Seit fast zwei Monaten habe ich mein Tagebuch nicht angerührt. In dieser Zeit war auch nichts vorgefallen, was besonderer Erwähnung wert gewesen wäre. Das Leben an Bord ging wieder seinen ruhigen, geregelten Gang.
In dem Moment, als wir von der Venus abflogen, betrug ihre Entfernung zum Mars dreihundertsiebzig Millionen Kilometer. Da sich aber der Mars auf seiner Bahn uns entgegen bewegt, brauchte unser Schiff nur zweihundertfünfzig Millionen Kilometer zurückzulegen, um ihn zu erreichen, zeitlich also zweitausendfünfhundert Stunden oder hundertvier Tage. Vierundfünfzig davon sind bereits vergangen.
Wie ich schon erwähnte, war nichts Besonderes vorgefallen — bis auf den gestrigen Tag, den 7. November, der niemals aus unserem Gedächtnis schwinden wird. An diesem Tag ereignete sich etwas, was nach Paitschadses Worten nur alle tausend Jahre einmal vorkommen kann.
Die Begegnung, die uns beinahe das Leben gekostet hätte, fand um einundzwanzig Uhr fünfzehn statt. Ich wollte mich gerade zum Schlafen in die Kajüte begeben, als plötzlich der Automat des Funkscheinwerfers in Tätigkeit trat.
Ein hämmernder Glockenton erfüllte das Raumschiff, und mein Herz krampfte sich zusammen, als mir zum Bewußtsein kam, daß Gefahr im Anzug war. Seit dem Start ertönte dieses Schreckenssignal jetzt zum ersten Male.
Blitzschnell flog Kamow an mir vorüber, zum Pult hin.
Ich folgte ihm nicht, sondern blieb dort, wo mich der Alarm überrascht hatte. Paitschadse, der sich am Fenster auf hielt, verharrte regungslos und ließ den Kommandanten nicht aus den Augen. Alle Muskeln angespannt, wartete ich auf einen Befehl, voller Bereitschaft, ihn augenblicklich auszuführen, wie immer er lauten mochte. Aber es kam kein Kommando.
Das Schiff erbebte plötzlich, und eine unsichtbare Gewalt schleuderte mich gegen die Wand. Ein fürchterliches Getöse schlug mir betäubend ans Ohr, und mich durchzuckte der Gedanke an eine Katastrophe. Aber schon begriff ich, was geschehen war: Kamow hatte unangekündigt einen der Motoren eingeschaltet. Zum ersten Male hörte ich dieses Getöse ohne Helm.
Zu unserem Glück hielt der ungeheuerliche Lärm nicht länger als fünf Sekunden an. Dann trat wieder Stille ein, und ich fühlte mich wie von einer Last befreit. Mir war schwindlig, in meinen Ohren dröhnte es noch immer, doch das konzentrierte und ernste, dabei aber ruhige Gesicht Kamows gab mir die Gewißheit, daß die unbekannte Gefahr vorüber war.
„An die linken Fenster! Melnikow zur Aufnahme!“ rief Kamow. und preßte das Auge ans Periskop.
Sofort war ich bei dem in die linke Schiffswand eingebauten Filmapparat. Ohne noch zu wissen, was vor sich ging, öffnete ich das Objektiv und schaltete das Band ein.
Dann ergriff ich in fieberhafter Eile die tragbare Filmkamera und öffnete „mein“ Fenster.
Anfangs sah ich nichts. In der dunklen Leere leuchteten friedlich wie immer unzählige Sterne. Alles war wie sonst.
Da aber tauchte vor uns an der Bordwand der grell erleuchtete gezackte Rand eines riesenhaften Körpers auf. Er wurde von Sekunde zu Sekunde größer und schien mit unheimlicher Geschwindigkeit geradeswegs auf unser Schiff zuzufliegen.
Ich erblickte bizarr aufgetürmte Felsen mit scharfen Vorsprüngen und tiefen schwarzen Spalten. Es sah aus, als würde dieser in der Sonne funkelnde Bergkoloß das kleine Raumschiff, das ihm furchtlos entgegenjagte, im nächsten Augenblick zerschmettern.
Der unförmige Klumpen tauchte im Nu vor den Schiffsfenstern auf und versperrte uns die Sicht. Er flog so dicht an uns vorbei, daß man wohl nur die Hand auszustrecken brauchte, um seine graue Oberfläche zu berühren. Über seine Felsvorsprünge und tiefen Schluchten glitt blitzartig der Schatten unseres Schiffes.
Wieder zeigte sich ein ungleichmäßiger, gezackter Rand, und der Koloß verschwand so schnell, als wäre er hinter uns im Raum zerschmolzen. Wieder erschloß sich uns die friedlich leuchtende Sternenwelt. Unergründliche Leere umgab von neuem das Schiff, und es schien, als hätte es den ungestalten Brocken, der unserem Weltraumflug beinahe ein Ende gesetzt hätte, niemals gegeben.
All das hatte höchstens zwanzig Sekunden gedauert. Erschüttert, wenn nicht gar ein wenig verstört, hörte ich auf, die Kurbel zu drehen, und stellte den automatischen Apparat ab. Mehr gab es nicht zu filmen.
Kamow atmete tief auf. Sein Gesicht war sehr blaß. Er zog ein Tuch hervor und wischte sich mit einer müden Bewegung die Stirn.
„Was war das?“ fragte ich flüsternd Paitschadse.
„Ein Asteroid“, antwortete er. „Einer jener Zwergplaneten, die den Astronomen der Erde unbekannt sind.“
„Wir haben als erste einen aus größter Nähe gesehen …
und so nahe“, sagte Belopolski.
„Für eine solche Begegnung standen zwar die Chancen eins zu hunderttausend“, meinte Kamow, „und trotzdem werde ich mir meine selbstsichere Behauptung, daß sie unmöglich sei, nie verzeihen.“
„Wozu so reden?“ meinte Paitschadse. „Eine Begegnung mit einem Asteroiden war erst hinter der Marsbahn zu befürchten. Dort ist ihre Hauptzone. In der Nähe der Erdbahn sind sie selten. Was eben geschah, ist ein höchst seltener Ausnahmefall.“
„Aber dieser höchst seltene Ausnahmefall hätte Ihnen das Leben kosten können“, sagte. Kamow.
„Und Ihnen auch“, versetzte Belopolski. „Die heutige Technik ist noch nicht imstande, einen solchen Zusammenstoß abzuwenden. Wenn er stattgefunden hätte, wäre niemand daran schuld gewesen.“
Kamow schwieg eine Weile.
„Sie haben natürlich recht“, meinte er dann. „Ich werfe mir nur vor, daß ich von der Unmöglichkeit einer solchen Begegnung gesprochen habe. Das soll nicht nur uns, sondern allen Weltraumfahrern der Zukunft eine nützliche Lehre sein. Wer hat Wache am Pult?“
„Ich“, antwortete Belopolski.
„Bleiben Sie weiter auf Ihrem Posten!“
„Wollten Sie sich nicht schlafen legen?“ wandte sich Paitschadse an mich, als sich die Tür hinter dem Kommandanten geschlossen hatte. „Gehen wir. Für heute reicht’s an Interessantem. Noch etwas dürfte sich schwerlich ereignen.“
In der Kajüte machten wir es uns in unseren Netzen zu beiden Seiten des runden Bordfensters bequem.
„Ich denke immer noch an die Worte Konstantin Jewgenjewitschs“, sagte ich. „Erinnern Sie sich? Er meinte, die heutige Technik sei noch nicht imstande, einen solchen Zusammenstoß zu verhüten. Aber wäre es nicht möglich, den Funkscheinwerfer mit einem Automaten zu koppeln, der die Flugrichtung des Schiffes beim Auftauchen eines Hindernisses ändert? Könnte man das Schiff nicht mit einer Art Kurssteuerung versehen?“
„So etwas gibt es nicht“, erwiderte Paitschadse. „Was sich für ein Flugzeug eignet, muß sich noch lange nicht für ein Raumschiff eignen. Bedenken Sie nur, daß wir nach dem Trägheitsgesetz fliegen. Die Motoren sind ja gar nicht in Betrieb. Um den Kurs zu ändern, müßte man sie einschalten. Im voraus berechnen, ob ein plötzlich auftauchender Körper mit dem Schiff zusammenstößt oder nach welcher Seite man auszuweichen hat, kann kein Automat.
Jedenfalls bis jetzt noch nicht“, fügte er hinzu. „In der Zukunft wird es einen solchen Apparat geben.“
„Dann wollen wir dem Zufall danken, daß wir diesmal noch davongekommen sind.“
„Zufall?“ fragte Paitschadse. „Unser Kommandant hat ein scharfes Auge und eine sichere Hand. Im Augenblick der Begegnung beobachtete ich gerade ein vor uns liegendes Objekt, und so sah ich gleich nach dem Alarmsignal den Zwergplaneten rechts oberhalb unserer Flugbahn auftauchen. Ein Zusammenstoß war unausbleiblich, seine Flugbahn schnitt den Weg unseres Schiffes. Jeder andere an Kamows Stelle wäre seitwärts ausgewichen, aber Sergej bremste das Schiff nur, gerade so viel, wie nötig war, um den Planeten vor dem Bug vorbeizulassen. Es gehört schon ein sicheres Augenmaß und große Kaltblütigkeit dazu, sich zu solch einem Manöver zu entschließen. Bedenken Sie: er mußte sofort handeln, er hatte nicht eine Sekunde Zeit zum Überlegen.“
Paitschadse sprach äußerlich ruhig, aber mir fiel auf, daß er Kamow beim Vornamen genannt hatte. Das tat er nur dann, wenn er stark erregt war.
„In welchem Abstand sind wir am Planeten vorbeigeflogen?“
„Es waren höchstens sechshundert Meter.“
Erst jetzt erkannte ich das ganze Ausmaß der Gefahr, der unser Schiff entronnen war.
„Bei einem so geringen Abstand hätte doch der Planet Anziehungskraft auf uns ausüben müssen“, sagte ich.
„Dieses winzige Glied des Sonnensystems“, erwiderte Paitschadse, „konnte bei der hohen Geschwindigkeit unseres Schiffes keinerlei Wirkung auf uns ausüben. Das Schiff ist nicht um einen Millimeter von seinem Weg abgewichen. Nicht einmal ein Körper von der Größe des Mondes kann den Flug unseres Schiffes, das sich mit einer Sekundengeschwindigkeit von achtundzwanzig Kilometern fortbewegt, nennenswert beeinflussen. Und so ein Krümel schon lange nicht.“
„Krümel ist gut!“ sagte ich und dachte dabei an den riesigen Gesteinsklumpen.
Paitschadse lachte. „Für die Astronomie“, meinte er, „ist die Erde nur ein kleiner Planet und ein Asteroid von höchstens dreißig Kilometer Durchmesser nichts weiter als ein Staubkörnchen. Aber so klein dieser Planet auch sein mag, mich wundert, daß er noch nicht entdeckt ist. Seine Bahn verläuft doch nahe der Erdbahn.“
„Sein Name stand ja nicht auf ihm geschrieben“, meinte ich. „Vielleicht war er einer von denen, die man auf der Erde kennt.“ Ich biß mir auf die Zunge, als ich sah, daß Paitschadse die Brauen runzelte, aber es war zu spät. Der Satz war mir schon entschlüpft. „Entschuldigen Sie, Arsen Georgijewitsch!“ beeilte ich mich zu sagen. „Es war ein Scherz. Und ein schlechter, ich gebe es zu.“
„Der Ring der Asteroiden“, erklärte Paitschadse, als hätte er meine Worte nicht gehört, „liegt zwischen der Mars- und Jupiterbahn. Wie man annimmt, hat es dort einmal einen großen Planeten gegeben, der aus unerklärlichen Gründen in viele Teile zerfallen ist. Die kleinen Planeten sind Bruchstücke eines großen. Heute haben wir einen solchen Planeten aus der Nähe gesehen und uns davon überzeugen können, daß er ein Bruchstück ist und kein Körper, der sich selbständig gebildet hat. Sonst hätte er Kugelform haben müssen. Die Theorie, nach der die Asteroiden als Bruchstücke eines großen Planeten entstanden sind, hat sich bestätigt. Das ist das hochwichtige Ergebnis unserer heutigen Begegnung. Der Asteroidenring liegt, wie gesagt, zwischen der Bahn des Mars und der des Jupiter, aber es gibt auch Asteroiden, die über diesen Bereich hinausgehen.
Gegenwärtig kennt man die Bahnen von dreitausendfünfhundertzwanzig kleinen Planeten. Bei der Vorbereitung unserer Expedition wurde die Möglichkeit, einem von ihnen zu begegnen, in Betracht gezogen. Von jedem uns bekannten …“ — er betonte das letzte Wort — „
… Asteroiden, dessen Bahn das Schiff kreuzen konnte, hat man den Ort im Raum berechnet. Wir sollten keinem einzigen begegnen. Folglich handelt es sich bei dem Gesteinsbrocken, den wir heute gesehen haben, um einen Zwergplaneten, der auf der Erde unbekannt ist.“
Er sah mich von der Seite an und zeigte wieder sein gewohntes freundliches Lächeln. „Die Astronomie ist eine exakte Wissenschaft“, sagte er. „Gute Nacht, Boris Nikolajewitsch!“