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Der Wissenschaftler trug karierte Bermudashorts, ein verwaschenes gelbes T-Shirt, Riemensandalen und keinen Hut. Oscar war gern bereit, sich mit den unbekleideten, knochigen Beinen und sogar mit dem altmodischen Bart ihres Führers abzufinden. Doch es war schwer, jemanden ernst zu nehmen, der keinen Hut trug.

Das fragliche Tier war dunkelgrün, sehr sehnig und hatte ein Fell. Dies war ein Binturong, ein ehemals in Südostasien beheimatetes Säugetier, das in der Wildnis seit langem ausgestorben war. Dieses Exemplar war an Ort und Stelle im Buna National Collaboratory geklont worden. Herangewachsen war es in der modifizierten Gebärmutter einer Kuh.

Der geklonte Binturong hing an der Unterseite einer Parkbank und klammerte sich an den Holzlatten fest. Er leckte mit seiner langen, gesprenkelten Zunge an der abblätternden Farbe. Der Binturong war etwa so groß wie eine volle Golftasche.

»Ihr Exemplar ist erstaunlich zahm«, sagte Pelicanos höflich, den Hut in der Hand.

Der Wissenschaftler schüttelte den bärtigen Kopf. »Ach, als ›zahm‹ würden wir die Tiere hier im Laboratorium nicht unbedingt bezeichnen. Das Tier ist nicht wild, aber die Bezeichnung ›zutraulich‹ wäre fehl am Platz.«

Der Binturong ließ sich auf den Boden hinab und stapfte mit seinen kleinen bärenartigen Tatzen durchs üppige Gras.

Das Tier schnüffelte an Oscars Lederschuhen, hob angewidert die spitze Schnauze und summte wie ein siedender Wasserkessel. Aus der Nähe sah man es noch deutlicher. Der Binturong war mit dem Wiesel verwandt. Ein großes, in Bäumen kletterndes Wiesel. Mit einem behaarten Greifschwanz. Außerdem stank er.

»Es sieht so aus, als hätten wir Bedarf für einen Binturong«, sagte Oscar lächelnd. »Wickeln Sie die Tiere in braunes Packpapier?«

»Wenn Sie wissen möchten, wie wir das Testexemplar zu Ihrem Freund, dem Senator, schaffen wollen… Also, das wickeln wir über bestimmte Kanäle ab.«

Oscar zog die Brauen hoch. »›Kanäle‹?«

»Sie wissen schon… Senator Dougal lässt sowas von seinen Leuten erledigen…« Ihr Führer wirkte auf einmal schuldbewusst und nervös, als hätte er den Kaffeesatz getrunken. »Hören Sie, ich arbeite bloß im Labor, darüber weiß ich wirklich nicht Bescheid. Sie sollten die Leute von den Spin-offs fragen.«

Oscar faltete den laminierten Taschenplan des Buna National Collaboratory auseinander. »Und wo finde ich diese ›Spin-offs‹?«

Der Mann tippte auf Oscars Plastikplan. Seine Hände waren fleckig von Chemikalien, der Daumen hübsch grün gefärbt. »Die Spin-offs befinden sich in dem Gebäude, das Sie zur Linken gesehen haben, als Sie durch die Hauptschleuse fuhren.«

Oscar betrachtete den klein gedruckten Plan mit zusammengekniffenen Augen. »Das Archer Parr Institut für kompetitive Verstärkung?«

»Ja, genau, die Spin-offs.«

Oscar schaute hoch und drückte die Hutkrempe zurecht, um sich vor der texanischen Sonne zu schützen. Ein System miteinander verwobener Streben durchschnitt den Himmel wie das Exoskelett einer riesigen Kieselalge. Die fernen Streben waren aus massivem Beton und dienten als Halterung für Plastikgewächshausscheiben von der Größe eines Hockeyplatzes. Das staatliche Labor war zu einer Zeit gegründet und erbaut worden, als man die Genmanipulation für so gefährlich wie Atomkraftwerke gehalten hatte. Die Kuppel des Buna National Collaboratory vermochte Tornados, Wirbelstürmen, Erdbeben und selbst dem massivem Einsatz von Bomben zu trotzen. »Ich war noch nie in einer abgeschlossenen Umgebung, die so groß gewesen wäre, dass man eine Karte braucht, um sich darin zu orientieren«, sagte Oscar.

»Man gewöhnt sich dran.« Ihr Führer zuckte die Achseln. »Man gewöhnt sich an die Leute, die hier drinnen leben, und selbst an das Kantinenessen… Das Labor wird zur zweiten Heimat, wenn man nur lange genug dabei ist.« Der Mann kratzte sich im Bart. »Von Osttexas, das außerhalb der Schleusen liegt, kann man das nicht behaupten. Viele Leute gewöhnen sich nie daran.«

»Es ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie uns den Tierbestand zeigen«, meinte Pelicanos. »Ich nehme an, Sie sind sehr beschäftigt.«

Der Zoologe griff eifrig zum Handy, das er am Gürtel trug. »Soll ich die Dame von der PR-Abteilung anrufen?«

»Nein«, sagte Oscar zuvorkommend, »nachdem sie die Freundlichkeit hatte, uns an Sie weiterzureichen, glaube ich, dass wir auch allein hinausfinden.«

Der Wissenschaftler schwang sein veraltetes, klobiges staatseigenes Handy, das mit grünen Fingerabdrücken verschmiert war. »Möchten Sie vielleicht lieber fahren? Ich könnte Ihnen einen Buggy rufen.«

»Wir möchten uns ein wenig die Beine vertreten«, zierte sich Pelicanos.

»Sie haben uns sehr geholfen, Dr. Parkash.« Oscar hatte ein hervorragendes Namensgedächtnis. Dabei gab es eigentlich keinen speziellen Grund, sich unter den zweitausend staatlich angestellten Forschern und den vielen beigeordneten Handlangern, Werbefritzen, Mitarbeitern und dem übrigen Gefolge ausgerechnet den Namen Dr. Averill Parkash zu merken. Oscar wusste jedoch, dass er sich die Namen, Gesichter und Dossiers des Personals in kurzer Zeit einprägen würde. Das war beinahe schon eine Obsession. Er konnte einfach nichts dagegen machen.

Ihr Führer entfernte sich Richtung Veterinär-Verwaltungszentrum, begierig darauf, wieder in sein enges, schmutziges kleines Büro zurückzukehren. Oscar winkte ihm lächelnd zum Abschied.

Parkash rief ihm noch etwas zu. »In der Nähe liegt eine ausgezeichnete Weinbar! Gegenüber dem Fließ-NMR und dem Gerätelager!«

»Danke für die Empfehlung! Vielen Dank!« Oscar machte auf dem Absatz kehrt und wandte sich zur nächsten Baumgruppe. Pelicanos folgte ihm eilig.

Bald darauf befanden sie sich in der Deckung der Bäume. Oscar und Pelicanos folgten einem gewundenen, morastigen, mit Torfmoos bewachsenen Pfad, der durch einen zusammengestoppelten Dschungel führte. Das Labor verfügte über riesige botanische Gärten – darunter sogar kleinere Wälder – mit seltenen Exemplaren. Mit vom Aussterben bedrohten Exemplaren. Die aus einer Umwelt stammten, die auf Grund der Klimaveränderung, des ansteigenden Meeresspiegels und der mit einer Weltbevölkerung von 8,1 Milliarden Menschen einhergehenden Verstädterung längst ausgestorben war.

Die Pflanzen und Tiere waren allesamt geklont. In den Tiefen der festungsartigen Keller des dem Laboratorium zugehörigen Zentrums für den Schutz des Genoms lagerten Zehntausende genetischer Proben, die man aus allen Erdteilen zusammengetragen hatte. Die kostbare DNS wurde in funkelnden Kolben mit flüssigem Stickstoff gelagert, sicher verwahrt in einem bürokratischen Labyrinth endloser, von Maschinen angelegten Kalksteingewölben.

Hin und wieder hielt man es für ratsam, ein paar Proben aufzutauen und ausgewachsene Organismen heranzuzüchten. Auf diese Weise vergewisserte man sich, dass die genetischen Daten noch nutzbar waren. Die entstandenen Lebewesen waren zumeist auch recht fotogen. Die Klone waren bei der Öffentlichkeitsarbeit von Nutzen. Jetzt, da die Biotechnik das hermetische Reich der Geheimwissenschaft verlassen hatte und industriell nutzbar gemacht wurde, war der Zoo des Labors beste Werbung.

Die riesigen unterirdischen Gewölbe standen bei den Opfern des hiesigen Tourismus stets ganz oben auf der Besucherliste, Oscar jedoch hatte die kafkaeske Enge als bedrückend empfunden. Der Dschungel hingegen gefiel ihm. Natürliche Wildnis langweilte ihn zumeist, doch diese rationale, urbanisierte Taschenausgabe von Natur übte den Reiz des Modernen aus. Die stubenreinen Gewächse mit ihren Saftsammlern und Hormonspendern funkelten wie Weihnachtsbäume. Bäume und Büsche badeten wie betrunkene Touristen im Licht der Pflanzenstrahler.

Der taschengerechten Karte zufolge befanden Oscar und Pelicanos sich nun in einem Mischdschungel, der an das Veterinärtechnische Labor, das Labor für Atmosphärenchemie, das Veterinär-Verwaltungszentrum und ein ganz spezielles Gebäude grenzte, das für die Müllverarbeitung zuständig war. Keines dieser weitläufigen Gebäude war aus dem Innern des eingetopften Waldes hervor zu sehen – die brutalen, festungsartigen Türme des Hochsicherheitstrakts natürlich ausgenommen. Dieser gigantische Sperrbezirk bildete den zentralen Stützpfeiler der Kuppelanlage. Die glasierten zylindrischen Gebilde waren von jeder Stelle innerhalb der Kuppel aus zu sehen und glänzten, als bestünden sie aus edlem Porzellan.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es in dem künstlichen Wald Abhörvorrichtungen gab, war eher als gering zu veranschlagen. Solange sie in Bewegung blieben, konnten sie sich ungestört unterhalten.

»Ich habe schon befürchtet, wir würden diesen Widerling überhaupt nicht mehr los«, meinte Pelicanos.

»Möchtest du mir etwas sagen, Yosh?«

Pelicanos seufzte. »Ich möchte wissen, wann wir wieder zurückfahren.«

Oscar lächelte. »Wir sind doch gerade erst angekommen. Magst du die Texaner nicht? Sie sind jedenfalls sehr zuvorkommend.«

»Oscar, du hast zwölf Leute mitgebracht. Die haben nicht genug Schlafgelegenheiten hier.«

»Aber ich brauche zwölf Leute. Ich brauche mein ganzes Team. Ich möchte mir alle Optionen offen halten.«

Pelicanos knurrte überrascht, als ein stachliges Tier mit Hufen – vielleicht eine Art Tapir? – den Weg querte. Seltene Tiere wie Erdferkel oder Zebus liefen auf dem Gelände frei herum. Zumeist tappten sie wie unter Drogen stehende heilige Kühe friedlich auf den Straßen und in den Gartenanlagen umher.

»Du hast nach Beendigung des Wahlkampfs für ein paar Extras gesorgt«, sagte Pelicanos. »Na ja, Bambakias kann sich das gewiss leisten, und die Leute haben sich über die Geste gefreut. Wahlkampfhelfer sind jedoch von Natur aus Zeitarbeiter. Du brauchst sie einfach nicht mehr. Du brauchst keine zwölf Leute, um einen Ausschussbericht zu erarbeiten.«

»Aber sie machen sich nützlich! Weißt du ihre Dienste nicht zu schätzen? Wir haben einen Bus, einen Fahrer, eigene Sicherheitsleute, wir haben sogar eine Masseuse! Wir leben in Saus und Braus. Außerdem ist es egal, ob sie die Beine hier langmachen oder anderswo.«

»Das ist keine Antwort.«

Oscar sah ihn an. »Du erstaunst mich, Yosh… Sandra fehlt dir.«

»Ja«, räumte Pelicanos ein. »Meine Frau fehlt mir.«

Oscar schwenkte die Hand. »Dann nimm dir am Wochenende drei Tage frei. Flieg nach Beantown. Das hast du verdient, und wir können es uns leisten. Triff dich mit Sandra. Vergewissere dich, wie es ihr geht.«

»Also gut. Ich glaub, ich mach’s. Ich fliege hin und treffe mich mit Sandra.« Pelicanos’ Miene hellte sich auf. Oscar sah, wie sich seine Stimmung hob; die Freude schlug über ihm zusammen wie eine kleine Welle. Seltsam, aber Pelicanos war glücklich. Obwohl sich seine Frau seit neun Jahren in einem Sanatorium für Geisteskranke befand.

Pelicanos war ein ausgezeichneter Organisator, ein guter Finanzberater und ein nahezu genialer Buchhalter, während sein Privatleben eine bodenlose Tragödie darstellte. Oscar fand dies äußerst interessant. Es sprach ein grundlegendes Element seiner Persönlichkeit an, seine brennende Neugier für Menschen und die Taktik und Strategie, mittels derer man sich ihr Wohlverhalten sichern konnte. Yosh Pelicanos schritt scheinbar durchs Leben wie jeder andere auch, während er gleichzeitig ein tonnenschweres Geheimnis mit sich herumschleppte. Pelicanos wusste wirklich, was Hingabe und Loyalität bedeuteten.

Oscar selbst hatte mit Hingabe und Loyalität nicht viel am Hut, hatte diese Eigenschaften aber bei anderen schätzen gelernt. Pelicanos war nicht zufällig am längsten von allen sein Mitarbeiter.

Pelicanos senkte die Stimme. »Aber bevor ich aufbreche, Oscar, möchte ich dich um einen kleinen Gefallen bitten. Ich muss wissen, was du vorhast. Sei offen zu mir.«

»Du weißt doch, dass ich keine Geheimnisse vor dir habe, Yosh.«

»Versuch’s noch mal.«

»Also gut.« Oscar schritt unter einem hohen grünen Torbogen aus gefiederten Farnwedeln mit rosa Blüten hindurch. »Die Sache ist die: Politik macht mir Spaß. Das Spiel liegt mir.«

»Das hört man gerne, Boss.«

»Du und ich, wir haben gerade unseren zweiten Wahlkampf abgeschlossen und unseren Mann in den Senat gehievt. Das ist eine große Leistung. Ein Senatssitz ist nach allen gängigen Maßstäben sehr hoch zu veranschlagen.«

»So ist es. Und weiter?«

»Und zum Lohn für all unsere Mühen befinden wir uns wieder im politischen Dschungel.« Oscar entfernte einen übel riechenden Zweig von seiner Sakkoschulter. »Glaubst du wirklich, Bambakias hätte Bedarf für ein gottverdammtes ausgestorbenes Tier? Neulich hat mich um sechs Uhr morgens der neue Stabschef angerufen. Er meinte, die Frau des Senators interessiere sich für meinen gegenwärtigen Auftrag, und ich solle ihr doch bitte ein exotisches Tier mitbringen. Bloß hat nicht sie mich angerufen – und auch nicht Bambakias –, sondern Leon Sosik.«

»Stimmt.«

»Der Bursche will mich fertigmachen.«

Pelicanos nickte vielsagend. »Sosik weiß ganz genau, dass du scharf auf seinen Job bist.«

»Ja. Das weiß er. Daher vergewissert er sich, ob ich auch tatsächlich meine Zeit am Arsch der Welt absitze. Und dann besitzt er die Unverschämtheit, mir obendrein noch diesen kleinen Auftrag aufzuhalsen. Sosik hat dabei nichts zu verlieren. Wenn ich ihm die Bitte abschlage, bin ich der Dumme. Wenn ich’s vermassele oder in Schwierigkeiten gerate, macht er mich deswegen fertig. Und wenn ich Erfolg habe, heimst er die Meriten ein.«

»Mit Grabenkämpfen kennt Sosik sich aus. Der hat viele Jahre auf dem Capitol Hill zugebracht. Sosik ist ein Profi.«

»Ja, das ist er. Und wir sind seiner Meinung nach blutige Anfänger. Diesen Kampf aber werden wir gewinnen. Weißt du wie? Es wird genau so laufen wie beim Wahlkampf. Zunächst dämpfen wir die Erwartungen, damit alle glauben, wir hätten hier keine Chance. Und dann sind wir in einem solchen Maße erfolgreich – und übertreffen die in uns gesetzten Erwartungen so gewaltig –, dass wir unsere Gegner einfach hinwegfegen.«

Pelicanos lächelte. »Typisch Oscar.«

Oscar reckte den Zeigefinger. »Und so sieht der Plan aus. Wir finden heraus, wer hier am Drücker sitzt und was diese Leute wollen, und kommen ihnen in die Quere. Wir versetzen unsere Leute in Aufregung und diese Leute in Unruhe. Und am Ende manövrieren wir jeden aus, der uns aufhalten will. Wir treiben sie in die Ecke und stürzen uns aus völlig unerwarteten Richtungen auf sie, und wir machen einfach immer damit weiter und rammen sie in Grund und Boden!«

»Hört sich an wie ‘ne große Sache.«

»Ja, schon, und deswegen habe ich auch so viele Leute mitgebracht. Sie haben bewiesen, dass sie auf politischer Ebene zusammenarbeiten können. Sie sind erfinderisch, sie sind clever, und jeder Einzelne von ihnen schuldet mir eine Menge Gefallen. Glaubst du, es könnte klappen?«

»Das fragst du mich?« sagte Pelicanos und breitete die Arme aus. »Verdammt, Oscar, ich mache gerne mit. Das weißt du doch.« Und er gestattete sich ein kurzes, glückliches Auflachen.


Die alten Unterkünfte des Labors boten wenig Annehmlichkeiten. Schlafraum war knapp, da das staatliche Labor zahllose wissenschaftliche Vagabunden, Vertragspartner und verschiedene exotische Spielarten parawissenschaftlicher Bürokraten beherbergte. Die Unterkünfte waren in einem zweistöckigen, in Leichtbauweise errichteten Gebäude untergebracht und mit Gemeinschaftsbädern und -küchen ausgestattet. Die Einrichtung bestand aus regierungsbraunen Pappmöbeln und ein paar bunt zusammengewürfelten Laken und Handtüchern. Die Türschlösser wurden mit Ausweiskarten des Labors geöffnet. Wahrscheinlich legten die smarten Karten und die smarten Türschlösser für die hiesigen Sicherheitsleute ein Dossier über das Kommen und Gehen der Gäste an.

Unter dem riesigen, aus rautenförmigen Elementen zusammengesetzten Kuppeldach gab es kein Wetter. Das ganze gewaltige Gebilde war im Wesentlichen eine Intensivstation mit beweglichen Blenden, hellen Lampen und riesigen Zeolith-Luftfiltern, in der ständig das Summen der tief in der Erde verborgenen Generatoren zu hören war. Die Biotechlabors waren wie Festungen konstruiert. In den Unterkünften hingegen gab es keine massiven Wände, Dächer oder nennenswerte Isolierung. Dort war es eng und laut.

Daher erledigte Donna Nunnez ihre Näh- und Stopfarbeiten auf einer Holzbank vor der Abteilung für Sicherheit am Arbeitsplatz. Donna hatte ihren Nähkorb und mehrere Kleidungsstücke des Teams mitgebracht. Oscar hatte seinen Laptop dabei. Er arbeitete nicht gern auf dem Zimmer, denn er spürte, dass es verwanzt war.

Die Abteilung für Sicherheit am Arbeitsplatz säumte mit acht weiteren Gebäuden die zentrale Ringstraße, in deren Mitte die glänzenden Porzellanwälle des Hochsicherheitstrakts lagen. Der Hochsicherheitstrakt war umgeben von großen Versuchsfeldern mit genmanipulierten Saatpflanzen: Salzwasser aufnehmendes Sorghum und schnell wachsender Reis sowie mehrere Genkreuzungen von Blaubeeren. Die kreisförmigen Felder wiederum waren umgeben von einer kleinen zweispurigen Straße. Diese Ringstraße war die Hauptverkehrsstraße innerhalb der Kuppel, daher bot es sich an, hier zu sitzen und die seltsamen Angewohnheiten der Einheimischen zu beobachten.

»Die stinkenden, lausigen Unterkünfte machen mir wirklich nichts aus«, bemerkte Donna freundlich. »Es ist so hübsch unter der Kuppel und riecht so gut. Wenn wir wollten, könnten wir hier auch im Freien wohnen. Wir könnten nackt herumlaufen wie die Tiere.«

Donna streckte die Hand aus und tätschelte einem Tier den Kopf. Oscar musterte das Tier, das seinen Blick furchtlos erwiderte, die hervorquellenden schwarzen Augen so eindrucksvoll leer wie eine Alphabettafel, wie man sie für spiritistische Sitzungen verwendet. Der Entwilderungsprozess, ein Spinn-off der florierenden Hirnforschung des Labors, hatte dazu geführt, dass die hiesigen Tiere in einen Zustand eigentümlicher Gleichgültigkeit eingetreten waren.

Dieses Exemplar wirkte so munter und gesund wie eine Plastikfigur aus einem Corn-Flakes-Karton; die Stoßzähne waren kariesfrei, der Borstenpelz wirkte weich wie Schaumspeise. Gleichwohl konnte Oscar sich des Gefühls nicht erwehren, dass das Tier ihn mit Freuden töten und verspeisen würde. Dies war offenbar der Primärimpuls des Tieres. Es fehlte ihm lediglich an der nötigen Entschlusskraft, ihn auch in die Tat umzusetzen.

»Wissen Sie zufällig, was das für ein Tier ist?« fragte Oscar.

Donna streichelte dem Tier vorsichtig die längliche, runzlige Schnauze. Es grunzte verzückt und streckte seine widerliche graue Zunge hervor. »Vielleicht ein Schwein?«

»Also, was immer es sein mag, es mag mich jedenfalls. Es folgt mir schon den ganzen Vormittag. Es ist nett, finden Sie nicht? Es ist hässlich, aber hübsch-hässlich… Die Tiere hier tun niemandem etwas. Man hat irgendwas mit ihnen angestellt. Mit ihrem Gehirn.«

»Ja, sicher.« Oscar drückte eine Taste. Lautlos glich das Gerät eine lange Liste der Bestellungen der Forschungseinrichtung mit den allgemein zugänglichen texanischen Haftbefehlen der letzten fünf Jahre ab. Die Resultate waren äußerst aufschlussreich.

»Werden Sie ein exotisches Tier für Mrs. Bambakias erwerben?«

»Anfang nächster Woche. Pelicanos ist in Boston. Fontenot ist zusammen mit Bob und Audrey auf Haussuche… Im Moment versuche ich gerade, ein wenig Ordnung in ein paar Laborakten hinein zu bekommen.« Oscar zuckte die Achseln.

»Soll ich Ihnen was sagen? Ich mochte Mrs. Bambakias. Sie war so elegant und immer nett zu mir. Ich dachte schon, sie würde mich nach Washington mitnehmen. Aber dort passe ich einfach nicht hin.«

»Weshalb denn nicht?« Oscar tippte heftig auf eine Taste und aktivierte eine Suchmaschine, welche bei einem bundesstaatlichen Koordinierungszentrum in Baton Rouge die Informationen über kürzlich erfolgte Gnadenerlasse des Gouverneurs von Louisiana heraussuchte.

»Na ja… Ich bin zu alt, wissen Sie. Ich habe zwanzig Jahre lang bei einer Bank gearbeitet. Ich habe erst nach der Hyperinflation mit dem Schneidern angefangen.«

Oscar markierte vier Treffer für weitere Nachforschungen. »Ich finde, Sie verkaufen sich zu billig. Meines Wissens hat Mrs. Bambakias niemals Ihr Alter erwähnt.«

Donna schüttelte bedauernd ihren ergrauenden Kopf. »Die jungen Frauen verstehen heutzutage viel mehr von der New Economy. Sie sind für Imagedienste ausgebildet. Sie mögen Teamarbeit; sie mögen es, die Dame des Hauses anzukleiden, sie zu frisieren und ihr die Schuhe anzuziehen. Die machen als Hausangestellte richtig Karriere. Lorena Bambakias wird bestimmt Empfänge geben. Da braucht sie Leute, die es verstehen, sie für Washington und Georgetown angemessen zu kleiden.«

»Aber Sie sorgen doch auch für unsere Kleidung. Schauen Sie doch nur, wie wir im Vergleich zu den Leuten hier gekleidet sind.«

»Das verstehen Sie nicht«, sagte Donna geduldig. »Diese Wissenschaftler laufen herum wie Penner, weil sie es sich leisten können.«

Oscar musterte einen Angestellten, der mit heraushängendem Hemd auf einem Fahrrad vorbeifuhr. Seine bloßen Füße steckten in kaputten Schuhen. Kein Hut. Seine Frisur war fürchterlich. Es konnte kein Zufall sein, wenn jemand so herumlief.

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Oscar.

Donna war in Geständnislaune. Oscar hatte dies gespürt. Er legte Wert darauf, zur Stelle zu sein, wenn seine Untergebenen in Geständnislaune waren. »Das Leben ist schon komisch«, meinte Donna und seufzte ironisch. »Als meine Mutter mir das Nähen beigebracht hat, habe ich’s gehasst. Ich ging aufs College, ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich mal als Imageberaterin schneidern würde. In meiner Jugend hat niemand Wert auf Maßanfertigung gelegt. Mein Ex-Mann hätte mich ausgelacht, wenn ich ihm einen Anzug geschneidert hätte.«

»Wie geht es Ihrem Ex-Mann, Donna?«

»Er glaubt immer noch, dass richtige Arbeit von neun bis fünf geht. Er ist ein Idiot.« Sie stockte. »Außerdem wurde er entlassen und ist pleite.«

Inmitten der genetisch veredelten Saatpflanzen waren Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen aufgetaucht. Sie schwenkten glänzende Aluminiumsprühstäbe, funkelnde, verchromte Scheiben und Hightech-Hacken aus Titan.

»Hier gefällt es mir«, sagte Donna. »Es war wirklich nett vom Senator, uns hierher zu schicken. Es ist hier viel hübscher, als ich dachte. Die Luft riecht so ungewöhnlich, ist Ihnen das schon aufgefallen? Wenn es hier nicht so viele Penner in Shorts gäbe, würde ich gern hier wohnen.«

Oscar stellte eine Verbindung zu den 2029er Protokollen des Senatsausschusses für Wissenschaft und Technik her. Die sechzehn Jahre alten Bände mit den Ausschussprotokollen enthielten sämtliche Unterlagen über die Gründung des Buna National Collaboratory. Oscar war sich ziemlich sicher, dass seit Urzeiten niemand mehr Einblick in die Unterlagen genommen hatte. Sie waren randvoll mit längst vergessenen wertvollen Informationen. »Es war ein schwerer Wahlkampf. Da haben wir uns ein wenig Entspannung verdient. Sie ganz bestimmt.«

»Ja, der Wahlkampf hat mich erschöpft, aber es hat sich gelohnt. Wir haben wirklich gut zusammengearbeitet; wir waren gut organisiert. Wissen Sie, ich arbeite gern in der Politik. Ich gehöre zur Generation der Fünfzig- bis Siebzigjährigen, daher hatte ich nicht viel vom Leben. Nichts ist so geworden, wie ich’s erwartet hatte… Die Wirtschaft ist zusammengebrochen, und die Netzwerke haben alles aufgesaugt. Aber in der Politik, da hat man einen ganz anderen Eindruck. Man ist nicht bloß ein Blatt im Wind. Ich hatte wirklich das Gefühl, endlich einmal die Welt zu verändern. Anstatt von der Welt verändert zu werden.«

Oscar blickte sie freundlich an. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Donna. Sie sind ein Schatz. Wenn man auf so engem Raum beieinander lebt wie wir, wenn man so viel Stress hat und so unter Druck steht, dann ist es gut, wenn man jemanden im Team hat, der so ausgeglichen, so vernünftig ist. So philosophisch, könnte man sogar sagen.« Er lächelte einnehmend.

»Warum sind Sie so gut zu mir, Oscar? Wollen Sie mich feuern?«

»Keineswegs! Ich möchte, dass Sie bei uns bleiben. Zumindest noch einen Monat. Ich weiß, das ist nicht sonderlich verlockend, denn eine so tüchtige Frau wie Sie findet sicherlich leicht eine längerfristige Anstellung. Aber Fontenot bleibt auch bei uns.«

»Tatsächlich?« Sie blinzelte. »Weshalb?«

»Pelicanos, Lana Ramachandran und ich werden schwer schuften… Es gibt hier jede Menge zu tun für Sie. Natürlich wird es nicht so hektisch und anstrengend zugehen wie während des Wahlkampfs, aber das Erscheinungsbild ist doch immer noch wichtig für uns. Sogar hier. Vielleicht sogar gerade hier.«

»Ich könnte schon noch ein Weilchen bei Ihnen bleiben«, meinte Donna gelassen, »aber ich bin nicht von gestern. Da müssen Sie mir schon mehr sagen.«

Oscar klappte das Notebook zu und stand auf. »Donna, Sie haben Recht. Wir sollten ernsthaft miteinander reden. Was halten Sie von einem kleinen Spaziergang?«

Donna schloss den Nähkorb und erhob sich. Sie kannte Oscar mittlerweile recht gut und war froh, an einem seiner vertraulichen Spaziergänge teilzunehmen. Oscar war gerührt von ihrem umsichtigen Verhalten – sie blickte sich immer wieder über die Schulter um, als fürchtete sie, von finsteren Männern in schwarzen Trenchcoats verfolgt zu werden.

»Also, es ist so«, sagte Oscar sachlich. »Wir haben den Wahlkampf gewonnen, und zwar mit Leichtigkeit. Alcott Bambakias ist aber gleichwohl ein Neuling, ein politischer Außenseiter. Auch wenn er demnächst den Amtseid schwören wird, fehlt es ihm nach wie vor an Einfluss und Glaubwürdigkeit. Er muss sich solche Themen aussuchen, bei denen er etwas ausrichten kann.«

»Ja, natürlich.«

»Er ist ein Architekt, mit innovativen Großprojekten kennt er sich aus. Daher liegen ihm Themen aus den Bereichen Wissenschaft und Technik.« Oscar legte eine Pause ein. »Und natürlich die Stadtplanung. Aber die Wohnungsbeschaffung ist derzeit nicht unser Problem.«

»Sondern dieses Labor.«

Oscar nickte. »Genau. Donna, ich weiß, dass es ziemlich prosaisch erscheinen mag, in einem riesigen, luftdicht abgeschlossenen Genlabor zu arbeiten. Verglichen mit dem Niederländischen Kalten Krieg und den Katastrophen in den Rockies ist das hier ein ruhiger Senatsjob. Jedenfalls handelt es sich um eine größere staatliche Einrichtung. Anfangs hat das Labor recht gut gearbeitet: zahlreiche grundlegende Fortschritte auf dem Gebiet der Biotechnik, ein paar gute Starthilfen für die amerikanische Industrie, zumal die Firmen in Louisiana. Aber diese glorreichen Zeiten sind Vergangenheit, und jetzt ist das hier ein staatlich subventionierter Selbstbedienungsladen. Provisionen, Bestechung, Günstlingswirtschaft… Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

Donna wirkte erfreut. »Das klingt so, als hätten Sie bereits angefangen.«

»Na ja… Offiziell arbeite ich für den Wissenschaftsausschuss des Senats. Formal bin ich nicht mehr Bambakias unterstellt. Aber das hat der Senator so arrangiert. Er weiß, dass das Labor mal genau unter die Lupe genommen werden muss. Unser Auftrag besteht also darin, ihm die nötigen Informationen für eine grundlegende Reform zu beschaffen. Wir sollen den Grundstein legen für seinen ersten gesetzgeberischen Erfolg.«

»Ich verstehe.«

Als sie einem Okapi auswichen, fasste Oscar sie zuvorkommend beim Ellbogen. »Ich will damit nicht sagen, dass es leicht für uns werden wird. Es könnte sogar unangenehm werden. Hier geht es um einflussreiche Kreise. Um geheime Pläne. Der Augenschein trügt. Aber wenn es leicht wäre, könnte jeder diese Aufgabe erledigen. Dann brauchte man dazu keine so begabten Leute wie uns.«

»Ich bleibe.«

»Gut! Das freut mich.«

»Es freut mich, dass Sie mich eingeweiht haben, Oscar. Und wissen Sie was? Ich glaube, ich sollte es Ihnen gleich sagen. Ihr persönliches Vergangenheitsproblem – Sie sollten wissen, dass mich die ganze Angelegenheit nie gestört hat. Keinen Moment lang. Ich meine, ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, und dann habe ich sie abgehakt.«


Es war kaum anzunehmen, dass man sich an den Telefonen am Kinderspielplatz zu schaffen gemacht hatte, daher hatte Fontenot es so arrangiert, dass Oscar die Anrufe des Senators dort entgegennahm. Oscar beobachtete eine Gruppe Kinder, die auf dem Dschungelspielplatz kreischte wie eine Affenhorde.

Fontenot verband ein geheimdiensterprobtes Verschlüsselungsgerät mit dem bonbonfarbenen Mundstück des an der Wand befestigten Telefons.

»Sie werden eine kleine Verzögerung bemerken«, sagte Fontenot zu Oscar. »In Boston hat man Vorsorge gegen eine Überwachung getroffen.«

»Wie steht es mit den hiesigen Behörden? Geht von ihnen Gefahr aus?«

»Waren Sie schon mal auf der hiesigen Polizeiwache?«

»Nein, noch nicht.«

»Ich schon. Vielleicht haben sie ja vor zehn Jahren die Sicherheit ernst genommen. Jetzt könnte man die ganze Anlage mit einem Besenstiel zum Einsturz bringen.« Fontenot hängte den bunten Hörer in die Plastikhalterung, dann wandte er sich um und musterte die umhertollenden Kinder. Wie ihre Eltern waren auch sie barhäuptig und ungepflegt und trugen grell bunte, schlecht sitzende Kleidung. »Nette Kinder.«

»Hm.«

»Hatte leider nie so recht Zeit dafür…« Fontenots umwölkter Blick zeugte von verborgenem Schmerz.

Das Telefon läutete. Oscar nahm ab. »Ja?«

»Oscar.«

Oscar straffte sich ein wenig. »Ja, Senator.«

»Schön, Ihre Stimme zu hören«, sagte Bambakias. »Ich habe Ihnen vor einer Weile ein paar neue Files geschickt, aber das ist nicht das Gleiche.«

»Nein, Sir.«

»Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie mich auf die Zustände in Louisiana aufmerksam gemacht haben. Für die Aufzeichnungen, die Sie mir geschickt haben.« Bambakias’ Stimme schwang sich in die Höhe, als stünde er vor einem Rednerpult. »Die Straßenblockade. Die Air Force. Erstaunlich, Oscar. Empörend!«

»Jawohl, Sir.«

»Das ist ein Riesenskandal! Einfach unglaublich! Diese Leute tragen Uniform und stehen im Dienste der Vereinigten Staaten!« Bambakias holte rasch Luft, dann wurde seine Stimme noch lauter und eindringlicher. »Wie, zum Teufel, sollen wir uns der Loyalität der Männer und Frauen versichern, die gelobt haben, das Land zu verteidigen, wenn wir sie auf zynische Weise als Spielfiguren in einem billigen, schmutzigen Machtkampf benutzen? Wir haben sie praktisch dazu verdammt, zu verhungern, im Dunkeln zu erfrieren!«

Fontenot hatte sich zu den Kindern an der Wippe gesellt. Er hatte Weste und Hut ausgezogen und half einem quirligen Dreijährigen, auf den Sitz zu klettern. »Senator, heutzutage verhungert niemand mehr. Bei den niedrigen Nahrungsmittelpreisen ist das nahezu unmöglich. Außerdem werden sie im tiefen Süden wohl kaum erfrieren.«

»Sie haben mich nicht richtig verstanden. Der Stützpunkt erhält keine Gelder mehr. Er hat seine rechtliche Grundlage verloren. Glaubt man dem Ausschuss für den Notstandshaushalt, existiert der Stützpunkt gar nicht mehr! Man hat ihn einfach aus den Akten gestrichen. Mit dem Federstrich eines Bürokraten hat man politische Unpersonen aus diesen Leuten gemacht!«

»Das stimmt allerdings.«

»Oscar, das ist ein wichtiges Thema. Amerika hat Höhen und Tiefen durchlaufen, das streitet niemand ab, aber wir sind immer noch eine Großmacht. Und so darf eine Großmacht mit ihren Soldaten nicht umspringen. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Das ist grotesk, das ist kompletter Wahnsinn. Und wenn das Beispiel nun Schule macht? Wollen wir etwa, dass die Army, die Navy und die Marines über die Bürger herfallen – die Wähler –, bloß damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können? Das ist Meuterei! Das ist Banditentum! Das grenzt an Landesverrat!«

Oscar wandte sich von den kreischenden Kindern ab. Er wusste ganz genau, dass Straßenblockaden an der Tagesordnung waren. Ständig wurden im ganzen Land Straßen und Wege gesperrt. Straßenblockaden wurden nicht mehr als ›Straßenraub‹ betrachtet, sondern stellten eine geduldete Form des zivilen Widerstands dar. Straßenblockaden waren der alltägliche Ausdruck von Problemen, wie sie ganz ähnlich auf dem Informationshighway existierten: Übertragungsstörungen, Überflutung mit unerwünschter Mail und Verweigerung von Serviceleistungen. Dass nun auch die Air Force daran beteiligt war, stellte lediglich die exotische Spielart einer alltäglichen Praxis dar.

Andererseits hatte Bambakias’ Rhetorik eindeutig ihre Vorzüge. Sie war kraftvoll und schwungvoll. Sie war deutlich und zitierbar. Sie war vielleicht etwas weit hergeholt, aber ausgesprochen patriotisch. Einer der großen Vorzüge der Politik als Kunstform bestand darin, dass sie von der Realität weitgehend abgekoppelt war.

»Senator, was Sie da sagen, hat eine Menge für sich.«

»Danke«, sagte Bambakias. »Wir können in dieser skandalösen Angelegenheit natürlich nicht viel tun, gesetzgeberisch gesprochen. Schließlich bin ich noch nicht offiziell im Amt und werde erst Mitte Januar den Amtseid leisten.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Daher halte ich eine moralische Geste für angebracht.«

»Aha.«

»Zumindest – das ist ja wohl das wenigste – sollte ich meine Solidarität mit unseren geplagten Soldaten unter Beweis stellen.«

»Ja?«

»Morgen Vormittag halte ich hier in Cambridge eine Online-Konferenz ab. Lorena und ich beabsichtigen, in den Hungerstreik zu treten. Solange bis der Kongress sich bereit erklärt, unsere Männer und Frauen in Uniform zu ernähren, werden auch meine Frau und ich hungern.«

»Ein Hungerstreik?« sagte Oscar. »Das ist ein sehr radikaler Schritt für einen gewählten Politiker.«

»Sie werden doch wohl nicht von mir erwarten, dass ich in den Hungerstreik trete, nachdem ich das Amt übernommen habe«, erklärte Bambakias vernünftig. Er senkte die Stimme. »Hören Sie, wir halten das für machbar. Wir haben im Büro in Washington und in der Parteizentrale in Cambridge darüber diskutiert. Lorena meint, nachdem wir uns ein halbes Jahr lang bei diesen Wahlkampfessen gemästet haben, wären wir so dick wie Schweine. Wenn dieser Schritt überhaupt Erfolg haben kann, dann ist das der richtige Moment.«

»Stünde das« – Oscar wog seine Worte sorgfältig ab –, »stünde das denn auch im Einklang mit der Würde des Amtes?«

»Hören Sie, ich habe den Wählern niemals Würde versprochen. Ich habe ihnen Ergebnisse versprochen. Washington verliert an Einfluss, und was man dort auch probiert, macht alles bloß noch schlimmer. Wenn wir diesen Hundesöhnen im Notstandsausschuss nicht die Initiative aus der Hand nehmen, kann ich mich auch ebenso gut zur dekorativen Bücherstütze erklären. Und das ist nicht das, was ich wollte.«

»Ja, Sir«, sagte Oscar. »Das weiß ich.«

»Es gibt da eine Rückzugsoption… Falls der Hungerstreik zu keinem Ergebnis führt, könnten wir einen Konvoi in Bewegung setzen und auf eigene Faust eine Rettungsaktion durchführen. Wir fahren nach Louisiana runter und versorgen den Luftwaffenstützpunkt mit Nahrung.«

»Sie meinen so etwas ähnliches wie unsere Bauaktionen während des Wahlkampfs.«

»Ja, diesmal aber landesweit. Wir machen die Aktion über den Parteiapparat und das Netz bekannt, mobilisieren unsere Aktivisten und sammeln uns in Louisiana. Landesweit, Oscar. Bautrupps, Leute vom Katastrophenschutz, Wohltätigkeitsorganisationen, Demonstranten, alles. Die ganze Latte.«

»Das gefällt mir«, sagte Oscar. »Das gefällt mir sogar sehr. Das ist visionär.«

»Ich wusste, dass Ihnen das zusagen würde. Halten Sie das für eine glaubwürdige Rückzugsdrohung?«

»Aber ja«, antwortete Oscar ohne Zögern. »Sicher. Man weiß, dass Sie sich so etwas leisten können. Ein großer Protestmarsch ist sicherlich glaubwürdig. Ein promilitärischer Protest, das klingt prima. Aber ich würde Ihnen gern etwas zu bedenken geben, wenn Sie es hören möchten.«

»Gewiss doch.«

»Der Hungerstreik ist sehr gefährlich. Dramatische moralische Gesten sind starker Tobak. Die locken die Haie hervor.«

»Das ist mir klar und macht mir keine Angst.«

»Lassen Sie es mich so formulieren, Senator. Sie und Ihre Frau sollten besser richtig hungern.«

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Bambakias. »Das ist machbar. Wir haben jahrelang gehungert.«


Wie die meisten Einrichtungen der amerikanischen Regierung wurde auch das Buna National Collaboratory von einem zehnköpfigen Verwaltungsrat geleitet, dem Dr. Arno Felzian vorstand, der Direktor des Laboratoriums. Die Angehörigen des Verwaltungsrats leiteten jeweils eine der neun Abteilungen.

Aufgrund des Gesetzes zur Wahrung der Transparenz fanden die wöchentlichen Sitzungen öffentlich statt, ›öffentlich‹ bedeutete, dass die Sitzungen an eine Netzadresse übertragen wurden. Gleichwohl hatte auch die traditionelle Auffassung von Öffentlichkeit in Buna noch ihre Gültigkeit. Die Laborangestellten nahmen häufig persönlich an den Sitzungen teil, zumal wenn sie damit rechneten, dass irgendeinem Pechvogel der Kopf gewaschen würde.

Oscar hatte sich dafür entschieden, persönlich an allen Verwaltungsratssitzungen teilzunehmen. Er beabsichtigte nicht, sich formell vorzustellen oder sich in die Angelegenheiten des Verwaltungsrats einzumischen. Er nahm vor allem deshalb teil, um gesehen zu werden. Um sicherzustellen, dass seine Anwesenheit auch bemerkt wurde, brachte er den Netzadministrator Bob Argo und die Oppositionsrechercheurin Audrey Avizienis mit.

Der Versammlungsraum lag im ersten Stock des Medienzentrums, gegenüber einer Fußgängerbrücke, die vom Hauptverwaltungsgebäude herüberführte. Der Raum war 2030 für öffentliche Sitzungen errichtet und mit ansteigenden Sitzreihen, einer ordentlichen Akustik und jeder Menge Kameras ausgestattet worden.

Das Labor konnte jedoch auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Das Netzzentrum war während der heftigen internen Auseinandersetzungen im Jahre 2031 geplündert und teilweise niedergebrannt worden. Der zerstörte Versammlungsraum war während der darauf folgenden, von staatlichen Behörden durchgeführten Hexenjagd und der Finanzskandale ein wenig vernachlässigt worden. Im Jahre 2037, als das Labor die ständigen Finanzkrisen allmählich überwunden hatte, wurden einige Reparaturen durchgeführt, was die Funktionsfähigkeit teilweise wieder herstellte. Die Reparaturfirmen hatten die Brandstellen überkleistert und den Saal ein wenig aufgepeppt. Jetzt war der Raum ein Miniaturdschungel hübscher Topfpflanzen.

Die Bühne war voll funktionsfähig und mit schallschluckenden Wandplatten, Deckenscheinwerfern, einem Tisch in Standardausführung und Stühlen ausgestattet. Die automatischen Kameras funktionierten. Die Verwaltungsratsmitglieder kämpften sich lustlos durch die Tagesordnung. Im Moment ging es gerade um den Austausch der defekten Rohrleitungen in einer der Cafeterias. Der Leiter des Abteilung für Verträge & Beschaffung hatte das Wort. In klagendem Ton las er die Reparaturkosten von einer Liste ab.

»So schlimm habe ich es mir nicht vorgestellt«, flüsterte Argow.

Oscar justierte energisch den Bildschirm seines Laptops. »Bob, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

»Das ist ja furchtbar.« Argow beachtete ihn nicht.

»Bevor ich herkam, war mir gar nicht bewusst, welchen Schaden wir angerichtet haben. Die menschliche Rasse, meine ich. Was wir der Welt alles zugefügt haben. Wenn man’s recht bedenkt, ist es ein einziger Horror. Wissen Sie, wie viele Tierarten in den vergangenen fünfzig Jahren ausgestorben sind? Das ist eine Katastrophe epischen Ausmaßes.«

Audrey beugte sich hinter Oscars Rücken vor. »Du hast versprochen, mit dem Trinken aufzuhören, Bob.«

»Ich bin so nüchtern wie ein Richter, du Ekel! Während du dir im Wohnheim die Nase am Bildschirm plattgedrückt hast, habe ich mich in den Parkanlagen umgesehen. Die Giraffen. Die gelben Krallenaffen. Alle ausgelöscht in einem Holocaust! Wir haben das Meer vergiftet, wir haben die Regenwälder niedergebrannt und in Ackerland verwandelt, und wir haben das Wetter durcheinander gebracht. Und das alles im Namen des modernen Lebens, hab ich Recht? Im Namen von acht Milliarden psychotischen Medienfreaks!«

»Also«, meinte Audrey eingeschnappt, »du bist gerade der Richtige, dich darüber zu ereifern.«

Argow zuckte theatralisch zurück. »Recht so! Reib mir’s unter die Nase! Also, ich weiß sehr gut, dass ich Teil des Problems bin. Ich habe mein Leben damit verschwendet, Netzwerke in Gang zu halten, während die Welt um mich her vor die Hunde ging. Und das gilt auch für dich, Audrey. Wir sind beide schuldig, aber im Unterschied zu dir habe ich die Wahrheit jetzt erkannt. Die Wahrheit ist mir wirklich zu Herzen gegangen.« Argow klopfte sich auf seine Tonnenbrust.

Audreys raue Stimme wurde ölig. »Also, ich an deiner Stelle würde mir nicht so viele Vorwürfe machen. Du bist nicht gut genug in deinem Job, um eine wirkliche Bedrohung darzustellen.«

»Nehmen Sie’s leicht, Audrey«, sagte Oscar nachsichtig. Audrey Avizienis war eine professionelle Oppositionsrechercheurin. Hatte sie erst einmal Witterung aufgenommen, wurde es für ihre Gegner gefährlich. »Hören Sie, wir sind miteinander hergekommen, und ich tue meinen verdammten Job. Aber dieser Witzbold ist eine große, scheinheilige Nervensäge. Glaubt er etwa, ich wüsste die Natur nicht zu schätzen, bloß weil ich eine Menge Zeit im Netz verbringe? Ich weiß eine ganze Menge über Vögel und Bienen und Schmetterlinge und Kohlpflanzen und überhaupt.«

»Ich«, murmelte Argow, »weiß bloß, dass die Welt kaputt geht und dass wir in diesem dämlichen Gebäude herumsitzen, während sich diese Bürokratentrottel endlos über ihre Abwasserprobleme auslassen.«

»Bob«, sagte Oscar ruhig, »Sie übersehen da was.«

»Und das wäre?«

»Es ist wirklich so schlimm, wie Sie sagen. Es ist sogar noch schlimmer. Viel schlimmer. Die Leute hier – die sind für diese Forschungseinrichtung verantwortlich. Also stehen Sie jetzt an vorderster Front. Na schön, Sie sind schuldig, aber wenn Sie sich nicht zusammenreißen, werden Sie noch schuldiger werden. Denn jetzt sind wir am Drücker, und damit stehen auch Sie in der Verantwortung.«

»Oh«, machte Argow.

»Also nehmen Sie sich zusammen.« Oscar klappte den Laptopbildschirm hoch. »Schauen Sie sich das mal an. Sie auch, Audrey. Sie sind beide Systemoperatoren, und ich möchte Ihre Meinung hören.«

Argow richtete seine eulenhaft funkelnden Augen auf den Bildschirm. Eine limonengrüne Ebene mit massigen, rötlichen Bergen. »Äh… ja, das habe ich schon mal gesehen. Das ist… äh…«

»Das ist eine algorithmische Landschaft«, sagte Audrey mit Nachdruck. »Eine Visualisierungskarte.«

»Ich habe das Programm soeben von Leon Sosik erhalten«, sagte Oscar. »Das ist Sosiks Simulationskarte für aktuelle Themen. Die Berge und Täler stellen die gegenwärtigen politischen Trends dar. Die Presseberichterstattung, das Feedback der Wählerschaft, das Spendenaufkommen der Lobby, Dutzende von Faktoren, die Sosik in den Simulator eingespeist hat… Aber schauen Sie her. Ich vergrößere mal diesen Bereich… Sehen Sie die große gelbe Amöbe, die auf dem purpurfarbenen Flecken sitzt? Das ist die gegenwärtige Position, die Senator Alcott Bambakias in der Öffentlichkeit einnimmt.«

»Was?«, sagte Argow skeptisch. »Es geht schon bergab mit ihm?«

»Nein, nicht mehr. Er bewegt sich vielmehr bergauf.« Oscar klickte zweimal. »Dieser khakifarbene Höhenzug steht für militärische Angelegenheiten… Jetzt gehe ich in der Simulation mal zwei Wochen zurück und lasse sie bis zu Bambakias’ Pressekonferenz von heute morgen laufen… Sehen Sie, wie er das Thema quasi durchdringt und dann auf einmal einen Satz nach vorn macht?«

»Wow!« machte Audrey. »Raffinierte altmodische Computergrafiken mochte ich schon immer.«

»Das ist doch Mist«, grummelte Argow. »Diese hübsche Simulation bedeutet noch lange nicht, dass Sie Einblick in die politischen Realitäten haben. Oder in irgendeine Realität.«

»Okay, das ist nicht die Realität. Das weiß ich, das ist mir klar. Aber wenn es nun doch funktioniert?«

»Na ja«, meinte Argow nachdenklich, »selbst das hilft uns nicht viel weiter. Das ist das Gleiche wie mit der Aktienanalyse. Selbst wenn man eine funktionierende Charttechnik hat, so ist der Vorteil doch nur von kurzer Dauer. Schon bald haben alle die gleichen Analysetools, und dann wirkt sich der Vorteil nicht mehr aus. Man steht wieder am Anfang. Bloß dass jetzt alles viel, viel komplizierter geworden ist.«

»Danke für die Ausführungen, Bob. Ich werde mich bemühen, mir das zu merken.« Oscar zögerte. »Audrey, was glauben Sie, warum Leon Sosik mir das Programm geschickt hat?«

»Vermutlich wollte er sich dafür erkenntlich zeigen, dass Sie ihm per Luftfracht den Binturong geschickt haben«, sagte Audrey.

»Vielleicht hat er gedacht, er könnte Sie damit beeindrucken«, meinte Argow. »Oder aber er ist so alt und daneben, dass er das Zeug wirklich für neu hält.«

Oscar schaute vom Bildschirm hoch. Die neun Leute auf dem Podium waren plötzlich verstummt. Sie sahen ihn an.

Der Direktor und dessen neun Funktionäre machten vorübergehend den Eindruck, als stünden sie unter einem Bann. Im Scheinwerferlicht wirkten sie wie einem Gemälde von Rembrandt entsprungen. Oscar kannte sie alle dem Namen nach – Oscar vergaß nie einen Namen –, doch einstweilen hatte er die neun Funktionäre unter den Bezeichnungen ›Verwaltung‹, ›Datenverarbeitung und Kommunikation‹, ›Verträge und Beschaffung‹, ›Finanzdienstleistungen‹, ›Personal‹, ›Informationsgenetik‹, ›Ausrüstung‹ und ›Biomedizin‹ abgespeichert. Dazu kam noch der alberne Gauner von der Abteilung für Arbeitsschutz und Sicherheit mit dem Bürstenschnitt. Jetzt hatten sie ihn bemerkt und – dies wurde Oscar auf einen Schlag klar – fürchteten sich vor ihm.

Sie wussten, dass er die Macht hatte, ihnen zu schaden. Er war in ihren Elfenbeinturm eingedrungen und beurteilte ihre Arbeit. Er kam von draußen, er schuldete ihnen nichts, und sie alle waren schuldig.

Oscar hatten die Blicke von Fremden noch nie etwas ausgemacht. Seine Eltern waren berühmt gewesen. Aufmerksamkeit sprach etwas in Oscar an, eine tief verborgene, dunkle psychische Wesenheit. Von Natur aus war er nicht grausam – doch er wusste, dass es Momente im Spiel gab, da direkte, ursprüngliche Einschüchterung gefordert war. Einer dieser Momente war jetzt gekommen. Oscar schaute vom Bildschirm hoch und bedachte die Leute auf dem Podium mit seinem tödlichen Ich-weiß-alles-Blick.

Der Direktor zuckte zusammen. Er tastete nach der Tagesordnung und ging zum drängenden Thema der Qualitätssicherung in der Abteilung für Technologietransfer über.

»Oscar«, flüsterte Audrey.

Oscar lehnte sich beiläufig zu ihr hinüber. »Ja?«

»Was geht hier vor? Weshalb starrt Greta Penninger Sie so an?«

Oscar blickte wieder zum Podium. Es war ihm noch gar nicht aufgefallen, dass ihn die ›Abteilung für Ausrüstung‹ anstarrte, doch es stimmte. Alle hatten ihn angestarrt, Greta Penninger aber hatte nicht damit aufgehört. Ihr blasses, schmales Gesicht wirkte geistesabwesend und eindringlich, wie das einer Frau, die eine Wespe am Fenster beobachtet.

Oscar erwiderte ernst Dr. Greta Penningers Blick. Ihre Blicke trafen sich. Dr. Penninger, die ihr dunkles Haar als Pferdeschwanz trug, kaute nachdenklich am Ende eines Bleistifts, das gelbe Holz mit spinnenartigen Chirurgenfingern umklammernd, deren Knöchel blau hervortraten. Sie schien fünf Meilen weit durch ihn hindurchzusehen. Nach einer Weile klemmte sie sich den Bleistift hinters Ohr und richtete ihren klaren Blick wieder auf ihren großen Notizblock.

»Greta Penninger«, sagte Oscar versonnen.

»Die langweilt sich wirklich«, meinte Argow.

»Finden Sie?«

»Ja. Die ist nämlich mit Haut und Haar Wissenschaftlerin. Sie ist berühmt. Diese Verwaltungsscheiße langweilt sie zu Tode. Mich langweilt sie auch zu Tode, und dabei arbeite ich nicht mal hier.«

Audrey zauberte rasch Greta Penningers Akte auf den Laptop. »Ich glaube, die mag Sie.«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte Oscar.

»Sie sieht ständig zu Ihnen her und nestelt an ihrem Haar herum. Ich glaube, sie hat sich auch einmal die Lippen geleckt.«

Oscar lachte leise auf.

»Hören Sie, ich mache keine Witze. Sie ist ledig, und Sie sind neu hier. Warum sollte sie sich nicht für Sie interessieren? Mir ginge es genauso.« Audrey klickte sich tiefer in den Oppo-File hinein. »Sie ist erst sechsunddreißig, wissen Sie. Sieht nicht übel aus.«

»Sie sieht übel aus«, versicherte ihr Argow. »Schlimmer als du meinst.«

»Nein, wenn sie sich ein wenig Mühe geben würde, wäre sie okay. Ihr Gesicht ist ein wenig schief, und sie vernachlässigt ihr Haar«, konstatierte Audrey unbarmherzig. »Aber sie ist groß und schlank. Sie könnte sich hübsch kleiden. Donna würde was aus ihr machen.«

»Ich glaube, Donna hat auch so schon genug zu tun«, wandte Argow ein.

»Danke, ich habe schon eine Freundin«, sagte Oscar. »Aber da Sie schon mal den Bildschirm hochgeklappt haben; was macht Dr. Penninger eigentlich so?«

»Sie ist Neurologin. Systemische Veterinärneurologin. Sie hat mal einen hoch dotierten Preis bekommen für eine Arbeit mit dem Titel ›Radiobindende Pharmacokinetik‹.«

»Dann arbeitet sie also immer noch in der Forschung?« fragte Oscar. »Seit wann ist sie in der Verwaltung tätig?«

»Ich sehe mal nach«, meinte Audrey und machte ein paar Eingaben. »Sie arbeitet jetzt seit sechs Jahren in Buna… Sechs Jahre an diesem Ort, man glaubt es kaum. Kein Wunder, dass sie so zappelig wirkt… Offenbar leitet sie die Ausrüstungsabteilung seit vier Monaten.«

»Sie langweilt sich wirklich«, sagte Oscar. »Ihre Arbeit langweilt sie. Das ist sehr interessant. Notieren Sie das, Audrey.«

»Wirklich?«

»Ja. Gehen wir essen.«


Oscar hatte einen Busausflug arrangiert, ein Picknick für einen Teil seiner Mannschaft. Dies diente dazu, die fadenscheinige Fiktion aufrecht zu erhalten, sie seien ›im Urlaub‹, außerdem befreite es sie vorübergehend aus dem dichten Überwachungsnetz und half ihnen, zumindest zeitweise den psychischen Druck der Laborkuppel abzulegen.

Sie fuhren mit dem Wahlkampfbus zu einem Rastplatz nahe dem heruntergekommenen Nationalpark, der ›Große Wildnis‹ genannt wurde. Die Große Wildnis nahm ein erstaunlich großes Gebiet von Texas ein, das dem Ackerbau und der Besiedlung irgendwie entgangen war. Die Bezeichnung ›unberührte Wildnis‹ wäre nicht ganz zutreffend gewesen, denn die Klimaveränderungen hatten dem Park stark zugesetzt; für Besucher aus Massachusetts aber stellte das riesige Gebiet eine angenehme Abwechslung dar.

Es war bedeckt und diesig, geradezu nasskalt, aber es war angenehm, überhaupt einem Wetter ausgesetzt zu sein. Der böige Wind, der im Wildnis-Park wehte, war nicht unbedingt als ›frische Luft‹ zu bezeichnen – die Luft im Osten von Texas war nicht annähernd so frisch wie die Kunstatmosphäre im Labor –, doch sie wies eine breite Palette von Gerüchen auf, den Duft einer Welt, die von einem Horizont umgeben war. Außerdem hatten die Ausflügler Fontenots großen transportablen Gasherd mitgebracht, um sich warm zu halten. Fontenot hatte den Herd gebraucht bei einer Cajun-Metzgerei in Mamou erstanden. Der Herd bestand aus zerlegten Ölfässern, verrußten Blechverkleidungen und Propangasbrennern mit Messingdüsen. Er sah aus, als sei er von betrunkenen Mardi-Gras-Typen zusammengesetzt worden.

Es tat gut, fernab des Labors zu plaudern und ein paar Telefonate zu tätigen. Wanzen waren heutzutage billig – während Handys weniger kosteten als ein Sixpack Bier, waren Abhörvorrichtungen so billig wie Konfetti. Eine billige Wanze aber war bestimmt nicht in der Lage, Daten sechzig Meilen weit bis nach Buna zu übertragen. Und eine teure Wanze wäre Fontenots teuren Scannern nicht entgangen. Somit konnten sie sich ungestört unterhalten.

»Also, was macht das neue Haus, Jules?«

»Es wird, es wird«, antwortete Fontenot zufrieden. »Sie sollten mich mal besuchen kommen. Wir könnten eine Ausfahrt mit meinem nagelneuen Boot machen. Uns ein wenig amüsieren, wie in den guten alten Zeiten.«

»Das wäre nett«, log Oscar taktvoll.

Fontenot gab kleingehacktes Basilikum und Zwiebel in die Einbrenne, dann rührte er alles mit einem Schneebesen durcheinander. »Würde es Ihnen was ausmachen, mal die Kühlbox aufzumachen?«

Oscar erhob sich von der Box und klappte sie auf. »Was brauchen Sie?«

»Die Eischtern.«

»Wie bitte?«

»Aischtern.«

»Was

»Er meint die Austern«, erklärte Negi Estabrook.

»Ach so«, sagte Oscar. Er nahm einen eisgekühlten Beutel mit Muscheln aus der Box.

»Das Ganze wird gemischt und ordentlich heiß gemacht,« wandte Fontenot sich in seinem breitesten und ausgesprochen herrischen Cajun-Dialekt an Negi. »Noch ein Klacks von der Pfeffersoße. Den kann die Suppe noch gut vertragen.«

»Ich kann Suppe kochen, Jules«, verkündete Negi genervt. »Ich habe Ernährungswissenschaft studiert.«

»Aber nicht die Cajun-Küche, Mädel.«

»Cajun ist keine schwierige Küche«, meinte Negi geduldig. Negi war sechzig Jahre alt, und Fontenot war der Einzige in der Mannschaft, der es wagen durfte, sie ›Mädel‹ zu nennen. »Cajun ist im Grunde eine ganz altmodische französische Bauernküche. Mit viel zu viel Pfeffer. Und Schweineschmalz. Mit jeder Menge ungesundem Schweineschmalz.«

Fontenot schnitt eine Grimasse. »Habt ihr das gehört? Sie macht das absichtlich, um mich in meinen Gefühlen zu verletzen.«

Negi lachte. »Bestimmt nicht!«

»Wissen Sie«, sagte Oscar, »ich hatte neulich eine gute Idee.«

»Heraus mit der Sprache«, meinte Fontenot.

»Unsere Unterbringung im Labor ist unerträglich. Und in Buna gibt es auch nichts Gescheites. Buna ist nicht mal eine richtige Stadt; nichts als Gewächshäuser, Blumenzüchter, schmutzige kleine Hotels, ein bisschen heruntergekommene Leichtindustrie. In Buna gibt es einfach keine passende Unterbringungsmöglichkeit, wo wir Besucher empfangen könnten, zum Beispiel einen Senatsausschuss. Deshalb sollten wir unser eigenes Hotel aufmachen.«

Fred Dillen, der für Hausmeisterarbeiten und die Wäsche zuständig war, setzte sein Bier ab. »Unser eigenes Hotel?«

»Warum nicht? Wir ruhen uns jetzt seit zwei Wochen in Buna aus. Wir haben wieder Atem geschöpft. Es wird allmählich Zeit, dass wir uns reorganisieren und etwas bewirken. Wir können ein Hotel aufmachen. Das liegt eindeutig im Bereich unserer Mittel und Möglichkeiten. Schließlich war das unsere beste Wahlkampftaktik. Die anderen Kandidaten haben Versammlungen abgehalten, Fototermine veranstaltet und sich bemüht, auf die Medien einzuwirken. Alcott Bambakias aber hat eine Wahlkampfmeute zusammengebracht und für dauerhafte Unterbringung gesorgt.«

»Wollen Sie damit sagen, wir sollten ein Hotel eröffnen, um Gewinn zu machen?« fragte Fred.

»Also, vor allem zu unserer eigenen Bequemlichkeit, aber auch um des Profits wegen. Die Baupläne und die Software bekommen wir von Bambakias’ Firma. Mit den Bauarbeiten kommen wir schon klar, und was am besten ist, wir verfügen tatsächlich über die nötigen Fertigkeiten, um ein Hotel erfolgreich zu betreiben. Wenn man’s recht bedenkt, ist ein Wahlkampfbus im Grunde ein mobiles Hotel. In diesem Fall aber bleiben wir vor Ort, während die Leute zu uns kommen. Und dann werden sie uns bezahlen.«

»Mann«, sagte Fred. »Das ist wirklich um drei Ecken rum gedacht…«

»Ich halte es für machbar. Ihr könnt alle die gleiche Rolle weiterspielen, die ihr während des Wahlkampfes inne hattet. Fred, Sie kümmern sich um die Wäsche und um die Zimmer. Corky ist für die Gäste und den Empfang zuständig. Rebecca für das physische Wohlbefinden und hin und wieder eine Massage. Jeder hat seinen Platz, und notfalls stellen wir vorübergehend eben ein paar Einheimische ein. Und wir verdienen Geld damit.«

»Wie viel Geld?«

»Ach, das obere Marktsegment sollte eigentlich recht großzügig sein. Ich habe im Labor schon millionenschwere Vertragspartner gesehen, die Tür an Tür mit Postdocs und Doktoranden eingepfercht waren. Das ist einfach unnatürlich.«

»Heutzutage nicht mehr«, räumte Negi ein.

»Das ist eine prima Marktlücke. Yosh regelt das Finanzielle. Lana kümmert sich um die Baubehörde von Buna. Um Interessenkonflikten aus dem Weg zu gehen, lassen wir alles über eine Bostoner Firma laufen. Und wenn wir hier fertig sind, verkaufen wir das Hotel einfach. Bis dahin haben wir eine ordentliche Unterkunft und ein stetiges Einkommen.«

»Das habe ich schon zehnmal miterlebt«, sagte Ando ›Corky‹ Shoeki. »Ich hab sogar dabei mitgeholfen. Ich kann mich trotzdem noch nicht damit anfreunden. Mit der Vorstellung, dass ein Haufen Branchenfremder eine dauerhafte Unterkunft errichten soll, meine ich.«

»Ich gebe zu, dass die distributierte Realisierung auf manche Leute noch immer abschreckend wirkt. Bambakias ist damit sehr reich geworden, aber hier unten ist es noch neu. Mir gefällt die Vorstellung, so etwas im Osten von Texas zu versuchen. Damit beweisen wir den Einheimischen, aus welchem Holz wir geschnitzt sind.«

»Also«, meinte Fred bedächtig, »so sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, fällt mir kein Grund ein, weshalb wir Oscars Vorschlag nicht in die Tat umsetzen sollten.«

»Ihr seid alle kluge Leute«, sagte Oscar. »Nennt mir einen Grund, der dagegen spricht.« Er zog sich in den Bus zurück, um den anderen Gelegenheit zu geben, die Sache zu diskutieren. Hätte er ihnen alles haarklein dargelegt, hätte er ihnen bloß den Spaß verdorben.

Er hängte seinen Hut auf. »Na, Moira«, sagte er, »wie läuft die große Aktion?«

»Oh, prima«, antwortete Moira und schwenkte auf ihrem Drehstuhl herum. Seit der Senator in den Hungerstreik getreten war, sah Moira wieder viel besser aus. Moiras seelisches Wohlbefinden war den Gezeiten des Medientrubels unterworfen. »Die Werte des Senators gehen ab wie eine Rakete. Siebzig Prozent, fünfundsiebzig. Und der Rest sind vor allem Unentschlossene!«

»Phänomenal.«

»Alcotts Blutzuckerwerte im Netz zu veröffentlichen – das war brillant. Die Leute loggen sich rund um die Uhr ein, um ihm beim Hungern zuzusehen! Bei Lorena das Gleiche. Lorena hat große Zustimmung unter den Frauen. Seit Mittwoch war sie auf zehn Glamour-Sites vertreten. Die Leute lieben ihre Wasser-und-Brot-Diät, sie können einfach nicht genug davon kriegen!«

»Wie ist die Lage bei der Basis? Haben die Notstandsausschüsse wegen der Luftwaffenbasis schon was Sinnvolles unternommen?«

»Oh«, sagte Moira, »so weit bin ich noch nicht… Ich… äh… ich dachte, Audrey würde sich darum kümmern.«

»Okay«, brummte Oscar.

Moira führte die Fingerspitzen ans gepuderte Kinn. »Alcott… er ist wirklich etwas Besonderes. Ich habe schon viele Reden von ihm gehört, aber der Auftritt im Krankenhauspyjama, mit dem Apfelsaft… Er hat bloß neunzig Sekunden gedauert, aber das war ein Drama, das ging unter die Haut, pures Gold. Die Aufrufe der Standardsite waren zunächst nicht so berauschend, aber das Chat- und Downloadaufkommen war gewaltig. Alcott positioniert sich weit hinter der ideologischen Frontlinie. Vom Rechten Traditionsblock hatte er noch nie eine solche Zustimmung, aber selbst die schwenken jetzt um. Wissen Sie was, wenn Wyoming nicht gerade in Flammen stünde, wäre das die politische Story. Jedenfalls für diese Woche.«

»Wie läuft es eigentlich in Wyoming?«

»Ach, das Feuer ist viel schlimmer geworden. Der Präsident ist dort.«

»Der alte oder Two Feathers?«

»Two Feathers natürlich. Für den alten interessiert sich keine Sau mehr, der ist erledigt, eine lahme Ente. Ich weiß, Two Feathers ist noch nicht vereidigt, aber die Leute können dem Durchhänger nach der Wahl nichts abgewinnen. Die Leute haben es halt eilig.«

»Stimmt«, sagte Oscar kurz angebunden. Moira erzählte ihm da nichts Neues.

»Oscar…« Moira blickte ihn flehentlich an. »Soll ich ihn bitten, mich nach Washington mitzunehmen?«

Oscar breitete schweigend die Arme aus.

»Er braucht mich. Er braucht eine Sprecherin.«

»Das kann ich nicht entscheiden, Moira. Sie müssten sich an seinen Stabschef wenden.«

»Könnten Sie bei Leon Sosik nicht ein gutes Wort für mich einlegen? Sosik scheint Sie sehr zu mögen.«

»Darüber reden wir noch«, sagte Oscar.

Die Bustür wurde aufgerissen. Norman-der-Praktikant streckte seinen zerzausten Kopf ins Innere und rief: »Das Essen ist fertig!«

»Oh, prima!« sagte Moira und sprang auf. »Exotische Cajun-Meeresfrüchte, gut, gut, gut!«

Oscar setzte den Hut auf, zog das Jackett an und folgte ihr nach draußen. Fontenot teilte voller Genugtuung große Portionen brauner Brühe aus. Oscar stellte sich hinten an. Man reichte ihm einen Pappteller und einen biologisch abbaubaren Löffel.

Oscar besah sich die heiße, ölige Suppe und dachte sorgenvoll an Bambakias. Das PR-Team in Cambridge hatte mit der Überwachung des hungernden Senators unbestreitbar gründliche Arbeit geleistet: Blutdruck, Puls, Körpertemperatur, Kalorienverbrauch, Darmkollern, Speichelfluss – an der Authentizität des Hungerstreiks gab es nicht den geringsten Zweifel. Der Körper des Senators war zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Wann immer Bambakias einen Schluck Apfelsaft trank, schlugen im ganzen Land die Monitoranzeigen aus.

Oscar setzte sich neben Negi an einen Picknicktisch. Er musterte den Inhalt seines randvollen Löffels. Er hatte ernsthaft in Betracht gezogen, heute abend nichts zu essen. Das wäre eine noble Geste gewesen. Aber das sollte ruhig jemand anders machen.

»Blutgefäßdichtung in einem Teller«, bemerkte Negi voller Wonne.

Oscar kostete von der Suppe. »Dafür lohnt es sich zu sterben«, meinte er.

»Ich bin so alt«, klagte Negi und pustete auf den Löffel. »Damals, als ich noch Tattoos und Piercings hatte, setzten einem die Leute zu, wenn man Fett aß und sich sinnlos betrank. Da kannte man natürlich noch nicht die schreckliche Wahrheit über die Vergiftung mit Psdeudo-Östrogen.«

»Tja«, meinte Oscar kameradschaftlich, »zumindest haben die Seuchenkatastrophen mit diesem Diäten- und Fitnesswahn Schluss gemacht.«

»Reichen Sie mir mal das Brot, Norman«, sagte Rebecca. »Ist das richtige Butter? Gute Butter? Wow!«

Ein Leichtflugzeug flog über sie hinweg. Der winzige Motor knatterte energisch, was sich anhörte, als trommelte jemand mit den Fingernägel auf einer Snaredrum herum. Das Flugzeug machte einen erschreckend zerbrechlichen Eindruck. Mit der gespenstisch anmutenden, computerdesignten Auftriebsoberfläche ähnelte es dem Papierflugzeug eines Kindes, zusammengebastelt aus ausgeschnittenen Papierteilen, Eisstielen und Klebeband. Die Fügelränder liefen in fedrige Bänder und lange Drachenschwänze aus. Man hatte den Eindruck, das Fluggerät werde durch schiere Willenskraft in der Luft gehalten.

Dann tauchten drei ähnliche Flugzeuge auf und glitten knapp über die Baumwipfel hinweg. Sie wirkten wie Raubvögel, die Ausschau hielten nach Forellen. Die Piloten trugen Handschuhe und Schutzbrillen und waren so vermummt, dass sie menschlichen Sackballen ähnelten.

Einer der Piloten löste sich aus der Formation, das Flugzeug senkte sich ab wie ein herabfallendes Blatt, dann umkreiste es den am Straßenrand abgestellten Bus. Es war, als würde man von einem Heuballen umschwirrt. Der Pilot winkte ihnen zu, machte mit der beschuhten Hand die Geste des Essens, dann entfernte er sich in östlicher Richtung.

»Luftnomaden«, sagte Fontenot blinzelnd.

»Sie fliegen nach Osten«, bemerkte Oscar.

»Green Huey ist bei den Freizeitgewerkschaften sehr beliebt.« Fontenot setzte den Teller ab, erhob sich und ging zum Bus, um nach den Geräten zu sehen. Er machte ein Gesicht, als wollte er ernstlich arbeiten.

Oscars Mannschaft wandte sich wieder dem Essen zu. Alle aßen nun schweigend und mit größerer Konzentration. Niemand brauchte das Offensichtliche auszusprechen, nämlich dass bald weitere Nomaden eintreffen würden.

Fontenot kam aus dem Bus, wo er sich Verkehrsmeldungen angehört hatte. »Kann sein, dass wir bald weiter müssen«, sagte er. »Die Regulatoren haben sich im Alabama-Cushatta-Reservat gesammelt und kommen jetzt hier durch. Die hiesigen Prolos sind nicht unbedingt harmlos.«

»Also, wir sind hier ebenfalls fremd, wissen Sie«, sagte Negi. Negi hatte lange Zeit auf der Straße gelebt, damals, als die Obdachlosen noch keine Handys und Laptops gehabt hatten.

Zehn Minuten später trafen zwei Nomadenscouts mit einem Motorrad mit Beiwagen ein. Sie waren gekleidet, als ob es Winter wäre. Sie trugen Wickelröcke, gestreifte Ponchos und weite, grobe Umhänge, die mit prachtvollen Firmenlogos des zwanzigsten Jahrhunderts bestickt waren. Ihre Haut glänzte von einer dicken, isolierenden Fettschicht. Die Beine steckten bis zur Wadenmitte in einer stiefelartigen Plastiksubstanz, die nach PVC aussah.

Die Scouts hielten an und kamen herüber. Es waren schweigsame, stolze Leute, die ihre Netzkameras dabeihatten. Der Fahrer verzehrte gerade einen großen, quadratischen Brocken Kunstnahrung, der aussah, als bestünde er aus komprimiertem Luzernenmus.

Oscar winkte sie näher. Offenbar gehörten sie nicht den legendären Regulatoren an. Dies waren texanische Straßenwanderer, in ihrer Art weit weniger fortschrittlich als die Prolos aus Louisiana. Diese Leute sprachen bloß spanisch. Das Spanisch, das Oscar als Kind erlernt hatte, war mehr als bloß eingerostet, und Donna Nunez war nicht in der Nähe. Dafür verstand Rebecca Pataki ein paar Brocken Spanisch.

Die Nomaden äußerten sich bewundernd über den Wahlkampfbus. Sie boten ihnen Gemüseriegel an. Oscar und Rebecca lehnten den Nomadenfraß höflich ab und boten ihnen stattdessen Muschelsuppe an. Die Nomaden schluckten vorsichtig den Rest der heißen Suppe und ließen sich ausführlich über den Geschmack aus. Als die tierischen Fette in ihren Blutkreislauf übergingen, wurden sie umgänglicher. Sie erkundigten sich nonchalant nach Metallschrott: Nägel, Eisen, Kupfer? Corky Shoeki, der Majordomus und Recyclingexperte, gab ihnen ein paar leere Büchsen.

Oscar wunderte sich sehr über die Laptops der Nomaden. Sie benutzten keine Standardtastaturen, sondern hatten die Buchstaben QWERTYUIOP durch andere Zeichen ersetzt. Diese Burschen tippten nicht einmal wie normale Menschen. Aus irgendeinem Grund beunruhigte dies Oscar mehr als der Umstand, dass diese Nomaden mexikanische Illegale waren.

So gemächlich, als hätten sie alle Zeit der Welt, was ja auch tatsächlich der Fall war, fuhren die beiden schließlich weiter. Der Verkehr war so gut wie eingeschlafen. Die Leute hatten Wind davon bekommen, dass die Regulatorenhorde unterwegs war, und mieden die Straßen. Zwei Polizeiwagen fuhren mit Blaulicht, aber ohne Sirene vorbei. Die Nomadenstämme hatte keine Angst vor der Polizei. Sie waren zu zahlreich, um verhaftet zu werden, und im Übrigen hatten die Prolos ihre eigene Polizei.

Die Vorhut des Regulatoren-Konvois traf ein. Trucks und Busse mit Plastikkarosserien, die sich mit etwa dreißig Meilen pro Stunde bewegten, um Kraftstoff zu sparen und die Motoren zu schonen. Dann kam die Hauptsache, die technische Basis der Nomaden. Tieflader und Tanklaster, beladen mit Erntemaschinen, Komprimierern, Zerkleinerungsmaschinen, Schweißgeräten, Walzen, Fermentationspfannen, Rohren und Ventilen. Sie ernährten sich von Gras, vom Unkraut am Straßenrand und Hefekulturen. Die Frauen trugen Röcke, Schals und Schleier. Horden von Kindern, deren energiegeladene Körper mit bunten Perlen und Federn geschmückt waren.

Oscar beobachtete fasziniert das Schauspiel. Das waren keine Dropouts aus dem Nordosten, die am Existenzminimum ihr Dasein fristeten und von billigen Nahrungsmitteln und öffentlicher Unterstützung lebten. Das waren Menschen, die sich zu einem Stamm zusammengeschlossen hatten und unbeirrt ihren Weg gingen. Sie waren ein System überdrüssig geworden, das ihnen nichts zu bieten hatte, und daher hatten sie einfach ihr eigenes erfunden.


Nach dem Picknick räumte die Mannschaft auf. Fontenot wählte eine Rückfahrtroute aus, auf der sie von dem auf Wanderschaft begriffenen Stamm nicht aufgehalten werden würden. Fontenot würde sie eskortieren; den zerbeulten Cajun-Ofen hatte er an sein elektrisch angetriebenes Geländefahrzeug angekoppelt. Selbst wenn sie von einer Horde Regulatoren eingekeilt werden sollten, hätten sie in der Metallhülle ihres Wahlkampfbusses doch nichts zu befürchten. Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, würden sie sich einfach dem Konvoi anschließen.

Plötzlich vermeldete Oscars Handy einen persönlichen Anruf. »Oh, Oscar«, neckte ihn Rebecca. »Das Handy sprüht schon wieder Funken.«

»Ich habe den Anruf erwartet«, sagte Oscar. »Entschuldigen Sie mich.« Er trat hinter das Heck des Busses, während die anderen weiter packten.

Seine Freundin Clare aus Boston war dran. »Wie geht’s dir, Oscar?«

»Gut. Alles in allem läuft es nicht schlecht. Es ist sehr interessant. Was tut sich so zu Hause? Du fehlst mir.«

»Alles in Ordnung«, sagte Clare. Zu rasch.

Er verspürte einen winzigen Stich. Mach dir keine Sorgen, dachte er. Zieh keine voreiligen Schlüsse. Das ist nicht irgendeine, das ist Clare. Das ist Clare, das ist machbar.

Oscar hätte seine Besorgnisse am liebsten ausgesprochen. Das aber wäre sehr dumm gewesen. Lieber drum rum reden. Soll sie doch die Eröffnung machen. Sei witzig, sei charmant. Plaudere ein wenig. Finde ein unverfängliches Thema. Doch es wollte ihm um’s Verrecken keins einfallen.

»Wir haben ein Picknick gemacht«, platzte er heraus.

»Das klingt toll. Ich wünschte, ich wäre bei dir.«

»Ich wünschte das auch«, sagte er. Auf einmal hatte er eine Idee. »Wie sieht’s aus? Kannst du herkommen? Wir haben hier einiges vor, das würde dich bestimmt interessieren.«

»Ich kann im Moment nicht nach Texas fliegen.«

»Du hast doch bestimmt von dem Luftwaffenstützpunkt in Louisiana gehört? Der Senator befindet sich im Hungerstreik. Ich habe hier ausgezeichnete Informanten. Das ist eine prima Story, du könntest herkommen und vor Ort recherchieren.«

»Ich glaube, dein Freund Sosik hat die Story bereits ausgewalzt«, sagte Clare. »Ich befasse mich nicht mit Bostoner Politik. Nicht mehr.«

»Was?« Er war verblüfft. »Wie das?«

»Ich habe vom Netz einen neuen Auftrag bekommen. Ich soll in die Niederlande gehen.«

»In die Niederlande? Und was sagst du dazu?«

»Oscar, ich schreibe über Politik. Wie sollte ich das Angebot, nach Den Haag zu gehen, da abschlagen? Es herrscht kalter Krieg, das ist ein Traumjob. Das ist der Durchbruch für mich, mein bislang größter Karrieresprung.«

»Und wie lange würdest du in Übersee bleiben?«

»Also, das hängt davon ab, wie gut ich bin.« Oscar schwirrte der Kopf. »Das freut mich. Ich möchte natürlich auch, dass du weiterkommst. Aber… die diplomatische Lage… die Niederländer sind so provokant. So radikal.«

»Natürlich sind sie radikal, Oscar. Ihr Land geht unter. Wenn Amerika unter dem Meeresspiegel läge, wären wir ebenfalls Extremisten. Die Niederländer haben so viel zu verlieren, sie stehen wirklich mit dem Rücken zum Deich. Deshalb sind sie ja im Moment so interessant.«

»Du sprichst nicht mal niederländisch.«

»Die sprechen dort alle englisch, weißt du.«

»Die Niederländer sind militant. Sie sind gefährlich. Sie stellen verrückte Forderungen an die Amerikaner, sie können uns nicht ausstehen.«

»Ich bin Journalistin, Oscar. Es gehört zu meinem Job, mich nicht so leicht zu fürchten.«

»Dann willst du es also wirklich tun«, folgerte Oscar mit schwerer Zunge. »Du willst mich verlassen, hab ich recht?«

»So würde ich es nicht ausdrücken…«

Oscar starrte blicklos auf das Heck des Busses. Auf einmal kam ihm die glatte Karosserie fremdartig und abstoßend vor. Der Bus hatte ihm sein Heim gestohlen und die Frau im Schlafzimmer. Der Bus hatte ihn gekidnapped. Er wandte ihm den Rücken zu und näherte sich ziellos dem dichten texanischen Wald. »Nein«, sagte er. »Ich weiß schon. Es geht um die Arbeit. Um deine Karriere. Ich habe damit angefangen. Ich habe einen wichtigen Job angenommen und dich verlassen. Hab ich recht? Ich habe dich allein gelassen, und ich bin immer noch nicht wieder bei dir. Ich bin weit weg von dir und weiß nicht, wann ich wiederkomme.«

»Also, das hast du gesagt, nicht ich. Aber es stimmt.«

»Dann darf ich dir wirklich keine Vorwürfe machen. Andernfalls wäre ich ein Heuchler, nicht wahr? Wir wussten beide, dass es dazu kommen könnte. Wir haben einander keine Versprechungen gemacht.«

»Das stimmt.«

»Es war eine Beziehung.«

»Ich mochte die Beziehung.«

»Sie war gut, findest du nicht? Sehr gut sogar, in Anbetracht der Umstände.«

Clare seufzte. »Nein, Oscar, das darfst du nicht sagen. Sag das nicht, das wäre nicht fair. Es war mehr als nur gut. Es war großartig, es war einfach perfekt. Ich meine, du hast mir so viel gegeben. Du hast nie versucht, mich zu beeinflussen, und du hast mich kaum jemals angelogen. Du hast mich bei dir wohnen lassen. Du hast mich deinen reichen und einflussreichen Freunden vorgestellt. Du hast meine Karriere unterstützt. Du hast mich nie angebrüllt. Du warst ein wahrer Gentleman. Brillant. Ein Traumpartner.«

»Das ist lieb von dir.« Er fühlte sich ganz wund.

»Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich es nicht geschafft habe… du weißt schon… über diese Geschichte hinweg zu kommen.«

»Ja«, sagte Oscar bitter. »Das ist mir nicht neu.«

»Das ist – das ist halt eine dieser ewigen Tragödien. So etwas wie mein Minderheitsstatus als Weiße.«

Oscar seufzte. »Clare, ich glaube nicht, dass du wegen deiner weißen Hautfarbe schon mal diskriminiert worden bist.«

»Nein, das Leben ist hart, wenn man einer Minderheit angehört. Es ist einfach so. Ich meine, gerade du solltest doch wissen, was das bedeutet. Ich weiß, du kannst nichts für deine Herkunft, aber trotzdem… Ich meine, das ist einer der Gründe, weshalb ich den Job in den Niederlanden angenommen habe. So viele amerikanische Weiße kehren nach Europa zurück… Dort sind meine Leute, verstehst du? Dort liegen meine Wurzeln. Ich glaube, das würde mir irgendwie helfen.«

Oscar bekam kaum mehr Luft.

»Ich habe ein richtig mieses Gefühl, Schatz, als hätte ich dich hängen lassen.«

»Nein, so ist es besser«, sagte Oscar. »Es tut sehr weh, aber es schmerzt weniger, als wenn sich die Beziehung dahinschleppen würde und wir uns gegenseitig etwas vormachten. Lass uns Freunde bleiben.«

»Weißt du, vielleicht komme ich ja wieder. Du brauchst nichts zu überstürzen. Du brauchst nicht gleich alles über den Haufen zu schmeißen. Ich bin’s doch, deine Clare. Hier geht’s nicht um Politik.«

»Lass uns einen klaren Schlussstrich ziehen«, sagte er mit fester Stimme. »Das ist am besten für uns. Für uns beide.«

»Also gut. Ich glaube, ich verstehe dich. Leb wohl, Oscar.«

»Es ist vorbei, Clare. Leb wohl.« Er legte auf. Dann schleuderte er das Handy in den Wald.

»Alles geht schief«, sagte zum schmutzigen rotgrauen Himmel. »Was ich auch anpacke, alles geht schief!«

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