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Dennis Wexroth sagte kein einziges verdammtes Wort. Hätte er es getan, ich hätte ihn wahrscheinlich auf der Stelle erschlagen. Er stand da, die Handflächen gegen die Wand gepreßt, eine zunehmende Röte verunstaltete seine rechte Augenhöhle, wahrscheinlich würde binnen kurzem ein ansehnliches Veilchen daraus werden. Der Hörer seines Telefons lag im Papierkorb, dort hatte ich ihn hingeschleudert.

In meinen Händen hielt ich ein prächtig aussehendes Pergament, das besagte, daß ybissaC mahgninnuC kcirederF sich den Grad eines eigoloporhtnA red drotkoD erworben hatte.

Ich kämpfte um meine Selbstbeherrschung, legte das Dokument auf den Schreibtisch zurück und dämmte den Strom meiner Verwünschungen ein.

„Wie?“ fragte ich. „Wie um alles in der Welt konnten Sie das nur bewerkstelligen? Das … das ist illegal!“

„Es ist, im Gegenteil, vollkommen legal“, sagte er. „Glauben Sie mir, es wurde unter notarieller Aufsicht angefertigt.“

„Nun, warten wir ab, was die Gerichte zu dieser Sache meinen“, sagte ich. „Ich hätte niemals zu einer Graduierung zugelassen werden können, ich habe weder eine Dissertation vorgelegt, noch habe ich mich irgendwelchen mündlichen Prüfungen unterzogen, geschweige denn meine Graduierungsunterlagen eingereicht. Und nun sagen Sie mir einmal, wie Sie mich rechtens zum Doktor machen wollen. Das würde mich wirklich sehr interessieren.“

„Zuerst einmal sind Sie hier eingeschrieben“, sagte er. „Das macht Sie würdig, hier graduieren zu dürfen.“

„Würdig, ja – berechtigt, nein. Das ist ein großer Unterschied.“

„Das stimmt, aber die Voraussetzungen für eine Graduierung werden von der Universitätsleitung erstellt.“

„Was haben Sie getan? Sich mit ihnen zu einer speziellen Audienz verabredet?“

„Natürlich gab es eine außerordentliche Konferenz. Dort wurde unter anderem das Postulat aufgestellt, daß die Einschreibung zum Vollzeitstudenten nur mit dem Ziel erfolgen kann, als Abschluß zu graduieren. Konsequenterweise, wenn alle anderen Faktoren zutreffend sind …“

„Ich habe kein einziges Hauptfach beendet“, sagte ich.

„Die formalen Vorlesungsbestimmungen sind dehnbar, wenn es zu einer vorgezogenen Graduierung kommt.“

„Aber ich habe überhaupt kein Vordiplom gemacht!“

Er lächelte, überlegt es sich dann aber und verbarg sein Grinsen.

„Wenn Sie sich die Regeln sehr sorgfältig durchlesen“, sagte er, „dann werden Sie sehen, daß das Vordiplom nirgendwo als Voraussetzung für eine vorgezogene Graduierung genannt wird. Bei einem ‚qualifizierten Kandidaten’ genügt auch ein angemessener Ersatz’. Das sind die Phrasen, Fred, die Auslegung besorgt der Vorstand.“

„Zugegeben, diese Bestimmungen stehen in der Dissertationsordnung, ich habe sie gelesen.“

„Gut. Dazu kommt dann noch Geheiligte Erde – Eine Studie über Kultstätten, ein Buch, das Sie im Verlag der Universität herausgebracht haben. Es ist so gut, daß man es als eine Dissertation in Anthropologie ansehen kann.“

„Auf diesem Punkt werde ich Sie vor Gericht festnageln“, sagte ich. „Aber fahren Sie fort. Ich bin fasziniert. Sagen Sie mir, wie Sie das Problem der mündlichen Prüfung gelöst haben.“

„Nun“, sagte er, dabei wegblickend, „die Professoren, die in Ihrem Prüfungsausschuß gesessen hätten, stimmten einhellig darin überein, in Ihrem speziellen Fall auf mündliche Prüfungen zu verzichten. Sie sind schon so lange hier und bei allen so gut bekannt, daß es als überflüssige Formalität angesehen wurde. Zudem waren zwei der Profs Klassenkameraden von Ihnen, damals, in den Erstsemestern, und diese Tatsache erschien ihnen doch zu komisch.“

„Das kann ich mir vorstellen. Lassen Sie mich die Geschichte nun selbst beenden. Die Vorsitzenden der Sprachlichen Fakultät waren der Meinung, ich hätte bereits genügend Kurse in den jeweiligen Sprachen belegt, und sie könnten mir ohne weiteres die geforderten Fertigkeiten bescheinigen. Richtig?“

„Könnte man sagen.“

„War es einfacher, mir ein Doktorat zu geben als ein Vordiplom?“

„Ja.“

Ich wollte ihm noch mal eine reinhauen, aber das wäre keine Lösung gewesen. Daher schlug ich mir nur mehrmals mit der Faust in die hohle Hand.

„Warum?“ fragte ich. „Nun weiß ich, wie Sie es angestellt haben, aber die grundlegende Frage bleibt nach wie vor, warum?“ Ich begann, hin und her zu gehen. „Ich habe dieser Universität sämtliche Vorlesungs- und Praktikumsgebühren bezahlt, dreizehn Jahre lang – ein ansehnliches Sümmchen, wenn man alles zusammenzählt –, und ich habe mir niemals etwas zuschulden kommen lassen. Ich bin immer bestens mit den Fakultätsleitern, den Vorsitzenden und meinen Mitstudenten ausgekommen. Abgesehen von meinem Klettern habe ich den Verantwortlichen niemals Grund für Ärger gegeben, und ich habe auch dem Ansehen der Universität nie geschadet … Bitte entschuldigen Sie. Was ich damit sagen wollte ist, daß ich ein sehr angenehmer Kunde für das war, was hier verkauft wird. Und was geschieht? Ich kehre der Uni den Rücken, verlasse die Stadt kurze Zeit, und währenddessen jubeln Sie mir einen Doktor unter. Verdiene ich so eine Behandlung, nachdem ich jahrelang mein Bestes für die Universität gegeben habe? Ich halte es für eine verdammt schäbige Handlungsweise, und ich möchte eine Erklärung dafür haben. Ich möchte sie auf der Stelle. Hassen Sie mich wirklich so sehr?“

„Gefühle spielten dabei überhaupt keine Rolle“, sagte er, wobei er sich mit einer Hand behutsam über die Wange strich. „Ich sagte Ihnen bereits, ich wollte Sie hier loswerden, einfach, weil Ihr Stil und Ihre Einstellung mir überhaupt nicht passen. Daran hat sich nichts geändert. Aber ich trage keine Verantwortung für das Vorgefallene. Ich war sogar dagegen. Uns wurden … nun … gewisse Zwänge auferlegt.“

„Was für Zwänge?“ fragte ich.

Er wandte sich ab. „Ich glaube, ich bin nicht die richtige Person, um mit Ihnen darüber zu sprechen.“

„Doch, das sind Sie“, widersprach ich. „Erzählen Sie mir alles darüber.“

„Nun, die Universität bekommt eine Menge Geld von der Regierung, wie Sie ja sicher wissen. Für Forschungszwecke, Stiftungen und so weiter …“

„Ich weiß. Und weiter?“

„Normalerweise stecken sie ihre Nasen nicht in unsere Angelegenheiten.“

„Das ist auch richtig so.“

„Mitunter haben sie aber etwas zu sagen. Und wenn das so ist, dann hören wir auch zu.“

„Wollen Sie mir etwa erzählen, ich verdanke meinen Doktor einer Regierungsanfrage?“

„Mit einem Wort – ja.“

„Ich glaube Ihnen nicht. Die machen so etwas einfach nicht.“

Er zuckte die Achseln. Dann wandte er sich um und sah mich wieder an.

„Es gab einmal eine Zeit, da hätte ich das auch gesagt“, sagte er zu mir. „Aber nun weiß ich es besser.“

„Warum wollten sie es denn so haben?“

„Davon habe ich keine Ahnung.“

„Das kann ich kaum glauben.“

„Man sagte mir, der Grund sei streng vertraulich. Zudem sagte man mir, die Angelegenheit sei dringend und warf mir noch das Wort Sicherheit’ hin. Mehr erfuhr ich nicht.“

Ich blieb stehen. Ich rammte meine Hände in die Taschen. Ich fand eine Zigarette, nahm sie heraus, zündete sie an. Sie hatte einen komischen Beigeschmack.

„Es war ein Mann namens Nadler“, sagte er. „Theodore Nadler. Er ist vom Innenministerium. Er war derjenige, der mit uns Kontakt aufnahm und … die Arrangements vorschlug.“

„Ich verstehe“, sagte ich. „Haben Sie vorhin versucht, ihn anzurufen, als ich mich weigerte, die Urkunde anzunehmen?“

„Ja.“

Er sah zu seinem Schreibtisch, kam herüber, nahm sich seine Pfeife und seinen Tabaksbeutel.

„Ja“, wiederholte er, während er die Pfeife stopfte. „Er bat mich, ihn zu benachrichtigen, sobald ich Kontakt mit Ihnen aufgenommen hätte. Und da ich das ja dank Ihrer tatkräftigen Unterstützung nicht kann, möchte ich Sie bitten, ihn selbst anzurufen, wenn Sie Näheres wissen wollen.“

Er nahm die Pfeife in den Mund, beugte sich nach vorne und kritzelte eine Nummer auf seinen Block. Er riß das Blatt ab und gab es mir.

Ich nahm es, betrachtete die Nummer, steckte es in meine Tasche. Wexroth zündete seine Pfeife an.

„Und Sie wissen wirklich nicht, was er von mir will?“ fragte ich ihn.

„Ich habe keine Ahnung.“

„Nun“, sagte ich, „trotzdem geht es mir besser, seit ich Ihnen eine gescheuert habe. Wir sehen uns vor Gericht.“

Ich wandte mich zum Gehen.

„Ich glaube nicht, daß schon einmal jemand eine Universität auf Zurücknahme eines Doktortitels verklagt hat“, sagte er. „Das könnte interessant werden. Aber lassen Sie mich noch sagen, es freut mich ungemein, das Ende Ihres Schmarotzerdaseins zu sehen.“

„Sparen Sie sich die Freude“, sagte ich. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Ich werde mir etwas einfallen lassen.“

„Sie und der Fliegende Holländer“, murmelte er, kurz bevor ich die Tür zuschlug.

Ich war in die Allee hinuntergegangen, den Block entlang und dann um Merimees Haus herum. Minuten später fuhr ich mit einem Taxi in die Innenstadt. Bei einem Modegeschäft stieg ich aus, ging hinein und kaufte mir einen Mantel. Es war kalt, und ich hatte meine Jacke vergessen. Von dort aus ging ich zu Fuß zu der Halle. Ich hatte genügend Zeit, zudem wollte ich herausfinden, ob mir tatsächlich jemand folgte.

Ich verbrachte fast eine Stunde in dem großen Raum, wo sie die Rhenniusmaschine aufbewahren. Ich fragte mich, ob schon etwas von meinem nächtlichen Besuch in den Morgenzeitungen zu lesen war. Egal. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die Bewegungen der Zuschauer, auf die Positionen der vier Wachen – vorher waren es nur zwei gewesen –, auf die Entfernungen der verschiedenen Eingänge, kurz, auf alles. Ich konnte aber nicht erkennen, ob sie das Dachfenster bereits ersetzt und ein neues Gitter angebracht hatten. Aber das war sowieso einerlei. Zweimal wollte ich denselben Trick nicht ausprobieren. Ich benötigte etwas grundlegend anderes und Schnelleres.

Nachdenklich ging ich hinaus, um mir ein belegtes Brötchen und ein Bier zu kaufen letzteres für den Fall der Anwesenheit irgendwelcher Telepathen. Während ich daran kaute und schluckte, sah ich mich um und kam zu dem Ergebnis, augenblicklich nicht das Ziel argwöhnischer Blicke zu sein. Ich fand einen freien Platz, ging hin, setzte mich und aß nach Herzenslust, wobei ich angestrengt nachdachte.

Die Idee kam mir im selben Augenblick, als mir ein kalter Luftzug von der Tür entgegenwehte. Ich wandte mich wieder meinem Brötchen zu. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

Daher arbeitete ich den Plan aus, betrachtete ihn von den unterschiedlichsten Blickwinkeln her, bemüht, ihn noch etwas zu verbessern. Ein großer Geistesblitz war es nicht gewesen, aber er mußte genügen.

Ich überlegte mir alles gründlich, hatte dabei aber plötzlich Angst, es könnte, wegen eines Nebeneffekts des Prozesses, nicht funktionieren. Nach einem Augenblick der Frustration verdrängte ich den Gedanken und fing noch einmal von vorn an. Ich ärgerte mich über die unzähligen Kleinigkeiten, die ich wegen etwas so Nebensächlichem zu bedenken hatte.

Ich ging zur Bushaltestelle, wo ich mir einen Fahrschein nach Hause kaufte. Diesen steckte ich in meine Manteltasche. Ich kaufte mir ein Magazin und einige Kaugummis, ließ mir beides in eine Tasche tun, warf das Magazin anschließend weg, kaute den Kaugummi, behielt aber die Tasche. Als nächstes sah ich mich nach einer Bank um, fand eine, ging hinein und ließ mir mein ganzes Geld in Ein-Dollar-Scheine umwechseln, die ich in die Tasche stopfte – alles in allem einhundertfünfzehn Dollar.

Ich bahnte mir meinen Weg zurück in die Umgebung der Halle, suchte eine Reinigung., ließ meinen Mantel dort und schlüpfte wieder hinaus. Mit dem Kaugummi klebte ich den Kontrollzettel für den Mantel an die Unterseite einer Parkbank, auf der ich eine Weile saß. Dann rauchte ich eine letzte Zigarette, nach der ich zur Halle zurückging, den Beutel mit dem Geld in einer Hand, einen einzelnen Schein in der anderen.

Drinnen wartete ich, bis die Menge genau die richtige Dichte und Verteilung hatte, während ich noch einmal die Luftzüge beim Öffnen der verschiedenen Türen in mein Gedächtnis zurückrief. Ich suchte mir aus diesem Informationsmaterial den geeignetsten Ort für mein Vorgehen heraus und näherte mich diesem. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Tasche bereits an einer Seite aufgerissen und hielt sie nur mit der Hand zusammen.

Etwa fünf Minuten später schien mir die Situation dem Idealzustand sehr nahe gekommen zu sein. Die Zuschauermenge war dicht gedrängt, die Wachen waren relativ weit entfernt. Ich hörte die unvermeidliche Standardfrage: „Aber was tut sie denn?“ und die übliche Antwort: „Sie sind sich noch nicht sicher“, vermischt mit einem gelegentlichen: „Es ist eine Art von Umkehrmaschine. Sie studieren sie noch.“ Plötzlich spürte ich einen scharfen Luftzug, zudem stand ein geeigneter Mann ganz in meiner Nähe.

Ich stieß dem Burschen unsanft den Ellbogen in die Rippen. Er antwortete mit einem mittelenglischen Wortschwall – den die meisten Leute für etwas Angelsächsisches halten, aber ich habe seine Bedeutung einmal während eines Sprachkurses nachschlagen müssen und weiß daher Bescheid – und dann seinerseits mit einem Stoß.

Ich übertrieb meine Reaktion, taumelte zurück gegen einen anderen Mann, während ich es so arrangierte, daß die Tragetasche hoch über meinem Kopf auseinanderplatzte.

„Mein Geld!“ kreischte ich, dann sprang ich vorwärts und stieß gegen das Absperrseil. „Mein Geld!“

Ich ignorierte die Rufe, das Flüstern und die plötzliche Unruhe hinter mir. Natürlich hatte ich den Alarm ausgelöst, aber das hatte im Augenblick nur nebensächliche Bedeutung. Schon war ich auf der Plattform und näherte mich der Stelle, wo der Gürtel in der zentralen Einheit verschwand. Ich hoffte, er konnte mein Gewicht aushalten.

Ich vernahm ein gebelltes „Gehen Sie dort herunter!“ und konterte sofort mit einem weinerlichen „Mein Geld!“, dann warf ich mich mit ausgestreckten Armen auf den Gürtel, was, wie ich hoffte, einer greifenden, geldgierigen Gebärde sehr nahe kam, und wurde kurz darauf in die dunkle Öffnung des Mobilators getragen.

Ein leises, zitterndes Gefühl durchrieselte mich von Kopf bis Fuß, verbunden mit einer vorübergehenden Blendung. Trotzdem nahm ich den Dollar, den ich in der Hand behalten hatte, entfaltete ihn und hielt ihn, als ich wieder aus der Maschine herauskam, siegessicher in die Höhe. Sofort rollte ich von dem Gürtel herunter und sprang ungeachtet eines Schwindelgefühles von der Plattform, hin zu der Menge, als versuche ich immer noch, mein Geld zusammenzusammeln, obwohl momentan überhaupt keines zu sehen war.

„Mein Geld …“ jammerte ich, sprang über die Kordel und ließ mich auf allen vieren nieder.

„Hier ist ein Teil davon“, sagte eine ehrliche Seele zu mir, und drückte mir eine Handvoll Geldscheine in die Hand.

W3HI3 nach dem W3.H3GHA bekam ich sie alle zurück. Glücklicherweise hatte ich den Effekt des Prozesses erwartet gehabt, daher zeigte mein umgekehrtes Gesicht keinerlei Anzeichen von Überraschung, als ich mich erhob und den Leuten dankte. Der einzige Schein, der für mich normal aussah, war der, den ich mit in die Maschine genommen hatte.

„Sind Sie durch dieses Ding hindurchgegangen?“ fragte ein Mann.

„Nein. Ich ging hinten vorbei.“

„Sah aber so aus, als seien Sie hindurchgegangen.“

„Nein. Bin ich nicht.“

Während ich Geld entgegennahm und vorgab, nach weiteren Scheinen zu suchen, sah ich mich verstohlen in der ganzen Halle um. Die weniger ehrlichen Seelen strebten bereits mit meinem Geld in den Händen den Ausgängen zu, die mittlerweile entgegengesetzte Positionen für mich einnahmen. Aber auch darauf hatte ich mich vorbereitet – zumindest intellektuell. Nun war mir aber trotzdem komisch zumute. Es war emotional unangenehm, die ganze Halle umgekehrt zu sehen. Die Verschwindenden konnten ungestört hinaus, denn die Wachen waren anderweitig beschäftigt: Zwei waren in der Menge steckengeblieben, zwei weitere suchten nach Geldscheinen. Ich arbeitete mich hastig zu ihnen vor.

Ich hatte mich auf alle möglichen Wortwechsel mit den Wachen und beteiligten Personen vorbereitet, ich wollte Bösartigkeit oder Zorn vortäuschen oder noch mehr Wehleidigkeit über den Verlust meines Geldes. Zudem wollte ich darauf beharren, um die Maschine herumgegangen zu sein, ganz egal, was auch behauptet wurde. Ich war der Meinung, auf diese Weise konnte ich alles hinbügeln und möglichen Konsequenzen entgehen. Schließlich hatte ich ja nichts Illegales getan – zudem konnten sie, ganz egal, was auch geschah, den Reversionsprozeß nicht mehr ungeschehen machen.

Aber sie waren alle ausgesprochen nett. Einer schaltete den Alarm aus, ein zweiter forderte die Umstehenden auf, alles gefundene Geld abzuliefern. Dann gingen zwei wieder zu den Ausgängen, einer suchte mich in der Menge, dann rief er mir zu: „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“

„Ja“, sagte ich. „Mit mir schon. Aber mein Geld …“

„Wir finden es! Wir finden es!“

Er bahnte sich einen Weg her zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter, ich steckte die Note, die ich in der Hand gehabt hatte und die in meinen Augen normal aussah, hastig in eine Tasche.

„Ist mit Ihnen auch ganz bestimmt alles in Ordnung?“

„Natürlich. Aber mir fehlen …“

„Wir werden versuchen, alles zurückzubekommen“, sagte er. „Sind Sie durch den zentralen Teil der Maschine gegangen?“

„Nein. Ein Geldschein wurde dorthin geweht, ich bin ihm nachgerannt.“

„Es sah aus, als seien Sie durch die Zentraleinheit gegangen.“

„Er ging dahinter vorbei“, sagte der Mann, dem ich dasselbe kurz zuvor gesagt hatte. Einen günstigeren Zeitpunkt hätte er sich wirklich nicht aussuchen können. Ich segnete ihn dafür.

„So war es“, sagte ich.

„Oh. Sie haben keinen Schock oder so etwas davongetragen, nicht wahr?“

„Nein, aber ich habe meinen Dollar bekommen.“

„Das ist gut.“ Er seufzte. „Schön, daß wir keinen Unfallbericht schreiben müssen. Trotzdem, was ist denn nun genau geschehen?“

„Jemand hat mich gestoßen, dabei ist meine Tasche gerissen. Ich hatte die ganzen Morgeneinnahmen darin. Mein Chef wird mir alles vom Lohn abziehen, wenn …“

„Sehen wir einmal nach, wieviel bereits zusammengekommen ist.“

Das taten wir, und wie sich herausstellte, hatte ich siebenundneunzig Dollar zurückbekommen. Das bewirkte, daß ich ein gutes Bild von meinen Mitmenschen bekam, und ich beglückwünschte mich dazu, das Schicksalsschiff am heutigen Tag so geschickt um alle Klippen herumgesteuert zu haben. Ich hinterließ ihnen eine falsche Kontaktadresse, sollten noch weitere Scheine auftauchen, dankte ihnen mehrmals, entschuldigte mich für die Unannehmlichkeiten und ging dann hinaus.

Der Verkehr, das merkte ich sofort, floß auf den falschen, den entgegengesetzten Straßenseiten. In Ordnung. Damit konnte ich leben. Die Schilder der Geschäfte waren alle umgekehrt. Na schön, auch das ging noch an.

Ich ging zu der Bank, wo ich den Abholschein für meinen Mantel hinterlassen hatte. Schon nach wenigen Schritten blieb ich stehen. Der Weg schien richtig zu sein, also war es der falsche.

Lange stand ich da und versuchte, mir die ganze Stadt spiegelverkehrt vorzustellen. Das war schwieriger als ich zuvor angenommen hatte. Das belegte Brötchen und das Bier – nun umgekehrt – kamen mir hoch, ich kämpfte mit mir selbst, bis ich alles wieder an seinen Platz niedergerungen hatte. Ja, schon besser. Der Trick bestand einfach darin, anhand von Straßenmarkierungen zu navigieren und sich vorzustellen, man sei beim Rasieren. Wie wenn man in einen Spiegel schaut, sagte ich mir. Ich fragte mich, ob ein Zahnarzt mir gegenüber einen Vorsprung hätte oder ob seine Fähigkeiten sich lediglich auf das Innere von Mündern beschränkten. Spielte aber keine Rolle. Ich hatte meine Bank gefunden.

Ich ging hin, geriet kurz in Panik, als ich den Schein nicht finden konnte, doch dann erinnerte ich mich und ging zum anderen Ende. Ja. Genau dort …

Natürlich hatte ich den Abholschein dort zurückgelassen, damit er nicht umgekehrt wurde und ich keine Schwierigkeiten beim Abholen bekam. Und ich hatte den Mantel abgegeben, damit mein Busfahrschein nicht umgekehrt wurde, denn das hätte ebenfalls zu Ärger geführt.

Ich legte mir im Geiste die Route zurecht, dann ging ich zu dem Restaurant zurück. Ich war darauf vorbereitet, es auf der anderen Straßenseite zu finden, fummelte aber dann doch an der falschen Türseite nach der Klinke.

Das Mädchen gab mir meinen Mantel sofort, doch als ich mich zum Gehen wandte, sprach sie mich an. „Heute haben wir aber nicht den ersten April, mein Herr.“

„Wie belieben?“

Sie winkte mir mit dem Geldschein zu. Da ich kein Wechselgeld hatte, hatte ich ihr einen Dollarschein gegeben. Einen Augenblick später fiel mir ein, daß ich ihr ja den ‚normalen’ Schein gegeben hatte, den, den ich mit durch den Mobilator genommen hatte.

„Oh“, sagte ich und setzte ein rasches Grinsen auf. „Ein kleiner Partyscherz. Hier, nehmen Sie den hier.“

Ich gab ihr RALLOD NENIE wonach sie sich ebenfalls zu einem Lächeln durchrang.

„Er sieht so echt aus“, sagte sie. „Im ersten Moment konnte ich überhaupt nicht erkennen, was daran nicht stimmte.“

„Ja. Toller Spaß.“

Ich verharrte noch kurz, um mir ein Päckchen Zigaretten zu kaufen, dann machte ich mich auf die Suche nach der Bushaltestelle. Aber ich hatte noch jede Menge Zeit bis zur Abfahrt. Daher dachte ich, ein wenig antitelepathische Medizin könnte eigentlich nicht schaden. Ich betrat eine völlig unverfänglich aussehende Bar und bestellte mir ein Glas Bier.

Es schmeckte merkwürdig. Nicht schlecht, zugegeben. Einfach anders. Ich entzifferte den spiegelverkehrten Namen auf dem Etikett und fragte den Barkeeper, ob das auch wirklich der Inhalt wäre. Er sagte ja. Achselzuckend nippte ich. Es schmeckte wirklich hervorragend. Auch die Zigarette, die ich mir anzündete, schmeckte merkwürdig, was ich zuerst auf den Nachgeschmack des Bieres schob. Wenige Augenblicke später gingen mir jedoch einige halb ausgegorene Gedanken durch den Kopf; ich rief den Barkeeper und ließ mir ein Glas Bourbon bringen.

Er hatte einen reichen, rauchigen Geschmack, überhaupt nicht vergleichbar mit dem, was ich sonst immer aus Flaschen mit diesem Etikett zu trinken bekam. Von Flaschen mit anderen Etiketts ganz zu schweigen.

Plötzlich fielen mir wieder einige Details aus Organische Chemie I und II ein. Meine sämtlichen Aminosäuren, mit Ausnahme von Glycin, waren linksdrehend gewesen, entsprechend der Symmetrie meiner Proteinhelix. Dasselbe galt für die Nukleotiden, die die Windungen der Nukleinsäuren verursachten. Aber das war natürlich vor meiner Umwandlung gewesen. All meine Gedanken kreisten plötzlich um Stereoisomere und um den Nahrungskreislauf. Es ist nämlich so: Manchmal akzeptiert der Körper rechtsdrehende Substanzen, lehnt aber die linksdrehenden Komponenten ab, manchmal ist es umgekehrt. Manchmal werden auch beide Komponenten angenommen, aber dann dauert der Verdauungsprozeß bei einer Variante länger. Ich bemühte mich, mich an spezielle Beispiele zu erinnern. Mein Bier enthielt Äthylalkohol, C2H5OH … In Ordnung, dieses Molekül war symmetrisch. Das zentrale Kohlenstoffatom war mit zwei Wasserstoffatomen verbunden. Umgewandelt oder nicht, ich würde in beiden Fällen einen Rausch davon bekommen. Warum hatte dann alles einen anderen Geschmack? Die Aromastoffe, ja. Bei ihnen handelte es sich um asymmetrische Ester, die nun meine Geschmacksnerven ganz anders anregten. Und auch mein olfaktorischer Apparat mußte sich ab sofort mit ‚umgekehrtem’ Zigarettenrauch befassen. Ich würde zu Hause als erstes einmal ein paar wesentliche Dinge nachschlagen müssen. Da ich nicht wußte, wie lange meine Existenz als Spiegelmensch dauern würde, wollte ich mich auf keinen Fall der Gefahr einer Vergiftung aussetzen, wenn sie bestand.

Ich trank das Bier aus. Im Verlauf der sehr langen Busfahrt konnte ich mich näher mit diesem Phänomen auseinandersetzen. In der Zwischenzeit schien es mir angebracht, noch ein wenig umherzupromenieren und aufzupassen, ob ich verfolgt wurde. Ich lief die nächsten fünfzehn bis zwanzig Minuten kreuz und quer hin und her, konnte aber keinen Verfolger aufspüren.

Dann ging ich zurück zur Bushaltestelle, um meinen Stereoisobus nach Hause zu nehmen.

Schläfrig mit dem Bus durch die weite Landschaft tuckernd, ließ ich meine Gedanken durch die Straßen meines Verstandes paradieren, stocherte gelegentlich auch einmal in älteren Erinnerungen und lauschte dem Pochen der Narrentrommeln in meinen Schläfen. Ich hatte die mir übertragene Aufgabe erledigt. Aber von wem war sie mir übertragen worden? Nun, der Betreffende hatte gesagt, er sei eine Aufzeichnung, aber er hatte mich mit dem Wissen um Artikel 7224, Absatz C versorgt, als ich es benötigt hatte – und jeder, der mir in der Not beisteht, gehört automatisch zu den Guten, bis er sich eindeutig zu erkennen gibt. Ich fragte mich, ob ich mich für unseren nächsten Kontakt wieder betrinken sollte, oder ob er dieses Mal etwas anderes mit mir vorhatte. Denn selbstverständlich mußte es einen weiteren Kontakt geben. Er hatte deutlich gemacht, daß meine Zusammenarbeit in dieser Frage zu einer Klärung der gegenwärtigen Situation führen würde. Also gut, das hatte ich ihm abgekauft. Ich hatte meine Umkehrung nur auf sein Wort hin in gutem Glauben durchgeführt. Jeder andere hatte etwas verlangt, das ich nicht erfüllen konnte, und mir aber auch nicht das geringste dafür geboten.

Wenn ich einschlief, würde ich dann eine weitere Botschaft erhalten? Oder war mein Alkoholspiegel dafür zu niedrig? Was für ein Zusammenhang bestand da überhaupt? Sibla schien der Überzeugung zu sein, Trunkenheit würde einen telepathischen Kontakt eher erschweren als erleichtern. Warum war mein Korrespondent dann bei den zwei Gelegenheiten, wo ich betrunken gewesen war, so klar und deutlich durchgekommen? Wäre da nicht der ganz offensichtliche Effekt von Artikel 7224, Absatz C gewesen, fiel mir plötzlich ein, dann hätte ich überhaupt keine Möglichkeit gehabt, die Botschaften von normalen Halluzinationen im Zustand der Volltrunkenheit zu unterscheiden. Ich hätte sie höchstens als beste Möglichkeit, einen hochakuten Todeswunsch auszudrücken, ansehen können. Aber an der ganzen Sache mußte mehr sein. Sogar Charv und Ragma argwöhnten bereits die Existenz meines übernatürlichen Gesprächspartners. Ich fühlte ein seltsames Drängen, den Wunsch, das, was unbedingt getan werden mußte, so schnell wie möglich zu tun, bevor die Außerirdischen den Plan durchschauten wie er auch immer aussehen mochte. Ich war sicher, sie würden sich in unsere Kommunikation einmischen, wenn nicht gar versuchen, sie zu unterbinden.

Wie viele mochten es wohl sein, die mich belagerten und beobachteten? Wo waren Zeemeister und Buckler? Was führten Charv und Ragma im Schilde? Wer war der Mann im dunklen Mantel, den Merimee gesehen hatte? Welche Rolle spielte der Mann vom Innenministerium? Da ich auf keine der Fragen eine Antwort wußte, beschloß ich, meine weiteren Unternehmungen selbst zu planen und dabei immer mit dem Schlimmsten zu rechnen. Selbstverständlich würde ich nicht in meine Wohnung zurückgehen. Auch Hals Wohnung schien mir zu risikoreich, nach allem, was er erzählt hatte. Ralph Warp konnte mich wahrscheinlich für eine gewisse Zeit bei sich aufnehmen, überlegte ich. Schließlich war ich ja auch zur Hälfte an Woof & Warp, seinem Kunstlädchen, beteiligt; früher hatte ich sogar dort im Hinterzimmer gehaust. Ja, das würde ich tun.

Die Geister der Vergangenheit fielen plötzlich wie Lawinen auf mich herab, ich wurde zerschmettert. Da ich auf weitere Nachrichten hoffte, bekämpfte ich den Drang nicht. Aber ich wurde nicht mit einer weiteren Botschaft belohnt, während ich in meinem Sitz vor mich hindöste. Statt dessen hatte ich einen Alptraum.

Ich träumte, ich wäre wieder in der grellen Sonne festgebunden, schwitzend, durstig und mit verbrannter Haut. Diese Illusion erreichte ihren teuflischen Höhepunkt, wurde dann schwächer, bis sie ganz verblaßte. Ich befand mich auf einem Eisberg, meine Zähne klapperten, meine Gliedmaßen wurden taub. Auch das ging vorbei, danach verkrampften alle meine Muskeln sich abwechselnd von Kopf bis Fuß. Dann war ich ängstlich. Dann zornig. Entmutigt. Hoffnungsvoll. Verzweifelt. Mit gefesselten, nackten Beinen passierte ich die ganze Gefühlsskala. Das war kein Traum …

„Mister, geht es Ihnen gut?“

Eine Hand lag auf meiner Schulter – aus diesem Traum oder einem anderen?

„Geht es Ihnen gut?“

Ich erschauerte. Ich fuhr mir mit einer Hand über die Stirn. Sie war naß.

„Ja“, sagte ich. „Danke.“

Ich betrachtete den Mann. Älter. Hübsch angezogen. Wahrscheinlich unterwegs, um seine Enkelkinder zu besuchen.

„Ich saß Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite“, sagte er. „Es sah aus, als würde es Ihnen nicht besonders gutgehen.“

Ich rieb mir die Augen, fuhr mit einer Hand durch mein Haar, berührte mein Kinn. Ich hatte gesabbert.

„Schlecht geträumt“, sagte ich. „Vielen Dank für das Aufwecken. Alles wieder in Butter.“

Er lächelte mir andeutungsweise zu, dann zog er sich wieder zurück.

Verdammt! Das mußte ein Nebeneffekt der Umwandlung sein. Ich zündete mir eine komisch schmeckende Zigarette an und sah auf meine Uhr. Nachdem ich das seitenverkehrte Zifferblatt gedeutet und ein paar Minuten Falschgehen eingerechnet hatte, kam ich zu dem Ergebnis, daß ich etwa eine halbe Stunde gedöst haben mußte. Ich starrte zum Fenster hinaus, sah die vorbeihuschenden Kilometersteine, und plötzlich fürchtete ich mich. Was wäre, wenn die ganze Sache sich als schlechter Scherz entpuppen würde, als entsetzliches Mißverständnis? Die kurze Episode, die mir gerade widerfahren war, hatte mich zu der Überzeugung gebracht, mich selbst unüberlegt in eine sehr mißliche Situation hineinmanövriert zu haben. Subtile Veränderungen, die sich erst langsam bemerkbar machten, konnten in mir ablaufen; gefährliche Veränderungen. Aber nun war es zu spät. Ich bemühte mich, den Glauben an meinen Freund, den Aufzeichnungsspeicher, nicht zu verlieren. Zudem war ich davon überzeugt, daß die Rhenniusmaschine das, was sie getan hatte, auch wieder umkehren konnte, sollte es nötig sein. Dazu bedurfte es lediglich eines Menschen, der verstand, worum es ging.

Ich saß lange Zeit einfach da und wartete auf eine Antwort. Das einzige, was sich einstellte, war jedoch mehr Müdigkeit und schließlich wieder Schlaf. Dieses Mal handelte es sich um die große, ungestörte Schwärze, die der Schlaf auch sein sollte. Angst und Furcht waren verschwunden. Ich schlief die halbe Nacht durch, bis ich meine Haltestelle erreichte. Erfrischt und bereit, mich den neuen Anforderungen zu stellen, betrat ich endlich vertrauten Beton. Ich brachte die Welt in Gedanken wieder ins spiegelverkehrte Lot, dann erst ging ich vom Parkplatz weg, vier Häuserblocks weiter, an einer Menge geschlossener Geschäfte vorbei.

Ich überzeugte mich davon, daß ich nicht verfolgt wurde, danach suchte ich mir ein Lokal, das die ganze Nacht offen hatte, wo ich ein seltsam wohlschmeckendes Mahl zu mir nahm. Seltsam deshalb, weil das Lokal eine schmierige Spelunke war, das Essen aber trotzdem auf ungewohnte Weise köstlich schmeckte. Ich aß zwei der notorischen Hamburger, dazu eine Unmenge fettiger Pommes frittes. Einige überreife Tomaten und ein Salatblatt rundeten die Mahlzeit ab. Ich schlang alles hinunter, ohne mich groß darum zu kümmern, ob meine sämtlichen Bedürfnisse davon zufriedengestellt wurden. Es war die beste Mahlzeit, die ich je zu mir genommen hatte. Bis auf den Milchshake. Der war ungenießbar, daher ließ ich ihn stehen.

Dann machte ich mich auf den Weg. Es war eine lange Strecke, aber ich hatte es ja nicht eilig, war ausgeruht, und auch mein Magen hatte sein Teil abbekommen. Ich brauchte über eine Stunde, bis ich Woof & Warp erreicht hatte, aber es war eine schöne Nacht für einen Spaziergang.

Der Laden war natürlich geschlossen, aber in Ralphs darüberliegendem Apartment brannte noch Licht. Ich ging hintenherum, kletterte die Regenrinne hoch und spähte durchs Fenster. Er saß im Zimmer und las in einem Buch, undeutlich konnte ich im Hintergrund ein Streichquartett hören – ich weiß aber nicht, von wem. Gut. Daß er allein war, meine ich. Ich hasse es, die Leute bei irgend etwas zu stören.

Ich klopfte an die Scheibe.

Er sah auf, blickte einen Augenblick herüber, dann erhob er sich.

Das Fenster glitt aufwärts.

„Hallo, Fred. Komm rein.“

„Danke, Ralph. Wie geht’s dir denn?“

„Ausgezeichnet“, sagte er. „Das Geschäft läuft auch nicht schlecht.“

„Na, großartig.“

Ich kletterte hinein, durchquerte den Raum mit ihm zusammen, nahm dankbar einen Drink an, den er mir anbot. Den Geschmack kannte ich nicht, aber die Flüssigkeit erinnerte an einen Fruchtsaft. Wir setzten uns, ich fühlte mich kein bißchen desorientiert. Er räumt sein Zimmer so oft um, daß ich mich selten an die alten Konstellationen erinnere. Ralph ist ein drahtiger, großer Bursche mit dichtem, dunklem Haar und einer tollen Figur. Er versteht sich auf sämtliche Sparten künstlerischen Gestaltens. So gut, daß er Korbflechten an der Universität unterrichten kann.

„Wie hat dir Australien gefallen?“

„Oh, abgesehen von ein paar Mißgeschicken nicht übel. Ich habe mir noch keine feste Meinung gebildet.“

„Was für Mißgeschicke?“

„Später, später“, sagte ich. „Später mehr davon. Sag mal, würde es dir viel ausmachen, wenn ich heute nacht im Hinterzimmer schlafe?“

„Das würde doch nur zu Streitereien zwischen dir und Woof führen.“

„Wir haben ein Abkommen“, antwortete ich. „Er schläft mit der Schnauze unter dem Schwanz, und ich bekomme die Decken.“

„Als du das letzte Mal hier gewesen bist, da verlief alles genau andersherum.“

„Das führte ja zu dem Abkommen.“

„Also gut. Mal sehen, was diesmal passiert. Bist du schon lange in der Stadt?“

„Nun, ja und nein.“

Er umklammerte seine Knie mit den Händen und lächelte.

„Ich bewundere deine Art, alles gerade herauszusagen, Fred. An deinem Benehmen ist nie etwas Ausweichendes oder Irreführendes.“

„Immer werde ich mißverstanden“, brummelte ich. „Das ist die Bürde des aufrichtigen Mannes in einer Welt voller Spitzbuben. Ja, ich bin eben erst in der Stadt angekommen, komme aber nicht direkt aus Australien. Das war schon vor ein paar Tagen, dann war ich weg, und nun bin ich wieder hier. Kapiert?“

Er schüttelte den Kopf.

„Du hast auch einen einfachen, fast klassischen Lebensstil. In was für Schwierigkeiten steckst du denn nun schon wieder? Zorniger Ehemann? Wahnsinniger Verfolger? Eifersüchtige Frau?“

„Nichts Derartiges“, antwortete ich.

„Besser? Oder schlechter?“

„Komplizierter. Was hast du davon gehört?“

„Nichts. Aber dein Studienberater hat angerufen.“

„Was wollte denn der?“

„Er wollte wissen, wo du bist und ob ich etwas von dir gehört hätte. Ich sagte zweimal nein. Er sagte, ein Mann würde vorbeikommen, um mir einige Fragen zu stellen. Die Universität würde meine Kooperation zu schätzen wissen. Das war alles. Wenig später kam der angekündigte Mann vorbei, stellte mir ein paar Fragen und bekam dieselben Antworten.“

„War sein Name zufällig Nadler?“

„Ja. Ein Beamter. Innenministerium. Das stand wenigstens in seinem Ausweis. Er gab mir eine Nummer und bat mich, ihn zu benachrichtigen, falls du auftauchen solltest.“

„Tu’s nicht.“

Er zuckte zusammen.

„Das hättest du nicht zu erwähnen brauchen.“

„Tut mir leid.“

Ich lauschte den Violinen.

„Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört“, endete er wenige Augenblicke später.

„Was wollte Wexroth an diesem Morgen?“

„Er hatte einige Fragen sowie eine Nachricht.“

„Für mich?“

Er nickte. Trank dann einen Schluck.

„Was für eine?“

„Sollte ich von dir hören, dann soll ich dir sagen, daß man dich graduiert hat. Du kannst die Urkunde in seinem Büro abholen.“

„Was?“

Ich war aufgesprungen, wobei ich meinen Drink teilweise über meine Hand geschüttet hatte.

„Das hat er wortwörtlich gesagt: ‚Graduiert’.“

„Wie konnten Sie mir das nur antun!“

Er hob die Schultern, ließ sie wieder sinken.

„Hat er nur Spaß gemacht? Hörte er sich stoned an? Hat er gesagt, warum? Wie?“

„Nein – nichts von alledem“, sagte er. „Er klang nüchtern und ernst. Er wiederholte sogar alles noch einmal.“

„Verdammt!“ Ich ging hin und her. „Was glauben die eigentlich, wer sie sind? Man kann einem Mann doch so etwas nicht einfach aufzwingen.“

„Manche Menschen wünschen es sich sogar.“

„Die haben auch keine eingefrorenen Onkel! Verflucht! Ich frage mich, was passiert ist. Ich sehe keinerlei Angriffsfläche. Ich habe ihnen nie eine Möglichkeit hierzu geliefert. Wie, zum Teufel, konnten sie das nur tun?“

„Das weiß ich nicht. Da mußt du ihn schon selbst fragen.“

„Das werde ich! Glaub mir, das werde ich! Morgen früh gehe ich als allererstes zu ihm und haue ihm eine aufs Auge.“

„Wird damit das Problem gelöst?“

„Nein, aber Rache paßt zu meinem abenteuerlichen Lebensstil.“

Ich setzte mich wieder und trank mein Glas leer. Die Musik spielte unaufhörlich.

Später, nachdem ich den fröhlichen Irischen Setter, der als Wächter des ersten Stocks fungierte, an unser Abkommen bezüglich Schwanz und Decke erinnert hatte, legte ich mich im Hinterzimmer schlafen. Dort hatte ich einen Traum voller merkwürdiger Symbolismen.

Vor vielen Jahren hatte ich einst ein hübsches kleines Buch mit dem Titel Sphereland von einem Mathematiker namens Burger gelesen. Es war eine Fortsetzung von Abbots altem Klassiker Flatland, in der einige Passagen über die Reversion zweidimensionaler Wesen durch eine Kreatur aus dem übergeordneten dreidimensionalen Raum vorkommen. Reinrassige Hunde und Promenadenmischungen waren hier Spiegelbilder voneinander, symmetrisch, aber nicht kongruent. Die reinrassigen Köter waren seltener und teurer, ein kleines Mädchen wünschte sich aber so sehr einen. Ihr Vater arrangierte es, daß ihr Bastard mit einem Reinrassigen gepaart wurde, und hoffte, so die begehrteren Reinrassigen lachten zu können. Das ging natürlich schief, alle aus dem Wurf erwiesen sich als Promenadenmischungen. Später verwandelte unser Besucher aus dem übergeordneten Raum sie dann doch noch in reinrassige Hunde, indem er sie einfach in der dritten Dimension umdrehte und auf den Kopf stellte. Die geometrische Moral, auch wenn sie gut durchdacht war, hatte mich aber an der Geschichte nicht so sehr fasziniert. Vielmehr konzentrierten meine Gedanken sich noch lange Zeit auf den vollzogenen Paarungsakt – zwei symmetrische, aber inkongruente Hunde machten sich in zwei Dimensionen daran.

Die einzige durchführbare Prozedur beinhaltete eine canis obversa Position, die ich mir bildlich als kreiselähnlich rotierend im zweidimensionalen Raum vorstellte. Das so entstehende Mandala hatte ich eine Zeitlang als Meditationshilfe bei meinen Yoga-Übungen verwendet. Nun begegnete es mir wieder in den Hallen des Schlummers. Ich war umgeben von einer Unmenge todernster Hunde, die sich krümmten und wanden, stumm ihrem Geschäft nachgingen und sich dabei nur gelegentlich einmal in den Nacken bissen. Dann wehte ein eiskalter Wind über mich, und die Hunde lösten sich in Luft auf, ich war durchgefroren und allein.

Erwachend stellte ich fest, daß Woof mir die Decke gestohlen hatte; er hatte sich in einer Ecke darauf zusammengerollt. Schnatternd holte ich sie mir wieder. Er versuchte mir vorzutäuschen, alles sei nur ein Mißverständnis gewesen, das alte Schlitzohr, aber ich wußte es besser, und das sagte ich ihm auch. Als ich später nochmals hinübersah, erblickte ich nur seinen Schwanz sowie einen eingeschnappten Gesichtsausdruck zwischen den Haaren.



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