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Während die reben- oder kabelähnlichen Tentakel, die mich an Hüfte und Schulter umklammert hielten, mich hoch in die Luft hoben, wo mir, wenn ich den Kopf drehte, ein Blick auf den massiven Unterbau des Dinges gewährt wurde, bis hinunter, wo es aus einem Schleimtümpel im Zentrum des Raumes auftauchte, dachte ich nach, gleichzeitig klappten die enormen Kiefer der Venusfliegenfalle auseinander, ihr rötliches Inneres enthüllend, ich überlegte, daß man mir, obwohl die meisten Unfälle auf Achtlosigkeit beruhen, dieses Mal ganz bestimmt keinen Vorwurf machen konnte. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war ich ein redlicher Angestellter des Innenministeriums gewesen, ich war ganz in meiner Arbeit aufgegangen.

Als das Ding einen Moment zögerte, wahrscheinlich, um über die beste Disposition der Alkaloide nachzudenken, die die Verdauung meines Körpers freisetzen würde, schossen mir die Erinnerungen an die letzten paar Tage durch den Kopf. Viele waren es nicht, denn es war noch nicht lange her, seit ich dem Tod zum letzten Mal ins Antlitz hatte schauen müssen.

Ich weiß nicht mehr genau, ob ich von diesem dummen Lächeln oder einfach nur von morbider Neugier geleitet wurde, als ich meine nächsten Handlungen plante. Dr. Drade wollte mich zur weiteren Beobachtung im Hospital behalten, obwohl er sich doch mit eigenen Augen von der Heilung meiner Brustwunde überzeugen konnte. Trotzdem konnte ich mich seiner Obhut entziehen; ungefähr fünf Stunden nachdem Nadler und Ragma gegangen waren, verabschiedete ich mich. Hal holte mich ab und fuhr mich nach Hause.

Ich lehnte eine Einladung von Hal und Mary zum Essen ab und ging an diesem Abend früh zu Bett, aber erst, nachdem ich Ginny angerufen hatte, die nun ängstlich bemüht schien, genau dort wieder an unser Zusammenleben anzuknüpfen, wo wir in meinen Tagen als Student stehengeblieben waren. Wir verabredeten uns für den kommenden Nachmittag, und nach einer kurzen Tour über die Dächer der Nachbarhäuser legte ich mich schlafen.

Ob mein Schlaf ungestört verlief? Nein, keinesfalls. Ich lag lange wach, döste hin und wieder einmal ein, während mich düstere Gedanken heimsuchten. Ich wog meine Situation ab und machte mir Sorgen über meine Zukunft, entschlummerte wieder kurz, von Alpträumen geplagt, bis ich schließlich dankbar zur Kenntnis nahm, daß es bereits sechs Uhr in der Frühe war.

Danach schlief ich noch einmal längere Zeit relativ ruhig. Ich erwachte und wußte auch sofort, was ich zu tun hatte. Ich machte mich sofort daran, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, damit es nicht wieder wie eine Zwangshandlung wirkte. Nach einer gewissen Zeit kam ich zu der Auffassung, daß man es wirklich nicht als solche bezeichnen konnte. Wahrscheinlich würde jeder gern Näheres über den Ort erfahren wollen, wo er um ein Haar sein Ende gefunden hätte.

Es war ein kühler, klarer Morgen, der den Geruch nach Frost mit sich brachte. Während ich seewärts fuhr, dachte ich an meinen neuen Job, an Ginny und an das Lächeln. Der Job trug viel dazu bei, meine augenblicklichen Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen. Nadler hatte mir sein Wort gegeben; je mehr ich darüber nachdachte, desto ruhiger wurde ich. Wenn man schon arbeiten muß, dann ist es ganz gut, wenn man eine interessante Aufgabe hat, eine, die einem ein klein wenig Spaß macht. Sämtliche Rassen dort draußen, von denen wir noch so gut wie überhaupt nichts wußten … ich hatte die Gelegenheit bekommen, das Unbekannte auszuloten, das Exotische zu erforschen, und konnte dabei noch etwas zum gegenseitigen Verständnis beitragen.

Plötzlich merkte ich, wie ich mich auf meine Arbeit freute. Ich wollte sie haben. Ich gab mich keinen Illusionen darüber hin, warum ich eingestellt worden war, aber nun, da ich den Fuß zwischen Tür und Angel hatte, wollte ich auch den letzten Schritt noch tun und wirklich arbeiten. Es kam mir vor, als hätte ich mich die ganze Zeit über nur auf außerirdische Anthropologie (Xenologie, wie man es wohl richtiger nennen müßte) vorbereitet. Ich kicherte. Augenblicklich freute ich mich nur, aber ich hatte das dumpfe Gefühl, daß ich mit dieser Arbeit auch glücklich werden könnte.

Da ich mich inzwischen etwas mehr an meinen inversen Zustand gewöhnt hatte, fand ich es nicht mehr besonders schwer, ein Steroisoauto zu fahren. Ich kam bei jedem Stop-Schild vorschriftsmäßig zum Halten, und als ich die Stadtgrenze erst einmal hinter mir gelassen hatte, hatte ich überhaupt keine Probleme mehr mit dem Verkehr. Das einzige, was mir seit meiner Inversion wirklich Schwierigkeiten machte, war das Rasieren. Mein traumatisiertes Nervensystem hatte auf das umgekehrte Spiegelbild meines umgekehrten Gesichtes mit zittrigen Fingern reagiert, die wiederum zu diversen blutenden Schnitten geführt hatten. Daher griff ich zum Elektrorasierer. Damit war es zwar immer noch ein ganz spezielles Erlebnis, aber wenigstens war die Verletzungsgefahr geringer, was meinem Gesicht sehr zugute kam.

Während ich dem Spiegelglas meine Grimassen schnitt und mir selbst zulächelte, hatte ich mich an ein einziges Fragment aus meinen nächtlichen Träumen erinnert. Da war dieses Lächeln. Wessen Lächeln? Ich habe keine Ahnung. Es war einfach ein Lächeln, etwas oberhalb der Linie, wo die Dinge anfangen, einen Sinn zu haben. Es ging mir nicht mehr aus dem Kopf; zwar wurde es manchmal in den Hintergrund gedrängt, aber es kehrte mit regelmäßiger Stetigkeit wieder zurück.

Während ich der Route folgte, die ich erst vor kurzem mit Hal zusammen gefahren war, versuchte ich, mir meine eigenen Gedanken darüber zu machen, da Doktor Marko gerade nicht zur Verfügung stand.

Aber etwas anderes als die „Mona Lisa“ fiel mir nicht ein. In psychoanalytischen Begriffen gedacht, gefiel mir das überhaupt nicht. Ich wußte, dieses Bild war im Tausch gegen die Rhenniusmaschine hergegeben worden. Da konnte ein andeutungsweiser Zusammenhang bestehen – zumindest in meinem Unterbewußtsein –, oder ich hatte ganz einfach Halluzinationen, hervorgerufen durch Koinzidenz und Imagination. Bei so etwas konnte ein Dali, ein Ernst oder ein Da Vinci schon einmal ins Spiel kommen.

Kopfschüttelnd konzentrierte ich mich wieder auf den Weg. Der Morgen war bereits verstrichen, als ich an die Seitenstraße kam und abbog.

Ich parkte den Wagen dort, wo wir auch beim ersten Mal gestanden hatten, und folgte dem Trampelpfad zur Hütte. Ich beobachtete sie einige Zeit im Verborgenen, konnte aber kein Anzeichen von Leben ausmachen. Ragma hatte mir angeraten, Situationen zu meiden, bei denen es Arger geben konnte, aber das hier schien keine solche zu sein.

Ich näherte mich der Hütte von hinten, bis ich vor dem rückwärtigen Fenster stand, durch das Paul eingetreten sein mußte. Ja. Der Rahmen war gebrochen. Im Innern sah ich ein kleines, verlassenes Schlafzimmer. Ich umrundete das Gebäude und spähte in alle anderen Fenster; wie ich feststellte, war die Hütte tatsächlich verlassen. Die beschädigte Eingangstür war zugenagelt, also ging ich wieder zur Rückwand und verschaffte mir auf dieselbe Weise Einlaß wie mein früherer Mentor und meisterhafter Steinnachbilder.

Ich durchquerte das Schlafzimmer und trat durch die Tür, durch die auch Paul eingetreten war. Im Wohnzimmer waren die Spuren unseres Kampfes unübersehbar. Ich fragte mich, ob das getrocknete Blut auf dem Teppich wohl mein eigenes war.

Ich sah zum Fenster hinaus. Die See war ruhiger, stiller als bei meinem letzten Besuch. Die Wogen rollten sanfter an den Sandstrand. Mich umwendend betrachtete ich die Netze und Seile, die Paul aus dem Gleichgewicht gebracht hatten, wodurch sich das Machtgleichgewicht zu unseren Ungunsten verschoben hatte und ich durchsiebt worden war.

Einige Seile sowie ein Teil des Netzes hatten sich an einem Nagel vergangen und hingen dort immer noch. Zu meiner Rechten bildeten einige an die Wand genagelte Sprossen eine behelfsmäßige Leiter.

Ich kletterte hoch, um mir die ganze Sache einmal von oben zu betrachten. Oben angekommen blieb ich stehen und zündete ein Streichholz an, um das staubige Gerumpel besser untersuchen zu können. Gegenüber der unberührten Hälfte, wo die Netze gelegen hatten, sah ich ein paar farnwedelähnliche Spuren, die unter einer Dachluke ihren Anfang hatten. Ich kletterte wieder hinab und durchsuchte auch den Rest der Hütte gründlich, fand aber nichts mehr von Interesse. Daher ging ich wieder hinaus, rauchte nachdenklich eine Zigarette und machte mich dann auf den Weg zum Auto.

Lächeln. Ginny hatte an diesem Nachmittag jede Menge Lächeln parat gehabt, und den Rest des Tages verbrachten wir damit, Situationen aus dem Weg zu gehen, bei denen es Ärger geben konnte. Sie war mehr als überrascht, als sie erfuhr, daß ich mittlerweile promoviert und einen Job angenommen hatte. Ist aber eigentlich egal. Der Tag hatte allen Erwartungen voll entsprochen, er hatte schön begonnen und blieb auch so. Wir streiften im Campus und in der Stadt umher, lachten viel und berührten uns häufig. Später besuchten wir dann ein Konzert, Kammermusik, weil uns das als das einzig richtige erschien, und der Erfolg gab uns später recht. Danach besuchten wir in der Nähe ein kleines Cafe und gingen anschließend zu mir heim, weil ich ihr beweisen wollte, daß es dort nur im üblichen Rahmen unaufgeräumt war. Und natürlich noch einige andere Dinge. Lächeln.

Der darauffolgende Tag war eine Variation desselben Themas. Auch das Wetter variierte, gegen Nachmittag regnete es ein wenig. Das war allerdings auch nicht schlecht. Man konnte gemütlich daheim bleiben und sich ein wärmendes Kaminfeuer vorstellen.

Sie hatte von meiner Inversion nichts bemerkt, und was meinen Kratzer und meine Wunde anbelangte, so tischte ich ihr eine so brillante Lüge über die Zugehörigkeit zu einer Geheimgesellschaft und einem daraus resultierenden Duell auf, daß es mir später mehr als leid tat, sie nicht aufgeschrieben zu haben. Ha! Und weiteres Lächeln.

Gegen neun Uhr abends störte das Klingen des Telefons die Idylle. Meine Vorhersehungsgabe wies mich auf daraus resultierendes Unheil hin, aber wie immer in einem solchen Fall konnte ich nichts dagegen tun. Ich stand auf und nahm den Hörerin die Hand, seufzte einmal tief und hauchte dann ein „Ja?“

„Fred?“

„Am Apparat.“

„Hier ist Ted Nadler. Wir haben ein Problem.“

„Was für eines?“

„Zeemeister und Buckler sind entkommen.“

„Von wo? Wie?“

„Sie waren noch am selben Tag in ein Gefängnishospital überführt worden. Von dort sind sie vor einigen Stunden geflohen. Keiner weiß, wie das im einzelnen vonstatten ging. Zurück blieben neun bewußtlose Angestellte – vom medizinischen wie auch vom militärischen Stab. Die Ärzte glauben an den Einsatz eines neurotropischen Gases – die Opfer sprechen alle auf Atropin an. Aber als der Direktor mich anrief, konnte noch keiner eine ausreichende Aussage machen.“

„Zu dumm. Aber ich glaubte, vor denen werden wir erst einmal eine Weile Ruhe haben.“

„Was meinen Sie damit?“

„Was habe ich gerade gesagt? Wahrscheinlich sind sie bereits unterwegs, um das Land zu verlassen. Anklage wegen Entführung, Anklage wegen Mordversuchs, eine hübsche Reihe, die sich fortsetzen ließe.“

„Darauf können wir nicht bauen.“

„Was meinen Sie damit?“

„Vielleicht kommen sie auch schnurstracks zu Ihnen. Schicken Sie also besser Ihre Freundin nach Hause und packen Sie Ihre Koffer. Ich werde Sie in einer halben Stunde abholen.“

„Das können Sie nicht machen!“

„Doch. Tut mir leid, aber das kann ich. Das ist ein Befehl. Ihr Job verlangt jetzt eben nach einer Dienstreise, Ihre Gesundheit ebenfalls.“

„Schon gut. Wohin?“

„New York“, sagte er.

Danach: Klick. Das war sie, die Vertreibung aus dem Garten Eden. Ich wandte mich an Ginny.

„Wer war das?“ fragte sie.

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.“

„Zuerst die gute.“

„Wir haben immer noch eine halbe Stunde.“

Tatsächlich benötigte Nadler aber doch fast eine Stunde, bis er bei mir war, was mir Zeit gab, eine Entscheidung zu treffen, wie ich sie kaltblütiger und besonnener noch nie zuvor getroffen hatte.

Merimee nahm beim sechsten Klingeln den Hörer ab. Er erkannte meine Stimme sofort.

„Ja“, sagte ich. „Erinnern Sie sich noch an das Angebot, das Sie mir damals gemacht haben?“

„Ja. Sehr gut.“

„Ich nehme Sie beim Wort“, sagte ich.

„Wer?“

„Zwei. Sie heißen Zeemeister und Buckler …“

„Oh. Morty und Jamie. Klar.“

„Sie kennen sie?“

„Ja. Morty arbeitete gelegentlich für Ihren Onkel. Wenn das Geschäft gut lief und wir eine Auftragsschwemme hatten, dann mußten wir hin und wieder eine kleine Aushilfe anheuern. Er war ein fetter kleiner Bursche, der darauf brannte, mehr über das Geschäft zu erfahren. Ich mochte ihn nie leiden, aber er verfügte über Enthusiasmus und eine rasche Auffassungsgabe. Nachdem Al ihn gefeuert hatte, baute er sich sein eigenes Geschäft auf. Ein paar Jahre später stellte er Jamie ein, der sich mit der Konkurrenz befaßte und Reklamationen bearbeitet. Jamie war eigentlich Boxer, Mittelschwergewicht, zudem verfügte er über große militärische Erfahrung. Er war von drei verschiedenen Armeen desertiert …“

„Warum hat Onkel Al Zeemeister gefeuert?“

„Oh, der Mann war unehrlich. Und wer arbeitet schon gerne mit einem Schwindler zusammen?“

„Stimmt. Nun, die beiden wollten mich schon zweimal töten, fast wäre es ihnen auch gelungen, und wie ich nun erfahren habe, sind sie wieder auf freiem Fuß.“

„Ich nehme an, Sie kennen ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht?“

„Das stimmt leider, unglücklicherweise.“

„Hmm. Das erschwert die Dinge wesentlich. Aber gehen wir die Angelegenheit einmal von der anderen Seite an. Wo werden Sie sich in den nächsten Tagen aufhalten?“

„Ich breche in den nächsten paar Minuten nach New York auf.“

„Exzellent. Wo werden Sie anzutreffen sein?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Sie können gerne wieder hierherkommen. Es wäre vielleicht sogar von Vorteil …“

„Sie verstehen nicht“, sagte ich. „Ich bin graduiert worden. Tatsächlich habe ich sogar schon meinen Doktor in der Tasche. Und ich habe einen Job. Mein Chef bringt mich noch heute nacht nach New York. Ich habe keine Ahnung, wo genau er mich absetzen wird. Ich rufe sobald als möglich wieder an.“

„Gut. Meine Glückwünsche zu Titel und Job. Wenn Sie sich einmal zu einer Entscheidung durchgerungen haben, dann entscheiden Sie sich sehr rasch – genau wie Ihr Onkel.

Ich hoffe, Sie erzählen mir bald die ganze Geschichte. Zwischenzeitlich werde ich meine Fühler ausstrecken. Zudem kann ich Ihnen binnen kurzer Zeit eine angenehme Überraschung ankündigen.“

„Welcher Art?“

„Aber! Wenn ich Ihnen das jetzt erzählen würde, dann wäre es doch keine Überraschung mehr, Junge!“

„Schon gut. Ich vertraue Ihnen“, sagte ich. „Danke.“

„Bis später.“

„Wiedersehn.“

Zugegeben, nicht gerade die feine englische Art, das muß ich gestehen. Aber ich will niemanden mit Entschuldigungen langweilen. Ich hatte es einfach nur satt, ständig angeschossen zu werden. Zudem sollte man ein großzügiges Angebot niemals ausschlagen.

Wie sich herausstellte, befand sich das Hotel direkt gegenüber jenem teilweise entblößten Skelett eines Bürohochhauses, von dem aus ich mir Zugang zum Dach der Struktur direkt daneben verschafft hatte – nämlich zu dem Bauwerk, das die Rhenniusmaschine beherbergte.

Ich bezweifelte, daß das nur eine Frage reiner Koinzidenz war. Aber als ich die Rede darauf brachte, antwortete Nadler natürlich nicht. Es war schon nach Mitternacht, als wir ankamen, und ich hatte die ganze Zeit, seit er mich abgeholt hatte, mit dem Mann zusammen verbracht.

Dann: „Ich habe keine Zigaretten mehr“, sagte ich, als wir uns der Rezeption näherten, natürlich erst, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß kein Zigarettenautomat in der Nähe war.

„Schlechte Angewohnheit“, sagte er.

Das Mädchen am Empfang war wesentlich mitfühlender; sie sagte mir sofort, wo ich das Gewünschte finden konnte. Ich bedankte mich, ließ mir die Zimmernummer geben und sagte zu Nadler, ich sei in ein paar Minuten wieder zurück.

Natürlich wandte ich mich unverzüglich dem nächsten Telefon zu, rief Merimee an und sagte ihm, wo ich war.

„Gut. Betrachten Sie alles als erledigt“, sagte er mir. „Übrigens, ich glaube unsere Klienten sind ebenfalls in der Stadt. Einer meiner Angestellten glaubt, sie gesehen zu haben.“

„Ganz schön schnell, die Burschen.“

„Unglücklicherweise. Trotzdem … keine Sorge. Schlafen Sie gut. Adieu.“

„Gu’ nacht.“

Ich ging zu den Fahrstühlen, fuhr hoch in die richtige Etage und suchte mein Zimmer. Da ich keinen Schlüssel hatte, klopfte ich.

Eine Weile passierte überhaupt nichts. Dann, gerade, als ich ein zweites Mal klopfen wollte, antwortete Nadlers Stimme: „Wer ist da?“

„Ich, Cassidy“, antwortete ich.

„Kommen Sie rein. Es ist offen.“

Da ich seine Stimme erkannt hatte und auch schon rechtschaffen müde war, trat ich ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen ein. Ein Fehler, der jedem hätte passieren können.

„Ted! Was zum Teufel ist …“ Da hatte mich auch schon ein Tentakel am Bein geschnappt, ein weiterer wand sich um meine Schulter. „… los?“ fragte ich.

Ich wurde in die Luft gehoben.

Natürlich wehrte ich mich. Wer hätte das nicht getan? Aber das Ding zerrte mich trotzdem gut zwei Meter in die Höhe und brachte mich über seinem alles andere als attraktiven Selbst in eine waagerechte Position. Danach bemühte es sich, mich auf den Kopf zu stellen, so daß mein Gesichtsfeld von seiner graugrünen Masse dominiert wurde, seinem schleimigen Ursprung und seinen Auswüchsen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, als wolle es mir etwas antun, noch bevor es seine Freßklappen geöffnet und mir deren feuchtes, rötliches und unheilschwanger geiferndes Inneres gezeigt hatte.

Ich stieß einen Schrei aus und zerrte an den Tentakeln. Plötzlich spürte ich so etwas wie ein siedendheißes, rotes Aufwallen hinter meinen Augenlidern, das in meinem Gehirn auf und ab wogte. Nacktes Entsetzen packte mich, ich zuckte konvulsivisch in meinen lebenden Fesseln.

Dann hörte ich ein lautes, grelles Pfeifen, das pulsierende Gefühl verschwand aus meinem Schädel, die Tentakel sackten in sich zusammen, ich stürzte auf den Teppich, wobei ich nur knapp dem Rand des Schleimsees entging. Ein paar Spritzer bekam ich natürlich trotzdem ab, während die schlaffen Tentakel um mich herabbaumelten. Ich stöhnte und rieb mir die Schultern.

„Er ist verletzt!“ hörte ich eine Stimme rufen, die ich als die von Ragma identifizierte.

Ich drehte den Kopf, um mich der Sympathie zu versichern, die mir da auf kleinen pelzigen und großen beschuhten Füßen entgegengeeilt kam. Langsam verschwand auch meine Angst wieder.

Aber Ragma, in seinem Hundekostüm, sowie Nadler und Paul Byler rannten an mir vorbei zu der militanten Pflanze, auf die sie sofort hektisch einsprachen. Ich krabbelte in eine Ecke, wo ich wieder auf die Beine kam, allerdings noch ziemlich angeschlagen. Ich stieß alle Obszönitäten hervor, die mir einfielen, wurde aber ignoriert. Schließlich wischte ich mir achselzuckend den Schleim von der Jacke, schleppte mich in einen Stuhl und zündete mir eine Zigarette an. Ich betrachtete die Show.

Sie hoben die schlaffen Tentakel an, die sie manipulierten und massierten. Ragma verschwand im Nebenzimmer, von wo er einen Scheinwerfer mitbrachte, den er an eine Steckdose anschloß und auf das Ding richtete. Danach holte er einen Zerstäuber und besprühte die schlaffen Tentakel. Er rührte den Schleim um und schüttete ein paar Chemikalien hinein.

„Was könnte schiefgelaufen sein?“ fragte Nadler.

„Keine Ahnung“, entgegnete Ragma. „Hier! Ich glaube, er kommt wieder zu sich.“

Die Tentakel bewegten sich wie geschockte Schlangen. Die Blätter öffneten und schlossen sich in rascher Folge, das ganze Ding erbebte. Schließlich richtete es sich wieder auf, spreizte alle Extremitäten, zog sie wieder ein, streckte sie noch einmal ab und entspannte sich dann wieder.

„Schon besser“, kommentierte Ragma.

„Interessiert sich jemand dafür, wie es mir geht?“ fragte ich.

„Sie!“ fuhr er mich an. „Was haben Sie eigentlich dem armen Doktor M’mrm’mlrr angetan?“

„Wiederholen Sie bitte. Mein Gehör scheint etwas angeschlagen zu sein.“

„Was haben Sie dem armen Doktor M’mrm’mlrr angetan?“

„Danke. Dann habe ich doch richtig gehört. Verdammt, wenn ich das nur wüßte. Wer ist denn eigentlich dieser Doktor Mur-mur?“

„M’mrm’mlrr“, korrigierte er. „Doktor M’mrm’mlrr ist der telepathische Analytiker, den ich herbringen ließ, um Sie zu untersuchen. Wir bekamen eine gute Verbindung und konnten ihn daher früher als erwartet herbeischaffen. Und Sie gefährden ihn, kaum daß Sie ihn das erste Mal gesehen haben.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dieses Ding“, wandte ich mich ungläubig an ihn, „ist ein Telepath?“

„Nicht jeder ist ein Angehöriger des Pflanzenreiches, wie Sie es definieren“, antwortete er. „Der Doktor ist ein Angehöriger einer Lebensform, die sich von der Ihren total unterscheidet. Was ist schlimm daran? Haben Sie eine Abneigung gegenüber Pflanzen?“

„Nein, aber ich habe eine Abneigung dagegen, gefesselt, angegriffen und in die Luft geschleudert zu werden.“

„Der Doktor praktiziert eine Technik, die als Angriffstherapie bezeichnet wird.“

„Dann sollte er sich aber vorher die Erlaubnis holen, da nicht jeder Patient ein Pazifist sein dürfte. Ich weiß nicht, was ich getan habe, aber ich bin froh, daß ich es getan habe.“

Ragma wandte sich ab, legte den Kopfschief, als würde er ein altes Trichtergrammophon studieren, dann wandte er sich wieder an mich. „Es geht ihm besser. Er möchte eine Weile meditieren. Wir sollen den Raum verlassen und das Licht anlassen. Es wird nicht zu lange dauern.“

Die Tentakel zitterten, dann wurden sie alle in den Lichtkegel der Lampe gerückt. Doktor M’mrm’mlrr wurde still.

„Warum versucht er seine Patienten anzugreifen?“ fragte ich. „Damit kann er seiner Praxis bestimmt keinen guten Ruf verschaffen.“

Seufzend wandte Ragma sich wieder an mich.

„Er tut das nicht, um seine Patienten einzuschüchtern“, erklärte er mir. „Er tut es, um ihnen zu helfen. Ich nehme an, es überfordert Sie, sich das jahrhundertelange Philosophieren seines Volkes über diesen Punkt vorzustellen.“

„Ja“, gab ich zu.

„In der Theorie kann jede Primäremotion als mnemomolekularer Schlüssel verwendet werden. Der gefühlvolle Einsatz erfordert dabei aber einen Telepathen wie ihn, da sein Volk über außerordentliche Erfahrung auf dem telepathischen Sektor verfügt. Nun hat sich herausgestellt, daß Furcht in der Regel der signifikanteste Schlüssel zu den Ängsten und Problemen seiner Patienten ist. Daher kann er, indem er einen Fluchtimpuls weckt, diese selbst aber unmöglich macht und so den Patienten frustriert, die gewünschten Emotionen erzeugen und den Patienten für seine Therapie ausreichend stimulieren. Auf diese Weise kann er das emotionale Umfeld in einer einzigen Therapiestunde sondieren.“

„Verspeist er seine Fehler?“ fragte ich mißtrauisch.

„Er hat keine Kontrolle über sein animalisches Erbe“, entgegnete Ragma. „Verstehen Sie?“ Dann: „Entschuldigung, ich vergaß – Sie verstehen das natürlich.“

Er wandte sich an Nadler, der gerade herangekommen war, sowie an den daneben stehenden, grinsenden Paul.

„Ich nehme an, für Sie ist das alles in Ordnung“, wandte ich mich anklagend an die beiden.

Paul zuckte die Achseln, Nadler antwortete. „Wenn es seinen Zweck erfüllt.“

Ich seufzte.

„Ich vermute, Sie haben recht“, gestand ich. „Paul, was tun Sie denn hier?“

„Ebenfalls angestellt“, antwortete er. „Ich wurde fast gleichzeitig mit Ihnen rekrutiert. Übrigens, was damals in Ihrer Wohnung geschah, tut mir leid. Es war tatsächlich eine Frage von Leben und Tod. Was meine Person betraf.“

„Schon verziehen“, beruhigte ich ihn. „Aus welchen Gründen hat man Sie denn angeheuert?“

„Er ist unser Experte bezüglich des Steins“, sagte Nadler. „Er weiß mehr darüber als jeder andere lebende Mensch.“

„Dann haben Sie also die Kronjuwelen vergessen?“ fragte ich.

Paul winselte. Er nickte.

„Sie wissen also Bescheid“, jammerte er. „Ja, das war eine Geste jugendlicher Dummheit, die mir dann aus den Händen glitt. Mea culpa. Wir hatten nicht mit der Einmischung von Kriminellen gerechnet. Nachdem ich mich von den Folgen ihrer Behandlung erholt hatte, machte ich mich daran, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Ich gestand den Leuten von der UN alles. Es war schwer, sie zu überzeugen, aber ich schaffte es. Sie waren gütig genug, mich nicht irgendwo einzusperren. Sie weihten mich sogar ein wenig in Ihre eigenen Schwierigkeiten ein.

Aber mein Geständnis genügte mir nicht, ich wollte mithelfen, alles wieder ins reine zu bringen. Sie waren gerade in die Staaten zurückgekehrt, und ich dachte, man würde Ihnen wieder Schwierigkeiten machen. Daher wollte ich Sie im Auge behalten. Ich habe mich an Ihre und Hals Fährte geheftet, die ich allerdings in einer Bar wieder verlor. Erst als Sie wieder zu Hause waren, fand ich sie wieder. Den Rest kennen Sie.“

„Ja. Wieder ein kleines Geheimnis gelöst. Also wurden Sie auch im Hospital angeheuert?“

„Korrekt. Ted meinte, wenn ich mir schon Sorgen machte über den Ablauf der Ereignisse, dann könnte ich ja auch selbst eingreifen und würde auch noch dafür bezahlt werden. In den Büchern bin ich offiziell ein XT-Mineraloge.“

„Mir will scheinen“, sagte ich zu allen Anwesenden, „als sei meine Anwesenheit hier mehr als nur der Versuch, mich von allen Schwierigkeiten fernzuhalten. Wahrscheinlich haben Sie Hintergedanken, angefangen mit diesem telepathischen Analytiker hier.“

„Nein, das ist unkorrekt“, widersprach Ragma. „Alles weitere hängt einzig und allein von den Analyseergebnissen ab. Es ist unmöglich, alle Möglichkeiten aufzuzählen, die sich daraus ergeben könnten.“

„Mit anderen Worten, Sie wollen mir nichts erzählen.“

„So könnte man es auch ausdrücken.“

Bevor ich meiner Resignation Ausdruck verleihen konnte oder alle Mißgeschicke aufzählen, die mir im Verlauf dieser ganzen Angelegenheit zugestoßen waren, wurde ich von einer Bewegung im Nebenzimmer abgelenkt. Doktor M’mrm’mlrr bewegte sich wieder.

Wir alle sahen zu, wie er seine schlangenähnlichen Extremitäten hob und seine Streckübungen wieder aufnahm. Strecken … Entspannen … Strecken … Entspannen …

Das ging zwei oder drei Minuten lang so – es war sehr hypnotisch –, da erkannte ich, er forschte wieder in meinem Gehirn, dieses Mal aber mit wesentlich mehr Feinfühligkeit als beim ersten Mal.

Wieder spürte ich seine Berührung in meinem Kopf, ein unnatürliches Aufrühren meiner innersten Gedanken. Allerdings war diese Berührung nicht mit Schmerzen verbunden. Es erinnerte mehr an das Gefühl, das man hat, wenn man unter örtlicher Betäubung einen Zahn behandelt bekommt, ein sanftes, kaum wahrnehmbares Kribbeln. Ich nehme an, den anderen fiel das auch auf, denn sie blieben still und rührten sich nicht.

Nun gut. Wenn M’mrm’mlrr sich zivilisiert benahm, dann konnte er auf meine Kooperationsbereitschaft rechnen, dachte ich.

Ich setzte mich einfach hin und ließ ihn herumsuchen.

Dann, sehr abrupt, schien er den großen Schalter gefunden und umgelegt zu haben, denn ich verlor sofort und ohne Schmerzen das Bewußtsein. Zong.

Wieder zong.

Zerschlagen, durstig und mit einem Gefühl, als hätte man mich innerlich zerbrochen und wieder rekonstruiert, hob ich die Hand und wischte mir die Augen, um auf die Uhr zu sehen. Ich hob sie hoch und lauschte dem Ticken. Sie ging noch, wie ich vermutet hatte. Ergo …

„Ungefähr drei Stunden“, sagte Ragma.

Ich hörte Paul schnarchen, kurz schnauben, husten, dann seufzen. Er döste im Sessel. Ragma lag rauchend auf dem Boden. M’mrm’mlrr war noch immer hoch aufgerichtet, Nadler war nirgends zu sehen.

Ich streckte mich, löste dabei einen verkrampften Muskel nach dem anderen, meine Knochen knacksten wie alte Dielen.

„Nun, ich hoffe, Sie konnten etwas Nützliches erfahren“, sagte ich.

„Das haben wir tatsächlich“, gestand Ragma. „Wie fühlen Sie sich?“

„Wie ausgewrungen.“

„Verständlich. Ja. Sehr sogar. Ihr Verstand war eine Zeitlang eine Art Schlachtfeld.“

„Erzählen Sie mir alles.“

„Um mit dem Wesentlichen zu beginnen“, sagte er, „wir haben den Sternstein gefunden.“

„Dann hatten Sie also recht? Jeder hatte recht? Ich hatte des Rätsels Lösung tatsächlich im Unterbewußtsein?“

„Ja. Die Erinnerung müßte jetzt auch Ihnen zugänglich sein. Wollen Sie es versuchen? Eine Party. Ein kaputtes Glas. Der Schreibtisch …“

„Eine Sekunde. Lassen Sie mich nachdenken.“

Ich dachte nach. Und alles war da. Das letzte Mal, als ich den Sternstein gesehen hatte …

Bei der Party, die ich eine Woche vor Hals Hochzeit gegeben hatte. Die Wohnung barst fast vor Freunden und Besuchern, wir lachten viel und waren sehr laut. So ging das bis etwa drei, vier Uhr morgens. Alles in allem, würde ich sagen, war es eine tolle Party. Zumindest ging jeder lachend nach Hause, und es gab keine Verletzten.

Abgesehen von meinem eigenen kleinen Unfall.

Ja. Ein Glas war von einem Tisch gestoßen worden und zerschellt. Es war leer gewesen, also gab es nichts aufzuwischen. Das alles passierte schon gegen Ende der Fete, die Leute verabschiedeten sich bereits. Daher ließ ich die Scherben liegen, wo sie waren. Morgen vielleicht. Mañana.

Ich wußte, ich hatte zuviel getrunken, ich konnte mir vorstellen, wie es mir morgen gehen und was ich dann zweifellos tun würde.

Zuerst würde ich stöhnend erwachen und den Tag verfluchen. Danach würde ich aus dem Bett rollen, in die Küche taumeln und Kaffeewasser aufsetzen – was ich jeden Morgen zuerst tat – und schließlich ins Bad wanken, um meine morgendliche Toilette hinter mich zu bringen, bis das Wasser kochte. Selbstverständlich barfuß. Ganz bestimmt würde ich mich nicht an die Scherben auf dem Fußboden erinnern. Zumindest für kurze Zeit nicht.

Daher nahm ich den Papierkorb unter dem Schreibtisch hervor, stellte ihn vor mich, kauerte nieder und räumte die Scherben weg.

Natürlich schnitt ich mich. Ich beugte mich zu weit nach vorn und kippte. Als ich mich mit den Händen abstützen wollte, griff ich mitten in die Scherben und brachte mir einen Schnitt in der Handfläche bei.

Ich wickelte ein Taschentuch um die verletzte Hand und räumte weiter auf. Ich wußte, wenn ich jetzt aufhörte und mich um meine Hand kümmerte, dann würde ich meine Aufgabe nicht zu Ende bringen. Ich war sehr müde.

Daher sammelte ich alle Stücke ein, die ich sah, und saugte den Boden hinterher ab. Nachdem ich das getan hatte, stellte ich den Papierkorb an seinen angestammten Platz zurück und ließ mich in den Sessel fallen, einmal, weil er gerade so günstig stand, zum anderen, weil ich es wollte.

Ich wickelte das Taschentuch auf, meine Hand blutete noch immer. Zwecklos, etwas zu unternehmen, bevor die Wunde nicht verkrustet war. Also lehnte ich mich zurück und wartete. Meine Augen ruhten einen Augenblick auf dem Sternstein, den wir als Briefbeschwerer verwendeten. Ich holte ihn her und drehte ihn vor meinen Augen, das seltsame Funkeln, das von ihm ausging, entzückte mich ungemein. Dann streckte ich den Arm in voller Länge auf dem Polster aus, weil meine Hand schwer war und ich meinte, meinem Bizeps würde eine kleine Entlastung auch ganz guttun. Auf diese Weise spielte ich noch eine ganze Weile mit dem Stein. Ich fühlte mich ein wenig schuldig, weil ich ihn mit Blut beschmiert hatte, doch dann gefiel mir die Tatsache doch noch ganz gut, weil das Blut das seltsame Farbenspiel veränderte. Leb wohl, gute Erde.

Ein paar Stunden später erwachte ich wieder, durstig und mit verkrampften Muskeln, die von meiner seltsamen Haltung herrührten. Ich stand auf und ging in die Küche, wo ich mir ein Glas Wasser holte. Auf dem Rückweg durch meine Wohnung schaltete ich sämtliche Lichter aus. Im Schlafzimmer entkleidete ich mich langsam und setzte mich auf den Bettrand. Ich ließ meine Kleider liegen, wo sie hinfielen, kuschelte mich in die Kissen, in denen ich den Rest der Nacht auf angenehmere Weise verbrachte.

Damals hatte ich den Sternstein zuletzt gesehen. Ja.

„Ich erinnere mich“, sagte ich. „Das muß man dem Doktor schon lassen. Er hat die Erinnerungen wieder zurückgeholt. Sie waren von Suff und Müdigkeit verschleiert, aber nun sind sie wieder klar und deutlich.“

„Nicht nur von Suff und Müdigkeit“, widersprach Ragma.

„Wovon dann?“

„Ich sagte, wir haben den Stein gefunden.“

„Ja, das haben Sie gesagt. Aber die Erinnerung daran wurde nicht wieder geweckt. Ich erinnere mich nur, wann ich ihn das letzte Mal sah, nicht, was daraus geworden ist.“

Paul räusperte sich. Ragma sah ihn an.

„Fahren Sie fort“, sagte er.

„Als ich mit dem Ding arbeitete“, begann Paul, „waren meine Ergebnisse allesamt in keiner Weise zufriedenstellend gewesen. Ich konnte natürlich nicht einfach ein Stück von diesem unschätzbar wertvollen Artefakt wegklopfen, um es zu analysieren. Abgesehen von rein ästhetischen Gründen hätte man das leicht entdecken können. Ich hatte ja keine Ahnung, wie detailliert eine außerirdische Untersuchung der Oberfläche verlaufen würde. Jede von mir vorgenommene Veränderung hätte Ärger bedeuten können. Glücklicherweise war er lichtdurchlässig. Daher konzentrierte ich mich auf die optischen Effekte. Ich fertigte eine gründliche topologische Lichtvermessung der Oberfläche an. Daraus konnte ich mir, zusammen mit seinem Gewicht, ein ungefähres Bild von der Beschaffenheit machen. Obwohl ich mich damals um kaum mehr als die Vervielfältigung kümmern konnte, kam er mir vor wie eine Masse auf seltsame Art und Weise kristallisierter Proteine …“

„Verdammt“, sagte ich. „Aber …“

Ich starrte Ragma an.

„Organisch, durchaus richtig“, sagte der. „Paul hat da nichts Neues entdeckt, diese Tatsache war schon einige Zeit bekannt. Was allerdings niemand vermutet hatte, war, daß das Ding noch immer lebte. Es schlief ganz einfach nur.“

„Lebend? Kristallisiert? Das hört sich nach einem übergroßen Virus an.“

„Zugegeben. Aber ein Virus verfügt nicht über Intelligenz, dieses Ding dagegen – auf gewisse Weise – schon.“

„Ich verstehe, worauf sie hinauswollen“, sagte ich. „Aber was soll ich nun Ihrer Meinung nach tun? Mich aufregen? Oder einfach zwei Aspirin nehmen und zu Bett gehen?“

„Weder noch. Ich muß jetzt für Doktor M’mrm’mlrr sprechen, da er beschäftigt ist und wir Ihnen die Situation mit raschen Worten erläutern müssen. Beim ersten Versuch, in Ihre Erinnerungen einzudringen, wurde er in einen Schockzustand versetzt, und zwar von einem Bewußtsein, das mit dem Ihren koexistierte und auf dessen Gegenwart er sich natürlich nicht hatte vorbereiten können. In Ausübung seines Berufes hat er mittlerweile die Gehirne aller bekannten Lebensformen der Galaxis kennengelernt, aber etwas Derartiges war ihm bisher noch nie aufgefallen. Er bezeichnete es als etwas Unnatürliches.“

„Unnatürlich? In welcher Beziehung?“

„In rein technischer Weise. Er hält es für eine künstliche Intelligenz, ein synthetisches Bewußtsein. Solche Dinge wurden von vielen Völkern konstruiert, verglichen mit diesem sind sie aber alle relativ simpel.“

„Was für eine Funktion hat meines?“

„Das wissen wir noch nicht. Als M’mrm’mlrr zum zweiten Mal in Ihren Geist eindrang, war er auf den Eindringling vorbereitet.

Das Geschöpf ist selbst telepathisch begabt. Es konnte damals auf unserem Schiff unsere Sprache für Sie übersetzen, daher haben Sie uns verstanden. Man sagte mir, das könnte zu zusätzlichen Komplikationen führen, was dann auch der Fall war. Er drang ungestört in Ihren Verstand ein und erfuhr auch soviel über den Fremdling, daß wir eine ungefähre Vorstellung haben, wie wir ihn behandeln müssen. Danach machte er sich daran, Ihre Erinnerungen in bezug auf den Stein zu erforschen. Das half uns sehr, wir konnten uns mit diesem Wissen ein eigenes Bild machen. Augenblicklich ist er damit beschäftigt, das Geschöpf in einer mentalen Stasis zu halten, bis alles bereit ist.“

„Alles bereit? Was soll das heißen?“

„Das werden wir in Kürze erfahren. Alles hängt mit der Natur des Dinges zusammen. Ausgehend von M’mrm’mlrrs Informationen hat Paul ein paar Vorschläge ausgearbeitet, wie wir vorgehen können.“

Paul nutzte die entstehende Gesprächspause, um nachzuhaken. „Ja. Stellen Sie es sich folgendermaßen vor: Sie haben eine synthetische Lebensform, die mittels isometrischer Inversionen ein- und ausgeschaltet werden kann. Der eingeschaltete Zustand, charakterisiert durch die Lebensfunktionen, ist ein Produkt der Linksdrehung. Das ist, wie Sie wissen, die normale Eigenschaft der Aminosäuren hier auf der Erde. Man nennt sie L-Aminosäuren. Wandelt man sie in ihre Stereoisomere-D-Aminosäuren – um, dann wird unser Freund ausgeschaltet. Als ich den Sternstein untersuchte, da wiesen die optischen Effekte auf die dextrale Situation „Aus“ hin. So weit, so gut. Etwas in dieser Richtung hatte ich natürlich nicht vermutet, aber mittlerweile wissen wir einiges mehr. Wie wir wissen, hatten Sie in der Nacht, als Sie den Sternstein mit Blut besudelt haben, getrunken. Wir wissen, daß Alkohol ein symmetrisches Molekül hat. Wenn er mit dem Objekt in einem Stadium reagieren konnte, dann konnte er das auch im anderen. Das ist entweder eine Nachlässigkeit im Design oder aber ein bewußt eingefügte Eigenschaft. Das wissen wir nicht. Wie M’mrm’mlrr erfuhr, konnte das Wesen mit Ihnen am besten in Gegenwart dieses Moleküls kommunizieren, es scheint also eine Art Konversationsstimulans zu sein. Wie auch immer, Sie gefielen ihm, und Sie konnten es auch teilweise aktivieren, und so drang es durch Ihre Wunde in Ihren Organismus ein. Danach lag es sehr lange schlafend in Ihrem Inneren, da Sie kein ausgesprochener Trinker sind. Nur hin und wieder wurde es durch leichten Alkoholgenuß etwas stimuliert und versuchte mit Ihnen in Kontakt zu treten. Das Medikament, das Ragma Ihnen nach Ihrem Australienaufenthalt gab, enthielt Spuren von Äthylalkohol, die es kurze Zeit aktivierten. In der Nacht, als Sie mit Hal tranken, erfolgte der Durchbruch. Es konnte Sie dazu bringen, sich mittels der Rhenniusmaschine umkehren zu lassen. Danach waren Sie natürlich invers, aber das Wesen war aktiviert. Das genau geschah. Gegenwärtig funktioniert es also ganz normal in Ihnen, aber Ragma zufolge ist es mit Ihrer Gesundheit nicht zum Besten bestellt. Wir müssen das Ding aus Ihrem Organismus entfernen und Sie wieder umkehren.“

„Können Sie das?“

„Wir sind zuversichtlich.“

„Aber Sie haben noch immer keine Ahnung, was es macht?“

„Es handelt sich um eine sehr erfahrene lebende Maschine unbekannter Funktion, die sich aktivierte, indem sie Sie in eine sehr gefährliche Situation brachte. Zudem scheint sie eine Vorliebe für Mathematik zu haben.“

„Also eine Art Computer?“

„M’mrm’mlrr ist anderer Meinung. Er glaubt, das ist nur eine Sekundärfunktion.“

„Ich frage mich, weshalb das Ding nicht mehr mit mir in Kontakt getreten ist, nachdem es aktiviert war.“

„Weil die Barriere noch immer existierte.“

„Was für eine Barriere?“

„Die der Stereoisomerie. Nur waren Sie dieses Mal derjenige, der invers war. Aber es hatte ja sein Ziel erreicht.“

„Halten wir ihm aber eines zugute“, warf Ragma ein. „Es hat auch etwas für Sie getan.“

„Was?“

„Ich habe im Krankenhaus nichts für Sie tun können“, sagte er. „Als ich Ihre Kleider entfernte und einige Tests vornahm, stellte ich fest, daß Sie schon fast wieder gesund waren. Ihr Parasit hat sich offensichtlich darum gekümmert.“

„Also scheint er zumindest zu versuchen, ein artiger kleiner Bursche zu sein …“

„Nun, wenn Ihnen etwas zustoßen würde …“

„Zugegeben, zugegeben. Aber, wie war das mit den Nebeneffekten der Inversion?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr Gast weiß, wohin das im Endeffekt führen kann.“

„Seltsam, daß er und M’mrm’mlrr, als sie Kontakt miteinander hatten, sich nicht verständigten und die Situation klärten.“

„Für eine Unterhaltung war keine Zeit“, erklärte Ragma. „Der Doktor mußte rasch handeln, um ihn einfrieren zu können.“

„Schon wieder seine Angriffsphilosophie? Das scheint nicht fair zu sein …“

Das Telefon klingelte. Paul nahm den Hörer ab, alle seine Antworten waren einsilbig. Das Ganze dauerte vielleicht eine halbe Minute, dann legte er auf und wandte sich an Ragma.

„Fertig“, sagte er.

„Ausgezeichnet“, kommentierte Ragma.

„Was ist fertig?“ fragte ich.

„Das war Ted“, erklärte Paul mir. „Er mußte erst die Erlaubnis holen – und natürlich den Schlüssel für die Halle. Wir werden jetzt alle hinübergehen.“

„Um mich wieder rückumzuwandeln?“

„Richtig“, antwortete Ragma.

„Wissen Sie, wie das geht?“ erkundigte ich mich vorsichtig. „Ich habe das Programm bereits einmal getestet, ich habe beachtlichen Respekt vor der Vielzahl der verschiedenen Möglichkeiten.“

„Wir werden Charv dort drüben treffen“, beruhigte er mich. „Er wird eine Gebrauchsanweisung mitbringen.“

Paul ging ins Schlafzimmer. Als er wiederkam, schob er ein Wägelchen vor sich her.

„Wollen Sie mir helfen, unseren blättrigen Freund aufzuladen?“ fragte er mich.

„Klar.“

Aber ich half ihm anfangs doch nur mit gemischten Gefühlen. Ich achtete sehr darauf, mich nicht mehr mit diesem Schleim zu besudeln.

Als wir Doktor M’mrm’mlrr durch die Vorhalle schoben, sah ich gegenüber am Gehweg ein blinkendes Neonschild aufleuchten: „KANNST DU MICH RIECHEN, DED?“

„Ja“, flüsterte ich atemlos. „Sag mir, was ich tun soll.“

„Unser Schnark ist ein Kater“, flüsterte es hinter mir, während wir die Straße überquerten.

Als ich mich umdrehte, konnte ich natürlich niemanden sehen.



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