Sie warteten darauf, daß ich etwas sagte, etwas tat. Aber ich konnte nichts sagen und auch nichts tun. Wir würden sterben, das war alles. Ich sah zum Fenster hinaus zur Küste, wo die Wogen der See ans Ufer und wieder hinabrollten. Ich erinnerte mich an meinen letzten Tag in Australien. Damals war Ragma gekommen, der einen Ausweg gewußt hatte. In fairen Situationen sollte es immer einen Ausweg geben. Aber dieses Mal sah ich keine Tore in der Wüste, so sehr ich es auch versuchte, die Situation war überhaupt nicht fair.
„Nun, Fred? Haben Sie uns etwas zu sagen? Oder sollen wir fortfahren? Alles liegt an Ihnen.“
Ich sah Mary an, die am Stuhl festgebunden war. Ich versuchte, nicht in ihr angstverzerrtes Gesicht, in ihre schreckgeweiteten Augen zu blicken, aber ich tat es trotzdem. Ich hörte, wie Hals kurze Atemstöße neben mir stoppten, als bereite er sich auf einen Sprung vor. Aber Jamie Buckler hörte das auch und winkte lediglich sacht mit der Waffe. Hal sprang nicht. Er sah ein, daß er keine Chance hatte.
„Mister Zeemeister“, sagte ich. „Wenn ich den Stein hätte, dann würde ich ein goldenes Schleifchen darum binden und ihn Ihnen überreichen. Wenn ich wüßte, wo er ist, dann würde ich es Ihnen sagen oder ihn auch selbst holen. Ich möchte nicht, daß Mary, Hal und ich sterben. Fragen Sie mich, was Sie wollen, ich werde es Ihnen sagen.“
„Ich will nichts anderes wissen“, sagte er und hob die Rundzange hoch.
Sie würden uns foltern und töten, wenn wir nichts unternahmen. Aber wenn wir die Antwort wüßten und sie ihnen sagen würden, dann würden sie uns auch töten. Wie auch immer man es drehte und wendete …
Aber wir würden nicht einfach tatenlos hier stehenbleiben.
Das wußten wir alle. Wir würden versuchen, sie zu überrumpeln, und dabei würden Mary, Hal und ich verlieren.
Wo du auch immer sein magst und wer du auch bist, dachte ich schrill, wenn du etwas tun kannst, dann tu es gleich!
Zeemeister hatte Marys Handgelenk umklammert und zog ihren Arm nach oben. Als er mit der Zange einen ihrer Finger packen wollte, kam der Heilige Geist – oder einer von diesen Knaben – in das Zimmer geschwebt.
Als ich fluchend und keuchend Jefferson Hall verließ, hatte ich bereits den Entschluß gefaßt, daß der Beamte vom Innenministerium namens Theodore Nadler der nächste sein würde, dem ich eins aufs Auge gäbe. Als ich an der Fontäne vorbei zum Studentenheim ging, erinnerte ich mich an mein Versprechen, Hal anzurufen. Ich beschloß, ihn anzurufen, bevor ich Nadlers Nummer, die Wexroth mir gegeben hatte, ausprobieren wollte.
Bevor ich zum Telefon ging, holte ich mir noch eine Tasse Kaffee und einen Berliner. Wie ich nun, nach dreizehn Jahren, feststellte, war es nur die totale Umkehr jedes Moleküls des Trinkenden beziehungsweise des Getränkes, die das Gebräu der Mensa trinkbar machte. Da sah ich Ginny in einer Ecke, und meine guten Vorsätze verschwanden. Ich blieb stehen und wandte mich in diese Richtung. Aber dann wich jemand aus, und ich sah, daß sie mit einem Burschen zusammen war, den ich nicht kannte. Ich beschloß, mein Glück später noch einmal zu versuchen, und ging weiter in die Telefonecke. Sämtliche Telefone waren belegt, daher schritt ich auf und ab und nippte an meinem Kaffee. Taps, taps. Schlürf, schlürf …
Plötzlich hörte ich hinter mir eine Stimme: „He, Cassidy! Komm schon, das ist der, von dem ich dir erzählt habe.“
Ich wandte mich um und sah Rick Liddy, der Englisch als Hauptfach belegt hatte und auf alles eine Antwort wußte, nur nicht auf die Frage, was er mit seinem Doktortitel, den er im Juni bekommen würde, anfangen sollte. Neben ihm stand eine kleinere Version seiner selbst in einem Sweatshirt mit der Aufschrift Yale.
„Fred, das ist mein Bruder Paul. Er wollte sich dieses Loch hier mal ansehen“, sagte er.
„Hallo, Paul.“
Ich stellte meinen Kaffee auf den Fenstersims, wollte ihm die falsche Hand reichen, besann mich aber noch rechtzeitig. Ich kam mir ein wenig dumm vor, als ich ihn begrüßte.
„Das ist er“, intonierte Rick. „Wie der Ewige Jude oder der Wilde Jägersmann. Der Mann, der niemals eine Graduierung anstrebte. Subjekt zahlloser Balladen und Limericks. Fred Cassidy, der Ewige Student.“
„Du hast den Fliegenden Holländer vergessen“, sagte ich. „Außerdem heißt das Doktor Cassidy, verdammt noch mal!“
Rick begann zu lachen.
„Stimmt es, daß du ein nächtlicher Kletterer bist?“ wollte Paul wissen.
„Manchmal“, sagte ich, wobei ich spürte, wie ein gewaltiger Abgrund zwischen uns zu klaffen begann. Diese verdammte Urkunde tat bereits ihre Wirkung. „Manchmal schon.“
„Das ist großartig“, sagte er. „Das ist wirklich großartig. Ich wollte schon immer einmal den richtigen Fred Cassidy sehen – den Kletterer.“
„Der Wunsch hat sich erfüllt“, sagte ich.
Dann legte jemand auf, und ich grapschte sofort nach dem Hörer.
„Bitte entschuldigt mich.“
„Yeah. Bis später, Fred. Entschuldige … Doktor.“
„Hat mich sehr gefreut.“
Ich fühlte mich merkwürdig depressiv, als ich Hals Nummer rückwärts wählte. Sein Anschluß war besetzt. Daher probierte ich es mit Nadlers Nummer. Die Stimme des automatischen Anrufbeantworters fragte mich nach der Nummer, unter der ich zu erreichen war, nach einer Nachricht meinerseits oder beidem. Ich sagte ihr keines von beiden. Dann probierte ich wieder Hals Nummer. Dieses Mal kam ich durch – es schien mir, als sei kein Sekundenbruchteil nach dem Klingelzeichen verstrichen. Er mußte neben dem Telefon gestanden haben.
„Ja? Hallo?“
„So weit kannst du doch nicht gelaufen sein. Wieso bist du so außer Atem?“
„Fred! Endlich, verflixt und zugenäht!“
„Tut mir leid, daß ich nicht früher angerufen habe. Ich hatte jede Menge zu erledigen …“
„Ich muß dich sehen!“
„Dasselbe gilt auch für mich.“
„Wo bist du jetzt?“
„In der Mensa.“
„Bleib dort. Nein! Warte mal einen Moment.“
Ich wartete. Zehn bis fünfzehn Sekunden verstrichen.
„Ich versuche mich an einen Ort zu erinnern, an den du dich auch erinnern kannst“, sagte er. Dann: „Hör zu. Erinnerst du dich noch an die Stelle, wo du vor zwei Monaten den Streit mit diesem Medizinstudenten gehabt hast? Ken hieß er, war immer sehr ernst.“
„Nein“, antwortete ich.
„Ich erinnere mich nicht mehr an den Streit, aber ich erinnere mich an den Ausgang. Du hast gesagt, Doktor Richard Jordan Gatling hätte mehr für die Entwicklung der modernen Chirurgie getan als Halsted. Er fragte nach den Techniken, die Gatling eingeführt habe, darauf hast du ihm geantwortet, er habe das Maschinengewehr erfunden. Er sagte, das sei überhaupt nicht komisch und lief weg. Du hast ihm daraufhin nachgerufen, er sei ein Arschloch, das glaube, am Studienende den Heiligen Gral zu bekommen und nicht eine Lizenz, um den Leuten zu helfen. Erinnerst du dich jetzt?“
„Ja.“
„Gut. Geh dorthin und warte. Bitte.“
„Schon gut. Ich verstehe.“
Er legte auf, ich ebenfalls. Merkwürdig. Und besorgniserregend. Ganz offensichtlich ein Manöver, um einem heimlichen Lauscher mitzuteilen, wo wir uns treffen wollten. Aber wem? Warum? Wie viele würden kommen?
Ich beeilte mich, die Mensa zu verlassen, da ich sie ja während des Gesprächs erwähnt hatte. Ich entfernte mich drei Blocks in nördlicher Richtung vom Campus. Dann zwei Blocks nach links, eine kleine Seitenstraße hoch. Dort befand sich ein kleiner Buchladen, wo ich hin und wieder einmal hinging, nur um nachzusehen, was für neue Titel hereingekommen waren. Hal begleitete mich manchmal.
Ungefähr eine halbe Stunde hielt ich mich dort auf und studierte die spiegelverkehrten Buchtitel. Hin und wieder las ich auch eine Seite eines Textes, nur um Übung darin zu bekommen – für den Fall, daß die Dinge längere Zeit auf dem Kopf stehen sollten. Der erste Satz in einer Ausgabe von von einem gewann eine sehr persönliche Bedeutung für mich:
Ich begann an mein eigenes Selbst zu denken, die Scherben überall verstreut, vom Drückeberger zum Helden, und weiter. War es wirklich lohnend gewesen, durch den Spiegel zu gehen, fragte ich mich. Ich hatte es nie wirklich versucht. Aber dann …
Ich dachte schon daran, das Buch zu kaufen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
„Fred, komm mit.“
„Hallo, Hal. Ich fragte mich schon …“
„Rasch“, bat er. „Bitte. Ich parke in zweiter Reihe.“
„Komme schon.“
Ich stellte das Buch ins Regal zurück und folgte ihm hinaus. Ich sah den Wagen, ging hinüber und stieg ein. Hal stieg ebenfalls ein und fuhr los. Er sagte kein Wort, während er den Wagen durch den dichten Verkehr lenkte. Das war verdächtig. Der erste Satz der Dream Songs ging mir noch immer im Kopf herum. Ich zündete mir eine Zigarette an und sah zum Fenster hinaus.
Er fuhr mehrere Minuten, bis wir den verkehrsreichen Straßenabschnitt hinter uns gelassen hatten. Erst dann sprach er.
„In der Notiz hast du geschrieben, du hättest einen Einfall gehabt und wolltest dich sofort darum kümmern. Ich nehme an, dabei ging es um den Stein?“
„Es ging um den ganzen Schlamassel“, antwortete ich, „daher wohl auch um den Stein. Aber ganz sicher bin ich mir nicht.“
„Würdest du mir bitte alles von Anfang an erzählen?“
„Was ist denn mit deinen dringenden Angelegenheiten, von denen du sprachst?“
„Zuerst möchte ich alles erfahren, was dir zugestoßen ist, klar?“
„Schon gut. Wohin fahren wir eigentlich?“
„Augenblicklich fahren wir nur so herum. Bitte erzähl mir alles, von dem Moment an, als du meine Wohnung verlassen hast.“
Das tat ich dann auch. Ich redete und redete, die Gebäude blieben rechts und links hinter uns zurück, wurden immer spärlicher, bis sie von Gras abgelöst wurden, zu dem sich bald niederes Buschwerk gesellte, dann Bäume, hin und wieder eine Kuh, Felsbrocken und gelegentlich einmal ein Karnickel. Hal hörte zu, nickte, stellte manchmal eine kurze Frage, fuhr aber unbeirrt weiter.
„Dann sieht es also im Augenblick für dich so aus, als würde ich das Auto auf der falschen Seite fahren?“
„Ja.“
„Faszinierend.“
Ich bemerkte jetzt erst, daß wir zum Meer fuhren, durch ein von Sommerhäuschen durchsetztes Gebiet, von denen die meisten allerdings um diese Jahreszeit verlassen waren. Gefesselt von meiner eigenen Geschichte, hatte ich die Zeit vollkommen vergessen; wir waren schon über eine Stunde unterwegs, immer in Richtung Meer.
„Und nun hast du einen bombensicheren Doktortitel?“
„Das habe ich doch gesagt.“
„Sehr seltsam.“
„Hal, du versuchst, Zeit zu gewinnen. Was willst du mir denn nicht erzählen?“
„Schau auf den Rücksitz.“
„Na schön. Dort liegt eine Menge Gerumpel, wie üblich. Du solltest wirklich einmal aufräumen …“
„Die Jacke in der Ecke. Es ist in die Jacke eingewickelt.“
Ich holte die Jacke nach vorn und entrollte sie.
„Der Stein! Du hattest ihn die ganze Zeit!“
„Nein, hatte ich nicht“, widersprach er.
„Wo hast du ihn gefunden? Wo war er?“
Hal fuhr in eine Seitenstraße. Ein paar Möwen flatterten aufgeschreckt davon.
„Schau ihn dir an“, befahl er. „Sieh ihn dir genau an. Das ist er doch, oder?“
„Klar, sieht ganz so aus. Ich habe mir das Ding aber nie vorher genau angesehen.“
„Das muß er sein. Ich habe ihn eben einfach in einer Truhe gefunden, in der ich noch nicht nachgesehen hatte. Glaub mir diese Version. Und halte dich daran!“
„Was soll das heißen: ,Halte dich daran’?“
„Ich bin letzte Nacht in Bylers Labor eingestiegen und habe ihn geholt. Es waren noch einige da. Der hier ist so gut wie derjenige, den er uns gegeben hat. Du kannst sie doch nicht unterscheiden, nicht wahr?“
„Nein, aber ich bin kein Experte. Was geht hier vor?“
„Mary wurde entführt“, sagte er.
Ich sah ihn an. Sein Gesicht war ausdruckslos, wie es immer war, wenn er die Wahrheit sagte.
„Wann? Wie?“
„Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, und sie ging zu ihrer Mutter, damals, in der Nacht, als du gekommen bist …“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Ich wollte sie am nächsten Tag anrufen und die Wogen ein wenig glätten. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir die Idee, wenn sie zuerst anrufen würde. Auf diese Weise konnte ich einen kleinen moralischen Sieg davontragen, dachte ich damals. Daher wartete ich. Mehrere Male war ich nahe daran anzurufen, aber ich schob es immer wieder hinaus – in der Hoffnung, sie würde anrufen. Das tat sie aber nicht, ich ließ viel zu viel Zeit verstreichen. Es war spät, sehr spät, daher beschloß ich, noch eine Nacht darüber zu schlafen. Am nächsten Morgen rief ich bei ihrer Mutter an. Sie war nicht da, sie war nie angekommen. Ihre Mutter hatte nicht einmal etwas von ihr gehört. Na schön, sie hat eine gute Portion gesunden Menschenverstands, beruhigte ich mich selbst. Sie will aus der ganzen Angelegenheit keine Familienaffäre machen. Sie hat ihre Meinung geändert und ist zu einer ihrer Freundinnen gegangen. Ich rief sie alle der Reihe nach an. Nichts. Ich war verzweifelt.
Dann, zwischen zwei Anrufen“, fuhr er fort, „wurde ich selbst angerufen. Es war ein Mann, der mich nach dem Aufenthaltsort meiner Frau fragte. Zuerst dachte ich an einen Unfall. Aber er sagte mir, sie sei wohlauf, er ließ mich sogar eine Minute mit ihr sprechen. Sie hielten sie fest. Sie hatten einen ganzen Tag gewartet, um mich weichzukochen. Nun sagten sie mir, was sie für ihre Freilassung haben wollten.“
„Natürlich den Stein.“
„Natürlich. Und natürlich glaubte er mir auch nicht, als ich ihm sagte, ich hätte ihn nicht. Sie gaben mir einen Tag Zeit zum Nachdenken, danach wollten sie wieder anrufen und mir sagen, was ich damit machen solle. Dann ließ er mich mit Mary sprechen. Sie sagte, sie sei wohlauf, doch ihre Stimme klang eingeschüchtert. Ich bat ihn, ihr nicht weh zu tun und versprach gleichzeitig, mich um den Stein zu kümmern. Dann begann ich mit der Suche. Ich durchwühlte rein alles. Kein Stein. Dann versuchte ich es bei dir. Ich habe ja noch immer den Schlüssel.“
„War jemand dort, der einen Trinkspruch auf die Queen vom Stapel ließ?“
„Nein, keine Anzeichen von deinen Besuchern. Danach suchte ich den Stein an jedem möglichen und unmöglichen Ort. Schließlich gab ich auf. Verschwunden bleibt verschwunden.“
Er schwieg. Wir folgten dem Verlauf des schmalen Gäßleins. Gelegentlich konnte ich einen flüchtigen Blick auf das Meer zu meiner Linken/seiner Rechten erhaschen.
„Und?“ fragte ich. „Was dann?“
„Er rief am nächsten Tag wieder an und fragte, ob ich ihn gefunden hätte. Ich verneinte – daraufhin drohte er, Mary zu töten. Ich flehte ihn an. Ich versprach ihm, alles zu tun …“
„Warte mal. Hast du die Polizei gerufen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Das hatte er mir schon beim ersten Gespräch verboten. Wenn ich die Polizei verständigte, hatte er gesagt, dann würde ich sie nie wiedersehen. Ich dachte natürlich daran, sie trotzdem anzurufen, aber ich hatte Angst. Wenn ich anrief und er es herausfand … dieses Risiko konnte ich einfach nicht eingehen. Was hättest du denn an meiner Stelle getan?“
„Ich weiß es nicht“, gestand ich. „Aber erzähl weiter. Was geschah dann?“
„Er fragte mich, wo du wärst, und sagte, du könntest mir möglicherweise bei der Suche helfen. .!“
„Ha! ’tschuldigung. Erzähl weiter.“
„Ich sagte ihm zum wiederholten Male, daß ich das nicht wüßte, aber auf eine Nachricht von dir wartete. Er sagte, sie wollten mir noch einen Tag Zeit geben, um entweder den Stein oder dich zu finden. Danach legte er auf. Kurz danach fielen mir die Steine in Pauls Labor ein, und ich fragte mich, ob sie noch dort sein mochten. Wenn ja, warum sollte ich dann nicht einen davon als das Original übergeben? Schließlich handelte es sich ja um ausgezeichnete Fälschungen. Der Mann, der sie gemacht hatte, war ja selbst von einer davon lange genug zum Narren gehalten worden. Später fuhr ich dann zu seinem Labor, brach das Schloß auf und ging hinein. In meiner Verzweiflung hätte ich alles versucht. Vier Stück standen noch auf dem Regal, ich nahm den mit, den du nun in Händen hältst. Ich nahm den Stein mit nach Hause. Am nächsten Morgen rief er mich wieder an – kurz vor deinem Anruf –, und ich sagte ihm, er sei in einer alten Truhe gewesen, in der ich bisher noch nicht nachgesehen hatte. Er schien mir sehr glücklich zu sein. Er ließ mich sogar mit Mary sprechen. Sie sagte, mit ihr sei immer noch alles in Ordnung. Danach erläuterte er mir, wo ich den Stein deponieren sollte und daß sie sich dort mit mir treffen und den Austausch vornehmen wollten – sie gegen den Stein.“
„Und dahin fahren wir jetzt?“
„Ja. Ich wollte dich nicht unnötig da hineinziehen, aber sie schienen der Meinung zu sein, daß du eine Kapazität bist, was den Stein angeht; daher dachte ich, nachdem du angerufen hattest, du könntest dazu beitragen, meine Geschichte glaubhafter zu machen. Sie dürfen an der Authentizität des Steins keine Zweifel hegen. Ich wollte dich wirklich nicht damit belasten, aber es geht um Leben und Tod.“
„Ja. Sie werden uns alle töten.“
Er blickte mich erstaunt an.
„Warum sollten sie? Sie bekommen, was sie wollten. Es wäre unnötig, uns zu schaden.“
„Zeugen“, sagte ich nur.
„Wovon? Ihr Wort gegen unseres, daß der Zwischenfall überhaupt je stattfand. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, keine Anzeichen oder Spuren der Entführung. Warum sollten sie diesen Status quo verletzen und eine Suchaktion starten, indem sie uns umbringen?“
„Weil die ganze Sache stinkt, darum. Wir können nicht entscheiden, was sie motivieren könnte und was nicht.“
„Was hätte ich denn sonst tun sollen? Die Polizei anrufen und das Risiko eingehen, daß sie nicht bluffen?“
„Ich sagte schon, ich weiß es nicht. Auch auf die Gefahr hin, undankbar zu klingen – aber du hättest mich aus der Sache heraushalten können.“
„Tut mir leid“, sagte er. „Das war eine spontane Entscheidung, möglicherweise die falsche. Aber ich habe dich nicht blindlings hineingezogen. Ich war dir eine Erklärung schuldig, und die habe ich dir gegeben. Wir sind noch nicht da. Noch ist Zeit, dich irgendwo abzusetzen, wenn du nicht mitkommen willst. Ich wollte dir die Wahl lassen, aber erst, nachdem ich dir die Situation erklärt hatte. Das ist nun der Fall, triff deine Entscheidung. Ich war eben in großer Eile.“
Er sah auf die Uhr.
„Wann soll denn das Treffen stattfinden?“ fragte ich.
„Es sind noch ungefähr acht Meilen, glaube ich. Ich richte mich nach den Kilometersteinen, die sie angegeben haben. Dort parken wir und warten.“
„Ich verstehe. Ich nehme an, du hast keine Stimme oder sonst etwas erkannt?“
„Nein.“
Ich sah hinab auf den Pseudostein, semiopaleszierend oder semitransparent, je nachdem, welchen Blickwinkel man einnimmt, der sehr glatt und von roten und milchigen Streifen durchzogen war. Irgendwie erinnerte er an einen fossilen Schwamm oder an einen siebenarmigen Korallenzweig, poliert und glatt wie Glas mit einer Tendenz, zu glitzern und zu funkeln. Über die ganze Oberfläche waren in unregelmäßigen Abständen schwarze und gelbe Flecken verteilt. Das Gebilde war etwa fünfzehn Zentimeter lang und maß sieben Zentimeter im Durchmesser. Es war schwerer als es aussah.
„Wirklich eine hübsche Arbeit“, gestand ich. „Ich kann ihn nicht von dem anderen unterscheiden. Ja, ich werde dich begleiten.“
„Danke.“
Wir fuhren die restlichen acht Meilen. Ich betrachtete die Landschaft und fragte mich dabei, was geschehen würde. Hal bog in eine von Reifen ausgefräste Fahrspur hinein – man konnte es beim besten Willen nicht mehr als Straße bezeichnen –, bis wir uns sehr nahe an der Küste befanden. Er parkte den Wagen an der Grenze des Marschlandes, wo er fast völlig von Bäumen verborgen wurde. Wir stiegen aus, zündeten uns Zigaretten an und warteten. Von unserem Standort konnte ich das Rauschen des Meeres hören, es riechen, schmecken. Der Boden war feucht, die Luft klamm. Ich stellte einen Fuß auf einen gefällten Baum und wandte meine ganze Aufmerksamkeit dem Tosen der Brandung und der Reflektion des Sonnenlichtes auf den Wogen zu.
Mehrere Zigaretten später sah Hal wieder auf die Uhr.
„Sie kommen zu spät“, sagte er.
Ich zuckte die Achseln.
„Wahrscheinlich beobachten sie uns irgendwo, um sicherzugehen, daß wir auch allein gekommen sind“, beruhigte ich ihn. „Das würde ich an ihrer Stelle tun. Wahrscheinlich würde ich sogar noch einen Posten bei der Straße zurücklassen.“
„Schon möglich“, sagte er. „Ich bin etwas müde. Laß uns wieder ins Auto steigen und uns hinsetzen.“
Also wandte ich mich um und sah sofort Jamie Buckler, der am Heck unseres Wagens stand und uns beobachtete. Er schien unbewaffnet zu sein, aber bisher hatte er auch noch keinen Grund, eine Waffe zu zücken. Er wußte, wir würden alles tun, was er verlangte, auch ohne zusätzliche Druckmittel. Er hatte uns in der Hand.
„Sind Sie der Anrufer?“ fragte Hal, der auf ihn zuging.
„Ja. Haben Sie ihn?“
„Geht es ihr gut?“
„Sehr gut. Haben Sie ihn dabei?“
Hal blieb stehen, wickelte den Stein aus. Er präsentierte ihn auf seiner Jacke.
„Hier.“
„Ja. Sehr schön. Bringen Sie ihn mit.“
„Wohin?“
„Nicht weit von hier. Drehen Sie sich um und wenden Sie sich in diese Richtung. Da ist ein schmaler Trampelpfad.“
Wir gingen den Weg entlang, den er uns gezeigt hatte, Jamie Buckler machte den Abschluß. Der Pfad führte durchs Unterholz weiter zum Meer hinunter. Schließlich hatte ich einen ungestörten Blick auf die nebelverhangene, schaumgekrönte See. Dann führte er wieder vom Ufer weg, schon kurz darauf hatte ich unser wahrscheinliches Ziel ausgemacht – flach, an einen niederen Hügel geschmiegt –, ein Wochenendhäuschen, das schon einmal bessere Zeiten gesehen zu haben schien.
„Die Hütte?“ fragte Hal.
„Die Hütte“, antwortete die Stimme hinter uns.
Wir gingen weiter, bis wir dort waren. Jamie ging an uns vorbei, klopfte sachte in bestimmter Folge und sagte dann: „Alles in Ordnung. Ich bin’s. Er hat ihn. Ich habe auch Cassidy mitgebracht.“
Von drinnen hörten wir ein „in Ordnung“. Danach öffnete er die Tür und wandte sich an uns. Er gestikulierte, worauf wir an ihm vorbei in die Hütte gingen.
Ich war nicht sonderlich überrascht, Morton Zeemeister zu sehen; er saß am Küchentisch, neben seiner Waffe stand eine Kaffeetasse. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes, vor der Kochnische, saß Mary, der man anscheinend den bequemsten Stuhl überlassen hatte. Sie war zwar gefesselt, aber nur lose, eine Hand war frei; auch neben ihr stand eine Tasse Kaffee auf dem Tisch. Es gab zwei Fenster in der Eßnische und zwei im Wohnzimmer. An der Rückwand waren zwei Türen – ein Schlafzimmer und eine Toilette, nahm ich an. Das Dachgebälk war nicht durch einen Boden beziehungsweise eine Decke abgeteilt, dort oben waren Fischernetze und derlei Plunder unordentlich verstaut. Im Wohnzimmer sah ich zusätzlich noch ein Sofa, mehrere Stühle und zwei Lampen. Zudem einen offenen Kamin und einen verblichenen Wandteppich. Die Kochnische enthielt einen kleinen Ofen, einen Kühlschrank, Schränkchen und eine schwarze Katze, die sich die Pfoten leckte.
Zeemeister lächelte, als wir eintraten; erst als Hal auf Mary zurannte, hob er die Waffe.
„Kommen Sie wieder hierher“, befahl er. „Ihr geht es gut.“
„Wirklich?“ fragte Hal sie.
„Ja“, antwortete sie. „Sie haben mir nichts getan.“
Mary ist ein kleines, irgendwie flatterhaftes Mädchen, blond und unscheinbar mit für meinen Geschmack etwas zu scharf geschnittenen Zügen. Ich hatte schon befürchtet, sie mittlerweile bereits hysterisch vorzufinden. Aber abgesehen von den unvermeidbaren Streß- und Ermüdungserscheinungen schien sie eine Stabilität zu besitzen, die meine Erwartungen bei weitem übertraf. Hal hatte möglicherweise einen besseren Griff getan, als ich gedacht hatte. Ich war froh darüber.
Hal wich wieder von ihrer Seite und ging zurück zum Tisch. Ich sah hinter mich, als ich hörte, wie die Tür geschlossen wurde und das Schloß klickte. Jamie lehnte sich mit dem Rücken dagegen und starrte uns an. Er hatte seine Jacke geöffnet, ich konnte eine Pistole sehen, die er in seinem Gürtel stecken hatte.
„Geben Sie her“, sagte Zeemeister.
Hal packte den Stein aus und gab ihn hinüber.
Zeemeister schob Waffe und Tasse beiseite und stellte den Stein direkt vor sich. Er sah ihn lange an, wobei er ihn mehrmals umdrehte. Die Katze erhob sich, streckte sich und sprang vom Tisch herunter.
Danach lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, den Blick noch immer auf den Stein geheftet.
„Ihr Jungs müßt wirklich eine Menge Ärger gehabt haben …“ begann er.
„In der Tat“, stimmte Hal zu. „Wir …“
Zeemeister schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Tasse schepperte.
„Das ist eine Fälschung!“ brüllte er.
„Das ist der, den wir immer hatten“, versuchte ich zu widersprechen, aber Hal hatte bereits knallrote Ohren bekommen. Er war schon immer ein schlechter Lügner gewesen.
„Woher wollen Sie denn das wissen!“ tobte Hal. „Ich habe Ihnen das verdammte Ding gebracht! Es ist echt! Lassen Sie uns gehen!“
Jamie kam von der Tür herüber an Hals Seite. In diesem Augenblick sah Zeemeister auf. Er schüttelte nur einmal leicht den Kopf. Jamie blieb stehen.
„Ich bin kein Narr“, sagte er. „Ich lasse mich nicht mit einer Kopie abspeisen. Ich weiß, was ich will, und das kann ich auch erkennen. Das …“ – er machte eine fahrige Geste mit der linken Hand – „… ist es jedenfalls nicht. Und Sie wissen das ebenso gut wie ich. Die Kopie ist ausgezeichnet, daher war es kein schlechter Versuch. Aber damit haben Sie Ihren letzten Trumpf ausgespielt. Wo ist das Original?“
„Wenn es das nicht ist“, entgegnete Hal, „dann weiß ich es auch nicht.“
„Was ist mit Ihnen, Fred?“
„Das ist derjenige, den wir die ganze Zeit über hatten“, sagte ich. „Wenn das eine Fälschung ist, dann hatten wir das Original noch nie.“
„Schon gut.“
Er sprang auf die Beine.
„Gehen wir hinüber ins Wohnzimmer“, sagte er, seine Waffe aufnehmend.
Gleichzeitig zog Jamie seine eigene, also gehorchten wir.
„Ich habe keine Ahnung, wieviel Sie glauben, dafür bekommen zu können“, sagte Zeemeister. „Oder wieviel man Ihnen dafür geboten hat. Oder ob Sie ihn nicht bereits verkauft haben. Wie auch immer, Sie werden mir nun schön erzählen, wer den Stein augenblicklich hat und wer noch in diese Sache verstrickt ist. Merken Sie sich eines gut: Sie haben nichts davon, wenn Sie tot sind. Und diese Möglichkeit ist momentan ziemlich groß.“
„Sie machen einen Fehler“, sagte Hal.
„Nein. Sie haben einen gemacht, und nun müssen Unschuldige dafür leiden.“
„Was meinen Sie damit?“ fragte Hal.
„Das werden Sie gleich merken“, antwortete er. Dann: „Bleiben Sie dort stehen.“ Er deutete uns unseren Platz an. „Bewegen Sie sich nicht. Jamie, erschieß sie, sollten sie es doch tun.“
Wir blieben dort stehen, wo er hingezeigt hatte, direkt gegenüber von Mary. Er ging wieder zurück, bis er rechts neben ihr stand. Jamie ging an ihre linke Seite und blieb dort stehen.
„Was ist mit Ihnen, Fred?“ fragte Zeemeister. „Erinnern Sie sich an etwas, an das Sie sich in Australien nicht erinnerten? Vielleicht etwas, was Sie bisher nicht einmal dem armen Hal gesagt haben? Etwas, das seine Frau davor bewahren könnte, zu … Nun …“
Er holte eine Rundzange aus seiner Tasche und legte sie neben ihre Kaffeetasse. Hal sah mich an. Sie warteten darauf, daß ich etwas sagte, etwas tat. Ich sah zum Fenster hinaus und suchte weiter nach Toren in der Wüste.
Die Erscheinung kam leise aus dem dahinter liegenden Zimmer geschlichen. Hals Gesicht mußte ihnen den ersten Hinweis gegeben haben, denn ich hielt meines ganz sicher unter Kontrolle. Aber das war nebensächlich, denn sie sprach bereits, als Zeemeister den Kopf umdrehte.
„Nein!“ rief sie. Und: „Keine Bewegung! Laß das, Jamie! Eine einzige verdammte Bewegung mit der Waffe, dann werde ich dich in eine Statue von Henry Moore verwandeln! Bleibt einfach stehen!“
Es war Paul Byler. Er trug einen dunklen Mantel, sein Gesicht war hagerer und wies ein paar Kratzer mehr auf. Aber seine Hand war ruhig wie immer, er hatte eine 45er auf Zeemeister gerichtet. Der bewegte sich keinen Millimeter. Jamie wirkte unentschlossen, er sah zu Zeemeister hinüber, als erwarte er Instruktionen.
Ich seufzte, meine sämtlichen Gefühle drifteten in Richtung Erleichterung. In fairen Situationen sollte es immer einen Ausweg gegen. Den schienen wir dieses Mal wieder gefunden zu haben, wenn nur …
Da geschah die Katastrophe!
Die Netze, Reusen und Seile über uns gerieten in Bewegung, schabend und raschelnd fielen sie auf Paul herab. Er warf den Kopf hoch, seine Hand zitterte, in diesem Moment riß Jamie seine Waffe aus dem Gürtel. Er richtete sie auf Paul. Der war mit den Netzen beschäftigt.
Reflexe, die ich normalerweise vergesse, wenn ich meinen Verstand beisammen habe, ließen mich eine Entscheidung treffen, für die ich keine Verantwortung übernehmen möchte. Wäre zusätzlich zu meinen Nerven auch noch der Verstand eingeschaltet gewesen, dann hätte ich mich gehütet, einen Mann mit einer Waffe anzuspringen.
Aber das würde doch die Situation wieder zu unseren Gunsten entscheiden oder nicht? In den Krimiserien der populären Unterhaltung ist das jedenfalls immer so.
Mit ausgestreckten Armen sprang ich Jamie an.
Seine Hand zitterte einen unentschlossenen Moment lang, dann schwang er die Pistole in meine Richtung und feuerte.
Meine Brust explodierte, die Welt kippte unter mir weg.
Soviel zur populären Unterhaltung.