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Episoden und Fragmente, Zeitscherben und Bruchstücke. Wie …

„Du machst keine Witze?“

„Ich fürchte, nein.“

„Ich würde sagen, der Grund ist nur allzu offensichtlich“, sagte sie. Sie wich mit weit aufgerissenen Augen zu der Tür zurück, durch die wir gerade gekommen waren.

„Nun, was auch immer passiert sein mag, es ist geschehen. Wir räumen nur auf und …“

Sie öffnete die Tür, ihr langes, liebliches Haar tanzte, als sie wild den Kopf schüttelte.

„Weißt du, ich muß das alles erst noch einmal überdenken“, sagte sie, womit sie in den Korridor hinausging.

„Ach, komm schon, Ginny. Das ist doch nichts Ernstes.“

„Wie schon gesagt, ich denke darüber nach.“

Sie schloß die Tür langsam.

„Soll ich dich später anrufen?“

„Ich glaube nicht.“

„Morgen?“

„Ich sag’ dir was, ich werde dich anrufen.“

Klick.

Teufel. Sie hätte sie ebensogut zuschlagen können. Ende von Phase eins meiner Suche nach einem neuen Zimmergefährten. Hal Sidmore, der das Apartment einige Zeit mit mir geteilt hatte, hatte vor einigen Monaten geheiratet. Er fehlte mir, denn er war ein guter Kumpel gewesen, ein ausgezeichneter Schachspieler, ein exzellenter Stadtkenner sowie ein wahrer Tausendsassa, was unzählige andere Kleinigkeiten anbelangte. Ich wollte jemand anders als nächsten Zimmergefährten haben. Ich hatte geglaubt, diese undefinierbare Qualität in Ginny gefunden zu haben, damals, spät in der Nacht, als ich den Funkturm hinter dem Pi-Phi-Haus erklettert hatte, wo sie in ihrer Wohnung im dritten Stock ihrer Hausarbeit nachgegangen war. Danach waren die Dinge etwas ins Schwimmen gekommen. Ich hatte sie am Boden getroffen, danach hatten wir einen Monat viele Dinge gemeinsam getan; ich hatte sie gerade soweit gehabt, einen Wohnungswechsel für das kommende Semester ins Auge zu fassen. Und nun das.

„Verdammt!“ rief ich, wobei ich einen Ordner wegkickte, der vom Regal zu Boden gefallen war. Zwecklos, jetzt hinter ihr herzulaufen. Nur immer mit der Ruhe. Laß sie alles überdenken. Rede morgen noch einmal mit ihr.

Irgend jemand hatte meine Wohnung buchstäblich verwüstet, hatte rein alles durchwühlt. Man hatte sogar die Möbel verrückt und die Kissenbezüge abgezogen. Ich seufzte, als ich es bemerkte. Schlimmer als am Morgen nach der wildesten Party. Was für eine verdammte Zeit, einzubrechen und zu plündern. Ich war zwar nicht der beste Nachbar, aber ich war auch nicht der schlechteste. So etwas war mir zuvor noch niemals zugestoßen. Und nun, als es geschah, da mußte es zum allerfalschesten Zeitpunkt geschehen; woraufhin meine arme, erschrockene Gefährtin schnurstracks das Weite suchte. Und zudem – etwas mußte ja wohl fehlen.

Ich bewahrte etwas Kleingeld in der obersten Schublade meines Schreibtisches im Schlafzimmer auf. Einen größeren Betrag hatte ich in einem Stiefel verborgen, der in einer Ecke stand. Ich hoffte, der Vandale hatte sich mit dem Geld in der Schublade begnügt. Denn das Geld war ja sicher der Hauptgrund für dies alles.

Ich ging nachsehen.

Mein Schlafzimmer befand sich in einem besseren Zustand als mein Wohnzimmer, aber es hatte auch sein Teil abbekommen. Das Bettzeug war herausgerissen und die Matratze aufgeschlitzt. Zwei der Aktenordner waren offen, aber unberührt. Ich ging zum Schreibtisch und öffnete die oberste Schublade.

Alles war an seinem Platz, sogar das Geld. Ich ging in die Ecke zu meinem Stiefel; auch dieses Bargeld war noch da, wo ich es verborgen hatte.

„Hier ist Besuch für Sie. Und nun geben Sie es her“, sagte eine vertraute Stimme hinter mir, die ich in diesem Zusammenhang aber nicht einordnen konnte.

Ich wandte mich um und sah Paul Byler, Professor der Geologie, der eben aus meinem Wandschrank herauskam. Seine Hände waren leer, aber er benötigte auch keine Waffe, um furchteinflößend auszusehen. Er war zwar nicht groß, aber dafür kräftig gebaut, seine Muskelberge hatten mir immer imponiert. Er war Australier; seine Laufbahn hatte als Bergbauingenieur begonnen, mit harter Arbeit, später hatte er dann in Geologie und Physik abgeschlossen und ein Lehramt bekommen.

Aber ich war mit diesem Mann immer bestens ausgekommen, sogar nachdem ich Geologie als Hauptfach wieder aufgegeben hatte. Ich kannte ihn schon seit mehreren Jahren. Ich hatte ihn schon seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen, da er Urlaub machte. Ich hatte nicht gewußt, daß er überhaupt in der Stadt war.

Daher: „Paul, was ist denn los?“ fragte ich. „Sagen Sie mir bloß nicht, Sie hätten das alles angerichtet.“

„Der Stiefel, Fred. Geben Sie mir einfach den Stiefel.“

„Wenn Sie knapp bei Kasse sind – ich leihe Ihnen gerne was Sie brauchen …“

„Den Stiefel!“

Ich gab ihn ihm. Ich stand da, während er mit der Hand hineinfuhr und das Geldbündel herausholte. Er schnaufte, dann warf er mir beides wieder zu. Ich ließ alles fallen, denn er hatte mich in der Magengrube erwischt.

Bevor ich auch nur den kürzesten Fluch ausstoßen konnte, hatte er mich auch schon an den Schultern gepackt, zerrte mich herum und ließ mich dann in den Sessel beim Fenster fallen, wo die Vorhänge sanft im Wind wehten.

„Ich will Ihr Geld nicht, Fred“, sagte er, wobei er mich anstarrte. „Ich möchte nur etwas, das Sie haben und das mir gehört. Und nun geben Sie mir besser eine ehrliche Antwort. Wissen Sie, wovon ich spreche, oder nicht?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer“, antwortete ich. „Ich habe nichts von Ihnen. Sie hätten einfach anrufen – und mich danach fragen können. Und nicht hier hereinplatzen und …“

Er schlug mich. Nicht gerade hart, aber gerade energisch genug, um mich zum Schweigen zu bringen.

„Fred“, sagte er. „Schweigen Sie. Schweigen Sie und hören Sie mir zu. Antworten Sie, wenn ich Ihnen eine Frage stelle. Das ist alles. Sparen Sie sich Ihre Kommentare für später. Ich bin in Eile. Ich weiß, daß Sie lügen, denn ich habe bereits mit Ihrem Ex-Zimmergefährten Hal gesprochen, und der sagte, Sie hätten es. Er hat es hiergelassen, als er auszog. Was ich suche, ist eines meiner Modelle des Sternsteins, das er nach einer Poker-Party in meinem Labor mitnahm. Erinnern Sie sich?“

„Ja“, sagte ich. „Wenn Sie mich einfach angerufen hätten und mich gefragt …“

Wieder schlug er mich. „Wo ist es?“

Ich schüttelte den Kopf, teilweise, weil es weh tat, teilweise als Verneinung.

„Ich … ich weiß es nicht“, sagte ich.

Er hob die Hand.

„Warten Sie! Ich kann alles erklären! Er hatte dieses Ding, das Sie ihm gaben, auf dem Schreibtisch, er benützte es als Briefbeschwerer. Ich bin sicher, er hat es mitgenommen – zusammen mit seinem anderen Kram –, als er auszog. Ich habe es schon mehrere Monate nicht mehr gesehen. Da bin ich mir ganz sicher.“

„Nun, dann lügt einer von euch beiden“, sagte er. „Und Sie sind derjenige, den ich an der Hand habe.“

Wieder hob er die Hand, aber dieses Mal war ich vorbereitet. Ich duckte mich und trat ihm in den Unterleib.

Es war spektakulär. Fast der Mühe wert, stehenzubleiben und zuzusehen, da ich vorher noch nie jemandem in den Unterleib getreten hatte. Kalt und rational hätte ich ihm nun als nächstes ins Genick schlagen müssen, während er noch so gebeugt dastand, vorzugsweise mit dem Ellbogen. Aber ich war nicht in kalter und rationaler Stimmung.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich hatte Angst vor dem Mann, Angst davor, ihm nahe zu kommen. Da ich nur wenig Erfahrung mit in den Unterleib getretenen Personen hatte, wußte ich natürlich auch nicht, wann er sich wieder aufrichten und mir nachjagen würde.

Daher gab ich vorerst einmal lieber Fersengeld, anstatt zu warten, bis er sich wieder erholt hatte.

Ich sprang über die Stuhllehne, schob das Fenster vollends auf und war mit einem einzigen Satz draußen. Da war ein schmaler Sims, auf dem ich mich entlangtastete, bis ich mich an der Dachrinne festhalten konnte, die sich nur wenige Schritte zur Rechten entfernt befand.

Nun hätte ich weitergehen können – oder hinauf oder hinunter –, aber ich beschloß zu bleiben, wo ich war, denn ich fühlte mich sicher.

Wenig später streckte er den Kopf zum Fenster heraus, sah den schmalen Sims und verfluchte mich. Ich zündete eine Zigarette an und lächelte.

„Worauf warten Sie?“ fragte ich, während er dastand, um nach Atem zu ringen. „Kommen Sie doch heraus. Sie sind vielleicht viel stärker als ich, Paul, aber wenn Sie herauskommen, dann wird nur einer von uns beiden wieder hineingehen. Das dort unten ist Beton. Nun kommen Sie schon, zeigen Sie’s mir.“

Er holte einmal tief Luft, sein Griff um den Fensterrahmen verstärkte sich. Einen Augenblick lang dachte ich, er würde es tatsächlich versuchen. Doch er sah zuerst hinunter, dann wieder zu mir.

„Also gut, Fred“, sagte er, wobei er langsam wieder Kontrolle über seine schulmeisterliche Stimme bekam. „So ein großer Narr bin ich nicht. Sie haben gewonnen. Aber hören Sie mir bitte zu. Was ich gesagt habe, ist wahr. Sie müssen dieses Ding haben. Und ich muß es zurückbekommen. Ich hätte nicht so gehandelt, wenn es nicht ungeheuer wichtig für mich wäre. Bitte sagen Sie mir, wenn Sie wollen, ob Sie mir die Wahrheit gesagt haben.“

Ich spürte noch immer die Schmerzen seiner Schläge. Ich wollte eigentlich gar kein artiger Junge sein. Andererseits mußte es ihm wirklich sehr wichtig sein, wenn er sich so benahm, und zudem hatte ich nichts davon, wenn ich es ihm nicht sagte. Also: „Es war die reine Wahrheit“, sagte ich.

„Und Sie haben keine Ahnung, wo es sein könnte?“

„Nein.“

„Könnte es jemand mitgenommen haben?“

„Sehr leicht sogar.“

„Wer?“

„Jeder. Sie wissen doch von diesen Partys, die wir immer veranstaltet haben. Da waren dreißig bis vierzig Leute anwesend.“

Er nickte zähneknirschend.

„Schon gut“, sagte er dann. „Ich glaube Ihnen. Aber versuchen Sie sich bitte zu erinnern. Können Sie sich an etwas – irgend etwas, egal was – erinnern, das uns einen Hinweis geben könnte?“

Ich schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“

Er seufzte. Er sank in sich zusammen. Er sah weg.

„Na schön“, sagte er schließlich. „Ich gehe. Ich nehme an, Sie werden die Polizei rufen.“

„Ja.“

„Nun, ich bin nicht in der Position, um einen Gefallen zu bitten oder Sie einzuschüchtern, zumindest im Moment nicht. Aber das Folgende ist sowohl als Erinnerung als auch als Mahnung gedacht, welche Repressalien ich Ihnen zukünftig auferlegen könnte. Rufen Sie sie nicht an. Ich habe schon Ärger genug, auch ohne sie.“

Er wandte sich ab.

„Warten Sie“, sagte ich.

„Was?“

„Vielleicht, wenn Sie mir sagen, wo das eigentliche Problem liegt …“

„Nein. Sie können mir nicht helfen.“

„Aber angenommen, das Ding taucht auf – was soll ich dann damit anfangen?“

„Wenn dieser Fall eintritt, dann bringen Sie es an einen sicheren Ort und halten den Mund. Ich werde Sie regelmäßig anrufen. Halten Sie mich dann auf dem laufenden.“

„Was ist denn so wichtig daran?“

„Brummelbrummel“, murmelte er, und weg war er.

Plötzlich hörte ich eine geflüsterte Frage hinter mir – „Kannst du mich sehen, Fred?“ –, und ich wandte mich um, aber es war niemand da. Nun, meine Ohren klingelten auch noch von den Schlägen, die sie empfangen hatten. Ich entschied, daß es alles in allem ein schlechter Tag gewesen war, und zog mich zum Nachdenken auf das Dach zurück. Später störte mich dann ein Nothubschrauber, da man mir Selbstmordabsichten unterstellte. Ich erklärte dem Polizisten, ich hätte auf dem Dach Schindeln ausgebessert, und damit war er zufrieden.

Episoden und Fragmente, Fortsetzung …

„Ich habe versucht, dich anzurufen. Dreimal“, sagte er. „Keine Antwort.“

„Hast du nicht daran gedacht, selbst vorbeizukommen?“

„Das wollte ich gerade. In diesem Augenblick. Du bist mir zuvorgekommen.“

„Hast du die Polizei angerufen?“

„Nein. Ich muß mir nicht nur um mich, sondern auch um meine Frau Sorgen machen.“

„Ich verstehe.“

„Hast du sie angerufen?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht dachte ich mir, ich müßte erst einmal eine bessere Vorstellung von der ganzen Affäre haben, bevor ich sie herbeipfeife.“

Hal nickte, eine dunkelhaarige Studie in Quetschungen und Blutergüssen.

„Und du glaubst, ich weiß etwas, nicht wahr?“

„Das ist richtig.“

„Nun, das ist nicht der Fall“, sagte er, nippte an seiner Tasse, winselte und rührte dann noch einen Löffel Zucker in seinen Eistee. „Als ich an die Tür kam, stand er dort. Ich ließ ihn ein, worauf er anfing, mich wegen dieses blöden Steins auszufragen. Ich erzählte ihm alles, woran ich mich erinnern konnte, aber damit war er nicht zufrieden. Er fing an, mich herumzuschubsen.“

„Was geschah dann?“

„Ich erinnerte mich an weitere Einzelheiten.“

„Hm. So etwa daran, daß ich ihn habe – was nicht stimmt, damit er dich in Ruhe ließ und zu mir kam.“

„Nein! Das ist nicht alles!“ sagte er. „Ich sagte ihm die Wahrheit. Ich habe ihn zurückgelassen, als ich auszog. Ich habe keine Ahnung, was später daraus wurde.“

„Wo hast du ihn gelassen?“

„Ich erinnere mich, ihn das letzte Mal auf dem Schreibtisch gesehen zu haben.“

„Warum hast du ihn nicht mitgenommen?“

„Ich weiß es nicht. Vermutlich deshalb nicht, weil ich ihn nicht mehr sehen konnte.“

Er stand auf und ging in seinem Wohnzimmer auf und ab, blieb dann stehen und sah zum Fenster hinaus. Mary war unterwegs, sie begleitete eine Klasse, was sie auch damals getan hatte, an jenem Nachmittag, als Paul hereinspaziert war und den Hinweis erhalten hatte, der ihn schließlich zu mir geführt hatte.

„Hal“, sagte ich. „Sagst du mir die ganze Wahrheit, offen und ehrlich?“

„Ich habe alles Wichtige gesagt.“

„Komm schon.“

Er wandte dem Fenster den Rücken zu, sah zu mir herüber, sah wieder weg.

„Nun“, sagte er, „er behauptete, dieses Ding, das wir haben, gehöre ihm.“

Ich ignorierte das „wir“.

„Das war einmal“, sagte ich. „Aber ich war dabei, als er es dir gab. Es ist legal in deinen Besitz gelangt.“

Aber Hal schüttelte den Kopf. „So einfach ist das nicht“, sagte er.

„Oh?“

Er kehrte zu seinem Eistee zurück. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte, nippte kurz, sah mich dann wieder an.

„Nein“, sagte er. „Du mußt wissen, daß dieses Ding, das in unseren Besitz gelangte, wirklich ihm gehörte. Erinnerst du dich noch an die Nacht, in der wir es bekamen? Wir spielten bis früh morgens in seinem Labor Karten. Die sechs Steine lagen auf dem Regal über dem Tisch. Sie fielen uns schon früh auf, und wir haben ihn mehrmals danach gefragt. Er lächelte immer nur und sagte etwas Mysteriöses, oder er wechselte das Thema ganz.

Dann, als die Nacht länger wurde und er auch schon einiges gebechert hatte, wurde er gesprächiger und sagte uns, was es damit für eine Bewandtnis hatte.“

„Ich erinnere mich“, sagte ich. „Er sagte uns, er habe den Sternstein gesehen, den wir gerade in dieser Woche von den Außerirdischen bekommen hatten und der in New York ausgestellt worden war. Er hatte Hunderte von Fotografien unter Verwendung aller Arten von Filtern gemacht, ein ganzes Notizbuch mit Beobachtungen vollgeschrieben und alle Daten gesammelt, die er bekommen konnte. Dann hatte er sich darangemacht, ein Modell des Dings anzufertigen. Er sagte, er wolle eine Methode finden, sie billig produzieren zu können, als eine Art Souvenir. Das halbe Dutzend auf seinem Regal stelle das bis dahin beste Resultat seiner Bemühungen dar. Er hielt sie für ausgesprochen gut.“

„Richtig. Und dann fielen mir einige Abfallstücke im Papierkorb neben dem Regal auf. Ich nahm das am besten aussehendste Stück heraus und hielt es gegen das Licht. Es war ein hübsches Ding, wie die anderen auch. Paul lächelte, als er sah, daß ich es in den Händen hielt, dann sagte er: ,Gefällt es Ihnen?’ Ich sagte: ‚Ja.’ ,Behalten Sie es’, sagte er.“

„Und das hast du getan. So habe ich es auch in Erinnerung.“

„Ja, aber die Sache hatte einen Haken“, sagte er. „Ich habe den Stein mit an den Tisch genommen und neben mein Geld gelegt, so daß ich ihn jedesmal ansehen mußte, wenn ich eine Münze nahm. Nach einer Weile fiel mir so ein winziger Fehler auf, eine kleine Unebenheit an der Basis eines der Auswüchse. Das war vollkommen unerheblich, doch es ärgerte mich mit jedem Hinsehen mehr. Daher habe ich, als ihr beide den Raum verlassen hattet, um mehr Bier zu holen, das Ding mit einem der Steine vom Regal vertauscht.“

„Ich beginne zu verstehen.“

„Ja, ja, ich weiß! Das hätte ich wahrscheinlich nicht tun sollen. Aber damals sah ich eben nichts grundlegend Schlechtes darin. Es waren einfach Souvenir-Prototypen, mit denen er herumspielte, und die Differenz fiel kaum auf, wenn man nicht genau hinsah.“

„Ihm war es gleich beim ersten Betrachten aufgefallen.“

„Was ihm einen guten Grund gab, die anderen als perfekt zu betrachten und nicht noch einmal nachzusehen. Zudem, was machte es denn wirklich für einen Unterschied? Bei sechs gleichen Gebilden kann das doch keine Rolle spielen!“

„Klingt plausibel, da gebe ich dir recht. Aber Tatsache ist, er hat es nachgeprüft – und es scheint, als seien sie wichtiger gewesen, als er zuzugeben bereit war. Ich frage mich, warum?“

„Ich habe eine ganze Menge nachgedacht“, sagte er. „Das erste, was mir einfiel, war, daß er die Geschichte mit den Souvenirs nur erfunden hatte, weil wir die Dinger gesehen hatten und er uns eben eine plausible Story auftischen mußte. Angenommen, jemand von der UN hat ihn gebeten, ein Modell – mehrere Modelle – für sie herzustellen? Das Original ist von unschätzbarem Wert, unersetzlich und der Öffentlichkeit immer zugänglich. Um es vor einem Diebstahl oder vor jemandem mit einem Bohrer oder einem Hammer zu bewahren, wäre es das vernünftigste gewesen, es wegzuschließen und statt dessen ein Kopie auszustellen. Paul wäre die beste und logische Wahl für diese Aufgabe gewesen. Wann auch immer jemand etwas von der Kristallographie erzählt, dann wird sein Name erwähnt.“

„Teile davon könnte ich dir abkaufen“, sagte ich. „Aber das Ganze paßt nicht zusammen. Warum sollte er sich über ein mangelhaftes Exemplar so ereifern, wenn er doch ganz einfach ein neues Modell hätte anfertigen können? Warum kann er das eine, das wir verloren haben, nicht einfach abschreiben?“

„Aus Sicherheitsgründen.“

„Wenn dem so wäre, dann hätten wir kaum eine Gefahr dargestellt. Warum sollte er uns angreifen und uns darauf aufmerksam machen, wo wir doch gerade dabei waren, das Ding zu vergessen?“

„Also gut, was dann?“

Ich zuckte die Achseln.

„Unzureichende Daten“, sagte ich aufstehend. „Solltest du dich entschließen, die Polizei zu rufen, dann vergiß nicht, ihnen zu sagen, daß das Ding, nach dem er sucht, etwas ist, das du ihm gestohlen hast.“

„Hui, Fred, das war ein Schlag unter die Gürtellinie.“

„Trotzdem stimmt es. Ich frage mich, was das Ding für einen besonderen Wert gehabt hat. Ich frage mich, wo sie die Deliktsgrenze ansetzen werden.“

„Na schön, du hast gesagt, was du sagen wolltest. Und was willst du jetzt tun?“

Ich zuckte die Achseln. „Nichts, schätze ich. Abwarten und sehen, was passiert, nehme ich an. Laß es mich wissen, wenn dir noch etwas einfällt.“

„Gut. Wirst du dasselbe tun?“

„Ja.“

Ich ging zur Tür.

„Möchtest du auch wirklich nicht zum Essen bleiben?“ fragte er.

„Nein, danke. Ich muß los.“

„Bis später also.“

„Schon recht. Nimm’s nicht so schwer.“

Ich ging an einer dunklen Bäckerei vorüber. Lichter spielten auf der nachtschwarzen Scheibe. KANNST DU MICH SCHMECKEN, BRED? las ich. Ich zögerte, wandte mich um, sah, wo Schatten das Schild der Bäckerei anagrammisiert hatten, schniefte und eilte weiter.

Scherben und Bruchstücke …

Kurz vor Mitternacht probierte ich eine neue Route aus: die Kathedrale hoch. Ich dachte mir, nach alledem hätte ich mir eine kleine Extra-Belohnung verdient. Als ich näher kam, erkannte ich Professor Dobson an der Spitze eines Strebepfeilers. Er war schon wieder betrunken und zählte die Sterne, dachte ich.

Ich kletterte weiter, bis ich auf einem nahe gelegenen Sims zur Ruhe kam.

„Guten Abend, Professor.“

„Hallo, Fred. Ja, das ist er auch, nicht wahr? Ein wundervoller Abend. Ich hoffte, Sie würden hier vorbeikommen. Was zu trinken?“

„Geringe Toleranz“, sagte ich. „Ich vertrage nicht viel.“

„Aber das ist eine besondere Gelegenheit“, drängte er.

„Also gut, ein kleines bißchen.“

Ich nahm die Flasche, die er mir hinhielt, und nippte.

„Gut. Sehr gut“, sagte ich. „Was ist es denn? Und was ist der Anlaß?“

„Ein ganz besonderer Cognac, den ich schon seit über zwanzig Jahren aufgehoben habe, nur für diese Nacht. Die Sterne haben endlich auf ihren feurigen Routen die gewünschten Konstellationen erreicht, ihre eleganten Positionen sprechen ein gutes Omen aus.“

„Was meinen Sie damit?“

„Ich ziehe mich zurück. Ich werde aus diesem lausigen Teufelskreis ausbrechen.“

„0h, meinen Glückwunsch. Das wußte ich nicht.“

„Das lag in meiner Absicht. Ich kann formelle Verabschiedungen nicht ertragen. Es sind nur noch ein paar lose Enden zu verknüpfen, dann kann ich gehen. Nächste Woche vielleicht.“

„Nun, ich hoffe, Sie gehen glücklichen Zeiten entgegen. Ich treffe nicht oft jemanden, der meine Interessen so teilt wie Sie. Ich werde Sie vermissen.“

Er nahm einen Schluck aus seiner Flasche, nickte, sagte aber nichts. Ich zündete mir eine Zigarette an, ließ meinen Blick über die schlafende Stadt schweifen, dann hinauf zu den Sternen. Die Luft war kühl, die Brise mehr als nur ein wenig klamm. Leiser Verkehrslärm drang herauf, fern, wie von Insekten. Gelegentlich störte eine Fledermaus meinen Blick zum Himmelszelt.

„Alkaid, Mizar, Alioth“, murmelte ich, „Megrez, Phecda…“

„Merak und Dubhe“, sagte er, womit er den Großen Bären vervollständigte und mich gleichzeitig verblüffte, zum einen, weil er mein Murmeln verstanden hatte, zum anderen, weil er den Rest kannte.

„Wieder da, wo ich sie vor so vielen Jahren zurückließ“, fuhr er fort. „Seltsame Gefühle durchströmen mich – angesichts dessen, was ich heute nacht analysieren möchte. Haben Sie jemals zurückgeblickt auf einen Moment Ihrer Vergangenheit, der plötzlich so lebendig geworden ist, daß alle dazwischen liegenden Jahre traumhaft und unbedeutend erschienen, die überströmenden Gefühle eines Mainachmittags zu bloßer Routine herabsanken?“

„Nein“, sagte ich.

„Eines Tages, wenn es Ihnen so geht, dann vergessen Sie nicht – den Cognac“, sagte er, nahm einen weiteren Schluck, dann gab er mir die Flasche.

Ich nippte und gab sie ihm zurück.

„Tausende von Tagen ziehen sie schon da oben hin“, fuhr er fort. „Auf ihren vorherbestimmten Bahnen. Intellektuell weiß ich das alles, aber etwas anderes in mir will es unaufhörlich verleugnen. Teilweise ist mir das alles klar, weil ich mir des Unterschiedes zwischen dieser frühen Zeit und der Gegenwart wohl bewußt bin. Dieser Wechsel war kumulativ. Weltraumfahrt, Städte unter dem Meeresboden, die Fortschritte in der Medizin – auch unser erster Kontakt mit den Außerirdischen, all diese Dinge passierten zu verschiedenen Zeiten, und alles andere schien unverändert, als sie geschahen. Alles ging seinen geregelten Gang. Das Leben war hinterher immer noch dasselbe, abgesehen von der stattgefundenen Neuerung. Dann wieder eine Veränderung, zu einem anderen Zeitpunkt. Dann wieder eine. Keine massive Revolution. Es war ein kontinuierlicher Prozeß. Dann ist ein Mann plötzlich bereit, sich zurückzuziehen, abzutreten, und das gibt Raum für Reflektionen. Er blickt zurück, zurück nach Cambridge, wo ein junger Mann auf ein Gebäude klettert. Er sieht diese Sterne. Er fühlt die Beschaffenheit des Daches. Alles Folgende ist ein rasender Traum, ein einfarbiges Kaleidoskop. Er ist hier, und er ist dort. Alles andere ist irreal. Aber es sind zwei Welten, Fred – zwei vollkommen andere Welten –, und er hat das niemals gesehen, er hat keine jemals wirklich im Akt des Geschehens erlebt. Dieses Gefühl erfüllt mich in der heutigen Nacht.“

„Ist es ein gutes oder ein schlechtes Gefühl?“ fragte ich.

„Das weiß ich nicht. Ich bin gefühlsmäßig damit überhaupt noch nicht ins reine gekommen.“

„Lassen Sie es mich wissen, wenn das geschehen ist. Sie haben mich wirklich neugierig gemacht.“

Er kicherte. Ich auch.

„Es ist eigentlich komisch“, sagte ich. „Sie haben nie mit dem Klettern aufgehört.“

Er schwieg eine Weile, dann sagte er: „Das mit dem Klettern ist schon eine merkwürdige Sache … Natürlich war es so etwas wie Tradition, dort, wo ich studiert habe, wenn es mir auch, glaube ich, mehr Spaß gemacht hat als den anderen. Ich behielt es noch einige Jahre bei, nachdem ich die Universität verlassen hatte, aber dann wurde es mehr oder weniger sporadisch, ich wechselte oft meinen Standort und hatte immer seltener die Gelegenheit dazu. Heute würde es mir wahrscheinlich Schwierigkeiten machen, wenn ich wieder richtig klettern müßte. Aber eines Tages werde ich einmal Urlaub machen, irgendwo, wo es eine kongeniale Architektur gibt. Dort werde ich dann die Nächte damit verbringen, an Fassaden hochzuklettern und Dächer zu erkunden.“

„Akrophilie“, sagte ich.

„Richtig. Etwas einen Namen zu geben, erklärt es noch lange nicht, dachte ich. Ich habe nie richtig verstanden, warum ich es getan habe. Verstehe es heute noch nicht. Ich habe einfach einmal damit aufgehört, wahrscheinlich sind die Hormonstöße der mittleren Jahre dafür verantwortlich. Wer weiß? Dann bekam ich hier meinen Lehrauftrag und hörte von Ihren eigenen Aktivitäten. Ich begann, wieder daran zu denken. Und das wiederum ließ den Wunsch neu erwachen, ich fing wieder an. Seitdem bin ich dabeigeblieben. Ich habe mehr Zeit damit verbracht, mich darüber zu wundern, warum die Leute mit dem Klettern aufgehört haben, als darüber, wieso sie anfingen.“

„Es scheint eine völlig natürliche Sache zu sein.“

„Genau.“

Er trank noch einen Schluck, bot mir ebenfalls einen an. Ich hätte gerne noch etwas getrunken, aber ich kenne meine Grenzen, und die wollte ich hier auf dem schmalen Sims nicht unbedingt überschreiten. Daher schwenkte er die Flasche zum Himmelszelt und sagte dann: „Auf dich, Kassiopeia.“ Er trank.

„Und auf die Plejaden“, fügte er einen Augenblick später hinzu, mit einer Drehung zu einem anderen Himmelssektor. Dem falschen, aber das spielte keine Rolle. Er wußte so gut wie ich, daß sie noch unter dem Horizont waren.

Er lehnte sich zurück, nahm eine Zigarette, zündete sie an, mutmaßte: „Wie viele Augen pro Kopf, frage ich mich, die die ‚Mona Lisa’ betrachten? Haben sie Facetten? Sind sie starr? Und von welcher Farbe?“

„Nur zwei. Sie wissen das. Mandelförmig – zumindest auf den Bildern.“

„Müssen Sie meine romantische Rhetorik zunichte machen? Und wie dem auch sei, die Astabiganer haben jede Menge Besuch von fremden Wesen, die sie sich anschauen werden.“

„Sicher. Und aus diesem Grund befinden sich die britischen Kronjuwelen in der Obhut von Leuten mit halbmondförmigen Pupillen. Lavendeläugig, wie ich glaube …“

„Das genügt“, sagte er. „Vielen Dank.“

Eine Sternschnuppe zog ihre Bahn erdwärts. Meine glühende Zigarettenkippe folgte ihr.

„Ich frage mich, ob es ein fairer Tausch war“, sagte er. „wir verstehen die Rhenniusmaschine nicht, und noch nicht einmal die Außerirdischen selbst können genau sagen, was der Sternstein darstellt.“

„Es war kein Tausch in diesem Sinne.“

„Zwei der Schätze der Erde sind weg, und wir haben etwas von ihnen dafür bekommen. Wie anders sollte man dies denn sonst bezeichnen?“

„Als ein Glied in der Kula-Kette“, sagte ich.

„Mit diesem Ausdruck bin ich nicht vertraut. Erzählen Sie mir mehr davon.“

„Diese Parallele fiel mir ein, als ich mich über die Einzelheiten des Handels informierte. Die Kula ist eine Art von zeremonieller Reise, die gelegentlich von den Bewohnern der Inselgruppe zur Ostküste Neuguineas unternommen wird – von den Trobriand-Indianern oder den Papuas von Melanesien. Es handelt sich dabei um einen doppelten Kreis, eine Bewegung in entgegengesetzte Richtungen um die Inseln. Zweck der Reise ist der Austausch verschiedener Artikel ohne besondere Funktion für die beteiligten Stämme, doch hat der Tausch eine große kulturelle Signifikanz. Im großen und ganzen handelt es sich bei den Tauschartikeln um Körperornamente – Halsketten, bunte Harnische mit klingenden Namen oder geschichtlichen Szenen. Sie, die Eingeborenen, umfahren die Inseln langsam und werden überall mit großem Pomp empfangen. Sie helfen, den kulturellen Enthusiasmus in einer Weise zu fokussieren, die die Einheit unter den Stämmen und das gegenseitige Vertrauen fördert. Die Parallelen zu unserem Austausch mit den Außerirdischen scheinen auf der Hand zu liegen. Die Objekte sind gleichermaßen kulturelle Werte und Zeichen des Vertrauens zwischen den Partnern. Durch ihre Existenz, ihre Zirkulation und ihren Anblick schaffen sie so etwas wie ein Gefühl der Verbundenheit. Und das allein ist der wahre Zweck einer Kula-Kette, soweit ich das sehe. Daher mochte ich das Wort ‚Tausch’ nicht.“

„Sehr interessant. Keiner der Berichte, die ich gelesen habe, sah die Sache in diesem Licht. Aber ganz bestimmt hat keiner sie mit dem Kula-Phänomen verglichen. Man betrachtete unser Geschenk mehr als eine Aufnahmegebühr in den galaktischen Club, als Zahlung, um am Handel und Kulturaustausch teilhaben zu dürfen. Mehr etwas in dieser Richtung.“

„Das war einfach nur der Vorwand, um die öffentlichen Proteste über die Weggabe so wertvoller Kulturgüter zum Verstummen zu bringen. Das einzige, was man uns wirklich versprochen hat, war Reziprozität in der Kette. Ich bin sicher, alles Weitere wird irgendwann ebenfalls zum Tragen kommen, aber nicht notwendigerweise als direktes Resultat. Nein. Unsere Regierungen frönten wieder einmal der althergebrachten Praxis, den Leuten eine einfache Erklärung für ein in Wirklichkeit komplexes Problem zu geben.“

„Ich verstehe“, sagte er. „Tatsächlich gefällt mir Ihre Theorie besser als die offiziellen Verlautbarungen.“ Er gähnte.

Ich zündete mir eine neue Zigarette an.

„Danke“, sagte ich. „Ich fühle mich verpflichtet, darzulegen, daß ich schon immer sehr angetan war von Ideen, die ich selbst für ästhetisch befriedigend halte. Der kosmische Sog der Dinge … eine interstellare Kula-Kette gleichzeitig die Verschiedenartigkeit wie auch die Gleichheit unter den intelligenten Völkern der Galaxis hervorhebend … sie verbindend und vereinend … das scheint mir eine sehr erfreuliche Sache zu sein.“

„Offensichtlich“, pflichtete er mir bei. „Sagen Sie“, meinte er dann, zu den höheren Abschnitten der Kathedrale deutend, „werden Sie auch den Rest der Strecke heute nacht erklimmen?“

„Wahrscheinlich, in kurzer Zeit. Wollen Sie gleich gehen?“

„Oh, nein, ich war einfach nur neugierig. Sie gehen üblicherweise jeden Weg bis zum Gipfel, nicht wahr?“

„Ja. Sie nicht?“

„Nicht immer. In letzter Zeit halte ich mich mehr an die mittleren Höhen. Der Grund meiner Frage war: Ich wollte herausfinden, ob sie in philosophischer Stimmung sind.“

„Im Prinzip, ja.“

„Also gut. Dann sagen Sie mir, was Sie fühlen, wenn Sie am Gipfel angekommen sind.“

„Stolz, würde ich sagen. Eine Art von Selbstzufriedenheit.“

„Hier oben ist die Sicht wesentlich freier. Sie können weiter sehen, die Einzelheiten der Landschaft besser in sich aufnehmen. Ist es das, frage ich mich? Eine bessere Perspektive?“

„Teilweise vielleicht schon. Aber da ist auch immer noch ein anderes Gefühl, das mich überkommt, wenn ich am Gipfel bin: Ich möchte immer noch ein kleines Stückchen höher klettern, und jedesmal fühle ich, ich könnte es fast, ich stünde kurz davor.“

„Ja, das ist richtig“, sagte er.

„Warum fragen Sie?“

„Ich weiß es nicht. Um mich erinnern zu lassen, nehme ich an. Der Junge damals in Cambridge hätte wohl dasselbe gesagt wie Sie heute, aber ich selbst hatte es partiell vergessen. Nicht nur die Welt hat sich verändert.“

Er trank wieder einen Schluck.

„Ich frage mich“, sagte er, „wie es wirklich war? Der erste Kontakt mit den Außerirdischen – dort draußen? Schwer zu glauben, daß seitdem schon mehrere Jahre verstrichen sind. Die Regierungen haben die Geschichte zudem ganz offensichtlich getürkt, daher werden wir wahrscheinlich nie erfahren, wie sich alles wirklich abgespielt hat. Eine reine Koinzidenz, keiner war vertraut mit dem System, in dem wir uns trafen. Wir beide waren auf Erkundung aus, das ist alles. Wobei sie wahrscheinlich nicht so geschockt waren wie wir, da sie ja Kontakt mit allen möglichen Rassen hatten. Trotzdem … ich erinnere mich an die unerwartete Rückkehr. Mission beendet. Dem Schulwissen ein halbes Jahrhundert voraus. Begleitet von einem Aufklärer der Astabiganer. Wenn ein Objekt die Lichtgeschwindigkeit erreicht, dann verwandelt es sich in einen Kürbis. Das wußte damals jeder. Aber die Außerirdischen hatten einen Weg gefunden, das Kürbis-Phänomen zu umgehen, sie tricksten den Weltraum aus, indem sie einen Tunnel schufen und unser Schiff mit sich nahmen. Die mathematischen Fakultäten bekamen jedenfalls eine Menge zum Nachdenken und Grübeln. Seltsames Gefühl. Ich hatte immer gedacht, wir müßten uns unseren Weg an einem aalglatten Zylinder oder einer Kugel hocharbeiten, langsam, Stück für Stück, um dann, oben angekommen, zu sehen, daß wir nicht die ersten sind, daß bereits jemand da ist. Wir hätten dann einer galaktischen Föderation beitreten können, einer losen Konföderation von Rassen, die schon seit Jahrmillionen existiert. Dieser Weg hätte gut und gerne einige Jahrhunderte in Anspruch nehmen können. Oder auch nicht. Vielleicht hatten wir Glück. Meine Gefühle waren – und sind es noch – gemischt. Wie kann man denn noch ein Stückchen höher gelangen, nach einem derartigen Anti-Klimakterium? Sie haben uns das nötige Fachwissen vermittelt, um selbst Überlichtraumer bauen zu können. Außerdem haben sie uns gehörig vor den intergalaktischen Spekulanten gewarnt. Sie gewährten uns einen Platz in ihrem Austauschprogramm, obwohl wir ihnen nur vergleichsweise wenig dafür zu bieten hatten. Im Lauf der Zeit werden die Veränderungen immer häufiger vonstatten gehen. Bis die Welt sich eines Tages mit spürbarem Tempo zu verändern beginnt. Was dann? Wenn die Fähigkeit des langsamen Voranschreitens erst einmal ganz verlorengegangen ist, dann wird vielleicht jeder zu einem betrunkenen, nächtlichen Kletterer an einer Kathedralenfassade, dem ein flüchtiger Blick auf die Verzahnungen zwischen dem Hier und dem Damals in Cambridge vergönnt worden ist, oder was auch immer. Was dann? Das Weltall sehen und sterben? Aufs Altenteil zurückziehen? Alkaid, Mizar, Alioth, Megrez, Phecda, Merak und Dubhe … Sie waren schon da. Sie kennen sie. Vielleicht wünsche ich mir, ganz tief drinnen, wir wären die einzigen im Kosmos – um das alles für uns selbst zu haben. Oder alle Außerirdischen, denen wir begegnen, würden uns in allem ein klein wenig hinterherhinken. Stolz, selbstsüchtig, selbstgefällig … sicher. Nun, aber leider sind wir die Hinterwäldler. Gott stehe uns bei! Ah, noch genug da, um auf unser Wohl zu trinken. Gut! Na also! Ich spucke der Zeit ins Gesicht, weil sie mich so hintergangen hat!“

Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte sagen können, also sagte ich auch nichts. Ein Teil von mir wollte ihm zustimmen, ein anderer hingegen nicht. Und ein großer Teil von mir wünschte sich, er hätte den Brandy nicht getrunken.

Nach einer Weile sagte er: „Ich werde heute nacht nicht mehr weiterklettern.“ Ich hielt das für eine gute Idee. Auch ich hatte mich gegen eine weitere Betätigung entschieden, daher kreisten und trudelten wir abwärts, immer tiefer und tiefer, bis ich den guten Mann zu Hause abgeliefert hatte.

Scherben und Fragmente. Fragmente …

Kurz bevor ich heimkam, erwischte ich noch eine Ausgabe der Spätnachrichten. Eine nebulöse Meldung drehte sich um einen gewissen Paul Byler, Professor der Geologie, der am frühen Abend von Vandalen im Central Park ermordet worden war. Vandalen, die ihm, zusätzlich zu dem ganzen Geld, das er bei sich gehabt haben mochte, auch noch Herz, Leber, Nieren und die Lunge herausgerissen hatten.

Ein Aufwallen jenes dunklen Teiches direkt über dem Ansatz des Rückgrates überflutete mich später mit Träumen, welche, flüchtig wie die Wogen der See, die Tiefen meines Bewußtseins kräuselten und wieder verwehten, abgesehen von dem kinästhetischen/synästhetischen „KANNST DU MICH FÜHLEN, LED?“, das eine unermeßliche Zeitspanne länger als alles andere vorgehalten haben muß, denn viel später fiel es mir bei der morgendlichen Tasse Kaffee wieder ein, ein vorüberrauschender Farbenstrom in meinem Gedächtnis.



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