gerötet. »Die Ungleichheiten im Gesundheitswesen sind eine Schande«, brummte er über der Suppe. »Wir haben eine nicht konvertierbare Währung, die Wirtschaft ist ruiniert. Wir haben Wetterkatastrophen. Luftverschmutzung. Eine sinkende Geburtenrate. Eine steigende Sterblichkeitkeitsrate. Das ist schlimm. Das ist wirklich schlimm. Eigentlich ist die Lage völlig hoffnungslos.«

»Vincent, bringen Sie noch was Vernünftiges zu essen. Rasch. Bringen Sie uns Teriyaki. Und Dim Sum.«

»Was quatschen Sie da eigentlich?« sagte Bambakias.

»Alcott, Sie bringen mich in Verlegenheit. Ich habe Dr. Penninger versprochen, hier gäbe es etwas Gutes zu essen, und da essen Sie ihr das Mittagessen weg!«

Bambakias starrte auf die Überreste der Fischsuppe. »Du meine Güte…«

»Alcott, überlassen Sie das mir. Das mindeste, was Sie tun können, ist, dass Sie uns Gesellschaft leisten und dafür sorgen, dass unser Gast ordentlich verköstigt wird.«

»O je, das tut mir aber leid!« ächzte Bambakias. »Ach Gott, ich habe alles falsch gemacht. Kümmern Sie sich drum, Oscar! Sie schaffen das schon.«

Zwei Milchshakes in Flötengläsern mit eisverkrusteten Füßen wurden gebracht. Der Küchenchef servierte sie persönlich auf einem in Kork eingefassten Tablett. Er blickte Oscar an, ganz gerührt vor Dankbarkeit, dann zog er sich hastig wieder zurück.

Bambakias’ schmaler Adamsapfel hüpfte glucksend auf und ab. »Ich muss Ihnen etwas wirklich Schreckliches sagen«, meinte er und wischte sich den Mund mit dem Hemdsärmel ab. »Die ganze Angelegenheit war von Anfang an mit einem tragischen Fehler behaftet. Der Notstandsausschuss hatte gar nicht vor, den Stützpunkt fallen zu lassen. Die Verwaltungs- und Haushaltssoftware war fehlerhaft. Niemand hat das jemals überprüft, weil alles, was diese Idioten anpacken, in die Kategorie offizieller Ausnahmezustand fällt! Als dann der Fehler offenkundig wurde, nahmen alle an, er sei vorsätzlich herbeigeführt worden – weil es eine so clevere, raffinierte Möglichkeit war, Huey reinzulegen. Sie würden alles dafür geben, ihn reinzulegen, denn Huey ist der einzige amerikanische Politiker, der weiß, was er will, und seine Ziele konsequent verfolgt. Aber als ich nach dem heimlichen Genie forschte, das diese brillante Verschwörung angezettelt hatte, war niemand ausfindig zu machen.«

»Und diesen Quatsch wollte man Ihnen allen Ernstes weismachen? Das haben Sie doch hoffentlich nicht geglaubt«, sagte Oscar, Bambakias’ leeres Glas unbemerkt gegen sein volles austauschend. »Diese Ausnahmezustandstrottel sind Genies im Ränkeschmieden.«

»Meinen Sie? Dann verraten Sie mir, wer Sie erschießen wollte!« Bambakias rülpste. »Das gleiche Thema, die gleiche Kontroverse – Sie könnten jetzt tot sein! Aber wer ist daran schuld? Niemand. Man sucht nach einem Verantwortlichen, und alles, was man findet, ist irgendeine miese Software, ein halbes Lichtjahr von allen Befehlsketten entfernt.«

»Das ist unpolitisch gedacht, Alcott.«

»Politik funktioniert nicht mehr! Wir können nicht politisch arbeiten, weil das System so komplex geworden ist, dass es sich grundsätzlich unberechenbar verhält. Niemand vertraut mehr dem System, deshalb spielt auch niemand mehr mit offenen Karten. Es gibt sechzehn Parteien und hundert gute Ideen und eine Million summender, piepsender Computer, aber niemand blickt mehr durch, niemand erfüllt mehr rechtzeitig und gemäß den Vorgaben seine Absprachen. Deshalb ist die Politik ad absurdum geführt. Im Land herrscht Chaos. Wir haben die Republik aufgegeben. Wir haben die Demokratie aufgegeben. Ich bin kein Senator! Ich bin ein Räuberbaron, ein Feudalherr. Mir bleibt nichts anderes übrig, als einen Personenkult aufzubauen.«

Fünf Angestellte traten geschlossen ein. Sie alle wollten den Mann essen sehen. Plötzlich hallte der Raum wider von Kevlar-Klapptischen, klirrendem Besteck, Tabletts mit Cocktailhappen und Aperitifs.

»Ich weiß, dass Chaos herrscht«, sagte Oscar mit erhobener Stimme, um den Tumult zu übertönen. »Jedermann weiß, dass das System außer Kontrolle ist. Das ist eine Binsenwahrheit. Die einzige Antwort auf das Chaos ist politische Organisation.«

»Nein, dafür ist es zu spät. Wir sind mittlerweile so intelligent, dass wir zu smart sind, um zu überleben. Wir sind so gut informiert, dass nichts mehr etwas bedeutet. Wir wissen, was alles kostet, aber wir haben das Gespür für den Wert der Dinge verloren. Wir haben alles unter Beobachtung, aber wir haben kein Schamgefühl mehr.« Die plötzliche Nährstoff zufuhr machte Bambakias schwer zu schaffen. Er war puterrot geworden und atmete schwer. Und offenbar hatte er das Denken eingestellt, denn er spulte mechanisch seine Wahlkampfpropaganda ab.

Greta tauchte im Eingang auf und machte dem Krankenbett Platz, das von zwei Angestellten hinausgeschoben wurde. Sie trat ein und nahm bescheiden auf einem neu zusammengesetzten Stuhl Platz.

»Also kann man ebensogut raffen, was das Zeug hält.«

»Danke, Senator«, sagte Greta und ergriff energisch einen Spieß mit Teriyaki. »Ich mag diese kleinen Bürobrunches.«

»Sehen Sie, es entwickelt sich alles zu schnell und zu komplex, als dass noch irgendwer damit Schritt halten könnte.«

»Ich nehme an, das ist auch der Grund, weshalb wir darauf sitzen können!« sagte Greta.

»Wie bitte?« sagte Oscar.

»Die Möbel denken schneller als das menschliche Gehirn. Deshalb wird aus einem fragilen Netzwerk von Stäben und Leisten ein funktionsfähiger Stuhl.« Sie blickte in die verblüfften Gesichter ihrer Tischnachbarn. »Dreht sich’s nicht um Möbeldesign? Tut mir leid.«

»Keine Entschuldigungen, Doktor«, erwiderte Bambakias. »Das bedaure ich am meisten. Ich hätte bei der Architektur bleiben sollen, denn dort wurde ich gebraucht. Auf dem Gebiet habe ich etwas zuwege gebracht, verstehen Sie? Eine moderne Auffassung von Struktur… damit hätte ich mir ein Denkmal setzen können. Ich hätte wundervolle Dinge machen können… Doktor, diese alte Glaskuppel in Texas, die ist zwanzig Jahre hinter der Entwicklung zurück. Heutzutage könnten wir mit Stroh und etwas Kleingeld eine zehnmal so große Kuppel errichten! Wir könnten Ihr trauriges kleines Museum beleben und zu wahrer Blüte führen – wir könnten das Experimentelle in die Alltagsrealität überführen. Wir könnten die Naturwelt in die Substanz unserer Städte integrieren. Wenn wir unsere Macht einzusetzen wüssten, könnten wir Bisonherden durch die Straßen leiten. Wir könnten friedlich mit Wolfsrudeln zusammenleben wie im Garten Eden. Dazu braucht es nur Vernunft und eine Vision dessen, was wir sind und was wir wollen.«

»Das klingt wundervoll, Senator. Warum tun Sie’s dann nicht?«

»Weil wir allesamt Verbrecher sind! Wir sind von der Wildnis geradewegs zur Dekadenz übergegangen, ohne jemals eine authentische amerikanische Zivilisation hervorgebracht zu haben. Jetzt sind wir geschlagen, und wir schmollen. Die Chinesen haben uns beim Wirtschaftskrieg in den Hintern getreten. Die Europäer befolgen hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung und der Klimakatastrophen eine vernünftige, pragmatische Politik. Wir aber sind eine Nation der Dilettanten, die von einem überlebten System schmarotzen. Wir sind selbstsüchtige Betrüger!«

Oscar ergriff das Wort. »Sie sind kein Krimineller, Alcott. Schauen Sie sich nur mal die Umfragen an. Die Leute stehen hinter Ihnen. Sie haben sie gewonnen. Die vertrauen Ihnen, die mögen Sie.«

Bambakias ließ sich heftig auf den Stuhl niederfallen, der sogleich wachsam zu summen begann. »Dann sagen Sie mir eines«, knurrte er. »Was ist mit Moira?«

»Weshalb interessieren Sie sich für das Thema?« fragte Oscar.

»Moira ist im Gefängnis, Oscar. Sagen Sie mir, was das bedeutet. Wollen Sie uns nicht alles darüber erzählen?«

Oscar kaute mit höflicher Entschlossenheit auf einem Brötchen. Es herrschte Totenstille im Raum. Vor dem Hintergrund der Glasblöcke hatte sich ein Mosaik gebildet, das sich im Tageslicht allmählich veränderte. Ein Labyrinth verschwommener Rauten, die wie haftende Dominosteone umherkrochen und über das Glas flatterten.

Oscar deutete auf ein Netzgerät. »Könnten wir uns bitte mal die Nachrichten ansehen? Schalten Sie den Ton ein.«

Einer von Bambakias Angestellten meldete sich zu Wort. »Die kommen aus Frankreich.«

»Dr. Penninger spricht französisch. Bitte helfen Sie mir, Doktor.«

Greta wandte sich dem Bildschirm zu. »Es geht um Desertion«, sagte sie. »Um einen französischen Flugzeugträger.«

Bambakias stöhnte auf.

»Das französische Außenministerium hat eine Erklärung abgegeben«, meinte Greta zögernd. »Es geht um amerikanische Offiziere… Elektronisch gesteuerte Kampfjets… Zwei amerikanische Air Force-Piloten sind mit ihren Maschinen im Golf von Mexiko auf einem französischen Flugzeugträger gelandet. Sie bitten um politisches Asyl.«

»Ich hab’s gewusst!« verkündete Oscar und warf die Serviette auf den Tisch. »Ich hab gewusst, dass Huey Leute eingeschleust hat. Darauf habe ich bloß gewartet. Das ist eine neue Wendung.«

»Oh, das ist schlimm«, ächzte Bambakias. Er war aschfahl im Gesicht. »Das ist eine bodenlose Erniedrigung. Eine Riesenschande. Das ist das Ende.« Er schluckte geräuschvoll. »Mir wird schlecht.«

»Helfen Sie dem Senator«, kommandierte Oscar und sprang auf. »Und holen Sie Sosik, aber schnell.«

Bambakias verschwand in einer Traube aufgeregter Angestellter. Der Raum leerte sich so rasch wie ein U-Bahnabteil in Tokyo. Greta und Oscar waren auf einmal allein.

Oscar blickte auf den Bildschirm. Einer der amerikanischen Deserteure war soeben vor die Kamera getreten. Der Mann wirkte sehr vertraut und äußerst zynisch und war schwer betrunken. Oscar erkannte ihn wieder; es war der PR-Offizier vom Luftwaffenstützpunkt in Louisiana. Er gab eine vorbereitete Erklärung ab, die mit französischen Untertiteln versehen war. »Welch ein genialer Schachzug! Huey hat den französischen Spionen ein trojanisches Pferd untergeschoben. Die Franzosen werden diese Luftrowdies in einen Pariser Banktresor einsperren. Wir werden nie wieder von ihnen hören. Sie haben ihr Land verraten, und von nun an werden diese Hurensöhne wie Könige leben.«

»Die Unterbrechung kam ja wie gerufen«, meinte Greta. Sie aß noch immer und handhabte die Essstäbchen mit chirurgischer Geschicklichkeit. »Der Senator hätte dich sonst an die Wand genagelt. Erstaunlich, dass du den Nerv hattest, ihn abzulenken.«

»Eigentlich habe ich den Bildschirm die ganze Zeit über im Auge behalten, bloß für den Fall, dass ich das Thema wechseln muss.«

Greta probierte das Dim Sum und lächelte skeptisch. »Nein, hast du nicht. Das schafft niemand.«

»Doch, ich schon. Sowas mache ich ständig.«

»Also, mich lenkst du nicht ah. Was hat es mit dieser Moira auf sich? Sie ist bestimmt sehr hübsch. Das hab ich rausgehört.«

»Moira ist nicht unser Problem, Greta.«

»Ha! Für meine Probleme interessiert sich hier niemand.« Sie runzelte die Stirn, dann nahm sie noch ein wenig Soyasauce. »Schmeckt wirklich gut. Erstaunlich gut.«

»Schade, dass er’s nicht bei sich behalten hat.« Greta seufzte. »Aber das war jedenfalls sehr erhellend. Ich hatte keine rechte Vorstellung vom Senator. Irgendwie hatte ich geglaubt, er wäre so ähnlich wie du.«

»Wie zum Beispiel?«

»Also… ich dachte, er wäre ein macchiavellistischer, protziger, ultrareicher politischer Crack. Aber Alcott ist ganz anders. Alcott ist ein wahrer Idealist. Er ist ein Patriot! Tragisch nur, dass er eine klinische Depression hat.«

»Glaubst du wirklich?«

»Aber gewiss doch! Das ist doch offensichtlich! Der Hungerstress war zu viel für ihn. Und dieses Zittern in den Händen – das rührt von einer Überdosis Appetitzügler her.«

»Eigentlich hätte er die Pillen längst absetzen sollen.«

»Dann hat er sie gehortet und schluckt sie heimlich. Das ist typisch für das Syndrom. Die wiederholte Anspielung auf seine so genannte Kriminalität… die weit hergeholten Schuldgefühle… Er hat eine schwere Depression. Und als du ihn dazu gekriegt hast zu essen, da ist er durchgedreht. Seine Affekte sind völlig durchgeknallt! Du solltest ihn mal auf kognitive Defizite hin untersuchen lassen.«

»Also… er war einfach vom Hunger geschwächt. Normalerweise hätte er eine solche Kinderei wie die mit der Fischsuppe auf der Stelle durchschaut.«

Greta legte die Essstäbchen weg und senkte die Stimme. »Beantworte mir eine Frage. Sag die Wahrheit. Ist dir schon mal aufgefallen, dass er in der Öffentlichkeit ausgesprochen freimütig und energisch auftritt, sich ansonsten aber zurückzieht und sich einigelt? Sagen wir, zwei, drei Tage lang?«

Oscar nickte widerwillig. »Doch, ja.«

»Eine Zeit lang ist er sehr gewinnend und charmant, arbeitet vierundzwanzig Stunden am Tag, sprüht eine Menge Funken. Dann ist er einfach nicht mehr da. Er meint, er müsse nachdenken oder brauche ein wenig Ruhe – im Grunde aber gräbt er sich ein Loch und verkriecht sich darin. Bei kreativen Persönlichkeiten ist das nicht ungewöhnlich. Dein Senator ist manisch depressiv. Ich könnte mir vorstellen, dass das schon immer so war.«

»Er ist ›hinten im Bus‹.« Oscar seufzte. »So haben wir das immer genannt, wenn er die Nummer während des Wahlkampfs abgezogen hat.«

»Hinten im Bus mit Moira.«

»Ja. Genau. Moira hat es verstanden, immer dann zur Stelle zu sein, wenn seine Abwehr geschwächt war.«

Greta kniff die Augen zusammen. »Du hast Moira irgendetwas Schreckliches angetan, hab ich recht?«

»Hör mal, der Mann ist US-Senator. Ich habe ihn ins Amt gebracht, ich muss seine Interessen vertreten. Er hatte im Wahlkampf eine Affäre. Na und? Wer bin ich denn, darüber zu urteilen?« Er zögerte. »Und wer bist du, was das betrifft?«

»Also, ich bin hergekommen, um mir ein Urteil über den Senator zu bilden«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, er könnte mir helfen. Zum einen wäre uns ein redlicher, anständiger Senator im Labor von Nutzen. Alcott ist in der Lage, echtes Verständnis für uns aufzubringen. Aber jetzt ist er erledigt, denn er hat sich mit Huey angelegt – mit einem Mann, der Leute wie ihn zum Frühstück verspeist. Leute wie er werden immer von der Politik gefressen.« Sie schaute frustriert und grimmig drein. »Schau dir nur mal an, was er aus diesem hoffnungslos veralteten Gebäude gemacht hat, das ist einfach wundervoll. Er muss eine Art Genie sein, und jetzt hat man ihn zerschmettert. Das macht mich wirklich fertig. Welch ein Verlust. Er hat den Verstand verloren. Das ist eine nationale Tragödie.«

»Also, ich muss zugeben, das ist ein Rückschlag.«

»Nein, es ist vorbei. Er wird sich nicht bloß deshalb, weil du ihn zwangsernährt hast, wieder erholen. Weil er nämlich schwachsinnig ist. Er kann dir nicht mehr helfen – und das bedeutet, dass auch du mir nicht helfen kannst. Alles ist aus, und ich sollte die Sache aufgeben.«

»Wir geben nicht auf.«

»Oscar, lass mich jetzt ins Labor zurückfliegen. Lass mich arbeiten. Das ist das einzig Vernünftige.«

»Das mag schon sein, aber ich bin nicht vernünftig, und das sind auch keine vernünftigen Zeiten.«

Leon Sosik betrat das Büro. »Ein ziemliches Debakel.« Er war ganz grau im Gesicht.

»Dieser Bursche ist wirklich dreist«, sagte Oscar. »Huey hat einen französischen Flugzeugträger vor der Küste warten lassen. Der Mann ist ein Verräter! Er steckt mit einer ausländischen Macht unter einer Decke!«

Sosik schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gemeint.«

»Wir können einem derart kaltblütigen Coup nicht tatenlos zusehen. Wir müssen Hueys Füße an den Senatsboden nageln und ihn grün und blau prügeln.«

Sosik starrte ihn an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?«

»Natürlich ist es mein Ernst! Unser Mann hat Huey aus der Deckung gescheucht, und jetzt zeigt er sein wahres Gesicht. Er stellt eindeutig eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar. Wir müssen ihn fertigmachen.«

Sosik wandte sich mit höflicher Besorgnis an Greta. »Dr. Penninger, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich mit Mr. Valparaiso einen Moment unter vier Augen unterhalte?«

»Natürlich nicht.« Greta erhob sich widerwillig und legte die Essstäbchen weg.

»Ich könnte Ihnen von unserem Koch etwas einpacken lassen«, schlug Sosik aufmerksam vor.

»Ach nein, ich wollte sowieso gehen… Es wäre nett, wenn Sie mir ein Taxi rufen würden. In der Stadt findet eine Konferenz statt. Ich habe zu arbeiten.«

»Ich lasse Sie von unserem Chauffeur zum Tagungsort bringen, Doktor.«

»Das wäre prima. Vielen Dank.« Sie ergriff ihre Handtasche und ging hinaus.

Oscar blickte ihr bedauernd nach, dann fiel ihm eine Fernbedienung ins Auge, und er nahm sie in die Hand. »Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte er zu Sosik. »Sie hat nämlich ein Anliegen. Wir hätten später darüber reden können.«

»Man hat mir gesagt, dass Sie so wären«, meinte Sosik sachlich. »Man hat Sie mir ganz genau beschrieben, aber ich wollte es nicht glauben. Würden Sie bitte die Fernbedienung weglegen?«

Oscar zappte sich durch mehrere Nachrichtensendungen durch. »Wir stehen an einem Wendepunkt, Leon. Wir müssen rasch reagieren und den Kerl festnageln, bevor er den nächsten Aufmacher unterbringt.«

Sosik nahm Oscar behutsam die Fernbedienung ab. Er legte Oscar die Hand auf die Schulter. »Machen wir einen Spaziergang. Wir sollten uns mal ernsthaft unterhalten.«

»Wir haben im Moment nicht gerade Zeit totzuschlagen.«

»Mann, ich bin der Stabschef. Ich glaube nicht, dass es Zeitverschwendung wäre, mit mir zu reden. Okay?«

Eine Angestellte reichte ihnen Hüte und Mäntel. Sie fuhren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss hinunter.

»Gehen wir Richtung Somerville«, sagte Sosik. »Die Audioüberwachung ist dort nicht so streng.«

»Ist das ein Problem? Wir könnten auch getrennt Spazierengehen und uns über eine sichere Telefonleitung unterhalten.«

Sosik seufzte. »Können Sie nicht mal einen Moment lang einen Gang runterschalten? Ich bin ein alter Mann.«

Oscar schwieg. Er folgte Sosik in nördlicher Richtung die Prospect Street entlang, die Schultern wegen der Kälte hochgezogen. Kahle Bäume, vereinzelte Weihnachtseinkäufer, hin und wieder eine karibische Ladenfront.

»Im Büro halte ich es momentan nicht aus. Er übergibt sich, er zittert wie Espenlaub. Und die Leute da drinnen, die verehren alle den Boden unter seinen Füße. Jetzt mussten sie erleben, wie er aus den Pantinen kippt.«

»Ja, und dass wir uns so davonstehlen, hilft ihrer Moral auch nicht gerade wieder auf.«

»Halten Sie den Mund«, sagte Sosik. »Ich bin seit dreißig Jahren in dem Business. Ich habe schon viele Politiker ein schlimmes Ende nehmen sehen. Ich habe erlebt, wie sie zu Säufern und Halunken wurden, ich habe Sexskandale, Finanzskandale erlebt… Aber das ist der Erste, der zerbrochen ist, bevor er überhaupt nach Washington kam.«

»Alcott ist anderen stets einen Kopf voraus.« Oscar nickte. »Er ist ein Visionär.«

Sosik warf ihm einen gereizten Blick zu. »Weshalb sind Sie ausgerechnet auf den armen Kerl verfallen? Er ist kein normaler Politiker. Lag es an seiner Frau? Hatte sie etwas mit ihnen vor? Lag es an ihrem persönlichen Problem?«

»Normale Politiker kommen mit dem Job nicht mehr zu Rande, Leon. Das sind keine normalen Zeiten. Amerika ist kein normales Land. Wir haben unseren Vorrat an Normalität aufgebraucht. Es ist nichts mehr davon übrig.«

»Sie sind nicht normal. Was tun Sie eigentlich in der Politik?«

Oscar zuckte die Achseln. »Irgendjemand muss sich schließlich mit Ihrem dreißigjährigen Vermächtnis an soliden, professionellen Errungenschaften befassen, Leon.«

Sosik verzog das Gesicht. »Also, er hat sein Bestes gegeben. Und jetzt spinnt er.«

»Er spinnt nicht. Er ist schlicht und einfach verrückt.«

»Das ist doch das Gleiche. Okay?«

»Nein, ist es nicht. Es stimmt – er hatte einen Nervenzusammenbruch. Das ist ein Problem. Ein Imageproblem. Ein so schwerwiegendes Problem kann man nicht unter den Teppich kehren. Man muss mit dem Scheinwerfer drauf leuchten. Es geht um folgendes Problem: er hat sich aus ernst gemeintem Protest beinahe zu Tode gehungert, und jetzt hat er den Verstand verloren. Aber unser Schlüsselwort ist nicht ›verrückt‹. Unsere Schlüsselwörter sind ›ernst gemeint‹ und ›Protest‹.«

Sosik stellte den Mantelkragen auf. »Also, das können Sie nicht machen. Damit kommen Sie nicht durch.«

»Doch, Leon, ich kann. Aber wie steht’s mit Ihnen?«

»Ein Senator, der non compos mentis ist, ist ein Ding der Unmöglichkeit! Wie, zum Teufel, soll er jemals ein Gesetz durchkriegen?«

»Alcott war noch nie ein Gesetzestechniker. Von diesen Korinthenkackern haben wir eh genug. Alcott ist ein Charismatiker, ein moralischer Führer. Er kann das Volk aufwecken, er kann es leiten und ihm den Berggipfel zeigen. Er muss bloß Beachtung bei ihm finden und es dazu bringen, ihm zu glauben. Und jetzt hat er es endlich geschafft.«

Sosik ließ sich das durch den Kopf gehen. »Mann, wenn Sie das hinbekämen und es würde tatsächlich funktionieren, dann wäre das der Beweis, dass das ganze Land verrückt geworden ist.«

Oscar schwieg.

»Wie genau wollen Sie das drehen?« fragte Sosik schließlich.

»Wir müssen Huey auf der Patriotismusschiene dämonisieren, während wir das medizinische Problem lösen. Berichte aus dem Krankenzimmer, wann immer Al einen hellen Moment hat. Winston Churchill war manisch depressiv. Abraham Lincoln war depressiv. Wir lassen die jungen Dinger von den Demokraten herkommen, wir zeigen, dass die Partei an seiner Seite ist. Wir fliegen seine Frau ein, die ist eine Kämpferin und steht loyal zu ihm. Sympathiemail von der Basis, und zwar tonnenweise. Ich halte das für machbar.«

»Wenn das machbar ist, dann habe ich den Anschluss verloren. Das ist nicht mehr das Amerika, das ich kenne. Dafür habe ich nicht den Nerv. Ich müsste zurücktreten. Dann wären Sie der Stabschef.«

»Nein, Leon, Sie müssen Stabschef bleiben. Sie sind der gestandene Profi, Sie genießen Vertrauen in der Vorstadt, während ich… Also, ich darf da nicht in Erscheinung treten. Mit meinem persönlichen Background kann ich unmöglich eine große medizinische PR-Kampagne leiten.«

»Ich weiß, Sie wollen meinen Job.«

»Ich habe jetzt schon alle Hände voll zu tun.«

Sosik schnaubte. »Reden Sie keinen Scheiß.«

»Also gut«, sagte Oscar. »Ich gebe zu, ich hätte gern Ihren Job, aber im Moment muss ich mich um meinen eigenen Kram kümmern. Und zwar um Greta, verstehen Sie.«

»Um wen?«

»Die Wissenschaftlerin, verdammt noch mal! Dr. Penninger.«

Sosik war verblüfft. »Was? Die? Die geht auf die vierzig zu und hat ein Gesicht wie ein Kriegsbeil! Was ist los mit Ihnen, Mann? Es ist noch keine zwei Monate her, da hing ihnen die Hose wegen einer Wahlkampfjournalistin auf den Knöcheln. Sie konnten heilfroh sein, dass man Sie deswegen nicht geoutet hat. Und jetzt die?«

»Ja. Stimmt genau. Die.«

Sosik rieb sich das Kinn. »Ich habe ganz vergessen, wie schwer es einen jungen Kerl erwischen kann… Ist es wirklich so gut?«

»Nein, so gut ist es nicht«, erwiderte Oscar. »Es ist überhaupt nicht gut, es ist schlimm. Es ist richtig schlimm. Es ist schlimmer, als Sie sich vorstellen können, es ist grauenhaft. Sollten man uns ertappen, werden wir geoutet. Sie ist der reinste Workaholic – Wissenschaft ist das Einzige auf der Welt, das sie nicht zu Tode langweilt. Huey verehrt sie und möchte sie für irgend so ein wahnsinnsgeniales Gehirnlabor anwerben, das er gerade in einer Salzgrube baut… Sie trinkt zu viel. Sie leidet an Allergien. Sie ist acht Jahre älter als ich. Und außerdem ist sie Jüdin. Obwohl das bislang keine große Rolle spielt.«

Sosik seufzte; sein Atem kondensierte in der kalten Luft. »So sieht also Ihre Lage aus, hm?«

»Ja, in etwa. Aber da wäre noch etwas. Sie ist wirklich ein Genie. Sie ist einzigartig, brillant und wundervoll.«


Kevin Hamilton kam auf einen Schwatz bei Oscar vorbei. Kevin, ein Mann mit einem äußerst ungewöhnlichen Lebensrhythmus, hatte Erdnussbutter, ein Marmeladesandwich und einen Beutel Bananenchips mitgebracht.

»Politik ist heutzutage irrelevant«, meinte Kevin leichthin.

»Ich bitte Sie nicht, politischer Aktivist zu werden, Kevin. Ich bitte Sie bloß, sich meinem Team anzuschließen und sich um meine Sicherheit zu kümmern.«

Kevin stopfte sich eine Handvoll Bananenchips in den Mund und spülte mit Schokomilch nach. »Also, da Sie nun mal der sind, der Sie sind, haben Sie wohl auch genügend Geld für sowas.«

Oscar rückte den Laptop auf dem Konferenztisch zurecht. »Im Moment ist keine Zeit für müßiges Geplauder, also spielen wir mit offenen Karten. Ich weiß, Sie sind etwas Besonderes, aber Sie sind nicht der Einzige, der sich mit Netzrecherche auskennt. Das kann ich auch. Ihre Akte mit Anschuldigungen wegen zivilen Ungehorsams ist so lang wie mein Arm. Sie leben seit zehn Jahren ohne offizielle Einkünfte. Ihr Vater ist ein verurteilter Computerkrimineller auf elektronisch überwachtem Freigang. Sie sind ein Polizeispitzel und ein Überwachungsfreak. Ich glaube, ich habe Bedarf für jemanden wie Sie.«

»Nett von Ihnen, dass Sie meinen heiklen ethnischen Hintergrund nicht erwähnt haben«, meinte Kevin. Er legte das Sandwich weg und holte seinen eigenen Laptop aus einer lädierten Reisetasche. Das uralte Gerät wurde von Spannriemen und Reiseaufklebern zusammengehalten.

»Dergleichen erwähne ich nie«, sagte Oscar.

»Hätte mich auch gewundert. Sie sind kein ›ethnischer‹ Typ.«

Kevin sah auf seinen Bildschirm. »Soweit ich erkennen kann, sind Sie eine Art Laborprodukt.«

»Schuldig im Sinne der Anklage.«

»Mein Vater wurde zum Gauner, nachdem seine Firma pleite gegangen war – Ihr Vater aber war ein richtiger Gangster. Ein Glück für Sie, dass die Regierung keine Filmstars niedermacht.«

»Ja, und seine Filme waren ebenfalls kriminelle Handlungen.«

»Offenbar stecken Sie wirklich in Schwierigkeiten. Ich arbeite nicht als Bodyguard. Ich schaff’s gerade, die Bürgerwache erfolgreich zu leiten. Das ist ein guter Job für einen Typ, der ein Nomadendasein geführt hat – ich muss jetzt still sitzen und habe ein Dach über dem Kopf. Sie aber sind ein durchtriebener Politiker mit einflussreichen Feinden. Für Sie zu arbeiten, könnte mich das Leben kosten.«

»Ich stelle mir das so vor, dass ich am Leben bleibe und Sie dafür bezahle.«

»Keine Ahnung, weshalb ich Ihnen überhaupt zuhöre, Mann. Aber wissen Sie was – ich muss zugeben, dass mir Ihr Vorschlag irgendwie gefällt. Ich mag Leute, die wissen, was sie wollen, und ihre Ziele konsequent verwirklichen. Sie haben etwas an sich… ich weiß auch nicht… Sie wecken einfach Vertrauen.«

Der passende Moment, den nächsten Trumpf auszuspielen. »Hören Sie, Kevin, das mit Ihrem Vater verstehe ich. Viele anständige Menschen verwinden es nur schwer, wenn ihr intellektuelles Eigentum vernichtet wird. Freunde von mir im Senat könnten mit dem Gouverneur mal über eine Begnadigung sprechen. Ich glaube, ich könnte in der Sache etwas für Sie tun.«

»Also, das wäre wundervoll. Wissen Sie, mein Dad wurde wirklich unfair behandelt. Er war nie der typische rassistische White-Power-Bomber. Man hat die Terrorismus- und Verschwörungsvorwürfe nur deshalb erhoben, damit man sich am Ende auf Unterschlagung und widerrechtliches Eindringen in geschützte Computersysteme einigen konnte.«

»Er muss einen guten Anwalt gehabt haben.«

»Kann man so sagen… Sein Anwalt war so klug, sich nach Europa abzusetzen, als es hier hart auf hart ging.« Kevin seufzte. »Ich wäre selbst um ein Haar nach Europa gegangen, aber dann dachte ich mir, was soll’s? Man kann auch als Straßenprolo aussteigen, das ist fast das Gleiche, wie wenn man das Land verlässt.«

»Es macht Ihnen doch nichts aus, nach Texas zu fliegen? Und Weihnachten nicht zu Hause zu sein? Wir reisen auf der Stelle ab.«

An der Tür läutete es. Kurz darauf trat Donna mit einem Luftpostpaket ein.

»Ist das für mich?« fragte Kevin erfreut. Er schlitzte das Paket mit einem großen Schweizer Armeemesser auf. »Mayonnaise«, verkündete er wenig überzeugend und hob ein unettiketiertes verschlossenes Glas mit weißer Pampe heraus. »Das Zeug könnte nützlich sein.« Er steckte das Glas in das Seitenfach seiner Reisetasche.

»Sie ist da«, flüsterte Donna.

»Ich muss mich um einen neuen Gast kümmern«, wandte Oscar sich an Kevin.

»Ein neuer ›Gast‹?« meinte Kevin augenzwinkernd. »Was ist denn aus der reizenden Dame im Bademantel geworden?«

»Können Sie mir bis morgen mitteilen, wie Sie sich entschieden haben?«

»Nein, Mann, ich hab mich schon entschieden. Ich bin dabei.«

»Sind Sie sicher?«

»Klar, klingt ganz so, als wär’s mal ‘ne nette Abwechslung. Ich fange gleich an. Klären Sie das mit Ihrem Systemadministrator, dann schaue ich mal, was ich für Ihre Rechner tun kann.«

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