Am nächsten Tag, gleich nach Sonnenaufgang, begab sich der Geländewagen erneut auf Fahrt. Kamow setzte sich ans Steuer. Neben ihm nahm Melnikow Platz.
Im hinteren Teil des Wagens waren Spaten, Hacken, Leinen, Drahtseile und eine elektrische Winde verstaut.
Kamow schloß die Tür und ließ den Motor an. Melnikow füllte unterdessen die Kabine mit Sauerstoff.
Der Wagen zog scharf an und jagte nach vorn.
Die eintönige Marsebene schien ohne Leben. Nicht ein einziger „Hase“ zeigte sich auf dem Weg des Geländewagens, der schnell und gleichmäßig Kilometer um Kilometer zurücklegte.
Die beiden Weltraumfahrer schwiegen. Melnikow war sehr erregt, zu stark empfand er die Ungewöhnlichkeit der Fahrt auf dem Planeten, den er von der Erde aus so oft als kleinen rötlichen Stern gesehen hatte. Kamow, der dasselbe bereits am Tage vorher durchgemacht hatte, war ruhig.
„Achtung!“ sagte er plötzlich. „Sehen Sie, da vorn!“ Melnikow führte das Fernglas an die Augen, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.
„Sehen Sie nichts?“
„Nein, Sergej Alexandrowitsch.“
„Das ist es eben!“ meinte Kamow. „Vor uns liegt ein Sumpf! Eine richtige Falle. Gestern haben wir ihn auch nicht bemerkt. Gut, daß wir kein großes Tempo drauf hatten, denn wir mußten den Rückwärtsgang einschalten. Sehen Sie, wie die Spur vorn einen Bogen macht?“
Er ließ den Wagen halten. Der „Sumpf“ unterschied sich in nichts vom umliegenden Gelände, nur daß der Sand ein wenig dunkler war und die Gewächse sich höher erhoben als auf den anderen Stellen.
„Wenn man im Schritt fährt, kann man solch einen ›Sumpf‹ rechtzeitig entdecken“, sagte Kamow. „Aber selbst bei dreißig Kilometer Geschwindigkeit werden sie einem schon gefährlich. Wer weiß, wie tief sie sind.“
Sie setzten die Sauerstoffmasken auf und stiegen aus.
„Halten Sie recht oft nach allen Seiten Ausschau“, riet Kamow. „Wenn uns eine solche Schlange überrascht, von der Bason sprach, kann es ein schlimmes Ende nehmen.“
Sie standen zwar auf einem freien Platz, doch in der Nähe wuchsen viele Pflanzen, die die Sicht behinderten. Das an die Naturbedingungen des Mars gewöhnte Raubtier konnte sich leicht an die Menschen heranschleichen.
„Wir müssen möglichst schnell fertig werden“, sagte Kamow. Er sprach leise, und in seiner Stimme klang verhaltene Erregung.
Während Melnikow den Revolverlauf fester umklammerte, starrte er angestrengt zu der nahen Pflanzengruppe hinüber. Ihm war, als regte sich dort etwas unter den langen Blättern. Instinktiv trat er an Kamow heran. „Dort ist etwas“, flüsterte er.
Kamow blickte in die Richtung, in die die Hand seines Begleiters wies, riß dann den Revolver hoch und schoß.
„Es ist nichts, wie Sie sehen“, sagte er. „Bewahren Sie nur ruhig Blut, obwohl es hier wirklich unheimlich ist.“
Der Knall des Schusses hatte auf Melnikow beruhigend gewirkt, er schämte sich seines Kleinmuts, steckte den Revolver in den Gürtel seines Overalls und begann Kamow zu helfen. Zu zweit schleppten sie die Winde aus dem Geländewagen, stellten sie auf und schlossen den Motor mit Hilfe von Gummikabeln an den Akkumulator des Wagens an. Kamow nahm eine Eisenstange mit zugespitztem Ende und ging, den Sandboden abtastend, langsam vorwärts. Der Boden schwankte. „Das ist kein gewöhnlicher Sumpf wie auf der Erde“, meinte er, „das ist etwas anderes.“ Er hatte erst fünf oder sechs Schritte getan, als die Stange plötzlich seiner Hand entglitt und im Sand verschwand. Kamow blieb wie angewurzelt stehen.
„Man möchte beinahe glauben, daß unter der Sandschicht Wasser ist“, sagte er, „aber auf Wasser kann sich Sand nicht halten. Unser Glück, daß wir gestern nicht an diese Stelle geraten sind. Der Wagen hätte genauso versinken können wie die Stange.“ Er trat einen Schritt zurück.
„Prüfen wir mal, wie tief es hier ist.“
Melnikow holte aus dem Wagen einen langen, spitzen Eisenstab, der mehrere durchgehende Löcher aufwies. An dem Stab war ein Drahtseil befestigt. Vorsichtig setzten sie ihn an der Stelle auf, wo vorhin die Stange verschwunden war, und ließen ihn los. Der Stab versank ebenfalls im Nu.
Das Seil, das sich von einer Trommel abwickelte, glitt über den Sand und verschwand in dem Abgrund. Die Schnelligkeit, mit der es sich abwärts bewegte, zeigte eindeutig, daß der Stab auf keinerlei Hindernis stieß. Das Seil zwischen der Winde und der Meßstelle grub sich immer tiefer in den Sand ein; um es weiter verfolgen zu können, traten Kamow und Melnikow zur Winde zurück, die neben dem Geländewagen stand. Nach einer Minute hatte sich das tausend Meter lange Seil vollständig abgerollt und spannte sich fast senkrecht nach unten.
„Ein wirklich bodenloser Abgrund“, sagte Kamow. Er schaltete den Motor ein, die Trommel drehte sich nun andersherum und spulte das Seil wieder auf. In den Löchern des Eisenstabes fand sich der gleiche Sand wie an der Oberfläche.
„Sie können sich in den ersten Sekunden gefüllt haben“, meinte Kamow. „Wir haben noch nicht den Beweis dafür, daß die Sandschicht tausend Meter hinunterreicht.
Aber der Stab ist völlig trocken. Demnach gibt es unter der oberen Schicht kein Wasser. Warum ist er aber frei gefallen? Versuchen wir es noch mal mit einem längeren Seil.“
Der Versuch wurde wiederholt. In tausenddreihundertzwanzig Meter Tiefe stand der Stab still. Als man ihn wieder hochzog, fand man in den Löchern den gleichen Sand.
Kamow setzte sich auf dem Funkwege mit Belopolski in Verbindung und erstattete ihm Bericht. „Probieren Sie es doch an anderen Stellen“, riet Belopolski.
Der „Sumpf“ umfaßte eine Fläche von etwa einem Hektar. Noch drei Stunden lang maßen Kamow und Melnikow die Tiefe, wobei sie das „Ufer“ entlanggingen, ohne jedoch einen Versuch von der Mitte aus zu riskieren. Das Ergebnis war überall das gleiche. Allem Anschein nach gab es an dieser Stelle unter der Marsoberfläche einen tiefen Schacht, angefüllt mit Sand, der aus unbekannten Gründen keine große Dichte aufwies. Die Tiefenmessung mit Hilfe eines Echolots ergab dasselbe Resultat: tausenddreihundertzwanzig Meter. Der zutage geförderte Sand wurde fürsorglich in Blechbüchsen verwahrt.
„Mit den Geräten, die wir besitzen“, sagte Kamow, „können wir nicht mehr tun. Dieses Rätsel werden spätere Expeditionen lösen.“
Sie wollten eine der auf dem „Sumpf“ wachsenden Pflanzen mitnehmen, die etwas höher waren als die neben dem Raumschiff und auch von anderer Struktur sein konnten. Wider Erwarten erwies sich das als ein schwieriges Unterfangen. Kamow tastete den Boden um die ausgewählte Pflanze ab; als er sich überzeugt hatte, daß man hier nicht Gefahr lief zu versinken, begann er die Wurzeln freizulegen. Melnikow stand Wache und beobachtete das Gelände. Mehrere Male wechselten sie sich ab. Die Gewächse hatten unzählige, ineinander verflochtene Wurzeln, was die Arbeit sehr erschwerte. Melnikow schlug vor, die Pflanze mit Hilfe der Winde loszureißen, aber Kamow lehnte das entschieden ab. „Wir müssen sie in unversehrtem Zustand auf die Erde bringen“, erklärte er. „Die Winde könnte die Wurzeln abreißen.“
Nach zwei Stunden angestrengter Arbeit hatten sie es geschafft. Die Marspflanze wurde vorsichtig aus dem Sand gezogen, auf das flache Verdeck des Wagens gelegt und mit einem breiten Riemen festgebunden, auf eine Weise, daß weder der Stiel noch die sorgsam hingebetteten Wurzeln beschädigt wurden. Auf dem Raumschiff sollte die kostbare Fracht im Kühlraum die Reise zur Erde antreten, um dort in den Laboratorien eines botanischen Instituts einer gründlichen Untersuchung unterzogen zu werden.
Der Geländewagen jagte wieder im alten Tempo der Spur vom Vortag nach.
Plötzlich, in etwa fünfzig Meter Entfernung war ein riesiges Tier aus dem Gesträuch auf den Weg gesprungen. Kaum hatten sie sein silbriges Fell und die lange, einem Krokodilsrachen ähnelnde Schnauze erkennen können, da duckte sich das Tier angesichts des rasch näher kommenden Geländewagens zu Boden und verschwand mit einem gigantischen Sprung wieder im Gebüsch.
Kamow trat in voller Fahrt auf die Bremse der rechten Gleiskette. Mit einer scharfen Wendung schoß der Wagen, die Sträucher unter sich zermalmend, ins Gebüsch hinein und nahm die Jagd auf.
„Setzen Sie die Maske auf!“ rief Kamow erregt. „Halten Sie den Apparat bereit! Wir müssen es um jeden Preis fotografieren!“
Er bremste den Wagen so scharf, daß Melnikow mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe stieß.
Zwanzig Meter von ihnen entfernt lag das verfolgte Tier an einem See, an den Boden geschmiegt. Es konnte nicht weiter, das Wasser versperrte ihm den Weg.
Melnikow drehte die Kamerakurbel. Kamow setzte ihm und sich selbst rasch die Sauerstoffmasken auf.
Sekundenlang verharrte das Tier regungslos. Dann sperrte es den riesigen Rachen weit und drohend auf und entblößte mehrere Reihen spitzer, dreieckiger Zähne. Vom Kopf bis zur Spitze seines zottigen Schwanzes war das Tier drei bis dreieinhalb Meter lang. Den Leib, der nicht dicker war als der eines Krokodils, stützten drei Paar Beine; die beiden dicht beieinanderstehenden vorderen Paare waren kurz und mit scharfen Krallen versehen, die Hinterbeine dagegen lang und eingeknickt wie bei einer Heuschrecke.
Offensichtlich hatte das Tier es ihnen zu verdanken, daß es so gewaltige Sprünge vollführen konnte. Das Tier richtete seine runden, graugrünen Augen mit den schmalen Katzenpupillen auf den Geländewagen und sprang plötzlich, die Hinterbeine kraftvoll streckend, aus zwölf Meter Entfernung auf ihn zu.
Der Überfall kam so unerwartet, daß Melnikow zurückprallte. Kamow ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
Während das Tier sprang, gab er Gas, und der Wagen schoß vorwärts, mit einer Wendung nach rechts dem See ausweichend. Das Tier flog über ihn hinaus in den Sand.
Durch den Mißerfolg ergrimmt, drehte es sich blitzschnell um und sprang zum zweiten Male. Diesmal erreichte es sein Ziel. Der Geländewagen erbebte unter dem Anprall.
Kamow stellte den Motor ab.
Das Tier war auf dem Dach, und seine Krallen — vielleicht waren es auch seine Zähne — kratzten am Metall.
Zerdrückt und verstümmelt fiel die so mühevoll erstandene Pflanze in den Sand.
„Bereit halten!“ befahl Kamow.
Melnikow legte den Filmapparat beiseite und griff nach dem Gewehr.
Der Wagen fuhr langsam an, aber das Tier blieb auf dem Verdeck. Vielleicht war es über diese ihm bisher unbekannte Art der Fortbewegung erschrocken. Sein Schwanz hing herab und streifte mit der Spitze den Boden. Das Kratzen am Metall hörte auf.
„Wir müssen es zum Abspringen bringen“, sagte Kamow. Er drückte auf den Hupknopf. Ein heulender Ton zerriß die Stille der Einöde. Das Tier in seinem Entsetzen wollte herunterspringen, rutschte aber mit seinen Krallen an dem glatten Metall ab und stürzte unmittelbar vor den Gleisketten rücklings zu Boden. Einen kurzen Augenblick lang hatte Melnikow das helle Bauchfell und die sechs Pfoten, die hilflos in der Luft zappelten, dicht vor Augen, dann krümmte sich das Tier, warf sich herum und stob mit Zehnmetersprüngen davon.
Kamow erhöhte das Tempo, und der Wagen holte den Flüchtling, der dem ununterbrochenen, noch nie vernommenen Hupengeheul zu entrinnen suchte, rasch ein. Kamow öffnete das vordere Fenster.
„Schießen Sie nur, wenn Sie sich Ihrer Sache sicher sind“, sagte er. „Versuchen Sie den Kopf zu treffen.“
Melnikow verfolgte aufmerksam jede Bewegung des Tieres, aber dessen ruckartige Sprünge machten es ihm unmöglich, genau zu zielen. „So wird’s nichts“, meinte er.
„Irgendwann muß er ja mal ermüden“, entgegnete Kamow.
„Wer weiß, wann. Am Ende rasen wir noch in einen Sumpf hinein.“
„Gut! Versuchen wir es anders.“
Kamow schaltete die Hupe aus. Die plötzliche Stille veranlaßte das Tier, haltzumachen und den Kopf zu wenden.
Der Wagen hielt drei Schritte von ihm entfernt. Das Ziel war kaum zu verfehlen, und Melnikow schoß.
„Es ist, scheint’s, getroffen“, sagte Kamow.
Die beiden beobachteten das Tier scharf.
„Ich habe ihm zwischen die Augen gezielt“, bemerkte Melnikow.
Sie warteten einige Minuten, dann traten sie, die Waffe schußbereit in der Hand, vorsichtig heran. Das Tier war tot. Die Kugel hatte es genau zwischen die Augen getroffen.
Sie konnten vor Erregung kaum sprechen. Zu ihren Füßen lag ein Tier, geboren und aufgewachsen auf dem Mars — das Ergebnis einer langen Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten, einer Entwicklung, die unbekannte Stadien durchlaufen hat. Was hatte dieses Tier mit den Tieren der Erde gemeinsam? Worin unterschied sich sein Organismus, der unter ganz anderen Bedingungen existierte, von dem ihren? Welche Geheimnisse würde die Untersuchung dieses von einer irdischen Kugel getöteten Wesens den Wissenschaftlern offenbaren?
„Werden wir es auf das Verdeck ziehen können?“
„Versuchen wir’s!“
Aber auch die geringe Schwerkraft auf dem Mars half nicht; sie konnten den Koloß nicht bewältigen. Das Tier war zu schwer für zwei Mann. Da sich nichts Taugliches für eine behelfsmäßige Rampe fand, mußten sie auf die Dienste der Winde verzichten.
„Uns bleibt nichts anderes, als es abzuschleppen“, sagte Kamow. „Wir werden Vorsorge treffen, daß das Fell nicht beschädigt wird. Wenn wir Wagensitze unterlegen und langsam fahren, wird alles gut gehen.“
Das taten sie denn auch. Sie koppelten vier Sitze des Geländewagens zusammen und hoben den Tierleib mit Hilfe der Winde auf die so entstandene Lederunterlage. Inzwischen verging über eine Stunde.
„Zum amerikanischen Schiff kommen wir heute nicht mehr“, meinte Melnikow.
„Wir fahren morgen hin.“
Die Rückfahrt dauerte sechs Stunden. Der Geländewagen fuhr mit dem langsamsten Gang. Oft wurde angehalten, weil die sich lockernden Teile des improvisierten Anhängers wieder befestigt oder der abrutschende Tierleib zurechtgerückt werden mußte.
Die Sonne neigte sich dem Westen zu, als die erschöpften Jäger endlich das Schiff erreichten. Das tote Tier in den Kühlraum zu befördern, erwies sich ebenfalls als ein schweres Stück Arbeit.
„Von den fünf Tagen sind schon drei vergangen“, meinte Kamow, als das schwierige Werk getan war, „und wir haben erst sehr wenig geschafft.“
„Dafür werden wir uns eben in den restlichen zwei Tagen ein bißchen dahinterklemmen“, erwiderte Belopolski.
„Eigentlich haben wir doch gar nicht so wenig geschafft.
Daß wir diese Echse mit auf die Erde bringen, ist schon ein großer Erfolg.“
„Wie sagten Sie? Echse?“
„Ja. Springechse. Das ist meiner Meinung nach der passendste Name für dieses Tier.“