Hätte Fontenot nicht Erkundigungen eingeholt und den Weg geebnet, wäre Oscar nicht so leicht vorangekommen. Die Straßen in Alabama wurden vom Besucherverkehr der verrückten christlichen Revival-Shows verstopft, die ihr Motto ›Dem Geist neues Leben einhauchen‹ mit Gospel-Raves im 200-Beats-pro-Minute-Rhythmus feierten. In Tennessee wurde Oscar durch mexikanische Wanderarbeiter behindert, die mit Hacke und Schaufel die wuchernden Kudzupflanzen bekämpften. Oscar genoss die relative Sicherheit eines angeblich gefährliche Biotechladung befördernden Busses, doch es waren Situationen denkbar, da auch das nichts mehr nützen würde.
Während Lana, Donna und Moira sich im Bus jedoch langweilten und häufig gereizter Stimmung waren, war Oscar niemals müßig. Solange er seinen Laptop und Netzzugang hatte, stand ihm die ganze Welt offen. Er kümmerte sich um seine Finanzen. Er studierte die Dossiers seiner Kollegen vom Wissenschaftsausschuss. Er tauschte lockere E-mails mit Greta aus. Greta schrieb gerne E-mails. Zumeist berichtete sie von ihrer Arbeit – alles drehte sich bei ihr um die Arbeit –, doch mittlerweile verstand er bereits ganze Absätze von dem, was sie schrieb.
Auf den Heckfenstern des Busses liefen ständig die Nachrichten. Mit besonderem Interesse verfolgte Oscar alles, was mit Bambakias’ Hungerstreik in Verbindung stand.
Der Skandal schlug hohe Wellen. Als Oscar die Vororte Washingtons erreichte, befand sich der Luftwaffenstützpunkt in Louisiana im Belagerungszustand.
Die Stromversorgung hatte man längst unterbunden, da keine Zahlungen mehr erfolgten. Die Flugzeuge hatten keinen Treibstoff mehr. Die verzweifelten Unionssoldaten tauschten gestohlene Ausrüstungsgegenstände gegen Nahrung und Schnaps ein. Desertionen waren an der Tagesordnung. Der Kommandant hatte unter Tränen ein Videogeständnis abgelegt und sich erschossen.
Green Huey hatte die Geduld verloren. Er rückte an, und er meinte es ernst. Einen Luftwaffenstützpunkt mit bundesstaatlichen Truppen anzugreifen, wäre zu gewagt und direkt gewesen. Stattdessen heuerte der Gauner Guerillas an.
Huey hatte das Vertrauen der Prolonomaden dadurch gewonnen, dass er ihnen sicheren Unterschlupf gewährte. Er erlaubte ihnen, in zahlreichen von der Unionsregierung zu kontaminierten Sperrzonen erklärten Gebieten zu lagern. Diese vergessenen Gebiete waren mit petrochemischen Rückständen und den Hormonhaushalt beeinflussenden Pestiziden verunreinigt und daher für menschliche Besiedlung ungeeignet. Die Prolohorden dachten anders darüber.
Prolos sammelten sich bedenkenlos überall dort, wo der Arm der Behörden nicht hinreichte. Wenn die vernetzten Prolos nicht ständig von den Behörden behelligt wurden, vereinigten sie sich und wurden frech. Wenngleich sie durch gezielte Aktionen leicht zerstreut werden konnten, sammelten sie sich anschließend wieder wie ein Mückenschwarm. Mit ihren Erntemaschinen und Bioreaktoren konnten sie ganz am Anfang der Nahrungskette ansetzen. Sie hatten kein Interesse an der etablierten Ordnung und kannten sich genau aus mit den infrastrukturellen Schwächen der Gesellschaft. Mit ihnen war nicht gut Kirschen essen.
Nomadenprolos gediehen nicht in dicht besiedelten Gebieten wie Massachusetts, wo sie mittels Videoüberwachung und den Suchmaschinen der Polizei relativ leicht auszumachen und unter Kontrolle zu halten waren. Green Huey aber war nicht aus Massachusetts. Die dort geltenden Verhaltensregeln waren ihm vollkommen gleichgültig. Die ökologisch vergifteten Gebiete Louisianas waren für die Prolos ideal. Die Sperrgebiete dienten auch als Reservate, denn sie kamen mit chemischen Giften leichter zurecht als mit der Anwesenheit von Menschen. Nach jahrzehntelangem subtropischem Wachstum waren die vergifteten Gebiete Louisianas ebenso undurchdringlich wie Sherwood Forest, der Wald, der einmal Robin Hood als Versteck gedient hatte.
Hueys Lieblingsprolos stammten aus Louisiana und waren auf Grund des gestiegenen Meeresspiegels und der durch Hurrikans und vom unberechenbaren Mississippi hervorgerufenen Überschwemmungen heimatlos geworden. In den Tiefen des ruinierten Landes hatten sie eine ganz andere Ordnung herausgebildet als die verstreuten Dissidenten der Ostküste. Die Louisianer bildeten eine mächtige, ehrgeizige, florierende Gegengesellschaft, mit eigener Kleidung, eigenen Gebräuchen, eigener Polizei, eigener Wirtschaft und eigenen Medien. Aus diesem Grund hatten sie sich zum Herren über die weniger gut organisierten Dissidenten, Wanderarbeiter und Angehörigen der Freizeitgewerkschaften aufgeschwungen. Man nannte sie die Regulatoren.
Der Dschungelkrieg in den Sümpfen Louisianas begünstigte Hueys Regulatorenhorden wie der Guerillakrieg die Maoisten der Vergangenheit. Jetzt hatte Huey einen Netzkrieg entfesselt, und in dessen Folge brach eine gedämpfte Hölle über den Luftwaffenstützpunkt herein.
Das traurige am amerikanischen politischen Disput war, dass die europäischen Medien am eingehendsten und exaktesten darüber berichteten. Oscar machte einen europäischen Satellitenkanal ausfindig, der eine Pressekonferenz aus Louisiana übertrug, veranstaltet von einer Fanatiker in namens Ooney Bebbels, die sich als ›stellvertretende Befehlshaberin des Regulatorenkommandos‹ bezeichnete.
Die Guerillaanführerin trug eine schwarze Skimaske, verdreckte Jeans und einen weiten Pullover. Sie stolzierte vor den lauschenden Journalisten auf und ab und schwang ein gefiedertes schwarzes Offiziersstöckchen und eine Fernsteuerung. Die Propagandaveranstaltung fand in einem großen aufblasbaren Zelt statt.
»Werfen Sie einen Blick auf das Display. Haben Sie schon alle eine Kopie des Dokuments vorliegen? Bruder Lump-Lump, beam den French-Boys da hinten noch ein paar Regierungsakten rüber! Okay! Ladies und Gentlemen, dieses Dokument ist eine amtliche Liste der amerikanischen Luftwaffenstützpunkte. Sie können sich die Budgetzahlen auch selbst vom Ausschussserver runterladen, wenn Sie mir nicht glauben. Schauen Sie sich die offiziellen Zahlen an. Die fragliche Basis existiert nicht einmal.«
»Aber, Ma’am«, wandte ein Journalist ein, »wir sehen den Stützpunkt doch über Livekamera.«
»Dann sollten Sie wissen, dass es sich um herrenloses Gebiet handelt. Niemand ist dafür zuständig, es gibt keinen Treibstoff, kein fließendes Wasser, keine Nahrungsmittel. Das ist kein Luftwaffenstützpunkt mehr. Sehen Sie hier irgendwelche Flugzeuge rumfliegen? Das einzige, was hier fliegt, sind Ihre Helikopter. Und unsere harmlosen Ultraleichtflugzeuge. Sie sollten also alle Fehlinformationen über eine so genannte bewaffnete Belagerung ad acta legen. Das ist pure Desinformation. Wir sind unbewaffnet. Wir brauchen bloß Unterkünfte. Wir sind Heimatlose, die für den Winter ein Dach über dem Kopf brauchen. Dieses große, herrenlose Gebiet hinter dem Stacheldraht ist ideal für uns. Deshalb warten wir hier vor den Toren, bis man unsere Menschenrechte achtet.«
»Wie viele Kämpfer haben Sie in die Schlacht geschickt, Ma’am?«
»Keine ›Kämpfer‹, das sind bloß Personen. Bislang neunzehntausenddreihundertundzwölf. Wir sind optimistisch. Unsere Moral ist ausgezeichnet. Wir erhalten von überall her Zulauf.«
Ein britischer Journalist erhielt das Wort. »Es wurde berichtet, Sie hätten illegale elektromagnetische Impulskanonen in Ihren Guerillalagern.«
Die stellvertretende Kommandantin schüttelte ungeduldig den von der Skimaske bedeckten Kopf. »Hören Sie, Impulswaffen können wir nicht ausstehen, die legen unsere Laptops lahm. Wir verurteilen Impulsangriffe. Eventuelle Impulsangriffe aus unseren Reihen sind Provokateuren zuzuschreiben.«
Der britische Journalist, schick herausstaffiert mit gebügelten Khakihosen, wirkte ziemlich skeptisch. Die Briten hatten mehr Kapital in den USA angelegt als jede andere Nation. Das spezielle anglo-amerikanische Verhältnis weckte noch immer tiefe Gefühle, zumal dann, wenn es um Kapitalerträge ging. »Wie steht es mit den Anti-Personen-Waffen, die Sie in Stellung gebracht haben?«
»So kann man das nicht nennen. Das sind Grenzsicherungsanlagen. Sie dienen der Sicherheit größerer Menschenansammlungen. Wir haben hier viele Leute versammelt, deshalb müssen wir Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Auf welche Weise? Mit Stacheldraht? Ja, natürlich! Schlagstöcke mit Adhäsionsgiften, ja klar, die haben wir schon immer. Schaumbarrikaden und Tränengas, klar, das ist alles ein alter Hut, das kann man überall kaufen. Was noch? Superkleber? Ja, sicher, von dem Zeug haben wir ein paar Tanklastwagen voll. Superkleber herzustellen ist kinderleicht.«
Ein deutscher Korrespondent ergriff das Wort. Er hatte eine ganze Mediencrew mitgebracht, zwei Bänke voll europäischer alter Hasen, die vor optischem Präzisionsgerät nur so strotzten. Die Deutschen waren das reichste Volk auf Erden und hatten die höchst ärgerliche Angewohnheit, stets besonders erwachsen und verantwortungsbewusst aufzutreten. »Weshalb zerstören Sie die Straßen?« fragte der Deutsche und rückte seine Designersonnenbrille zurecht. »Ist das nicht ökonomisch kontraproduktiv?«
»Mister, die Straßen sind zum Untergang verurteilt. Das staatliche Straßenaufsichtsamt hat sie auf dem Gewissen. Teer verschmutzt die Umwelt. Daher räumen wir den Straßenbelag im Dienst der Öffentlichkeit ab. Teer besteht aus Kohlenwasserstoffen, daraus lässt sich Treibstoff gewinnen. Und das Öl brauchen wir, damit unsere kleinen Kinder nicht erfrieren. Okay?«
Oscar drückte die Stummtaste und stellte den Ton ab. »Hey, Jimmy«, rief er, »wie viel Sprit haben wir noch?«
»Reicht noch eine Weile«, antwortete Jimmys Stimme.
Oscar sah zu den Kojen hinüber. Lana, Donna und Moira schliefen. Der Bus wirkte auf einmal wie eine halb geleerte Sardinenbüchse. Die Mannschaft schrumpfte immer mehr. Die meisten Leute hatte er in Texas zurücklassen müssen, und nun fehlten sie ihm. Es fehlte ihm, sich um sie zu sorgen, sie aufzumuntern und anzuspornen. Es fehlte ihm, sie scharf zu machen und auf ein verwundbares Ziel zu hetzen.
Moira war fest entschlossen zu gehen, doch es fiel ihr nicht leicht. Fontenot war endgültig von der Bildfläche verschwunden; Handy und Laptop hatte er in einen Sumpf geworfen. Jetzt lebte er in seiner neuen Hütte und fuhr mit dem Boot angeln. Bambakias’ Wahlkampfteam war das Beste gewesen, was er je aufgebaut hatte, und nun gehörte es der Vergangenheit an und zerstreute sich in alle Richtungen. Diese Erkenntnis erfüllte Oscar mit tiefer, irrationaler Sorge.
»Was halten Sie davon?« rief er zu Jimmy nach vorn.
»Hören Sie, ich fahre«, entgegnete Jimmy vernünftig. »Ich kann nicht fahren und gleichzeitig auf die Nachrichten achten.«
Oscar ging nach vorn und senkte die Stimme. »Ich meinte die Nomaden, Jimmy. Ich weiß, dass Sie schon Erfahrungen mit denen gemacht haben. Ich wüsste halt gern, was Sie von dieser Entwicklung halten. Eine Regulatoren-Guerilla, die einen Luftwaffenstützpunkt stranguliert.«
»Jetzt, wo alle schlafen, wollen Sie mit mir reden, wie?«
»Sie wissen doch, dass ich immer Wert auf Ihren Beitrag gelegt habe. Sie haben eine ganz eigene Sichtweise.«
Jimmy seufzte. »Hören Sie, Mann. Ich leiste keinen ›Beitrag‹. Ich fahre bloß den Bus. Ich bin Ihr Busfahrer. Lassen Sie mich fahren.«
»Nur zu, fahren Sie! Ich wüsste bloß gern… ob Sie die Nomaden für eine ernste Bedrohung halten.«
»Klar sind die eine erste Bedrohung… Sicher. Ich meine, bloß weil jemand ein Nomade ist und Zugang zu einem Reputationsserver hat und Gras frisst und dieses ganze komische Biozeugs zusammenbraut… Deswegen ist er noch lange nichts Besonderes.«
»Nein.«
»Trotzdem sind ein paar von den Typen sehr ernst zu nehmen, weil, na ja, es könnte passieren, dass man sich irgendwann mal mit so einem heimatlosen Looser anlegt, der völlig abgerissen und durchgeknallt wirkt, und dann stellt sich heraus, dass er überall superharte Netzfreunde hat, und aus blauem Himmel passieren einem auf einmal seltsame Sachen… Aber Scheiße, Oscar, das brauche ich Ihnen doch nicht zu erzählen. Mit den Power-Netzwerken kennen Sie sich doch aus.«
»Sicher.«
»Sie beschäftigen sich doch selbst damit, auf diese Weise haben Sie Ihrem Kandidaten zum Sieg verholfen.«
»Hmmm.«
»Sie sind ständig auf Achse. Sie sind selbst ein Nomade, genau wie die. Sie sind ein Anzug-Nomade. Die meisten Leute, die Sie treffen – und die nicht genau wissen, was wir machen – halten Sie für einen richtig gefährlichen Burschen, Mann. Vielleicht sind ein paar von den nomadischen Netzgöttern ja gefährlicher als Sie, aber viele sind’s bestimmt nicht. Mann, Sie sind reich.«
»Geld ist nicht alles.«
»Ach, kommen Sie! Hören Sie, ich bin nicht smart genug, um mit Ihnen zu reden, okay?« Jimmy zuckte gereizt die Achseln. »Sie sollten sich lieber schlafen legen. Die andern schlafen auch alle.« Jimmy las eine Anzeige ab und packte das Steuer.
Oscar wartete schweigend.
»Wenn’s sein muss, kann ich achtzehn Stunden am Tag fahren«, meinte Jimmy schließlich. »Macht mir nichts aus. Scheiße, mir gefällt’s. Aber Ihnen brauche ich bloß zuzuschauen, und schon werd ich müde. Allein schon vom Zugucken schlaffe ich ab. Mit Ihnen kann ich nicht mithalten. Ich spiele nicht in Ihrer Liga. Ich bin ein ganz normaler Typ, okay? Ich will keine staatlichen Wissenschaftsstützpunkte erobern. Ich bin bloß ein Arbeiter aus Boston, Mann. Ich bin Busfahrer.«
Jimmy schaute auf den über Kopfhöhe angebrachten Scanner und holte tief Luft. »Ich werd diesen Bus für Sie nach Boston zurückfahren, und dann bin ich fertig mit Ihnen. Okay? Dann mache ich erstmal Pause. Ich meine, ich will wirklich mal ausspannen. Ich brauche Erholung, genau das. Ich werd eine Menge Bier trinken und zum Bowling gehen, und wenn ich Glück habe, find ich jemanden fürs Bett. Aber mit Politikern geb ich mich nicht mehr ab.«
»Sie wollen wirklich das Team verlassen, Jim?« fragte Oscar. »Einfach so?«
»Sie haben mich zum Busfahren angeheuert, Mann! Können Sie’s nicht dabei belassen? Das ist ein Job! Ich führe keinen Kreuzzug.«
»Sie sollten nichts überstürzen. Ich bin sicher, wir würden schon einen anderen Platz für Sie finden.«
»Nee, Mann. Sie haben keinen Platz für mich. Oder überhaupt für Typen wie mich. Weshalb gibt es denn jetzt Millionen Nomaden? Sie haben keine Jobs, Mann! Sie sind euch scheißegal! Ihr habt keine Verwendung für sie! Ihr könnt sie nicht gebrauchen! Ihr braucht sie einfach nicht. Überhaupt nicht. Okay? Und deshalb brauchen sie euch auch nicht. Okay? Sie sind es leid, darauf zu warten, dass ihr ihnen eine Perspektive bietet. Deshalb bauen sie sich ihr eigenes Leben auf, aus dem Zeug, das überall herumliegt. Glauben Sie, die Regierung schert sich um sie? Die Regierung kann doch nicht mal die eigene Luftwaffe bezahlen.«
»Ein besser organisiertes Land hätte Verwendung für alle seine Bürger.«
»Mann, darum geht es ja gerade – sie sind viel besser organisiert als die Regierung. Organisation ist das einzige, was sie haben! Sie haben kein Geld, keinen Job und kein Dach über dem Kopf, aber sie sind organisiert, Organisation haben sie im Überfluss. Verstehen Sie, Mann, die sind genau wie Sie. Sie und Ihr Wahlkampfteam, Sie sind viel besser organisiert als diese Dinosaurierbeamten, die das Laboratorium leiten. Sie können das Ding jederzeit übernehmen, okay? Ich meine, genau das werden Sie auch tun! Sie werden das Ding übernehmen. Ob’s denen passt oder nicht. Sie wollen es haben, deshalb nehmen Sie sich’s.«
Oscar schwieg.
»Das wird mir am meisten fehlen, Mann. Dabei zuzuschauen, wie Sie Ihren nächsten Zug machen. Zum Beispiel, wie Sie dieses verrückte Wissenschaftlerhuhn eingespannt haben. Mann, das war brillant. Ich hab’s einfach nicht über mich gebracht, zu gehen, bevor Sie bei dem Wissenschaftlerhuhn gepunktet hatten. Sie kriegen immer Ihren Willen.« Jimmy lachte. »Sie sind ein Genie! Ich bin kein Genie, okay? Das ist einfach nicht mein Ding. Es ist zu anstrengend.«
»Ich verstehe.«
»Hören Sie auf, sich so viele Sorgen zu machen, Mann. Wenn Sie sich Sorgen machen wollen, dann denken Sie an Washington. Morgen kommen wir dort an, und wenn der Bus heil wieder aus der Stadt herauskommt, dann bin ich heilfroh, Mann.«
Der Himmel über Washington, DC, wurde ständig von Drohnen verdunkelt. Es gab auch eine Menge Helikopter, denn die Behörden hatten keine Kontrolle über die Straßen mehr. Große Gebiete der Landeshauptstadt waren ständig unpassierbar. Dissidenten und Protestler hatten den öffentlichen Raum in Besitz genommen.
Die gewaltlose Verweigerung hatte in Washington strategisch und taktisch ein bislang unerhörtes Ausmaß erreicht. Die funktionsfähigen Bezirke waren in Privatbesitz und wurden von Monitoren und zahllosen Privatschlägern bewacht, während man andere Gebiete den Anwohnern überlassen hatte. Die ideologische Ausrichtung der Besatzer war höchst unterschiedlich, doch während sie mit der Regierung ein prekäres Gleichgewicht hergestellt hatten, hassten sie einander bis aufs Blut. Dupont Circle, Adams-Morgan und das Gebiet östlich des Capitol Hill wiesen Mordraten auf, die beinahe an die des zwanzigsten Jahrhunderts heranreichten.
In vielen Gegenden Washingtons hatte sich die Einteilung in Straßen und Gebäude schlichtweg aufgelöst. Ganze Stadtviertel waren an die Protestler gefallen, die ihre eigene Kanalisation und ihre eigenen Wasserleitungen und Stromgeneratoren installiert hatten. Die Straßen waren ständig verbarrikadiert und wurden von Tarnnetzen und schmutzigen Plastikplanen verdeckt.
Besonders erwähnenswert unter den Washingtoner Autonomen waren die Gruppen, die sich als ›Marsianer‹ bezeichneten. Frustriert aufgrund der jahrelangen bemühten Gleichgültigkeit gegenüber ihren heftigen Beschwerden, verhielten sich die Marsianer nun so, als existierte die Regierung nicht mehr. Die Marsianer betrachteten das ganze Gebiet von Washington, DC, als Rohmaterial.
Ihre Bautechniken waren ursprünglich von einer Gruppe übereifriger prospektiver Marssiedler entwickelt worden.
Diese längst von der Bildfläche verschwundenen Weltraumfreaks, eine einfallsreiche und fanatische Gruppierung, hatten zahlreiche billige und einfache Techniken entwickelt, die es kleinen Gruppen von Astronauten ermöglichen sollten, die atmosphärelosen, eiskalten Wüsten des Roten Planeten zu besiedeln. Die Menschheit war nie bis zum Mars vorgedrungen, doch mit dem endgültigen Zusammenbruch der NASA waren die Kolonisierungspläne für den Mars öffentlich geworden.
Die Pläne gerieten in die Hände fanatischer Protestler. Sie gruben sich tief in das morastige Flussbett des Potomac ein, pressten Wasser aus dem Erdreich, formten Ziegel daraus und bauten endlose Gewölbe, Tunnel und Kivas, halb unterirdisch gelegene Lehmbauten, wie sie von den Hopi-Indianern benutzt worden waren. Die Radikalen stellten fest, dass selbst der kargste Flecken Erde im Vergleich zu den luftlosen Wüsten des Mars ein wahres Füllhorn war. Alles, was auf dem Mars funktioniert hätte, funktionierte auf einer verlassenen Straße oder einem aufgegebenen Parkplatz hundertmal besser.
Der Erfindungsreichtum der NASA trug nun erstaunliche Früchte, und auf den Straßen von Washington entstanden zahlreiche Marssiedlungen. Slums aus komprimiertem Erdreich, zu betreten über labyrinthische Schleusen, klebten wie Wespennester an den Wänden von Gebäuden. In der Nähe von Union Station gab es drei Stockwerke hohe Abraumhalden, und selbst in Georgetown rumpelte es hin und wieder im Erdreich.
Die meisten Marsianer waren Anglos. Tatsächlich gehörten sechzig Prozent der Einwohner Washingtons dieser bedrängten Minderheit an. Die Verwaltung, berüchtigt für ihre Korruption, wurde von militanten Anglos beherrscht. Die ethnischen Bosse machten regen Gebrauch von ihrer traditionellen Begabung für Betrug, Hacking und Schreibtischverbrechen.
Obwohl er sich in Washington nicht auskannte, wusste Oscar doch, dass man gut beraten war, die Stadt nicht unvorbereitet zu betreten. Als er ausstieg, zog sich seine Mannschaft mit dem Bus sogleich in die relative Sicherheit Alexandrias zurück. Oscar ging zwei Blocks weit zu Fuß, über einen permanenten Straßenmarkt, wo Blumen, Medaillen, Armreifen, Aufkleber, Fahnen, Kassetten und Weihnachtsgeschenke feilgeboten wurden.
Er erreichte sein Ziel unbehelligt und in guter Verfassung. Sodann stellte er ohne große Überraschung fest, dass das Regierungsgebäude Hausbesetzern in die Hände gefallen war.
Oscar wanderte durch die Lobby, vorbei an Metalldetektoren und einem zyklopenhaften Gesichtserkennungsgerät. Der Portier der Besetzer war ein älterer Schwarzer mit kurz geschorenem Kraushaar und einer Fliege. Er reichte Oscar ein ID-Armband.
Das Computersystem überwachte nicht nur Oscars Bewegungen, sondern auch alles andere in dem Gebäude: Möbel, technische Geräte, Werkzeug, Küchenutensilien, Kleidungsstücke, Schuhe, Haustiere und natürlich die Hausbesetzer selbst. Die Detektorelemente waren so klein wie Apfelsinenkerne und so robust wie Nägel, sodass man sie unbemerkt an allem befestigen konnte, was von Interesse war.
Aufgrund der universellen Markierungen war der Inhalt des Gebäudes im Wesentlichen vor Diebstahl geschützt. Zudem erleichterten sie es, den staatlichen Besitz zu vergesellschaften. Da der Ort, der Zustand und die Herkunftsgeschichte eines jeden Gegenstands registriert waren und jederzeit abgerufen werden konnten, waren sie leicht zu finden. Zudem wurde es Schnorrern schwer gemacht, das Gemeineigentum zu entwenden oder zu missbrauchen. Wenn alles funktionierte, galt der digitale Sozialismus als billigere und praktischere Alternative zum Privateigentum.
Diese Technik hatte allerdings eine Nebenwirkung: sie machte das Leben eines jeden Einzelnen zu einer quasi öffentlichen Angelegenheit. Auf den Gängen des Gebäudes spielten Kinder – dem Durcheinander nach zu schließen, wohnten sie sogar dort. Die Kinder waren ebenfalls markiert und mit Mikrofonen ausgestattet, und sie waren umgeben von einem Durcheinander farbcodierter Spielzeuge, deren Position registriert war.
Oscar bahnte sich einen Weg durch eine Ansammlung von Dreirädern und aufblasbaren Tieren hindurch, dann fuhr er mit einem vollgestopften Aufzug in den zweiten Stock hoch. Hier roch es stark nach indischen Gerichten – nach Curry, Papadams, vielleicht auch nach Hühnermasala. Dem Geruch nach zu schließen, wurden hier auch lebende, computerüberwachte Hühner gehalten.
Die Doppeltür des Zimmers 358 öffnete sich vertrauensvoll auf seine Berührung hin. Oscar trat in ein Künstleratelier, in einen kahlen, übelriechenden Raum, der aus verkohlten Büroeinheiten zusammengesetzt war. Die abgebrannten Büros wiesen unheimliche Hinterlassenschaften auf: ein Gitterwerk verkohlten Fußbodenbelags und die tropfenden Stalagmiten geschmolzener Kunststoffterminals. Jedenfalls hatte das Büro einen neuen Besitzer gefunden. Nun stand darin eine lange, selbstgebaute Werkbank aus verbolzten Eisenbahnschwellen, umgeben von gestapeltem Autoschrott, ausgedrückten Klebstofftuben und kurzen, dicken Metallstangen. Der Betonboden hallte unter Oscars Füßen.
Offenbar befand er sich im falschen Raum.
Sein Handy klingelte. »Hallo?«
»Bist du’s wirklich?« fragte Greta.
»Natürlich bin ich das – ganz persönlich.«
»Nicht der Telefonsexdienst?«
»Nein. Ich lasse meine Privatgespräche über den Sexdienst laufen. Die haben ein enormes Gesprächsaufkommen, das ist ein guter Schutz gegen Überwachung. Und sollte tatsächlich jemand die Gespräche unter die Lupe nehmen, würde man annehmen… Aber lassen wir die technischen Details. Jedenfalls können wir uns über eine unverschlüsselte Leitung gefahrlos unterhalten.«
»Wenn du es sagst.«
»Lass uns reden, Greta. Sag mir, wie’s dir geht. Erzähl mir alles.«
»Bist du wohlbehalten in Washington angekommen?«
Oscar drückte zärtlich das Stoffhandy. Es war, als hielte er ihr Ohr in seiner Hand. Auf einmal machte es ihm nichts mehr aus, dass er sich hoffnungslos verlaufen hatte und offenbar im falschen Gebäude war.
»Mir geht’s prima. Schließlich ist das der Ort, wo ich Karriere mache.«
»Ich mache mir Sorgen, Oscar.« Eine lange Pause. »Ich… ich könnte vielleicht später am Tag nach Boston fliegen. Dort findet ein Seminar über Hirnforschung statt. Vielleicht könnte ich mir etwas Zeit abknapsen.«
»Wunderbar! Du solltest unbedingt nach Boston fliegen. Ich zeige dir mein Haus.« Eine lange, knisternde Pause.
»Klingt interessant…«
»Tu es. Das ist genau das, was wir brauchen. Es würde uns gut tun.«
»Ich muss dir etwas Wichtiges sagen…«
Er überprüfte rasch den Akkustand, dann drückte er sich das Handy wieder ans Ohr. »Na los, erzähl’s mir, Greta.«
»Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll… Es ist bloß… Ich bin so durcheinander und… Ich bin so begeistert und…« Erwartungsvolle Stille.
»Na los«, drängte er. »Red’s dir von der Seele.«
Sie senkte die Stimme zu einem vertraulichen Geflüster. »Es geht um meine Amyloidfibrillen…«
»Um was?«
»Um meine Fibrillen. Es gibt zahlreiche Hirnproteine, die in vivo Amyloidfibrillen bilden. Obwohl sie ganz unterschiedliche Sequenzen bilden, polymerisieren sie doch alle in der gleichen Metastruktur. Die konformative Faltung hat mir Sorgen bereitet. Große Sorgen.«
»Tatsächlich? Eine Schande.«
»Aber dann habe ich mich gestern mit den GDNF-Adeno-Botenstoffen beschäftigt und eine neue amyloidogene Variante auf die Botenstoffe gepfropft. Eben habe ich mit dem Elektrosprayspektrometer die Masse bestimmt. Und sie translatieren, Oscar. Sie sind alle enzymatisch aktiv und bilden intakte Disulfidbindungen aus.«
»Es ist wundervoll, dir zuzuhören.«
»Sie translatieren in vivo! Das ist ein viel schonenderer Eingriff als die plumpe, altmodische Gentherapie. Das war der kritische, limitierende Faktor; man brauchte eine billige Methode für die Übertragung. Aber wenn wir das mit den Amyloiden und auch mit Dopamin und neurotrophen Faktoren schaffen… Ich meine, all diese Informationen auf lebendes Hirngewebe zu transferieren… Also, was das bedeutet, brauche ich dir wohl nicht zu erklären.«
»Nein, nein«, versicherte ihr Oscar, »auf dem Gebiet bin ich firm, glaub mir.«
»Bellotti und Hawkins verwenden freilich autosomale Amyloidose, deshalb könnte es sein, dass sie weiter sind als ich. Und jetzt halten sie im AMAC in Boston einen Vortrag.«
»Dann solltest du unbedingt nach Boston fliegen«, sagte Oscar, »es kommt gar nicht infrage, dass dir ein Schmarotzer wie Bellotti zuvorkommt! Ich regle alles für dich, jetzt gleich. Mach dir wegen der Reisespesen keine Sorgen. Mein Team wird dir einen Flug nach Boston buchen. Im Flugzeug hast du Zeit, an deiner Präsentation zu feilen. Wir besorgen dir eine Suite im Tagungshotel und lassen dir das Essen aufs Zimmer bringen, um Zeit zu sparen. Du solltest die Gelegenheit beim Schopfe packen, Greta. In dem Labortrubel kommst du doch nicht zum Nachdenken.«
Der Vorschlag schien ihr zu gefallen. »Also…«
Die Tür zum Raum 358 ging auf, und eine Schwarze in einem quietschenden, motorbetriebenen Rollstuhl kam hereingefahren. Ihr Haarschopf war schmutziggrau, und sie hatte mehrere grüne Plastikmülltüten dabei.
»Ich verstehe, worum es geht«, sagte Oscar ins Handy, während er sich vorsichtig von der Tür entfernte. »Boston ist genau das Richtige.«
»Hallo!« sagte die Frau im Rollstuhl und schwenkte die Hand. Oscar verdeckte das Mikrofon des Handys und nickte höflich.
Die Schwarze sprang aus dem Rollstuhl hoch, schaltete ihn ab und hielt die Tür auf. Drei Weiße stürmten in den Raum, bekleidet mit Overalls, Stiefeln und zerfledderten Strohhüten. Das Haar hatten sie blau gefärbt, im Gesicht hatten sie die Kriegsbemalung der Nomaden, und alle trugen Sonnenbrillen. Der eine hatte eine gewaltige Schubkarre voller Kabel und Flachbildschirme dabei, die anderen beiden schleppten große khakifarbene Werkzeugkästen.
»Glaubst du wirklich, die Fibrillen sind heiß genug?« wollte Greta wissen.
»Fibrillen sind extrem heiß.«
Die Frau mit dem Rollstuhl nahm die scheußliche Perücke ab, unter der ordentlich geflochtenes Haar zum Vorschein kam. Dann schüttelte sie den zerlumpten Kaftan ab. Darunter war sie mit einem marineblauen Rock, blauer Weste, Seidenbluse und Strümpfen bekleidet.
Die drei Techniker machten sich daran, auf der vom Schweißen versengten Werkbank ein Konferenznetzwerk zu installieren.
»Ich bin Oscar Valparaiso«, verkündete Oscar. »Ich gehöre dem Ausschuss an.«
»Sie kommen zu früh«, sagte die Frau. Aus einem der Müllbeutel holte sie einen Mehrfachstecker und ein neues Paar Schuhe hervor.
»Ich freue mich auf einen Neuanfang.« Oscar sprach wieder ins Handy. »Okay. Okay. Ist gut. Ich freue mich, dass es klappt. Lana und ich werden uns um alles kümmern. Bis dann.« Er knüllte das Handy zusammen und stopfte es sich in den Ärmel.
»So«, sagte er laut. »Und wie heißen Sie?«
»Chris«, antwortete die Frau und strich sorgfältig eine Naht glatt. »Ich bin der Ausschuss-Sysop.« Sie lächelte. »Bloß der Sysop.«
»Und das ist Ihr Team?«
»Ich habe kein Team. Ich bin eine Angestellte der Besoldungsgruppe 5. Die Männer sind Netz-Subunternehmer, sie wohnen hier. Dieser Versammlungsraum ist schon ein wenig seltsam… Ich meine, wir sind jahrelang im Dirksen Senate Building zusammengekommen. Aber das Übergangsteam des Präsidenten hat unsere alten Büros requiriert. Daher befindet sich der Wissenschaftsausschuss des Senats gegenwärtig in einer Art Übergangszustand zwischen zwei dauerhaften Unterbringungen.«
»Ich verstehe.«
»Dieser Raum war vom Raumverteilungsserver als leerstehend gemeldet worden, deshalb hat man ihn uns zugeteilt. Das Problem dabei ist, dass das ganze Gebäude seit drei Jahren besetzt ist, obwohl es immer noch auf dem Server geführt wird. Und wir sind kein Notstandsausschuss, wir können das Gebäude nicht per Gerichtsbeschluss räumen lassen. Wir stehen zu weit unten in der Hierarchie, um eine Zwangsräumung veranlassen zu können.«
»Na ja, wenigstens ist der Raum hübsch groß«, sagte Oscar freundlich.
»Das stimmt!« Sie lächelte ihn an.
»Und wir beide, das ist ja schon was für den Anfang. Ihre Rollstuhlverkleidung ist übrigens wirklich gut.«
»Bei den Straßensperren und den ständigen Ausweiskontrollen erweist sie sich jedenfalls als ausgesprochen nützlich.«
»Wie ich sehe, sind Sie eine waschechte Washingtonerin, Chris.«
»Ja, so bin ich – südliche Effizienz und nördlicher Charme.« Chris stupste einen ihrer Helfer an. »Nein, das ist der Monitorausgang! Der Stecker ist sechzehnpolig, okay? Lassen Sie mich das machen!« Sie wandte sich an den zweiten Mann. »Holen Sie den Router aus dem Beutel. Den Router und einen Gummischrubber. Und einen Divot. Zwei Datendivots. Nein, nicht den! Geben Sie mir den grünen.«
Oscar war ganz bezaubert von ihr. »Haben Sie die Metallskulpturen gemacht?«
»Die sind von meinem Freund. Er bewacht den Raum für uns, weil er seinen Arbeitsplatz jederzeit verlassen kann.« Sie sah auf. »Das ist wie Multitasking, verstehen Sie?«
»Ich liebe Multitasking.« Oscars zweites Handy klingelte. Er nahm es aus der Westentasche. »Was? Ja, Lana, buchen Sie ihr einen Flug nach Boston. Für die AMAC-Konferenz. Nein, ich weiß nicht, was die Abkürzung bedeutet. Machen Sie einfach eine Suchanfrage.«
»Wo ist der Mediator? Holen Sie die Schallwände«, meinte Chris. Sie musterte ihn von der Seite.
»Melden Sie sie für die ganze Konferenz an«, sagte Oscar, trat einen Schritt näher und hob effektheischend die Stimme. »Yosh soll sich darum kümmern. Und denken Sie ans Essen. Sie isst gern thailändisch. Burmesisch? Burmesisch ist auch gut, aber denken Sie an ihre Allergien.«
»Das läuft über DMAC? In der Vierzehnten ist ein DMAC-Mast. Mal sehn, ob er arbeitet.«
»DMAC arbeitet«, mischte Oscar sich ein. »Mein Handy läuft über DMAC.« Er schaltete wieder um. »Lana, buchen Sie ihr ein Zimmer im Konferenzhotel. Achten Sie auf Luftfilter. Und auf Blumen. Jeden Tag frische Blumen.«
»Haben Sie den Kompressor auf DNC eingestellt?« fragte Chris, ohne Oscar aus den Augen zu lassen. »Man kann den Router nicht laden ohne CMV. Ist das der EDFA? Nehmen Sie den Paketschrubber.«
»Buchen Sie das Zimmer für einen Tag«, sagte Oscar. »Für zwei Tage. Ja. Nein. Ja. Okay. Danke.« Er knüllte das Handy zusammen.
»Nein, wackeln Sie mal dran«, sagte Chris. »Es liegt am Kabel.«
»Es liegt immer am Kabel«, meinte Oscar.
Auf den Bildschirmen baute sich flackernd ein Testbild auf. »Prima«, sagte Chris. »Wir sind drin. Wo ist die Imageverbesserung?«
»Habe keine dabei«, brummte der Subunternehmer. »Davon haben Sie nichts erwähnt.«
»Ich wusste nicht, dass der neue Mann leibhaftig anwesend sein würde.«
»Ich komme auch ohne Imageverbesserung zurecht«, warf Oscar ein. »Ich habe mein eigenes Make-up dabei.«
Chris gewährte ihm einen kostbaren Moment ihrer Aufmerksamkeit. »Sie sind sehr konservativ, Mr. Valparaiso.«
»Make-up ist ein wichtiger Bestandteil von Mr. Valparaisos Erbe.« Sie hatten die gleiche Wellenlänge. Sie verstanden sich hervorragend auf nonverbaler Ebene. »Wo sind die anderen alle, Chris? Ich dachte, wir wollten uns heute hier treffen.«
Chris straffte sich erschöpft. »Ja, das Transparenzgesetz schreibt öffentliche Sitzungen vor, aber das ist kein Senatstreffen. Das ist bloß eine Mitarbeitersitzung. Hier sind keine Mitglieder einer gesetzgebenden Körperschaft anwesend.«
»Ich dachte, bei Mitarbeitersitzungen trifft man sich persönlich.«
»Eigentlich ist das eher eine informelle Online-Besprechung.«
Oscar runzelte wohldosiert die Stirn. »In meinem Terminkalender ist die Sitzung ausdrücklich als persönliches Treffen vorgemerkt.«
»Also, während der Übergangsphase sind wir gezwungen, Zugeständnisse zu machen… Hören Sie, ich weiß, das klingt albern. Aber die Stabsangehörigen gehen nur ungern in ein Gebäude wie dieses. Sie haben die Bezeichnung ›Sitzung‹ gewählt, damit die Zeit berechnet wird. In Wirklichkeit handelt es sich bloß um eine Besprechung.« Sie lächelte bescheiden. »Ich bin bloß der Sysop, wissen Sie. Mein Fehler ist das nicht.«
»Es ist mir schon klar, dass das nicht Ihr Fehler ist, Chris. Aber wenn es bloß um eine Besprechung geht, dann wird man das Ganze nicht ernst nehmen. Dann kommen wir zu keinen Ergebnissen.«
»Auch bei einer Besprechung kann man zu Ergebnissen kommen.«
»Aber ich will keine Besprechung. Wenn wir unverbindlich fachsimpeln wollten, könnten wir das auch bei ein paar trockenen Martinis tun.«
Die Tür ging auf. Drei Männer und eine Frau traten in den Raum. »Das ist Mr. Nakamura«, sagte Chris erleichtert. »Der kann Ihnen bestimmt weiterhelfen.«
Nakamura blieb stehen, las vierzig Sekunden lang den Bildschirm seiner Sekretärin ab, machte sich über Oscars Identität und seine Akte kundig. Dann trat er mit ausgestreckter Hand energisch vor. »Schön, dass Sie wieder da sind, Oscar! Wie war die Rückreise?«
»Angenehm.«
»Wo ist Ihr Team?« Nakamura blickte sich in dem schwarz verkohlten Raum um. »Keine Mitarbeiter?«
»Ich habe einen sicheren Tourenbus. Deshalb habe ich mein Team dort zurückgelassen und mich absetzen lassen.«
Nakamura blickte seine beiden Bodyguards an, die den Raum mit kleinen Handscannern nach Abhörvorrichtungen absuchten.
»Ein sicherer Tourenbus. Ich wünschte, Sie hätten mich angerufen. Dann wäre ich mit Ihnen mitgefahren und hätte nicht diese beiden Schläger anheuern müssen.«
Oscar fühlte sich durch diese offenkundige Lüge geschmeichelt. »Es wäre mir eine Freude gewesen, Sir.«
»Ich bin ein altmodischer Mensch«, erklärte Nakamura. »Der Kongress bezahlt mich, deshalb komme ich gern zur Arbeit.« Nakamura war der dienstälteste Stabsangehörige. Er hatte eine erstaunliche Anzahl von Säuberungen, Skandalen und Senatsumwälzungen überlebt – selbst wiederholte Feldzüge und Head-Hunting-Attacken seitens der Notstandsausschüsse.
Nakamura gehörte dem Rechten Traditionsblock an und war Mitglied bei den Wirtschaftsliberalen. Die WiLis hatten einen Wähleranteil von zwölf Prozent, mehr als ihre Juniorpartner, die Christlich Demokratische Union und die Antifeministische Frauenpartei. Oscar hielt die Politik der WiLis für grundlegend falsch, doch zumindest waren sie konsequent in ihren Fehlern. Die WiLis waren Spieler.
Nakamura berührte Oscar an der Schulter, ein politisches Abtasten. »Ich bin gespannt auf Ihren Bericht über das Labor in Buna, Oscar. Sie waren dort bestimmt sehr fleißig.«
»Wir leben in schwierigen Zeiten, Sir.«
»Ein Grund mehr, während der Übergangszeit der neuen Administration auf Stabilität zu achten.«
»Ich bin völlig Ihrer Meinung«, konterte Oscar. »Kontinuität und eine starke Hand bei der Verwaltung des Laboratoriums wären gegenwärtig ausgesprochen hilfreich. Umsicht. Keine übereilten Schritte.«
Nakamura nickte reflexhaft, dann runzelte er die Stirn. Oscar fürchtete bereits, er habe den Bogen überspannt. In den Datenbanken waren öffentliche Auftritte Nakamuras aus zwanzig Jahren gespeichert. Oscar hatte sich die Mühe gemacht, seine Sprachmuster analysieren, bewerten und ordnen zu lassen. Nakamura verwendete besonders gern die Begriffe ›Umsicht‹ und ›Kontinuität‹ in Verbindung mit ›hilfreich‹ und ›eine starke Hand‹, mit neuerdings stark ansteigender Tendenz. Nakamura verbal zu imitieren war ein billiger Netz-Trick, doch wie die meisten solcher Tricks funktionierte er zumeist.
Acht weitere Personen betraten den Raum. Es handelte sich um die Ausschussangehörigen Namuth und Mulnier mit einem Gefolge von sechs Mitarbeitern, die Pizzas, Kaffee und Falafel dabei hatten. Der appetitanregende Duft des Fastfood verdrängte den Brandgeruch.
Nakamura nahm dankbar ein Pita-Sandwich entgegen. Jetzt, da sich der scheußliche Raum mit bekannten Gesichtern gefüllt hatte, fühlte sich der leitende Angestellte sichtlich wohler. »Namuth und Mulnier sind in Ordnung«, murmelte er. »Angestellte, die sich die Mühe machen, persönlich an einer Besprechung teilzunehmen… die sind meistens in Ordnung.«
»Eine Frage, Sir – ist das nun eine Besprechung oder eine Sitzung?«
Nakamura kaute und schluckte mit gequälter Miene. »Nun, bei einer richtigen Sitzung müssten selbstverständlich Vertreter der gesetzgebenden Körperschaft anwesend sein. Oder zumindest deren leitende Mitarbeiter, die Stabschefs beispielsweise. Dann gibt es da noch die Ausschusstreffen und die Anhörungen des Ausschusses und der Unterausschüsse, im Allgemeinen in Anwesenheit vereidigter Zeugen und aller Beteiligten… Der Trend geht in der modernen Legislative jedenfalls dahin, die Gesetzentwürfe und die Ausarbeitung des Haushalts den Ausschüssen zu überlassen. Senatsanhörungen sind inzwischen auf Mittler angewiesen und stark formalisiert. Das hat zur Folge, dass die Mitarbeiter der Ausschüsse eigene Sitzungen abhalten müssen. Zudem ist es notwendig, außer den formellen Sitzungen auch noch solche Besprechungen abzuhalten.«
Nakamura betrachtete sein in sich zusammenfallendes Sandwich und stopfte mit der Fingerspitze ein paar Bambussprossen hinein. »Wir bezeichnen diese Zusammenkunft als Sitzung, damit wir Spesen und Reisekosten erstattet bekommen. Und um besser geschützt zu werden. Wie Sie bemerkt haben werden, ist das Gebäude äußerst unsicher.«
Als er sicher war, dass Nakamuras Lippen zum Stillstand gekommen waren, beugte Oscar sich leicht vor. »Ich weiß, dass wir solange, bis der Senat zusammentritt, keine formellen Anhörungen abhalten können. Als neuer Mitarbeiter möchte ich mich der Herausforderung erst dann stellen, wenn ich besser im Bilde bin. Offen gesagt hoffe ich darauf, dass Sie mir hilfreich unter die Arme greifen und die Kontinuität sicherstellen werden.«
Nakamura quittierte diese Bemerkung mit anmutigem Kopfnicken.
»Ich habe mir das Laboratorium angeschaut und Meinungen gesammelt… Seit Dougals Missgeschick brodelt dort die Gerüchteküche. Die Moral ist schwankend.«
» ›Schwankend‹? «
»Ich glaube, die Lage würde sich wieder stabilisieren, wenn aus Washington beruhigende Signale kämen.«
Nakamura beäugte seine Kollegen. Namuth und Mulnier schütteten Eiskaffee in sich hinein, tippten nachlässig gegen Bildschirme und beachteten sie nicht weiter. Oscar, der Namuth und Mulnier nach eingehendem Studium ihrer Akte abgeschrieben hatte, wunderte dies nicht.
Nakamura war aus härterem Holz geschnitzt. »Was werden Sie vorschlagen?«
»Ich glaube, wir sollten dem gegenwärtigen Direktor das Vertrauen aussprechen. Ein Zeichen der Unterstützung seitens des Senatsausschusses – das könnte bei ihm Wunder wirken.«
Nakamura legte das Sandwich weg. »Also, das geht nicht.«
»Wieso nicht? Wir müssen etwas unternehmen. Die Autorität des Direktors bröckelt merklich. Sollte die Lage außer Kontrolle geraten, ist das Labor paralysiert.«
Nakamuras Miene verdüsterte sich. »Junger Mann, Sie haben nie mit Senator Dougal zusammengearbeitet. Ich schon. Die Vorstellung, wir könnten einem seiner Jasager quasi eine Blankovollmacht ausstellen… und das ausgerechnet jetzt, da die neue Administration die Arbeit aufnimmt… Nein, das geht nicht.«
»Sie sagten, in der gegenwärtigen Situation würden Sie Wert auf Kontinuität legen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass die Kontinuität von uns ausgehen sollte.«
»Na schön«, sagte Oscar und nahm mit gespielter Enttäuschung die vorbereitete Rückzugsposition ein, »vielleicht sollte ich meine Erwartungen zurückschrauben. Direktor Felzian befindet sich in einer schwierigen Lage. Was genau können wir für den Mann tun? Ohne Dougals Unterstützung ist seine Stellung gefährdet. Man könnte ihn denunzieren. Man könnte eine offizielle Untersuchung veranlassen. Er könnte sogar angeklagt werden.«
»Angeklagt?« Nakamura verdrehte die Augen. »Aber gewiss nicht in Texas!«
»Er könnte in Louisiana angeklagt werden. So viele seltene Tiere sind auf dem Sammlermarkt verschwunden… Seltene Tiere geben fotogenes Beweismaterial ab… Der Gouverneur von Louisiana ist ein hochinteressanter Fall. Die Gerichte tanzen nach seiner Pfeife. Das ist wirklich nicht der passende Zeitpunkt, bei einem staatlichen Labor Uneinigkeit und Schwäche zu zeigen.«
»Junger Mann, Sie sind Gouverneur Huguelet offenbar noch nie begegnet…«
»Doch, Sir, das bin ich. Ich habe vergangene Woche mit ihm zu Abend gespeist.«
Nakamura fiel die Kinnlade herab. »Was Sie nicht sagen.«
»In diesem Winkel der Erde fällt es schwer, ihm nicht über den Weg zu laufen. Er hat sich mir gegenüber mit großer Offenheit über seine Absichten geäußert.«
Nakamura seufzte. »Das würde Huey nicht wagen.«
»Weshalb sollte er davor zurückschrecken, ein staatliches Labor zu zerstören, wenn er bereits einen Luftwaffenstützpunkt belagert?«
Nakamura runzelte verärgert die Stirn.
Oscar senkte die Stimme noch weiter. »Huey unterstützt seit jeher die Gentechnik und die Hirnforschung. Das Labor bietet genau das, was er braucht. Die Talente, die Daten und die Proben. Außerdem war Huey an der Gründung des Labors maßgeblich beteiligt. In der dortigen alten Garde hat er noch viele Verbündete. Es liegt auf der Hand, welchen Kurs er verfolgen wird.«
»Aber er hat den staatlichen Einfluss dort immer voll und ganz unterstützt. Es ist ja nicht so, dass wir das Laboratorium vergessen hätten. Wir haben es nicht verlegt. Wir sind nicht wie diese Gauner im Notstandsauschuss.«
Oscar schwieg. Dann zuckte er die Achseln. »Bin ich etwa maßlos? Ich schlage lediglich die kleinste Maßnahme vor, mit der wir den Status quo erhalten könnten. Ist der Ausschuss der Meinung, dass wir mit dem Status quo unzufrieden sind?«
»Nein, natürlich nicht. Nun ja… einige schon. Andere nicht.«
Oscar zeigte sich angemessen skeptisch. »Sie sind sich doch im Klaren darüber, dass dies meine erste Anstellung bei diesem Ausschuss ist. Es macht mir nichts aus, wenn ich heute allein dastehe.«
»Sicher nicht.«
»Ich möchte mich nicht in Szene setzen. Ich bin ein Teamarbeiter.«
»Gewiss.«
Oscar berührte Nakamura sachte am Arm. »Sie glauben doch hoffentlich nicht, mir würde es Spaß machen, in dem Ausschuss isoliert zu werden. Ich hätte auch auf dem Hill sein können, im Zentrum der Macht, anstatt mich sechs Wochen lang in einer luftdichten Kuppel einsperren zu lassen. Ich werde heute meinen Zwischenbericht vorlegen, aber sollte man mich nach Texas zurückschicken, ohne dass im Ausschuss Einvernehmen über die weitere Vorgehensweise besteht, werde ich das sehr krumm nehmen. Ist das unvernünftig von mir?«
»Nein. Das ist nicht unvernünftig. Ich habe Verständnis für Ihre Lage. Ob Sie’s glauben oder nicht, ich war auch einmal ein junger Angestellter.«
»Sir, der Bericht wird nicht sehr amüsant ausfallen. Zumal was die finanziellen Schlussfolgerungen betrifft. Die Lage könnte dort außer Kontrolle geraten. Es könnten sogar äußerst schwerwiegende Probleme auftreten. Am billigsten und einfachsten wäre es, das Labor zu schließen und Green Huey die Überreste aufsammeln zu lassen.«
Nakamura zuckte zusammen.
Oscar ließ nicht locker. »Aber die Entscheidung darüber liegt nicht bei mir. Und sie fällt sicherlich nicht in meinen Verantwortungsbereich. Sollte etwas von meinem Bericht durchsickern und Folgen zeitigen, dann möchte ich nicht, dass man hinterher sagt, ich verfolgte persönliche Ziele. Oder Senator Bambakias habe in dieser Angelegenheit unredliche Absichten. Ich habe guten Glaubens gehandelt und mich um Objektivität bemüht. Ich betrachte es als meine Aufgabe, dem Ausschuss Fakten vorzulegen. Aber sollte irgendwas passieren, dann will ich deswegen nicht gekreuzigt werden.«
Oscar hob die Hand, mit der Handfläche nach vorne weisend. »Ich will meinen Kollegen damit keine Boshaftigkeit unterstellen! Ich erwähne bloß eine Binsenwahrheit – es ist stets am einfachsten, den Neuen auflaufen zu lassen.«
»Ja, das stimmt«, sagte Nakamura. »Sie haben die Situation gut erfasst. Aber Sie sind nicht der einzige Neue im Team.«
»Nein?«
»Nein. Dem Wissenschaftsausschuss gehören drei neue Senatoren an, und alle haben ihre Mitarbeiter mitgebracht. Und die beiden anderen Neuen haben es bislang nicht für nötig befunden, auch nur zu einer einzigen Besprechung persönlich zu erscheinen. Sie loggen sich von ihren Penthousewohnungen in Arlington ein, wo sie damit beschäftigt sind, ihren Vorgesetzten in den Arsch zu kriechen.«
Oscar runzelte die Stirn. »Das ist unprofessionelles Verhalten.«
»Das sind keine Profis. Man kann sich nicht auf sie verlassen. Auf mich ist Verlass und auf Mulnier. Mulnier ist zwar nicht mehr der Gleiche wie vor zehn Jahren – aber wenn Sie aufrichtig zu mir sind, wenn Sie es gut meinen und wenn Sie sich hundertprozentig für den Ausschuss einsetzen, also, dann haben Sie Rückendeckung. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
»Mehr verlange ich gar nicht.« Oscar trat einen Schritt zurück. »Ich bin froh, dass wir zu einer Übereinkunft gelangt sind.«
Nakamura sah auf die Uhr. »Bevor wir heute anfangen, möchte ich Ihnen sagen, Oscar, dass Ihr persönliches Problem hier kein Thema ist. Solange ich diesem Ausschuss Vorsitze, kommt das Thema nicht auf den Tisch.«
Bambakias’ Haus lag in der New Jersey Avenue, südlich des Capitol Hill. Oscar traf dort ein, als sich gerade ein Medienteam verabschiedete. Die New Jersey Avenue wurde ständig überwacht. In dieser Gegend kam es nur selten zu Zwischenfällen, und die städtische Infrastruktur war noch intakt. Das Haus war ein historisches Bauwerk, über zweihundert Jahre alt. Es war zu klein für das Ehepaar Bambakias und ihren großen Mitarbeiterstab, aber Lorena Bambakias war Innenarchitektin in einer überbevölkerten Welt. Sie war es gewohnt, Kompromisse zu schließen.
Als Wahlkampfprofi hatte Oscar es sich zum Prinzip gemacht, sich niemals mit der Person anzulegen, die mit dem Kandidaten schlief. Die Gattin des Kandidatin spielte beim Wahlkampf notwendigerweise eine wichtige Rolle. Lorena war die geborene Spielerin, für gewöhnlich aber fügsam. Sie war fügsam, solange man ihren Ratschlägen ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ und solange sie wusste, dass sie ein starkes Blatt in Händen hielt. Jeder, der über Oscars persönliches Problem Bescheid wusste, glaubte, er verfüge über einen tödlichen Trumpf. Das war in Ordnung. Bislang hatte er Lorena noch in keine Situation gebracht, in der sie das Bedürfnis verspürt hätte, ihren tödlichen Trumpf auszuspielen.
Aufgrund des Hungerstreiks leuchteten Lorenas Augen, und ihre olivfarbene Haut war so straff und glatt, dass sie beinahe wie laminiert wirkte. Lorena war keine Aristokratin – sie war die Tochter des Geschäftsführers einer Ladenkette für Gesundheitsnahrung aus Cambridge –, doch ihre Magerkeit und das exquisite Video-Make-up verliehen ihr die unirdische Ausstrahlung eines Porträts von Gainsborough.
Geschwächt vom Fasten ruhte sie auf einem Sofa mit gedrechselten Armlehnen und gelbem Seidenbezug.
»Es ist schön, dass Sie sich die Zeit für einen Besuch nehmen, Oscar«, sagte Lorena und räkelte sich ein wenig. »Wir haben nur selten Gelegenheit, miteinander zu sprechen.«
»Das Haus ist wundervoll«, sagte Oscar. »Ich bin gespannt, wie es aussieht, wenn es fertig ist.«
»Ach, das ist halt mein Job«, erwiderte Lorena. »Ich wünschte, ich könnte sagen, es wäre wirklich aufregend – aber das ist bloß ein Design-Job wie andere auch. Ich trauere dem Wahlkampf hinterher.«
»Wirklich? Das ist nett von Ihnen.«
»Es war so aufregend, sich unters Volk zu mischen. Zumindest haben wir damals richtig gegessen. Aber jetzt… na ja, jetzt sind wir Entertainer. Wir spielen Senator und Gemahlin, und wir müssen sechs lange Jahre in diesem elenden Dreckloch leben, und wir planen, die High Society aufzurollen.« Sie schaute sich im Empfangszimmer um, musterte die pfirsichfarbenen Wände mit dem nachdenklichen Blick eines Automechanikers. »Mein eigener Geschmack geht in die Richtung der Transzendenten Moderne, aber das Haus halte ich im Föderationsstil. Eine Menge Hepplewhite… schwarzes Walnussholz… Sekretäre und Esszimmerstühle mit Wappenlehne. Es gab ein paar gute Sachen in der Periode, wenn man von dem geschmacklosen Neoklassizismus Abstand nimmt.«
»Eine ausgezeichnete Wahl.«
»Ich will hier eine Atmosphäre schaffen, die verbindlich und ansprechend wirkt. Sehr zurückhaltend, im Stil der amerikanischen Republik, aber weder kitschig noch im Kolonialstil. Eher im Bostonstil, verstehen Sie? Aber nicht zu viel davon. Keine Unabhängigkeitspolitik, kein Paul Revere, keine Boston Tea Party. In einer solchen Lage muss man Kompromisse machen. Man muss Opfer bringen. Man kann nicht alles auf einmal haben. Eleganz bedeutet Zurückhaltung.«
»Ja, natürlich.«
»Ich beabsichtige, meinen Binturong zurückzugeben.«
»O nein«, sagte Oscar. »Doch nicht Stickley, den Binturong.«
»Ich weiß, Sie haben sich große Mühe gegeben, mir Stickley zu besorgen, und er ist auch wirklich ganz reizend. Aber ich habe hier in Washington einfach keinen Platz, ein seltenes Tier auszustellen. Ein frei zugängliches Terrarium, das wäre nett gewesen, und ich hatte auch schon gute Ideen dazu. Aber ein Tierklon passt einfach nicht hierher. Ja, wirklich. Er passt nicht in die Periode. Er lenkt ab.«
»Also, machbar ist das schon«, meinte Oscar umsichtig. »Ich glaube, bislang hat noch niemand ein Tier ans Laboratorium zurückgegeben. Das wäre eine nette Geste.«
»Ich habe an einen kleinen Klon gedacht. Vielleicht eine Fledermaus oder ein Maulwurf oder… Nicht, dass mir Stickley keinen Spaß gemacht hätte. Er benimmt sich sehr gut. Aber wissen Sie was? Er ist irgendwie seltsam.«
»Das liegt an dem Hirnimplantat, das man ihm im Labor verpasst hat«, sagte Oscar. »Es dreht sich alles um die Aggressivität, das Fressen und die Ausscheidung. Wenn man diese drei Verhaltensweisen unter Kontrolle hat, kann man in Frieden mit wilden Tieren zusammenleben. Zum Glück ähneln sich diese tief verwurzelten Verhaltensmuster bei den meisten Säugetieren.«
»Ich nehme an, das gilt auch für Menschen.«
»Ja, natürlich.« Oscars Handy klingelte. Er schaltete es höflich aus.
»Die neurale Steuerung der Essgewohnheiten ist jedenfalls weit entwickelt«, sagte Lorena. »Ich nehme gegenwärtig Appetitzügler ein. Die wirken auch übers Gehirn.«
»Die Hirnforschung ist im Moment ein heißes Thema.«
»Ja. Neurowissenschaft klingt sehr attraktiv.«
Sie berichtete ihm, was sie über Greta wusste. Natürlich wusste Lorena über Greta Bescheid. Auch über Clare war sie im Bilde gewesen. Clare hatte nämlich für eine gute Berichterstattung gesorgt. Daher stand Lorena eher auf Clares Seite. Eigentlich aber musste sie ein Einsehen haben. Schließlich hatte Clare ihn verlassen…
Lorenas Handy klingelte. Sie nahm den Anruf entgegen. »Ja? Wie? O je. Du meine Güte. Und wie hat Alcott die Nachricht aufgenommen? Ach du meine Güte. Das ist sehr betrüblich. Sind Sie auch ganz sicher? Wirklich? Ist gut. Vielen Dank.« Lorena zögerte einen Moment. »Möchten Sie vielleicht mit Oscar Valparaiso darüber sprechen? Wir trinken gerade Tee miteinander. Nein? Also, dann.« Sie unterbrach die Verbindung.
»Das war Leon Sosik, unser Stabschef«, erklärte sie und steckte das Handy in den weit geschnittenen Ärmel. »Im Hungerstreik gibt es eine neue Entwicklung.«
»Ja?«
»Es geht um die Luftwaffenbasis. Ein Feuer ist dort ausgebrochen. Irgendein Gift wurde freigesetzt. Der ganze Stützpunkt wird evakuiert.«
Oscar drückte den Rücken gegen die geschwungene Mahagonilehne. »Hab ich richtig gehört, der Stützpunkt wird evakuiert?«
»Die Unionstruppen ziehen sich zurück. Sie rennen um ihr Leben. Natürlich rücken jetzt diese abscheulichen Prolos nach, sie klettern einfach über den Zaun.« Lorena seufzte. »Das bedeutet, es ist vorbei. Das ist das Ende. Aus und Schluss.« Sie schwenkte die Beine auf den Boden, setzte sich auf und presste sich das schlanke Handgelenk gegen die Stirn. »Gott sei Dank.«
Oscar streifte sich übers frisch frisierte Haar. »Mein Gott, wie geht es jetzt weiter?«
»Machen Sie Witze? Mann, ich werde etwas essen.« Lorena nahm eine Glocke vom Servierwagen und läutete. Eine Angestellte tauchte auf – Oscar hatte sie noch nie gesehen. »Elma, bringen Sie mir Teekuchen. Nein, lieber ein paar Petits Fours und Erdbeeren mit Schokolade. Und bringen Sie mir… ach, was soll’s, bringen Sie mir ein großes Sandwich mit Roastbeef.« Sie blickte Oscar an. »Möchten Sie auch etwas?«
»Schwarzer Kaffee und Nachrichten wären nett.«
»Gute Idee.« Sie hob die Stimme. »System?«
»Ja, Lorena«, antwortete der Hauscomputer.
»Bitte schick den Bildschirm runter.«
»Ja, Lorena, sofort.«
»Für ein Full-Service-Team ist hier kein Platz«, meinte Lorena entschuldigend. »Deshalb habe ich vieles automatisiert. Das System ist noch im Babystadium, es ist noch ganz neu und dumm. Ganz gleich, wie viel Mühe man sich gibt, ein wirklich smartes Haus gibt es nicht.«
Ein Fernsehschrank aus Walnussholz kam die mit Teppich ausgelegte Treppe herunterspaziert.
»Ein hübscher Schrank«, sagte Oscar. »Reaktive Möbel im Föderationsstil habe ich noch nie gesehen.«
Am Fuß der Treppe verharrte der Fernseher und ließ die räumlichen Gegebenheiten auf sich wirken. Nach einer kurzen Denkpause krümmten zwei Stühle die geschwungenen Beine und machten spinnengleich Platz. Lorenas Couch vollführte einen Tangoschritt. Der Servierwagen rollte mit einer kleinen Melodie beiseite. Der Fernseher baute sich so vor Oscar und Lorena auf, dass sie gute Sicht hatten.
»Du meine Güte, das ist ja alles reaktiv«, sagte Oscar. »Ich hätte schwören können, die Stuhlbeine wären aus Holz.«
»Sie sind aus Holz. Allerdings handelt es sich um spezialbehandeltes Lignin.« Lorena zuckte die Achseln. »Stil hin oder her, ich möchte schließlich nicht wie ein Barbar leben.« Als sie den Arm hob, löste sich eine vergoldete Fernbedienung aus der Wand und flog ihr in die Hand. Sie warf Oscar die Fernbedienung zu. »Würden Sie navigieren? Suchen Sie gute Nachrichten. Mir liegt das nicht so.«
»Rufen Sie noch mal Sosik an und fragen Sie ihn, was er gerade sieht.«
»Oh. Ja, natürlich.« Sie lächelte schwach. »Man sollte nicht surfen, wenn man einen Piloten hat.«
Hueys PR-Team hatte sich der Angelegenheit bereits angenommen. Ein Umweltbeauftragter des Bundesstaates Louisiana verbreitete die offizielle Version von der ›Katastrophe‹. Ihm zufolge hatte der ›aufgegebene Luftwaffenstützpunkt‹ die Sicherheitsbestimmungen vernachlässigt. Ein Feuer sei ausgebrochen und habe auf ein Lager mit nichttödlichen Aerosolen übergegriffen. Es handele sich um Panik verbreitende Desorientierungsmittel. Die ungiftigen und geruchlosen Stoffe dienten der Räumung von Dritte-Welt-Straßen von Aufständischen. Schnitt zu einem Sanitätszelt mit zitternden, geistig verwirrten Soldaten, die in Kontakt mit den psychotropen Aerosolen gekommen waren. Einheimische wiesen ihnen Pritschen zu und verteilten Decken und Beruhigungsmittel. Die Soldaten bekamen offenbar die denkbar beste Versorgung.
Oscar trank einen Schluck Kaffee. »Unglaublich.«
»Ich nehme an, dieses Schauspiel hat mit der Realität vor Ort nur wenig zu tun«, sagte Lorena mit vollem Mund.
»Irgendeine Verbindung muss es geben. Huey ist zu schlau, um das alles bloß zu arrangieren. Er hatte Agenten im Stützpunkt. Irgendjemand hat Feuer gelegt und die Basis mit ihren eigenen Waffen ausgeschaltet. Das war Sabotage. Huey hat die Geduld verloren, und da hat er sie vergiftet.«
»Er hat Unionstruppen vorsätzlich Giftgas ausgesetzt.«
»Mag sein, aber das wird man ihm schwerlich nachweisen können.«
»Ich kann nachvollziehen, dass Leute einem in den Rücken fallen«, sagte Lorena und verschlang eine Schokoladenerdbeere. »Was ich nicht begreife, ist, wenn sie einem von vorne das Messer in den Bauch rammen. Das ist pures Mittelalter.«
Sie schauten aufmerksam zu und zappten weiter, wenn Sosik den Nachrichtenkanal wechselte. Die Europäer hatten hervorragende Luftaufnahmen von maskierten Prolos, die in den Stützpunkt eindrangen. Den Regulatoren machten die Aerosole anscheinend nichts aus.
Die Nomaden verschwendeten keine Zeit. Eine endlose Lastwagenkolonne fuhr in den Stützpunkt hinein – offenbar handelte es sich um große, umgebaute Tankwagen. Die Laster wurden von organisierten Arbeitsgruppen beladen. Die Prolos plünderten den Stützpunkt mit der dezentralisierten Effizienz von Ameisen, die eine tote Spitzmaus verspeisten.
»Ich möchte mal eine Vorhersage treffen«, sagte Oscar. »Morgen wird der Gouverneur seiner Besorgnis Ausdruck verleihen. Er wird Truppen entsenden, um ›die Ordnung wiederherzustellen‹. Die Soldaten werden den Stützpunkt abriegeln – nachdem die Prolos ihn leergeräumt haben. Wenn Washington nachfragt, was mit den Waffen passiert ist, sind sie längst fortgeschafft, und den Gouverneur trifft keine Schuld.«
»Weshalb tut Huey etwas so Verrücktes?«
»Er findet das ganz vernünftig. Er wollte den Stützpunkt einsacken. Als Gegenleistung für neugeschaffene Arbeitsplätze, als staatlichen Zuschuss. Die Notstandsausschüsse aber haben ihm die Unterstützung gestrichen. Sie haben ihn reingelegt und ausgebootet. Huey erträgt es nicht, gedemütigt zu werden, daher hat er sich zur Eskalation entschlossen. Erst die räuberischen Straßenblockaden. Dann die Stromausfälle. Dann die Belagerung durch Stellvertreter. Er hat die Schrauben systematisch angezogen, Schritt für Schritt. Und da ihn das alles nicht weiterbrachte, hat er sich einfach den ganzen Stützpunkt unter den Nagel gerissen.«
»Aber diese dreckigen Prolos können doch keinen Luftwaffenstützpunkt betreiben. Dazu ist seine ganze kleine Miliz nicht in der Lage.«
»Das stimmt, aber jetzt hat er die Daten. Modernste Flugelektronik, Chips, Software, Einsatzpläne und dergleichen… Das ist militärisch von allerhöchstem Wert. Sollte ihn die Regierung unter Druck setzen, stehen ihm ganz neue Möglichkeiten offen.«
»Oh. Ich verstehe.«
»Glauben Sie mir, das hat er alles bedacht. So ist er eben.«
Ein Roastbeefsandwich mit Senf, Garnierung und Sahnekartoffeln wurde gebracht. Lorena lächelte höflich, als sich die mit einer Schürze bekleidete Bedienstete in die Küche zurückzog. Sie hob eine Scheibe krustenloses Roggenbrot ab, betrachtete es eingehend und legte es mit zitternden Fingern wieder weg. »Alcott wird toben. Wir haben alles getan, um das zu verhindern.«
»Ich weiß.«
»Wir haben einfach nicht genug Aufmerksamkeit erregt. Wir haben einen riesigen PR-Rummel veranstaltet und standen kurz davor, die Partei zu sammeln und den Stützpunkt zu belagern. Huey war einfach zu schnell für uns. Alcott ist noch nicht mal vereidigt! Und nach seiner Amtseinführung haben wir es immer noch mit den Notstandsausschüssen zu tun. Von der Opposition ganz zu schweigen. Außerdem ist die Unionsregierung schlichtweg pleite…. Es sieht schlimm aus, Oscar. Wirklich schlimm.«
»Morgen fliege ich nach Boston. Wir denken uns etwas Neues aus. Der Hungerstreik ist jetzt beendet, aber dieser Schachzug hat mir nie so recht gefallen. Keine Bange. Sie müssen erst einmal wieder zu Kräften kommen. Das Spiel ist noch längst nicht aus.«
Sie blickte ihn dankbar an. Während sie das Sandwich verspeiste, sah er weiter Nachrichten.
Schließlich stellte sie den Teller weg und lehnte sich mit funkelnden Augen auf dem Sofa zurück. »Wie war Ihre erste Ausschusssitzung, Oscar? Ich habe ganz vergessen, Sie danach zu fragen. Waren Sie brillant?«
»Um Himmels willen, nein. Die können es nicht ausstehen, wenn man brillant ist. Dann schalten sie auf stur. Ich habe einfach solange meine Fakten und Zahlen runtergebetet, bis es ihnen langweilig wurde und sie abschalteten. Mittlerweile hatte der Vorsitzende die Stimmrechte eingesammelt. Als ich ihn dann um seine Hand bat, reichte er mir den kleinen Finger. Mehr als den kleinen Finger wollte ich gar nicht. Somit war die Sitzung ein voller Erfolg für mich. Ich habe jetzt nahezu freie Hand.«
Sie lachte. »Sie sind mir ein Schlingel!«
»Es hat keinen Zweck, brillant zu sein, wenn es einen nicht weiterbringt. Der Senator hat mit dem Hungerstreik einen brillanten Mediencoup gelandet, aber jetzt sollte Alcott lernen, langweilig zu sein. Romantiker sind brillant, Künstler sind brillant. Politiker wissen, wann Langeweile gefordert ist.«
Lorena nickte nachdenklich. »Da haben Sie wohl Recht. Sie werden sich gut um Alcott kümmern, nicht wahr? Sie verstehen ihn. Sie konnten ihn immer zur Vernunft bringen. Sie können ihn aufmuntern, wenn er niedergeschlagen ist.«
»Sie sind doch nicht etwa deprimiert, Lorena?«
»Nein, ich bin nicht deprimiert. Ich bin bis zum Hals mit Diätpillen vollgestopft. Aber Alcott ist anders als ich. Er nimmt sich alles zu Herzen. Er neigt zu Depressionen. Ich kann im Moment nicht bei ihm sein. Und wenn er deprimiert ist, steht ihm der Sinn nach Sex.«
Oscar schwieg erwartungsvoll.
»Es war leichtsinnig von Leon Sosik, sich von Alcott zum Hungerstreik überreden zu lassen. Alcott hat zahllose Einfälle, aber ein besserer Stabschef würde ihm die dummen Ideen ausreden. Und wenn Sie, Oscar, Moira, dieses kleine Flittchen, nach Boston mitnehmen, während ich nicht da bin, dann wäre das ebenfalls sehr dumm von Ihnen.«
Seit er in jedem einzelnen Wahlbezirk auf Stimmenfang gegangen war, kannte Oscar Boston wie seine Westentasche. Verglichen mit anderen amerikanischen Städten war Boston vernünftig, zivilisiert und aufs Gemeinwohl bedacht. Boston hatte viele Vorzüge. Einen funktionsfähigen Haushalt. Ruhige, prachtvolle Parks. Bedeutende Museen, ausgestattet und unterhalten von Menschen mit einem Sinn für kulturelle Kontinuität. Sehenswerte Plastiken aus mehreren Jahrhunderten. Lebendige, kommerzielle Theater. Restaurants mit Kleidervorschrift. Gegenden mit echter Nachbarschaft und Kneipen.
Natürlich gab es auch in Boston weniger begünstigte Gegenden; die Combat Zone, den halb überschwemmten Küstenstreifen… doch wieder zu Hause zu sein, vermittelte Oscar vorübergehend das Gefühl von Gnade. Den Malstrom von Los Angeles hatte er nie vermisst, und was das bedauernswerte alte Washington anging, so vereinte es die Langeweile Brüssels mit dem Wahnsinn von Mexiko City. Osttexas war natürlich völlig abwegig. Allein schon der Gedanke, dorthin zurückzukehren, verursachte ihm Kopfschmerzen.
»Ich werde den Wahlkampfbus vermissen«, sagte Oscar. »Der Verlust tut weh. Das ist, als hätte ich eine ganze Gruppe Go-Steine verloren.«
»Könnten Sie sich nicht einen eigenen Bus kaufen?« fragte Moira, während sie mit ihren frisch lackierten Nägeln den fotogenen Mantelkragen richtete.
»Klar könnte ich mir einen Wahlkampfbus leisten, wenn man die Dinger mit ungelernten Arbeitskräften aus Betonblöcken zusammensetzen würde«, erwiderte Oscar. »Bislang ist das noch keinem gelungen. Und jetzt habe ich auch noch den guten alten Jimmy verloren.«
»Das ist kein großer Verlust. Jimmy ist ein Looser. Ein rückgratloser Versager von der Southside… es gibt zahllose Jimmies auf der Welt.«
Moira rammte die bloßen Hände in die Tasche und schnupperte die eiskalte Luft. »Ich habe zu viel Zeit mit Ihnen verbracht, Oscar. Ich musste monatelang in Ihrer nächsten Nähe leben. Ich begreife nicht, weshalb ich immer noch zulasse, dass Sie mir Schuldgefühle einreden.«
Oscar wollte sich nicht von ihr provozieren lassen. Sie hatten den Bus an der Parteizentrale der Demokraten abgeliefert und unternahmen nun einen friedlichen Winterspaziergang zu seinem Haus in der Back Bay, den er sehr genoss. »Ich rede Ihnen keine Schuldgefühle ein. Ich verurteile Sie keineswegs. Ich war stets kooperativ und für Sie da. Oder etwa nicht? Ich habe nie ein Wort zu Ihnen und Bambakias gesagt.«
»Doch, das haben Sie! Sie haben Ihre großen schwarzen Augenbrauen hochgezogen.«
Oscar ertappte sich dabei, wie er die Brauen hob, und senkte sie sogleich wieder ab. Streit war ihm zuwider. Ein Streit brachte stets das Schlimmste in ihm zum Vorschein. »Hören Sie, das ist nicht meine Schuld. Er hat Sie eingestellt, nicht ich. Ich wollte Ihnen bloß auf taktvolle Weise klarmachen, dass Sie da eine Nummer abgezogen haben, die sich letztendlich als destruktiv erweisen musste. Das hätte Ihnen eigentlich klar sein müssen.«
»Ja, das wusste ich.«
»Das mussten Sie auch wissen! Eine Wahlkampfsprecherin, die Sex mit einem verheirateten Senator hat. Wie, um Himmels willen, sollte das gutgehen?«
»Also, Sex war es eigentlich nicht…« Moira wand sich unbehaglich. »Und damals war er auch noch nicht Senator! Als ich mich mit Alcott eingelassen habe, war er Außenseiterkandidat mit fünf Prozent Zustimmung. Sein Team bestand aus einem Haufen verschrobener Looser, und sein Manager war ein junger Spund, der noch nie einen Wahlkampf auf Landesebene geführt hatte. Die Lage war aussichtslos. Aber ich habe trotzdem bei ihm angeheuert. Ich mochte ihn einfach, so war das. Er hat mich durch seinen Charme gewonnen. Ich hielt ihn für einen naiven, brillanten, charmanten Typ. Er hat ein gutes Herz. Ja, wirklich. Er ist viel zu gut für einen gottverdammten Senatorenposten.«
»Dann sollte er das Rennen also verlieren, hab ich Recht?«
»Ja. Er sollte das Rennen verlieren, dann hätte ihn die Schlampe fallengelassen. Und irgendwie hab ich mir vorgestellt, dass ich dann auf ihn warten würde.« Moira fröstelte. »Hören Sie, ich liebe ihn. Ich habe wirklich hart für ihn gearbeitet Ich habe mich in ihn verliebt. Ich habe alles für ihn gegeben. Ich habe einfach nicht geglaubt, dass es mal so kommen würde.«
»Das tut mir leid«, sagte Oscar. »Dann ist es wirklich meine Schuld. Ich habe Ihnen nicht ausreichend klargemacht, dass ich wirklich vorhatte, den Mann in den Senat zu bringen.«
Moira verstummte, als sie sich einen Weg durch das Fußgängergewühl auf der Commercial Avenue bahnten. Die Bäume waren kahl und abweisend, doch die Weihnachtseinkäufer waren wie toll, eingemummt in Hüte, Jacken und Snow Boots, umgeben von einer Unzahl funkelnder Lichter.
Nach einer Weile sprach Lorena weiter. »Diese Seite von Ihnen bekommen die Leute nur selten zu sehen, nicht wahr? Unter dem Anzug sind Sie ein gemeiner, sarkastischer Bastard.«
»Moira, ich war immer aufrichtig zu Ihnen. Immer gerade heraus. Ich hätte nicht aufrichtiger sein können. Sie sind es, die fortgeht. Aber ihn verlassen Sie nicht. Er hat Ihnen nie gehört. Sie werden ihn auch niemals bekommen. Er gehört nicht zu Ihnen. Sie verlassen mich. Sie verlassen mein Team. Sie werden abtrünnig.«
»Was sind Sie, ein Land? Machen Sie mal halblang! Ich werde nicht ›abtrünnig‹.« Moira funkelte ihn an. »Lassen Sie mich gehen! Lassen Sie mich ein normaler Mensch sein! Dieser Hang zum Kontrollieren ist ja krankhaft bei Ihnen. Sie brauchen Hilfe.«
»Hören Sie auf, mich zu provozieren. Sie sind kindisch.«
Sie bogen auf die Marlborough Street ein. Hier war er zu Hause, hier wohnte er. Jetzt war es an der Zeit, einen neuen Ansatz zu probieren. »Hören Sie, Moira, es tut mir wirklich Leid, dass Sie so für den Senator empfinden. Wahlkämpfe sind anstrengend, bisweilen bringen sie Leute dazu, verrückte Dinge zu tun. Aber der Wahlkampf liegt jetzt weit hinter uns, und Sie müssen Ihren Standort neu bestimmen. Wir beide waren gute Freunde, wir haben einen großartigen Wahlkampf gemacht, und wir sollten jetzt nicht zu Feinden werden. Seien Sie vernünftig.«
»Ich bin nicht vernünftig. Ich bin verliebt.«
»Denken Sie drüber nach. Ich weiß, dass Sie nicht mehr zum Team gehören, das akzeptiere ich auch, aber ich könnte Ihnen doch einiges leichter machen. Ich habe Ihnen angeboten, mietfrei bei mir zu wohnen. Habe ich da nicht wie ein Freund gehandelt? Wenn Sie sich Sorgen machen wegen eines neuen Jobs, können wir mit der hiesigen Vertretung der Demokraten bestimmt etwas arrangieren. In der wahlkampffreien Zeit könnten Sie einen Parteiposten übernehmen. Und wenn wieder Wahlkampf ist, hey, Sie waren schließlich Bambakias’ Pressesprecherin! Das ist ein großes Plus beim nächsten Mal, das spricht für Sie. Sie brauchen bloß Ihr Höschen anzulassen.«
»Dafür hasse ich Sie.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst.«
»Doch, ist es. Sie sind widerlich. Diesmal sind Sie zu weit gegangen. Ich hasse Sie wirklich.«
»Ich meine es nur gut mit Ihnen! Hören Sie, seine Frau weiß Bescheid. Wenn Sie sich unbedingt Feinde machen wollen, nun, dann haben Sie da einen richtig großen Fisch an Land gezogen. Die betrogene Gattin ist über Sie im Bilde.«
»Na und? Das weiß ich doch.«
»Sie ist die Frau des Senators, und sie ist über Sie im Bilde. Wenn Sie ihr noch mal in die Quere kommen, wird sie Sie zerquetschen wie ein Insekt!«
Moira lachte auf. »Was könnte sie mir schon anhaben? Mich erschießen?«
Oscar seufzte. »Sie wird Sie wegen Ihrer lesbischen Collegeaffäre outen.«
Moira war erstaunt und verletzt. »Leben wir etwa noch im zwanzigsten Jahrhundert? Das interessiert doch niemanden mehr!«
»Sie wird es durchsickern lassen. Sie wird es gekonnt durchsickern lassen. Darauf versteht sich niemand so gut wie Lorena. Sie wird bei irgendeiner hochklassigen Veranstaltung der Capitol-Presse Bescheid geben, und dann wird man Sie bloßstellen wie einen Vampir in der Sonne.«
»Ach ja? Also, ich habe Verbindungen zur Presse, und wenn sie mich outet, dann oute ich Sie! Sie und Ihre scheißgeniale Freundin.« Lorena reckte ihm einen rot lackierten Fingernagel entgegen. »Ha! Sie können mir nicht drohen, Sie manipulativer Drecksack. Es ist mir scheißegal, was aus mir wird! Aber Ihnen werd ich vors Schienbein treten! Sie sind ja gar kein Mensch! Sie haben ja nicht mal einen Geburtstag! Ich werde Sie und Ihre spotthässliche Freundin bloßstellen, damit das mal klar ist, und wenn ich mit Ihnen fertig bin, wird sie die Reue tagen… ach, Scheiße, ich meine, wird sie den Tag bereuen, an dem sie Sie kennen gelernt hat.«
»Das ist doch pathetisch«, sagte Oscar. »Sie haben sich verrannt!«
»Ich bin stark.« Moira reckte das Kinn. »Die Liebe hat mich stark gemacht.«
»Was reden Sie denn da? Sie haben den Mann seit sechs Wochen nicht mehr gesehen.«
In ihren Augen funkelten Tränen des Triumphs. »Wir tauschen E-mails aus!«
Oscar stöhnte. »Aha. Also, dem werden wir bald einen Riegel vorschieben. Sie sind ja völlig irrational! Ich kann nicht zulassen, dass Sie mich erpressen und die Karriere des Mannes ruinieren, den ich ins Amt gebracht habe. Das ist unverantwortlich! Zum Teufel mit Ihnen! Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
»Ich werde es tun! Ganz bestimmt. Ich werde Sie vernichten.«
Oscar blieb unvermittelt stehen. Moira stapfte weiter, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und funkelte ihn an.
»Hier wohne ich.« Oscar zeigte auf das Haus.
»Oh.«
»Möchten Sie nicht reinkommen? Trinken wir Kaffee. Ich weiß, so eine Affäre tut weh. Aber Sie werden darüber hinwegkommen. Konzentrieren Sie sich einfach auf etwas anderes.«
»Wofür halten Sie mich eigentlich, für eine Wachspuppe?« Sie versetzte ihm einen Schubs. »Sie Schwein.«
Auf der anderen Straßenseite krachte es. Oscar achtete nicht darauf. Er hatte noch einen Trumpf im Ärmel. Wenn es ihm gelang, sie ins Haus zu bugsieren, würde sie sich hinsetzen und weinen. Und dann würde sie alles beichten. Die Krise würde vorbeigehen. Sie würde darüber hinwegkommen.
Ein weiteres lautes Krachen. Aus dem überwölbten Eingang flog ein Steinbrocken heraus. »Verdammt!« sagte er. »Sehen Sie sich mal das Haus an!«
Ein weiteres Krachen. »Oh«, machte Moira. Die Handtasche war ihr von der Schulter gerissen worden. Sie hob sie auf und starrte sie an. Die Handtasche war durchlöchert. Sie drehte sich um und blickte über die Straße. »Er hat auf mich geschossen!« sagte sie. »Er hat in die Handtasche geschossen!«
Auf der anderen Straßenseite stand ein grauhaariger alter Mann mit einem Handwagen. Er schoss auf sie mit einer Pistole. Er war jetzt deutlich zu sehen, denn die Straßenlaternen, alarmiert vom Detonationsgeräusch, hatten herumgeschwenkt und hüllten ihn in blendendes Licht.
Zwei fledermausähnliche Polizeidrohnen lösten sich von einer Parksäule. Sie stießen wie schwarze Scherenschnitte auf ihn herab, und als sie an ihm vorbeiflogen, kippte er um.
Oscar öffnete die Tür. Er sprang hindurch, kam wieder hervorgerannt, packte Moira beim Handgelenk und zerrte sie ins Haus. Er schlug die Tür hinter ihnen zu.
»Sind Sie verletzt?« fragte er.
»Er hat meine Handtasche getroffen!«
Sie zitterte heftig. Oscar untersuchte sie. Schenkel, Rock, Hut, Jacke. Keine Einschusslöcher, kein Blut.
Plötzlich bekam Moira weiche Knie und sackte zusammen. Auf der Straße ertönte Sirenengeheul.
Oscar hängte sorgfältig den Hut auf und setzte sich kameradschaftlich auf den Boden, die Arme um die Knie gelegt. Es war wundervoll, wieder zu Hause zu sein; das Haus war alt und verstaubt, aber der Geruch war vertraut und tröstlich. »Alles okay, es ist vorbei«, sagte er. »Die Straße ist sehr sicher. Die Polizeidrohnen haben ihn sich geschnappt. Ich stelle mal eben die Haussteuerung an, dann schaue ich draußen nach.«
Moira war ganz grün im Gesicht.
»Moira, es ist alles in Ordnung. Ich bin sicher, man hat ihn geschnappt. Haben Sie keine Angst. Ich bleibe bei Ihnen.«
Keine Antwort. Sie war völlig verängstigt. Auf ihrer Unterlippe haftete ein kleiner Speicheltropfen.
»Das tut mir wirklich leid«, sagte er. »Der Anschlag ist auf die Hetze im Netz zurückzuführen. Das ist das Gleiche wie im Laboratorium. Eigentlich hätte ich mir denken können, dass diese Verrückten mein Haus überwachen würden. Hätte ich Fontenot dabei gehabt, wäre das nicht passiert.«
Moira kippte nach hinten und bumste mit dem Kopf gegen die Wandtäfelung. Oscar streckte die Hand aus und klopfte mit den Knöcheln gegen die massive Haustür. »Kugelsicher«, erklärte er. »Wir sind hier in Sicherheit, alles in Ordnung. Ich brauche bloß einen neuen Sicherheitsbeauftragten. Ich hätte gleich einen einstellen sollen. Ich habe die falschen Prioritäten gesetzt. Tut mir Leid…«
»Mir ist schlecht!« jammerte sie. »Ich werd gleich ohnmächtig!«
»Ich hole Ihnen was. Brandy? Eine Magentablette?«
An der Tür würde mehrmals laut geklopft. Moira schreckte zurück und verlor dabei einen Schuh. »O mein Gott! Nein! Nicht aufmachen!«
Oscar schaltete die Videoüberwachung ein. Auf dem Bildschirm sah man ein funkelndes Polizeimotorrad und eine Bostoner Polizistin mit Rangabzeichen, Helm und blauer Wolljacke. Oscar drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Kann ich Ihnen helfen, Officer?«
Die Polizistin sah auf den Bildschirm ihres Notepads. »Spreche ich mit Mr. Valparaiso?«
»Ja, Officer.«
»Bitte machen Sie auf. Polizei.«
»Dürfte ich bitte Ihre Dienstmarke sehen?«
Die Polizistin zeigte eine holografische Ausweiskarte vor, die sie als Sergeant Mary Elizabeth O’Reilly auswies.
Oscar öffnete die Tür, die gegen Moiras Kniescheibe stieß. Moira zuckte heftig zusammen und rappelte sich mit geballten Fäusten hoch.
»Bitte kommen Sie herein, Sergeant O’Reilly. Danke, dass Sie so rasch gekommen sind.«
»Ich war gerade in der Gegend«, sagte die Polizistin und trat ein. Sie schwenkte den behelmten Kopf und nahm die Diele auf Video auf. »Gibt es Verletzte?«
»Nein.«
»Die Überwachung hat die Projektile geortet. Offenbar hat man auf Sie gezielt. Ich habe mir die Freiheit genommen, die Aufzeichnungen zu überprüfen. Sie und diese Frau hatten einen Streit.«
»Das ist nicht ganz zutreffend. Ich bin Senatsangestellter, und es handelt sich um einen Mordversuch.« Oscar deutete auf Moira. »Unser so genannter Streit war rein privater Natur.«
»Würden Sie mir bitte Ihren Ausweis zeigen.«
»Natürlich.« Oscar zückte die Brieftasche.
»Nein, nicht Sie, Mr. Valparaiso. Ich meine die hier nicht wohnhafte Weiße.«
Moira tastete reflexhaft nach der Handtasche. »Er hat in die Tasche geschossen…«
Oscar versuchte es mit sanfter Überredung. »Aber der Ausweis ist doch bestimmt noch drin? Sie müssen der Bitte der Sicherheitsbeamtin nachkommen. Sie müssen ihr den Ausweis zeigen.«
Moira starrte ihn mit geröteten Augen an. »Sie sind ja komplett wahnsinnig. Sie sind komplett wahnsinnig!«
Oscar wandte sich an die Polizistin. »Ich bürge für sie, Officer. Sie heißt Moira Matarazzo, sie ist mein Gast.«
»So können Sie nicht reagieren!« kreischte Moira. Sie versetzte ihm einen Schubs, drückte gegen seine Schulter. »Er wollte sie umbringen!«
»Aber der Schuss ging daneben.«
Moira schwenkte beidhändig die Handtasche und drosch auf ihn ein. »Zeigen Sie gefälligst Angst, Sie Blödmann! Zeigen Sie Angst, wie ich! Reagieren Sie normal!«
»Schluss damit«, sagte die Polizistin befehlend. »Hören Sie auf, ihn zu schlagen.«
»Sind Sie denn ganz aus Eis? Das ist unmöglich! So schnell kann niemand reagieren!« Sie schlug wieder mit der Handtasche auf ihn ein. Oscar wich zurück und hob schützend die Arme vors Gesicht.
»Schluss damit«, sagte die Polizistin in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Hören Sie auf, ihn zu schlagen.«
»Sie ist hysterisch«, keuchte Oscar. Er wich einem weiteren Hieb aus.
Die Polizistin zog die Sprühpistole und schoss. Hochdrucknebel zischte. Moiras Lider ruckten nach oben wie elektrisch betriebene Rollläden. Sie brach zusammen.
»Sie ist wirklich mit den Nerven fertig«, sagte Oscar und massierte sich die Ellbogen. »Sie sollten ein wenig Nachsicht mit ihr haben.«
»Mr. Valparaiso, ich verstehe Ihren Standpunkt«, sagte Officer O’Reilly. »Aber die Helmkamera überträgt live in die Zentrale. Sie hat zwei Aufforderungen missachtet, mit dem Schlagen aufzuhören. Das ist nicht hinnehmbar. Die Stadtpolizei hat hinsichtlich häuslicher Gewalt strikte Anweisungen. Wenn wir bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung zum Eingreifen gezwungen sind, muss der Aggressor die Nacht im Kittchen verbringen. Haben Sie mich verstanden, Sir? Das ist bei uns Vorschrift. Kein Wenn und Aber. Sie ist festgenommen.«
»Man hat eben auf sie geschossen. Sie war sehr aufgeregt.«
»Dessen bin ich mir bewusst, aber das müssen Sie mit der Abteilung für Spezialwaffen und Taktik klären. Ich bin von der Motorradstreife.« Sie zögerte. »Keine Sorge, die ST ist schon unterwegs. Die haben eine schnelle Eingreiftruppe, die bei Zwischenfällen mit Handfeuerwaffen tätig wird.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Oscar. »Bitte glauben Sie nicht, ich wäre undankbar. Es war sehr tapfer von Ihnen, sich geradewegs in eine Schießerei zu begeben. Das ist sehr löblich.«
Officer O’Reilly lächelte kurz. »Ach, kaum dass die Schussbahnen analysiert waren, hatten die Drohnen den Täter auch schon gestellt. Er befindet sich bereits in Gewahrsam.«
»Ausgezeichnete Arbeit.«
Die Polizistin musterte ihn nachdenklich. »Sind Sie sicher, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist?«
»Weshalb sagen Sie das?« Er stockte. »Oh. Ja, natürlich. Also, ich bin sehr aufgeregt. Das ist schon der vierte Anschlag innerhalb von drei Wochen. Ich muss den Behörden klarmachen, in welcher Lage ich mich befinde – dabei bin ich erst vor einer Stunde in der Stadt eingetroffen. Ich habe das Zeitgefühl verloren.«
Moira regte sich leise stöhnend auf dem Boden.
»Soll ich Ihnen helfen, sie in den Beiwagen zu schaffen?«
»Schon gut, Mr. Valparaiso. Ich glaube, wir kommen auch so zurecht.«
Die Stadtpolizei war ausgesprochen höflich. Höflich, aber unnachgiebig. Als Oscar seine Story zum dritten Mal erzählt hatte, entspannte er sich.
Er hatte sich vorübergehend in einer Art von geistigem Ausnahmezustand befunden. Dies war natürlich nicht das erste Mal – dergleichen war ihm von Kindesbeinen an schon häufiger passiert. Nichts Lebensbedrohendes, aber nach normalen Maßstäben doch eine ungewöhnliche Reaktion.
Bisweilen stellte Oscar sich vor, er sei unter Druck brillant, doch das war eine Täuschung. Er war nicht brillant. Er war bloß extrem reaktionsschnell. Er war kein Genie. Er brannte bloß schneller, sein interner Chip war höher getaktet. Jetzt, da der Anfall nachließ, fühlte er sich zitterig – obwohl ihm ein besorgter Polizeibeamter zusätzliche Überwachungsmaßnahmen und Motorradpatrouillen zugesichert hatte.
Dem Attentäter – ein Opfer von Altersparanoia – wäre es beinahe gelungen, ihn zu erschießen. Oscar fiel es schwer, dies zu begreifen. Die Fakten sanken bei ihm nicht ein. Er war wie benommen.
Er stieg zu seinem Büro im zweiten Stock hoch. Er schloss den Schreibtisch auf und holte sein spezielles Krisennotizbuch heraus. Und einen erlesenen Waterman-Füllhalter. In Zeiten wie diesen fand er es hilfreich, eine Liste anzulegen. Nicht auf dem Bildschirm. Handschriftlich. Er legte das Notizbuch auf den Schreibtisch von Eero Saarinen und begann zu schreiben.
Priorität A: Bambakias’ Stabschef werden.
B: Das Laboratorium reformieren. Interner Umsturz. Säuberung. Die ganze alte Garde entfernen. Das Budget drastisch kürzen, die Finanzen reformieren. Anmerkung: Mit etwas Glück würde im Erfolgsfall eine zweite Berufung in den Ausschuss obsolet werden.
C: Huey. Ist eine Übereinkunft möglich? Die ganze Bandbreite von Gegenmaßnahmen in Betracht ziehen.
D: Den persönlichen Mitarbeiterstab verstärken. Schluss mit den Desertionen. Anmerkung: Das Hotel in Buna muss unbedingt Gewinn abwerfen. Anmerkung: Unverzüglich neuen Sicherheitsbeauftragten einstellen. Der Mann muss unbedingt verlässlich sein.
E: Den Bus an die Demokraten zurückgeben, die neue Lackierung bezahlen.
F: Greta. Mehr Sex, weniger E-mails. Anmerkung: Sofort nach Boston fliegen! Das Team einfliegen lassen für Besprechung, komplette Neuorganisation vorbereiten. Anmerkung: ALLE freien Tage nutzen, darauf bestehen. Anmerkung: Das Fundament in Buna bereiten, während sie fort ist – Krankheit vortäuschen. P.S. Ich glaube, ich liebe sie.
G: Haussitter besorgen.
H: Das blöde Vieh nach Buna zurückbringen, eine gute Pressestory draus machen. Anmerkung: Korruptionsverdacht vermeiden.
I: Ich muss unbedingt am Leben bleiben und darf mich nicht von einem verrückten Netzfreak erschießen lassen. Anmerkung: Das Thema verdient einen höheren Stellenwert.
J: Wer, zum Teufel, hat die Randalierer in die Bank in Worcester geschickt? Anmerkung: Eine vernünftige Spielstrategie ist unmöglich, wenn die Spielfiguren unsichtbar, ungreifbar oder immateriell sind.
K: Die Notstandsausschüsse müssen weg. Sie haben den Zwist Bambakias/Huey erst ermöglicht. Die politische Lage in Amerika ist prekär, solange verantwortungslose Usurpatoren die Autorität der Behörden missachten. Anmerkung: Auch der Stabschef ist ihren Launen unausweichlich unterworfen.
L: Sen. Bambakias – Hungerstreik eine physische Depression?
Oscar betrachtete die Liste. Das halbe Alphabet hatte er bereits durch und spürte doch noch immer, wie die Luft vor Unwägbarkeiten vibrierte. Es war alles zu viel. Chaos, Wahnsinn, ein Geschlängel glitschiger Aale.
Es war einfach zu kompliziert. Nicht beherrschbar. Es sei denn… es sei denn, es gelang ihm, das Ganze irgendwie zu automatisieren. Mit klarer umrissenen Zielen. Eine Art Neustrukturierung. Kritischer-Pfad-Analyse. Multioptionsmodelle. Querdenken. Aber es ging um so viele Leute. Alle verließen sich auf ihn. Er musste delegieren…
Er war matt gesetzt. Er war umzingelt. Er war am Ende, erledigt, zerschmettert. Planmäßiges Vorgehen war unmöglich. Nichts würde sich jemals verändern.
Er musste irgendetwas unternehmen. Bloß eine Sache. Ein einziges Projekt durchziehen, ein Thema ad acta legen.
Er nahm den Hörer des Schreibtischtelefons ab. Lorenas Sekretärin ging dran. Er kämpfte sich durch.
»Tut mir leid, Oscar«, sagte Lorena. »Alcott ist in der anderen Leitung. Kann ich Sie zurückrufen?«
»Es wird nicht lange dauern. Es ist wichtig.«
»Was gibt’s denn?«
»Es gibt Neuigkeiten. Moira sitzt im Gefängnis, hier in Boston. Ich habe versucht, vernünftig mit ihr zu reden. Sie hat die Beherrschung verloren und wurde gewalttätig. Zu meinem Glück war gerade eine Polizistin in der Nähe. Moira wurde wegen häuslicher Randale eingelocht.«
»Du meine Güte, Oscar.«
»Ich habe nicht vor, Anklage gegen sie zu erheben, aber das braucht sie nicht zu wissen. Ich möchte, dass Sie sich weiter darum kümmern. Es ist an der Zeit, dass Sie eingreifen. Moira ist im Knast, ich spiele den Wüterich und Sie den verzeihenden Schutzengel. Verstehen Sie? Sie glätten die Wogen, halten den Vorfall unter der Decke. So müssen wir mit ihr verfahren, denn so werden wir Erfolg haben.«
»Sie machen wohl Witze? Meinetwegen soll sie verrecken!«
»Nein, ich scherze nicht. Ich biete Ihnen eine dauerhafte Lösung an. Denken Sie drüber nach.«
Langes, nachdenkliches Schweigen. »Ja, Sie haben natürlich recht. Das ist wirklich die beste Vorgehensweise.«
»Ich bin froh, dass Sie sich meiner Sichtweise anschließen.«
»Ich werde halt ein wenig die Zähne zusammenbeißen, aber die Sache ist es wert.« Nachdenkliche Stille. »Sie sind wirklich ein erstaunlicher Mann.«
»Das gehört zu meinem Job, Ma’am.«
»Gibt es sonst noch was?«
»Nein. Warten Sie. Doch. Eine Frage noch. Finden Sie, dass meine Stimme normal klingt?«
»Für eine verschlüsselte Leitung ist die Verbindung hervorragend.«
»Nein, ich meine, rede ich nicht zu schnell? Oder zu hoch und gequetscht?«
Lorena senkte die Stimme zu einem einschmeichelnden Flüstern. »Nein, Oscar, Sie hören sich prima an. Sie sind wirklich wundervoll. Sie sehen gut aus, Sie sind charmant, Sie sind unbedingt verlässlich, Sie sind Mr. Realpolitik. Ich vertrauen Ihnen bedingungslos. Sie haben mich niemals im Stich gelassen, und wenn das verdammte Labor in Kolumbien mir gehört hätte, hätte ich Sie ein Dutzend Mal geklont. Sie sind der Beste auf der ganzen weiten Welt.«