So daliegend, die linke Hand auf einem Kissen, auf der schindelgedeckten Dachschräge, im Schatten des Giebels, hinaufstarrend zum wolkigen, blauen Meer des Nachmittagshimmels, schien ich, blinzelnd, über dem Campus und mir selbst, einen Schriftzug zu sehen.
„KANNST DU MICH RIECHEN, DED?“ las ich.
Ein kurzer Augenblick, dann war es vorüber. Ich zuckte die Achseln. Aber ich schnüffelte auch der lauen Brise nach, die schon Augenblicke zuvor verweht war.
„Tut mir leid“, murmelte ich dem übernatürlichen Journalisten zu. „Keine speziellen Gerüche.“
Dann gähnte ich und streckte mich. Ich hatte gedöst und einen flüchtigen Tagtraum erlebt, dachte ich. Daran lag es vermutlich auch, daß ich mich nicht daran erinnern konnte. Ich sah auf die Uhr. Wie sie mir sagte, würde ich zu meiner Verabredung zu spät kommen. Doch sie konnte falsch gehen. Tatsächlich tat sie das meistens.
Ich schnellte vorwärts in einen Fünfundvierzig-Grad-Winkel, meine Fersen ruhten noch auf der Dachrinne, meine rechte Hand umklammerte den Giebel. Fünf Stockwerke unter mir bot die Landschaft den Anblick einer Studie in Betongrau und Grasgrün, mit Leuten, die sich langsam bewegten, sowie einer Fontäne, gleich einem Phallus, der an der Spitze zerbröselte. Hinter der Fontäne lag Jefferson Hall, und dort, im dritten Stock, befand sich das Büro meines derzeitigen Studienberaters, Dennis Wexroth. Ich klopfte gegen meine Hüfttasche. Die Ecke meines Schulausweises ragte immer noch heraus. Gut.
Hineinzugehen, hinunterzugehen, hinüberzugehen und wieder hinaufzugehen schien eine schreckliche Zeitverschwendung zu sein, da ich doch bereits oben war. Aber es war, so sehr es auch im Widerspruch zur althergebrachten Tradition stand, meine persönliche Angewohnheit, kurz vor Sonnenuntergang noch viel zu klettern, zumal der Weg – da alle Gebäude miteinander verbunden waren – relativ einfach und ungefährlich war.
Ich erklomm also den Giebel und von dort die Regenrinne. Ungefähr drei Fuß hinaus und sechs hinab, ein einfacher Sprung, und ich befand mich auf dem Flachdach der Bibliothek. Ich schritt über das Dach, dann um die Kamine einer ganzen Reihe zusammenhängender Wohnhäuser herum. Nach dem Passieren der Kapelle – in bester Quasimodo-Manier –, dieser Abschnitt war ein wenig schwierig, ging es einen Sims entlang, ein Abflußrohr hinunter zum nächsten Sims, über den großen Eichbaum und von dort zum letzten Sims. Exzellent! Ich hatte sechs oder sieben Minuten gespart, da war ich sicher.
Und ich war ausgesprochen stolz auf mich, denn die Uhr an der Wand verriet mir, als ich durch das Fenster spähte, daß ich drei Minuten zu früh war.
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen richtete Dennis Wexroths Kopf sich auf, wandte sich langsam um, lief dunkel an, dann zog er den Rest des Körpers in die Höhe, kam um den Schreibtisch herum und auf mich zu.
Ich blickte gerade über meine Schulter zurück, um nachzusehen, was ihn so entsetzt hatte, als er das Fenster öffnete und sagte: „Mister Cassidy, was, zum Teufel, machen Sie da?“
Ich wandte mich wieder um. Er umklammerte den Fenstersims, als ob dieser eine ungeheure Bedeutung für ihn hätte und ich ihn ihm wegnehmen wollte.
„Ich warte darauf, mit Ihnen zu sprechen“, sagte ich. „Aber ich bin drei Minuten zu früh für unsere Verabredung, deshalb wollte ich noch warten.“
„Nun, sie können gleich wieder hinuntergehen und so hereinkommen wie jeder andere …“ begann er. Dann: „Nein! Warten Sie!“ sagte er. „Das könnte mich bei irgend etwas zum Mittäter machen. Kommen sie herein!“
Er trat beiseite, und ich stieg in das Zimmer. Obwohl ich mir die Hand an der Hose abwischte, wollte er meinen Handschlag nicht erwidern.
Er wandte sich ab, ging zurück zu seinem Schreibtisch und setzte sich.
„Es gibt hier eine Bestimmung gegen das Herumklettern auf den Dächern“, sagte er.
„Ja“, sagte ich. „Aber das ist lediglich eine Formsache. Sie mußten sich einfach rechtlich absichern. Niemand kümmert sich darum …“
„Sie“, sagte er kopfschüttelnd. „Sie sind der Grund für diese Bestimmung. Ich bin vielleicht neu hier, aber was Sie angeht, habe ich meine Hausaufgaben gemacht.“
„Das ist wirklich nicht besonders wichtig“, sagte ich. „Solange ich diskret bin, kümmert es niemanden …“
„Akrophilie!“ schnaubte er, wobei er den Ordner, der auf seinem Tisch lag, zuschlug. „Sie haben einmal eine verschrobene medizinische Studie verfaßt; das hat Sie davor bewahrt zu fliegen. Sie hat Ihnen sogar einige Sympathien eingebracht, Sie zu einer kleinen Berühmtheit gemacht. Ich habe sie eben gelesen. Das ist vollkommener Schrott. Das kaufe ich Ihnen nicht ab. Ich halte sie noch nicht einmal für lustig.“
Ich zuckte die Achseln. „Ich klettere gerne herum“, sagte ich. „Ich mag es, in der Höhe zu sein. Ich habe niemals behauptet, daß sie lustig ist, und Doktor Marko ist nicht verschroben.“
Er stieß einen labialen Konsonanten hervor und blätterte durch den Ordner. Ich begann, eine Aversion gegen den Mann zu fühlen. Kurzgeschnittenes, sandfarbenes Haar, ein gepflegter, ordentlicher Kinn- und ein Schnurrbart, der den kleinen Mund fast verdeckte. Etwa Mitte zwanzig, schätzte ich. Und er benahm sich ungezogen und autoritär und bot mir noch nicht einmal einen Sitzplatz an, dabei war ich ihm mit dem Studium wahrscheinlich schon Semester voraus, und es hatte mich Blut und Schweiß gekostet, es so weit zu bringen. Ich hatte ihn bisher erst einmal getroffen, ganz kurz, bei einer Party. Damals war er pleite und wesentlich umgänglicher gewesen. Natürlich hatte er noch nicht einmal meine Kartei gesehen. Aber das sollte eigentlich einerlei sein. Er sollte sich de novo mit mir befassen und nicht auf der Basis einer Menge Gerüchte. Aber Studienberater kommen und gehen allgemein, fachspezifisch, speziell. Ich hatte schon mit den besten und mit den schlechtesten zu tun gehabt. So aus dem Stegreif kann ich nicht sagen, wer mir der liebste von allen war. Vielleicht Merimee. Vielleicht Crawford. Merimee hatte mir geholfen, das Exmatrikulationsverfahren abzuwenden. Ein geschickter Bursche. Crawford hätte mich fast hereingelegt und zur Graduierung gebracht, was ihm zweifellos den Preis ‚Studienberater des Jahres’ eingebracht hätte. Nichtsdestoweniger ein guter Junge. Nur ein wenig zu kreativ. Wo mochten sie jetzt wohl alle sein?
Ich zog mir einen Stuhl her und machte es mir bequem, zündete mir eine Zigarette an und benützte einen Papierkorb als Aschenbecher. Er gab vor, es nicht zu bemerken, sondern blätterte statt dessen weiter den Ordner durch.
Auf diese Weise verstrichen einige Minuten. Dann: „Also gut“, sagte er. „Ich bin bereit.“
Er blickte zu mir auf und lächelte.
„In diesem Semester, Mister Cassidy“, sagte er, „werden wir Sie graduieren lassen.“
Ich lächelte zurück.
„Das, Mister Wexroth, wird dann geschehen, wenn es in der Hölle einen kalten Tag gibt“, sagte ich.
„Ich glaube, ich war ein wenig sorgfältiger als meine Vorgänger“, sagte er. „Ich nehme an, Sie sind mit allen Universitätsbestimmungen vertraut?“
„Ich lese sie mir regelmäßig durch.“
„Ich nehme ebenfalls an, Ihnen sind alle Kurse bekannt, die im kommenden Semester angeboten werden?“
„Eine sehr treffende Vermutung.“
Er holte aus der Innentasche seiner Jacke eine Pfeife und einen Tabaksbeutel hervor. Dann begann er, das Ding langsam zu stopfen, wobei er jedem einzelnen Krümel besondere Beachtung beimaß, als wolle er um jeden Preis Zeit gewinnen. Ich hatte ihn schon vorher als Pfeifenraucher eingestuft.
Er nahm sie in den Mund, zündete sie an, zog sie zurück. Dann sah er mich durch den Rauch hindurch an.
„Dann werden wir Sie zu einer Zwangsgraduierung anmelden“, sagte er. „In bezug auf die Hauptvorschriften.“
„Aber sie haben noch nicht einmal meine Registraturkarte gesehen.“
„Das spielt keine Rolle. Ich habe mir jede Wahl angesehen, die Sie treffen können, jede Kombinationsmöglichkeit von Kursen durchgespielt, die Sie belegen können, um Ihren Status als Vollzeitstudent zu wahren. All das habe ich mit Ihren sehr ausführlichen Universitätsunterlagen verglichen, und dabei ist mir eingefallen, wie wir uns Ihrer entledigen können. Ganz egal, was Sie auch auswählen, in diesem Semester werden Sie einen Abschluß in irgendeinem Fach machen.“
„Hört sich an, als wären Sie wirklich gründlich gewesen.“
„Das war ich.“
„Dürfte ich wohl fragen, warum Sie mich unter allen Umständen loswerden wollen?“
„Aber sicher“, antwortete er. „Es ist doch eine nicht zu leugnende Tatsache: Sie sind ein ‚ewiger Student’.“
„Ein ewiger Student?“
„Ein ewiger Student. Sie tun nichts anderes, als hier herumhängen.“
„Und was ist daran so schlimm?“
„Sie sind eine Last, ein Schmarotzer an den intellektuellen und emotionalen Quellen unserer akademischen Gemeinschaft.“
„Unsinn“, entgegnete ich. „Ich habe einige verdammt gute Studien veröffentlicht.“
„Präzise. Sie sollten schon lange einen Lehrauftrag haben oder in der Forschung tätig sein – mit einigen Titeln vor Ihrem Namen – und nicht hier herumhängen und einem armen Studienanfänger den Platz wegnehmen.“
Ich stellte mir das Bild des armen Studienanfängers vor, mager, hohlwangig, Nase und Fingerspitzen gegen die Scheiben des Hörsaales gepreßt, mit keuchendem Atem dem Studienplatz nachlechzend, den ich ihm vorenthielt. „Wieder Unsinn“, sagte ich. „Warum wollen Sie mich wirklich loswerden?“
Er starrte einen Augenblick nachdenklich seine Pfeife an. „Wenn man bis an die Wurzeln des Übels vordringt, einfach deswegen, weil ich Sie nicht leiden kann“, sagte er dann.
„Aber warum? Sie kennen mich ja kaum.“
„Ich weiß einiges über Sie – und das reicht völlig aus.“ Er tippte auf meinen Ordner. „Es steht alles hier drinnen“, sagte er. „Sie repräsentieren einen Typ, vor dem ich nicht den geringsten Respekt habe.“
„Könnten Sie etwas näher in die Einzelheiten gehen?“
„Gut“, sagte er und blätterte, bis er eine der von ihm speziell markierten Seiten erreicht hatte. „Diesem Bericht zufolge sind sie schon hier eingeschrieben seit … lassen Sie mich nachsehen … seit dreizehn Jahren.“
„Könnte stimmen.“
„Vollzeit“, sagte er dann noch.
„Richtig, ich war immer Vollzeitstudent.“
„Sie sind schon sehr jung an die Universität gekommen. Sie waren ein richtiges kleines Juwel. Ihre Arbeiten waren immer überzeugend.“
„Vielen Dank.“
„Das war kein Kompliment. Es war lediglich eine Feststellung. Sie haben viele Artikel und Arbeiten geschrieben, die für eine Graduierung ausgereicht hätten; hier liegt tatsächlich Material für mehrere Doktorate vor. Einige Arbeiten bieten sich geradezu an für …“
„Aber die fallen nicht unter das Hochschulabschlußgesetz.“
„Ja. Dessen bin ich mir wohl bewußt. Wir beide sind uns dessen bewußt. In den vergangenen Jahren ist eines immer deutlicher geworden: Sie wollen Ihren Vollzeitstatus erhalten, aber nie graduieren.“
„Das habe ich nie behauptet.“
„Leugnen ist zwecklos, Mister Cassidy. Ihre Aufzeichnungen sprechen Bände. Als Sie alle allgemeinen Kurse hinter sich hatten, da war es relativ einfach, ständig das Hauptfach zu wechseln, wodurch Sie wieder neue Kurse belegen mußten und so einer Graduierung aus dem Weg gehen konnten. Nach einer Weile begannen diese sich natürlich zu überlappen. Bald wird es nötig sein, jedes Semester zu wechseln. Die Bestimmung, die zur Zwangsgraduierung nach Vollendung der Kurse eines speziellen Hauptfaches zwingt, wurde ausschließlich Ihretwegen aufgestellt. Sie haben eine Menge Hintertürchen gefunden, aber dieses Mal sind sie alle versperrt. Die Zeit läuft, bald wird der Wecker schellen. Dieses Gespräch ist die letzte Unterhaltung, die wir in dieser Angelegenheit führen werden.“
„Das hoffe ich. Ich kam nur, um meine Karte unterschreiben zu lassen.“
„Sie haben mir aber auch eine Frage gestellt.“
„Ja, aber wie ich sehe, sind Sie momentan sehr beschäftigt. Ich bin gerne bereit, Ihnen einen unnötigen Zeitverlust zu ersparen.“
„Das macht doch nichts. Ich bin ja hier, um Ihre Fragen zu beantworten. Um wieder zurück zum Thema zu kommen: Als ich zum ersten Mal von Ihrem Fall hörte, da war ich selbstverständlich neugierig, welche Gründe Sie zu Ihrem außergewöhnlichen Verhalten veranlassen könnten. Als man mir die Gelegenheit bot, Ihr Berater zu werden, da griff ich zu, um …“
„Bot? Sie meinen, Sie tun das freiwillig?“
„Selbstverständlich. Ich wollte derjenige sein, der Ihnen auf Wiedersehen sagt und Sie ins harte Alltagsleben entläßt.“
„Wenn Sie mir einfach meine Karte unterzeichnen würden …“
„Noch nicht, Mister Cassidy. Sie wollten wissen, weshalb ich Sie nicht mag. Wenn Sie von hier weggehen – und zwar durch die Tür –, dann werden Sie es wissen. Um es gleich vorweg zu sagen, ich war erfolgreich, wo meine Vorgänger versagten. Ich bin vertraut mit den Bedingungen des letzten Willens Ihres Onkels.“
Ich nickte. Ich hatte schon erwartet, daß es diese Wendung nehmen würde.
„Sie scheinen die Befugnisse Ihrer Aufgabe weit überschritten zu haben“, sagte ich. „Das ist eine persönliche Angelegenheit.“
„Wenn Ihre Aktivitäten hier mit betroffen sind, dann fällt es auch in mein Interessengebiet – und in meine Spekulationen. Soweit ich verstanden habe, hinterließ Ihr großzügiger Onkel einen beachtlichen Fundus, aus dem Sie schöpfen können, solange Sie ein Vollzeitstudent sind, der an seiner Promotion arbeitet. Haben Sie erst einmal einen Grad, gleichgültig welcher Art, erreicht, dann erlischt diese Verfügung, und der Rest des Vermögens fließt der Irisch-Republikanischen Armee zu. Ich nehme an, ich habe die Situation korrekt wiedergegeben?“
„So korrekt man eben eine unkorrekte Situation wiedergeben kann, schätze ich. Armer, seliger Onkel Albert. Aber eigentlich bin ich der arme Tropf. Nichtsdestoweniger haben Sie die Fakten korrekt wiedergegeben.“
„Mir will scheinen, es war der Wunsch dieses Mannes, Ihnen eine Ausbildung unter erträglichen Bedingungen zu sichern – nicht mehr und nicht weniger –, um es dann anschließend Ihnen zu überlassen, sich Ihr weiteres Leben selbst zu gestalten. So sehe ich das.“
„Das habe ich schon vermutet.“
„Aber ganz offensichtlich sind Sie nicht bereit, das auch zu tun.“
„Richtig. Hier prallen in der Tat zwei vollkommen konträre Ausbildungsphilosophien aufeinander.“
„Mister Cassidy, ich glaube, die Situation wird mehr von der Ökonomie als von der Philosophie bestimmt. Dreizehn Jahre lang sind Sie nun schon Vollzeitstudent, ohne jemals auch nur an eine Graduierung gedacht zu haben, damit Sie Ihr Stipendium auch weiterhin bekommen. Sie haben dieses Schlupfloch im Testament Ihres Onkels ausgenützt, weil Sie ein Playboy und ein Dilettant sind, der niemals auch nur den geringsten Wunsch hatte, zu arbeiten, sich einen Job zu suchen und der Gesellschaft das zurückzuzahlen, was er ihr schuldet. Sie sind ein Opportunist. Sie sind verantwortungslos. Sie sind eine Niete.“
Ich nickte. „Also gut. Sie haben meine Neugier hinsichtlich Ihrer Denkweise voll und ganz befriedigt. Vielen Dank.“
Er runzelte die Stirn, während er mein Gesicht studierte.
„Da Sie wahrscheinlich längere Zeit mein Berater sein werden, wollte ich etwas über Ihre Einstellung in Erfahrung bringen. Das ist mir gelungen.“
Er kicherte. „Sie bluffen.“
Ich zuckte die Achseln. „Wenn Sie mir nun meine Karte unterzeichnen würden, dann werde ich wieder verschwinden.“
„Ich muß diese Karte gar nicht sehen“, sagte er langsam, „um zu wissen, daß ich nicht lange Ihr Berater sein werde. Der letzte Akt Ihrer Schmierenkomödie ist angebrochen, Cassidy.“
Ich holte die Karte heraus und reichte sie ihm. Er ignorierte sie. „Mit dem demoralisierenden Effekt, den Ihre Anwesenheit an dieser Universität hat, ist es mir unmöglich, mir auszumalen, was Ihr Onkel wohl sagen würde, könnte er erleben, wie Sie seine Güte mißbrauchen. Er …“
„Ich werde ihn fragen, wenn ich wieder vorbeikomme“, sagte ich. „Aber als ich ihn letzten Monat sah, da störte es ihn nicht besonders.“
„Bitte um Entschuldigung … Aber ich verstehe nicht ganz …“
„Onkel Albert war eine der Persönlichkeiten, die in den Bide-A-Wee-Skandal verstrickt waren. Ungefähr vor einem Jahr. Erinnern Sie sich nicht?“
Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich fürchte, nein. Ich dachte, Ihr Onkel sei tot. Das muß er doch sein, wenn sein letzter Wille …“
„Das ist ein delikater philosophischer Streitpunkt“, sagte ich. „Rechtlich gesehen ist er tatsächlich tot. Aber er hat sich einfrieren lassen, nämlich in Bide-A-Wee, in einer dieser kryonischen Anlagen. Die Inhaber erwiesen sich leider als etwas mehr als skrupellos, daher haben die Behörden ihn in eine andere Anstalt gebracht, zusammen mit den anderen Überlebenden.“
„Überlebenden?“
„Ich nehme an, das ist der beste Ausdruck. Bide-A-Wee hatte über fünfhundert Kunden, aber davon hatten sie nur etwa fünfzig auf Eis gelegt. Das hat ihnen einen irrsinnigen Profit eingebracht.“
„Und was wurde aus den anderen?“
„Ihre besseren Teile tauchten über den Schwarzmarkt in den Organbänken wieder auf. Das war ein weiteres Gebiet, mit dem Bide-A-Wee den großen Reibach machte.“
„Ich glaube, langsam erinnere ich mich. Aber was haben sie mit den … Überresten getan?“
„Einer der Partner hatte zusätzlich ein Beerdigungsinstitut. Die unverwertbaren Teile behandelte er einfach geschäftlich.“
„Oh … nun. Moment mal. Was taten sie, wenn jemand vorbeikam und einen eingefrorenen Verwandten sehen wollte?“
„Sie haben die Namensschilder vertauscht. Durch das fast zugefrorene Sichtfenster sieht ein eingefrorener Körper aus wie der andere – wie bei einem Eis am Stiel in Cellophan. Nun, und Onkel Albert war einer derjenigen, den sie zum Vorzeigen aufhoben. Er hat sein Leben lang Glück gehabt und hat es auch jetzt noch.“
„Wie kam man ihnen denn auf die Schliche?“
„Steuerhinterziehung. Sie drehten krumme Dinge.“
„Ich verstehe. Dann könnte Ihr Onkel also durchaus eines Tages zur großen Abrechnung erscheinen?“
„Diese Möglichkeit besteht immer. Aber bisher gab es nur sehr wenige erfolgreiche Wiedererweckungen.“
„Und diese Möglichkeit macht Ihnen überhaupt keine Sorgen?“
„Ich lasse die Dinge immer auf mich zukommen. Und bisher hat Onkel Albert das noch nicht getan.“
„In Übereinstimmung mit der Universität und den Wünschen Ihres Onkels muß ich Sie darauf hinweisen, daß Sie auch noch an anderer Stelle Interessen verletzen.“
Ich sah mich überall im Raum um. Sogar unter dem Stuhl.
„Ich geb’s auf“, sagte ich.
„Ihre eigenen.“
„Meine eigenen?“
„Ihre eigenen. Indem Sie die ökonomische Sicherheit der Situation ausnützen, verfallen Sie in Faulheit. Sie ruinieren Ihre Chancen, es jemals zu etwas zu bringen. Sie entwickeln sich zum Faulpelz.“
„Faulpelz?“
„Faulpelz. Sie hängen herum und leisten rein gar nichts.“
„Sie handeln also tatsächlich in meinem eigenen Interesse, wenn Sie mich erfolgreich hinauswerfen, ja?“
„So ist es.“
„Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber die Geschichte quillt über von Personen wie Sie. Heute halten wir ein hartes Gericht über sie alle.“
„Die Geschichte?“
„Nicht die der Uni. Die Weltgeschichte.“
Er schüttelte seufzend den Kopf. Dann akzeptierte er meine Karte, lehnte sich zurück und schmauchte an seiner Pfeife; er las sich durch, was ich geschrieben hatte.
Ich fragte mich, ob er wirklich glaubte, mir einen Gefallen zu tun, indem er versuchte, meine Lebensweise zu beenden. Wahrscheinlich.
„Warten Sie mal“, sagte er. „Hier ist ein Fehler.“
„Unmöglich.“
„Die Stunden stimmen nicht.“
„Doch. Ich benötige zwölf, und ich habe zwölf.“
„Das bestreite ich nicht, aber …“
„Sechs Stunden persönliches Projekt, historische Forschungen, in meinem Fall Australien.“
„Sie wissen, es sollte wirklich Anthropologie sein. Das würde ein Hauptfach beenden. Aber darauf wollte ich eigentlich nicht …“
„Dann drei Stunden Vergleichende Anatomie. Die habe ich genommen, und das kann ich Ihnen auch beweisen – wie auch die eine Stunde Sozialwissenschaften, damit haben wir zehn. Zudem noch zwei Stunden Korbflechten für Fortgeschrittene, das macht zusammen zwölf. Alles klar.“
„Nein Sir! Eben nicht! Das letzte ist ein dreistündiger Kurs, und damit wird er für Sie ebenfalls zum Hauptfach.“
„Sie haben das Rundschreiben Nummer fünfundsiebzig noch nicht gelesen, nicht wahr?“
„Was?“
„Das wurde geändert.“
„Das glaube ich Ihnen nicht.“
Ich sah zu seinem Postkörbchen.
„Lesen Sie Ihre Post.“
Er schnappte nach dem Korb, wühlte ihn durch. Irgendwo in der Mitte fand er dann das gesuchte Papier. Ich beobachtete sein Mienenspiel, erkannte Unglauben, Zorn und Verwirrung innerhalb der ersten fünf Sekunden. Ich hoffte noch auf Verzweiflung, aber man kann eben nicht alles auf einmal haben.
Frustration und Bestürzung blieben zurück, als er sich mir wieder zuwandte. „Wie haben Sie das nur geschafft?“ fragte er.
„Warum müssen sie nur immer alles von der negativen Seite sehen?“
„Weil ich Ihre Unterlagen gelesen habe. Irgendwie sind Sie an den Instruktor gekommen, nicht wahr?“
„Das ist aber sehr unschön von Ihnen, so etwas zu behaupten. Zudem wäre ich ein Narr, wenn ich es zugeben würde, oder etwa nicht?“
Er seufzte. „Ich nehme es an.“
Er holte einen Kugelschreiber hervor, drückte mit unnötiger Gewalt auf den Knopf und kritzelte seinen Namen in die ‚Geprüft-von’-Linie am unteren Abschnitt der Karte.
Er gab sie mir zurück und meinte: „Dieses Mal sind sie nur um Haaresbreite davongekommen, das wissen Sie. Ich hatte einfach zuviel um die Ohren. Was wollen Sie im Wiederholungsfalle tun?“
„Ich kann mir denken, daß im nächsten Jahr zwei Hauptfächer vorgeschrieben sein werden. Ich werde wohl den entsprechenden Fachbereichsberater aufsuchen müssen, wenn ich wechseln will.“
„Sie werden mich aufsuchen“, sagte er. „Und ich werde den entsprechenden Berater sprechen.“
„Aber jeder andere hat auch einen Fachbereichsberater.“
„Sie sind ein besonderer Fall, der eine besondere Behandlung erfordert. Sie werden sich auch beim nächsten Mal hier melden.“
„Schon gut“, sagte ich, während ich die Karte in meiner Tasche verstaute. „Bis zum nächsten Mal also.“
Als ich zur Tür ging, sagte er noch: „Ich werde eine Möglichkeit finden.“
Ich blieb auf der Schwelle stehen.
„Sie“, sagte ich, „und der Fliegende Holländer.“
Ich schloß die Tür sehr sanft hinter mir.