Auf dem Mars

Der Mars! Immerzu möchte man diesen Namen wiederholen. Draußen vor den Fenstern des Schiffes ist die Nacht hereingebrochen. Die erste Nacht für uns seit sechs Monaten! Die Sonne ist nicht zu sehen. Sie ist genauso am Horizont untergetaucht wie auf der Erde.

Ein Sonnenuntergang! Diese so natürliche, vertraute Erscheinung kam uns hier außergewöhnlich und geheimnisvoll vor. Klein und kalt im Vergleich mit der Sonne, wie wir sie von der Erde her kennen, warf sie ihre letzten Strahlen auf das reglose Raumschiff und verschwand … Wie Diamanten glitzern die Sterne in den uns von Kind auf bekannten Sternbildern am Himmel, einem Himmel, der für Erdbegriffe viel zu dunkel ist. Die Sandwüste, das Dickicht blaugrauer Pflanzen und der unbewegliche Wasserspiegel des Sees, an dessen Ufer das Schiff gelandet ist, sind in Finsternis getaucht. Morgen bei Sonnenaufgang werden wir das Raumschiff verlassen. Morgen!

Kamow hat Ruhe angeordnet. Paitschadse schläft in einer zwischen Fenster und Tür aufgespannten Hängematte.

Ich kann nicht schlafen und sitze auf meiner Lagerstatt. Die Nerven verlangen nach einer Beruhigung. Mein Tagebuch!

Das alte, bewährte Mittel! Ich werde unsere Ankunft auf dem Mars schildern …

Unser großartiges Schiff erreichte genau zur festgesetzten Zeit den Punkt im Weltenraum, an dem die Begegnung stattfinden sollte.

Während wir uns dem Ziel näherten, hatten wir den von der Sonne hell beschienenen Planeten fast gerade vor uns und sahen ihn von Tag zu Tag größer werden. Seine Farbe war jetzt nicht mehr Rotorange, wie wir sie von der Erde her an ihm kannten, sondern Gelborange. Den Grund dafür suchte ich in der Geschwindigkeit unseres Schiffes, aber wie mir Paitschadse erklärte, war diese zu gering, als daß sie eine merkliche Beschleunigung der Lichtwellen, selbst der uns entgegenkommenden, hätte hervorrufen können.

„Um rotes Licht gelb erscheinen zu lassen“, sagte er, „müßte die Geschwindigkeit des Schiffes das Fünfhundertfache betragen. Dann würde sich die Wellenlänge des roten Lichtes verkürzen und in die des gelben verwandeln, was im Auge eine entsprechende Wahrnehmung hervorriefe.

Das kann aber nur mit einer einzelnen Spektrallinie geschehen, während der Mars ein kontinuierliches Spektrum ausstrahlt.“

„Warum hat sich dann seine Farbe so verändert?“ fragte ich.

„Das frage ich mich auch“, erwiderte er. „Wahrscheinlich, weil hinter den Bordfenstern keine Atmosphäre ist.

Wenn ich eine Erklärung dafür gefunden habe, setze ich Sie in Kenntnis.“

Wir waren zu zweit im Observatorium. Kamow und Belopolski schliefen. Ich schaute angespannt auf die kleine, sich schon deutlich abzeichnende Scheibe des Planeten.

Die winzige Kugel schien zusehends näher zu kommen.

Was mochte uns dort, am Ziel unserer weiten Reise, erwarten?

„Glauben Sie, daß es auf dem Mars denkende Wesen gibt?“ fragte ich.

„Darauf kann ich nur eins antworten: Die Wissenschaft befaßt sich nicht mit Spekulationen. Es sind noch keinerlei Spuren intelligenter Wesen festgestellt worden.“

„Und die Kanäle?“

Er zuckte die Schultern. „Schiaparelli, der auf dem Mars feine gerade Linien entdeckte, nannte sie ›canali‹. Die dünnen geraden Linien sind von der Erde aus zu sehen. Wir fotografieren sie auch. Aber es besteht kein Grund, sie als ein Ergebnis bewußter Tätigkeit zu betrachten. Jetzt, da wir dem Mars so nahe sind, sehe ich diese Kanäle gar nicht mehr.“

„Wie kommt das?“

„Ganz einfach: Zuerst waren die feinen Linien durch unser Fernrohr immer deutlicher zu erkennen. Als wir dann näher kamen, begannen sie zu verschwimmen und zu verblassen, bis sie schließlich ganz verschwanden.“

„Sie sind also nur eine optische Täuschung?“

„Eher eine durch die Entfernung hervorgerufene Täuschung als eine optische. Doch sie muß ihre Ursache haben. Schiaparellis und Lowells Gegner hielten die Kanäle für eine durch die Entfernung bedingte optische Täuschung. Möglicherweise hatten sie recht.“

Der Abstieg zum Mars unterschied sich in nichts vom Anflug der Venus. Nur gab es hier keine Wolken, die die Oberfläche des Planeten verhüllt hätten. Die Marsatmosphäre war rein und durchsichtig.

Genau wie hundertvier Tage zuvor wurden die Motoren eingeschaltet, um das Schiff zu bremsen. Die Besatzung befand sich auf ihren Plätzen — Paitschadse und Belopolski an den Geräten, ich an meinem Fenster, Kamow am Steuerpult.

Der Mars vergrößerte sich rasch und schien sich in rasendem Tempo auf uns zuzubewegen. Allmählich verlor er seine Kugelgestalt, und seine Oberfläche vertiefte sich zu einer gigantischen Schale. Je näher wir kamen, desto weiter bogen sich die Ränder dieser Schale auseinander, und als das Schiff bis auf tausend Kilometer heran war, verschwanden sie hinter den Linien des fernen Horizonts.

Wir flogen über eine endlose Ebene. Nirgends war auch nur eine Anhöhe zu entdecken. Eine glatte, gelblichbraune Fläche mit einigen dunklen Flecken, das war alles, was man sehen konnte.

„Wüste!“ sagte Kamow.

Ich war arg enttäuscht. Nach dem Reinfall mit der Venus hatte ich meine ganze Hoffnung auf den Mars gesetzt. Daß dieser Planet bewohnt war, stand für mich außer Zweifel.

In meiner Erinnerung wurden alle Wesen — von den häßlichen Spinnen Wells’ bis zu den hochentwickelten Marsbewohnern Alexej Tolstois — wieder lebendig, alle diese Gestalten, mit denen die Vorstellungskraft zahlreicher Verfasser utopischer Romane diesen rätselhaften „roten Planeten“ bevölkert hatte. Und nun flog das Schiff mit gebreiteten Schwingen über eine tote, trostlose Wüste!

Das Schiff ging auf tausend Meter nieder. Durchs Fernglas waren alle Einzelheiten gut zu erkennen. Sand, nichts als Sand und vereinzelt blaugraue Flecken unbekannter Gewächse.

Wir flogen mit einer Stundengeschwindigkeit von sechshundert Kilometern westwärts, eine Richtung, die der Drehung des Planeten entgegengesetzt war. Der Landschaftscharakter änderte sich allmählich. Immer häufiger zeugten ausgedehnte Flecken von Vegetation. Der Boden fiel sacht ab, und bald befanden wir uns in etwa dreitausend Meter Höhe.

Die Sandwüste schwand. Unter uns lag ein dichter Teppich unbekannter Gewächse. Doch dazwischen erhob sich kein Baum, kein größerer Strauch. Dann blinkte ein kleiner See auf, noch einer und noch einer, immer mehr. Näherten wir uns etwa einem Ozean? Keine Spur. Zwei Stunden später begann der Boden anzusteigen, und wir sahen wieder die tote Sandwüste.

„Sergej Nikolajewitsch!“ sagte Belopolski. „Kehren wir lieber um und landen im Seengebiet.“

„Wollen mal abwarten. Bis jetzt haben wir ja nur einen kleinen Teil des Geländes zu Gesicht bekommen. Solchen Senken wie der vorhin, müßten wir eigentlich noch begegnen.“

Die Worte unseres Kapitäns bewahrheiteten sich erst nach vier Stunden. Inzwischen breitete sich unter uns immer die gleiche endlose, traurige Einöde aus. Augenscheinlich gab es auf dem Mars weder Berge noch Hügel. Die Bodensenke, die wir gesehen hatten, war bei über tausend Kilometer Breite so flach gewesen, daß sie den Eindruck, die Oberfläche des Planeten sei glatt wie eine Billardkugel, nicht hätte ändern können. Mag sein, daß es irgendwann einmal auf dem Mars Berge gegeben hatte, doch dann mußten Winde und Regenfälle, die es wohl auch gegeben hat, sie mit der Zeit so weit geglättet und eingeebnet haben, daß nichts mehr von ihnen übriggeblieben ist.

Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu. Bald würde die Nacht hereinbrechen, für uns die erste Nacht nach sechs Monaten. Eine Nacht auf einem fremden Planeten.

Gegen Ende der siebenten Flugstunde bemerkten wir Anzeichen einer neuen Senke. Auf dem gelbbraunen Grund der Wüste zeigten sich immer mehr Oasen mit niedrigen Gewächsen. Danach begann der Boden abzufallen, und neue Seen tauchten auf.

Die Sonne stand schon ganz niedrig über dem Horizont, als Kamow sich entschloß, den Flug abzubrechen.

Die Geschwindigkeit sank. Das Schiff beschrieb weite Kreise über dem ausgewählten Landeplatz und ging allmählich immer tiefer. Das Motorengeheul ließ nach. Man spürte das Beben des Schiffskörpers.

Der entscheidende und zugleich gefährlichste Augenblick des Fluges war gekommen. Das Raumschiff, das Dutzende von Tonnen wog, konnte sich bei niedriger Geschwindigkeit nur schwer in der dünnen Marsatmosphäre halten. Jede Sekunde konnte es abstürzen.

Kamow ließ kein Auge vom Periskop. Mit sicherer Hand bediente er Hebel und Knöpfe des Steuerpults.

Wir waren nur noch fünfzig Meter vom Boden entfernt, als plötzlich die Geschwindigkeit zunahm. Die Anziehungskraft des Planeten hatte das Beharrungsvermögen des Schiffes in seiner Flugbahn überwunden. Mit den Tragflächen balancierend, segelte das Schiff nach unten.

Dann ertönte ein knirschendes Geräusch. Vor den Fensterscheiben stoben Wolken feinen Sandes auf, und unser Schiff, das mehr als vierhundertvierzig Millionen Kilometer durchs Weltall geflogen war, stand still.

Das Ziel war erreicht. Wir waren auf dem Mars!

Von der Größe des Augenblicks überwältigt, fielen wir einander in die Arme.

„Sergej Alexandrowitsch“, sagte Paitschadse, „wann gedenken Sie auszusteigen?“

„Bei Tagesanbruch“, antwortete Kamow.

„In welchen Breiten befinden wir uns?“

„Ungefähr am Äquator.“

Die Nacht würde also ganze zwölf Stunden dauern.[1]

Wie schwer es auch war, so lange zu warten, fiel es doch keinem von uns ein, die Anordnung unseres Kommandanten anzufechten. Es wäre unvernünftig gewesen, das Schiff zu verlassen und in die Finsternis hinauszugehen, in der tausend Gefahren lauern konnten. Die Nacht war schon hereingebrochen. Rasch wie in den Tropen war sie dem Tag gefolgt.

„Das beste ist“, meinte Kamow, „wir gehen jetzt in unsere Kajüten und schlafen, bis es hell wird. Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns. Zwar ist die Schwerkraft auf dem Mars nicht so groß wie auf der Erde, so daß uns die körperliche Arbeit nicht viel ausmachen wird, aber wir sind sie alle schon lange nicht mehr gewöhnt.“

Morgen gehen wir an die Arbeit. Das Programm dafür ist bereits auf der Erde entworfen worden und sieht, je nachdem was wir auf dem Planeten vorfinden, drei Varianten vor. Ich fürchte, wir werden selbst die letzte noch kürzen müssen, die für den Fall gilt, daß sich der Mars als unbewohnt erweist. Nach dem zu urteilen, was wir von den Schiffsfenstern aus gesehen haben, ist der Planet eine einzige Wüste. Das Sammeln von Pflanzenproben wird nicht lange dauern. Der morgige Tag soll der Vorbereitung dienen, danach wollen wir vier Ausfahrten unternehmen, um das Gelände in einem Umkreis von hundert Kilometern zu erforschen. Die erste Ausfahrt unternehmen Kamow und Paitschadse, die zweite Belopolski und ich. Diese Regelung haben wir getroffen, weil entweder Kamow mit einem Astronom oder aber Belopolski an Bord bleiben muß für den Fall, daß eine der Ausfahrten unglücklich endet. Unser Schiff muß unter allen Umständen zur Erde zurückkehren.

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