So dahängend, etwa zwanzig- oder dreißigtausend Meilen darüber, war ich in perfekter Position, um das Schauspiel genießen zu können, wenn Kalifornien vom Kontinent losbrechen und über den Pazifik davontrudeln würde, um jenseits des Horizontes zu verschwinden. Unglücklicherweise geschah dies aber nicht. Statt dessen kippte die ganze Welt unter mir weg, als das Raumschiff beschleunigte.
Wie auch immer, bei dem Tempo, mit dem die Ereignisse abliefen, schien es wahrscheinlich, daß der San-Andreas-Graben wesentlich bessere Möglichkeiten bot, das gewünschte Spektakel mitzuerleben und gleichzeitig einen Donelly der fernen Zukunft mit Material für ein Buch über die Besonderheiten dieser vorsintflutlichen Welt zu versorgen. Wenn man nichts Besseres zu tun hat, kann man immer noch hoffen.
Als ich, durch die Luke, neben der ich lag, endlich ausruhend und nur halb den Stimmen von Charv und Ragma lauschend, die einen hitzigen Wortwechsel ausfochten, hinausblickte, sah ich die Erde und dann das sternenübersäte Himmelszelt dahinter, gewaltig in seinen unfaßlichen Dimensionen, und ein erhabenes Gefühl überkam mich, zweifelsohne zusammengesetzt aus der Genesung von all meinen Verletzungen, einer fast metaphysischen Befriedigung meiner akrophilen Neigungen und schließlich einer generellen Müdigkeit, die sich langsam durch meinen ganzen Körper auszubreiten schien wie ein leiser, sanfter Schneefall. Ich war bisher noch niemals in einer solchen Höhe gewesen, wo die Entfernungen unschätzbar waren, man kaum eine Perspektive erkennen konnte und man sich mit der andauernden Gegenwart von Raum, Raum und nochmals Raum konfrontiert sah.
Die Schönheit aller grundlegenden Dinge, Dinge, wie sie waren, und Dinge, wie sie sein konnten, wurde mir plötzlich bewußt, ich erinnerte mich an einige Zeilen, die ich vor langer Zeit hingekritzelt hatte und mit denen ich Mathe als Hauptfach abgewählt hatte, anstatt einen Abschluß zu machen:
Lobaschewsky allein sah die Schönheit bar,
Sich windend hier, sich windend dort, sich windend immerdar.
Ihre parallelen Lippen sind wartend bereit,
Mit unkallipygianischer Manier
Und weniger als hundertachzig Grad die Schenkel entzweit,
Liegt ihr herrliches Dreieck vor dir bereit.
Von ihrer Körpersymmetrie war Riemann wenig berührt,
Die Geometrie hat ihn mehr interessiert.
Schön ist die Ellipse, das kann man verstehen
Doch, Bescheidenheit, hebe dich fort!
Endlich will ich die Schönheit hüllenlos sehen,
Genug von dem mathematischen Wort.
Die Welt ist rund, darauf kann man vertrauen,
Die Gerade ist nichtig, die Kurve ist richtig.
Wird ein letzter Wunsch mir erfüllt, ist das Sterben unwichtig,
Laßt mich einmal nur durch Lobaschewskys Augen noch schauen.
Ich fühlte mich schläfrig. Ich hatte in periodischen Abständen das Bewußtsein verloren und wiedererlangt, daher hatte ich keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen war. Meine Uhr war stehengeblieben, also auch keine Hilfe mehr. Ich widersetzte mich dem Wunsch, aufzustehen und nachzusehen, zum einen, um mir den ästhetischen Genuß des Anblickes zu erhalten, zum anderen, um dem herrschenden Zwist zu entgehen.
Ich war mir nicht sicher, ob meine Retter von meinem Wachsein wußten, da ich das Gesicht abgewandt hatte; ich war eingebettet in eine Art Hängematte aus weichem, anschmiegsamen Gewebe. Aber selbst wenn sie es wußten, gab ihnen ihre Unterhaltungsmöglichkeit in einer mir unbekannten Sprache wohl ganz von selbst ein Gefühl des Ungestörtseins. Schon vor geraumer Zeit war mir aufgefallen, daß die Sache, die sie wahrscheinlich am meisten überrascht hätte, mich selbst noch wesentlich mehr überraschte. Es handelte sich um meine Entdeckung, ihre Sprache verstehen zu können, wenn ich mich nur ein wenig darauf konzentrierte.
Dieses Phänomen läßt sich nur sehr schwer mit einfachen Worten erklären, aber ich will es trotzdem einmal versuchen: Wenn ich ihren Worten aufmerksam lauschte, dann schwammen sie buchstäblich von mir weg wie individuelle Fische in einem nach Tausenden zählenden Schwärm. Wenn ich nun einfach nur die Wasseroberfläche im Auge behielt, dann konnte ich den sich verändernden Linien folgen, die Strudel ausmachen und die Spritzer erkennen. Und genauso konnte ich verstehen, was sie sagten. Aber warum das so war, davon hatte ich keine Ahnung.
Nach einer Weile interessierte es mich auch nicht mehr, denn ihre Dialoge kreisten immer um dieselben Themen. Da war es schon wesentlich lohnender, die verkürzte Zykloide, die der Mount Chimborasso verursachte, zu betrachten, wenn man sich irgendwo über dem Südpol befand und diesen Teil der Oberfläche überschauen konnte, der sich, gemäß dem Orbit des eigenen Körpers, unter einem wegbewegte.
Plötzlich machte ich mir Sorgen wegen meiner Gedankengänge. Wo hatte denn beispielsweise der letzte seinen Ursprung genommen? Ich fühlte mich herrlich, aber ging dieses Gefühl wirklich von mir aus? Hatte irgendein Ventil den Zugang zu meinem Unterbewußtsein geöffnet und so den Fluß der Libido entfesselt, der nun gewaltige Sandbänke verschiedenster Gefühle von den Ufern meiner Erinnerung losriß, um sie zu den saftigen Wiesen meines Geistes zu transportieren, wo sich normalerweise mein ganzes bewußtes Denken abspielt? Oder konnte es sich um ein telepathisches Phänomen handeln ich selbst in einer psychisch schutzlosen Position und zwei völlig fremde Bewußtseinsinhalte als einzige Kommunikationspartner im Umkreis von Tausenden von Meilen? War einer von ihnen ein Logophiler, der mich mit Absicht seine Worte verstehen ließ?
Aber es schien nicht so zu sein. Ich war mir sicher, daß beispielsweise mein Verständnis der Sprache kein telepathisches Phänomen war. Ihre Sprache kam langsam in einen immer besseren Fokus – mittlerweile verstand ich einzelne Worte und Phrasen, nicht mehr nur Abstraktionen ihres Sinnes. Auf irgendeine Weise beherrschte ich ihre Sprache, dabei war kein Gedankenlesen im Spiel.
Was dann?
Mit keinem geringen Schuldgefühl packte ich mein geistiges Wohlbefinden, transportierte es auf Armeslänge von meinem Körper weg, und dann stieß ich mit aller Kraft zu. „Denke, verdammt noch mal!“ befahl ich meinem Kortex. „Genug gefaulenzt. Keine Zeit mehr für geistige Ferien. Bewegung!“
Zurückkehren, zurückkehren, zu … dem Durst, der Kälte, den Schmerzen, dem Morgen … Ja. Australien. Dort war ich … Der Wombat hatte das Känguruh – dessen Name, wie ich später erfuhr, Charv lautete – davon überzeugt, daß mir Wasser im Augenblick mehr helfen würde als ein Erdnußbutterbrot. Charv anerkannte das überlegene Wissen des Wombats in Fragen der menschlichen Physiologie und holte eine Flasche aus seinem Beutel. Der Wombat – dessen Name, wie ich ebenfalls bald herausfand, Ragma lautete – zog seine Pfoten ab – oder besser, seine pfotenähnlichen Handschuhe –, wobei er winzige, sechsgliedrige Händchen mit entgegengesetzten Daumen enthüllte, und danach flößte er mir die Flüssigkeit in kleinen Dosen ein. Während sie das taten, schnappte ich auf, daß sie außerirdische Detektive waren, die sich als einheimische Fauna getarnt hatten. Der Grund dafür wurde mir nicht ganz klar.
„Sie sind in einer glücklichen Lage …“ sagte Ragma.
Ich verschluckte mich und hustete. Als ich wieder zum Reden imstande war, sagte ich: „So langsam beginne ich den Ausdruck außerirdischer Standpunkt’ zu verstehen. Ich nehme an, Sie beide sind Angehörige einer Rasse von Masochisten.“
„Manche Wesen danken denen, die ihnen das Leben gerettet haben“, entgegnete er. „Und, um meinen Satz zu beenden, Sie sind in einer glücklichen Lage, aber nur, weil wir zufällig hier vorbeikamen.“
„Beim ersteren kann ich Ihnen zustimmen“, sagte ich. „Vielen Dank also. Aber die Koinzidenz ist wie ein Gummiband, überdehnt man sie zu sehr, dann schnalzt sie. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich die Zufälligkeit unseres Zusammentreffens etwas in Frage stelle.“
„Ich bin untröstlich, daß Sie uns gegenüber Argwohn empfinden“, sagte er. „Wo wir Ihnen doch lediglich Beistand geleistet haben. Ihr Zynismus-Index könnte möglicherweise noch höher sein als ursprünglich vermutet wurde.“
„Von wem vermutet?“ fragte ich.
„Das darf ich nicht sagen“, antwortete er.
Er würgte einen Zornesausbruch ab, indem er mir ordentlich Wasser die Kehle hinunterkippte. Keuchend und nachdenklich sagte ich daher nur: „Das ist ärgerlich!“
„Da stimme ich Ihnen zu“, sagte er. „Aber nun, da wir hier sind, sollte eigentlich alles bald wieder in Ordnung kommen.“
Ich stand auf, streckte mich ausgiebig, um die Starre aus meinen Muskeln zu vertreiben, aber dann setzte ich mich rasch auf einen Felsen, um ein leichtes Schwindelgefühl zu verbergen.
„Also gut“, sagte ich, griff nach einer Zigarette, doch sie waren alle zerkrümelt. „Wie wäre es denn, wenn Sie darüber nachdenken würden, was Ihnen zu sagen erlaubt ist, und mir das dann mitteilen würden?“
Charv zog eine Packung Zigaretten – meine Marke – aus seinem Beutel und gab sie mir.
„Wenn Sie müssen“, sagte er.
Ich nickte, nahm die Packung, öffnete sie und zündete mir eine an.
„Danke“, sagte ich und gab sie ihm wieder. Er nahm sie aber nicht.
„Behalten Sie sie“, lehnte er ab. „Ich bin sowieso Pfeifenraucher. Aber Sie, da wir gerade dabei sind, benötigen wesentlich dringender Nahrung und Flüssigkeit als Nikotin. Ich überwache Ihren Herzschlag, Blutdruck und Ihren Stoffwechsel mittels eines kleinen Gerätes, das ich bei mir habe …“
„Lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen“, sagte Ragma, der sich seinerseits eine Zigarette organisierte und von irgendwoher ein Feuerzeug holte. „Charv ist ein Hypochonder. Aber ich meine, wir sollten zurück zu unserem Raumschiff, bevor wir miteinander reden. Sie sind noch immer in Gefahr.“
„Raumschiff? Was für ein Raumschiff? Wo ist es denn?“
„Etwa eine Viertelmillion Meilen von hier“, erklärte Charv. „Zudem hat Ragma recht. Es wäre besser, wenn wir diesen Ort so schnell wie möglich verlassen würden.“
„Ich muß Ihnen ja wohl vorbehaltlos glauben“, sagte ich. „Aber Sie haben nach mir gesucht – und nur nach mir – nicht wahr? Sie scheinen etwas über mich zu wissen …“
„Damit haben Sie Ihre eigene Frage gleich selbst beantwortet“, entgegnete Ragma. „Wir hatten Grund zu der Annahme, daß Sie in Gefahr sind, und wir behielten recht.“
„Woher? Woher wußten Sie das?“
Sie sahen einander an.
„Tut mir leid“, sagte Ragma. „Das ist unerheblich.“
„Wieso unerheblich?“
„Wir sind nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.“
„Wer erteilt Ihnen denn Ihre ganzen Verbote?“
„Unerheblich.“
Ich seufzte. „Na schön. Ich glaube, ich kann mittlerweile wieder gehen. Wenn nicht, dann werden wir es ja bald wissen.“
„Ausgezeichnet“, sagte Charv, als ich mich erhob.
Dieses Mal fühlte ich mich sicherer, und das schienen sie auch zu sehen. Er nickte, wandte sich um und ging dann mit einem sehr unkänguruhhaften Schritt davon. Ich folgte ihm, Ragma blieb an meiner Seite. Er ging dieses Mal auf zwei Beinen.
Das Terrain war ziemlich eben, daher bereitete das Gehen keine besonderen Schwierigkeiten. Nach ein paar Minuten des Laufens konnte ich sogar ein wenig Enthusiasmus bei dem Gedanken an ein Erdnußbutterbrot aufbringen. Aber noch ehe ich meinem Wunsch Ausdruck verleihen konnte, rief Ragma etwas Außerirdisches.
Charv antwortete, dann beschleunigte er seinen Schritt; nun hoppelte er wirklich fast wie ein Känguruh.
Ragma wandte sich an mich. „Er geht schon voraus, um die Aggregate anzuwärmen“, sagte er. „Damit wir einen flotten Start hinlegen können. Wenn Sie sich schneller bewegen können, dann tun Sie es bitte.“
Ich bemühte mich nach besten Kräften. „Wozu die Eile?“ fragte ich noch.
„Mein Gehör ist ausgesprochen sensitiv“, sagte er. „Wie ich soeben erfahren habe, sind Zeemeister und Buckler gestartet. Die Wahrscheinlichkeit einer Suche nach Ihnen ist sehr groß. Und es ist immer am besten, mit dem Schlimmsten zu rechnen.“
„Wie ich vermute, handelt es sich bei den beiden um meine ungebetenen Gäste, und Ihr habt die Erlaubnis, mir ihre Namen mitzuteilen. Was stellen sie denn dar?“
„Sie sind Balkengöggel.“
„Balkengöggel?“
„Asoziale Individuen, vorsätzliche Verletzer aller Statuten.“
„Ach so, Galgenvögel. Ja, dasselbe hatte ich auch schon vermutet. Was können Sie mir von Ihnen erzählen?“
„Morton Zeemeister“, sagte er, „ist in viele dunkle Geschäfte verstrickt. Er ist der Helle mit dem bleichen Fell. Normalerweise begibt er sich nie an einen Tatort, dafür hat er seine bezahlten Vasallen. Zu ihnen gehört der andere, Jamie Buckler. Er hat Zeemeister lange Jahre treue Dienste geleistet, dafür hat er ihn belohnt, indem er ihn zu seinem Leibwächter gemacht hat.“
Mein eigener Körper prostestierte in diesem Augenblick gerade gegen die zusätzliche Belastung durch das raschere Gehen, daher war ich nicht sicher, ob das Summen in meinen Ohren von meinen Äderchen, in denen das Blut pulsierte, hervorgerufen wurde, oder ob es das Geräusch des todbringenden Vogels der beiden war. Ragma räumte jeglichen Zweifel aus.
„Sie kommen in diese Richtung“, sagte er. „Nun aber rasch. Können Sie laufen?“
„Ich werde es versuchen“, sagte ich.
Der Boden fiel ab, stieg wieder an. Schließlich konnte ich weiter vorn etwas erkennen, von dem ich vermutete, daß es sich um ihr Raumschiff handelte. Ein glockenförmiges Ding aus Metall, durchsetzt mit dunkleren Flecken, wahrscheinlich den Luken, die sich unregelmäßig über die Oberfläche verteilten, eine offene Schleuse … Meine Lungen arbeiteten wie eine Ziehharmonika bei einer polnischen Hochzeit, ich spürte die ersten Wogen der Dunkelheit in meinem Kopf. Ich wußte, ich würde wieder zusammenbrechen.
Dann folgte das bekannte Flimmern, als wäre ich einen Schritt aus der Realität herausgetreten. Ich wußte, mein Blut sackte ab, und ich verfluchte die Hydraulik, die dafür verantwortlich war. Zwischen dem zunehmend lauteren Summen hörte ich Pistolenschüsse, alles klang wie die Geräuschkulisse einer weit entfernten Show, noch nicht einmal das konnte mich wieder zurückreißen.
Wenn einem das eigene Adrenalin schon im Stich läßt, wem soll man dann noch vertrauen?
Dabei wollte ich es mit aller Gewalt zu der Schleuse und hinein ins Innere schaffen. So weit war es nun auch wieder nicht. Aber mittlerweise wußte ich, ich würde es nicht schaffen. Eine absurde Art zu sterben. So nahe – und noch immer völlig verständnislos …
„Ich kann nicht mehr!“ rief ich der Gestalt an meiner Seite zu, wußte aber nicht, ob mir die Worte tatsächlich über die Lippen gekommen waren.
Das Geräusch, das sich nach Schüssen anhörte, hielt an, leise, wie beim Popcornherstellen. Es waren höchstens noch zehn bis zwölf Meter, dessen war ich mir sicher, denn Entfernungen kann ich gut abschätzen. Ich riß die Arme hoch, um im Fallen mein Gesicht zu schützen, doch den Aufprall spürte ich schon nicht mehr. Ich stürzte vorwärts in eine angenehme Schwärze, die alles verschluckte, die Schüsse, das Summen, die Schreie, meinen Aufprall, meinen Sturz.
So, so und wieder so. Erwachen als eine Angelegenheit von Texturen und Schatten: Vorwärtsstrebend und zurückweichend entlang einer Skala aus sanft/dunkel, glatt/schattig, glänzend/hell – alles andere ausgelöscht oder dem angepaßt: die Farben, Formen und Geräusche als mindere Funktion dieser drei.
Vorwärtsschweben zu hart und grell, Zurückweichen zu weich und schwarz …
„Kannst du mich hören, Fred?“ – die samtene Dämmerung.
„Ja“ – meine glühenden Skalen.
„Besser, besser, besser …“
„Was/wer?“
„Näher, näher, daß keine Störgeräusche …“
„Hier?“
„Besser, das vermindert die subvokale …“
„Ich verstehe nicht.“
„Später. Nur eines, eines muß gesagt werden: Artikel 7224, Absatz C. Wiederhole das!“
„Artikel 7224, Absatz C. Warum?“
„Wenn sie wünschen, dich wegzubringen – und das werden sie –, dann sag das. Aber nicht, warum. Nicht vergessen.“
„Ja, aber …“
„Später …“
Eine Frage von Texturen und Schattierungen: hell, heller, glatt, glatter. Hart. Klar.
So daliegend, in meiner Schlinge, während Wachperiode eins:
„Wie fühlen Sie sich jetzt?“ fragte Ragma.
„Müde, schwach, immer noch durstig.“
„Verständlich. Hier, trinken Sie das.“
„Danke. Sagen Sie mir, was geschehen ist. Wurde ich getroffen?“
„Ja, Sie wurden zweimal getroffen. Aber nur oberflächlich. Wir haben alle Schäden repariert. Der Heilungsprozeß sollte in wenigen Stunden abgeschlossen sein.“
„Stunden? Wie viele Stunden sind denn seit unserem Start verstrichen?“
„Schätzungsweise drei. Ich habe Sie an Bord getragen, nachdem Sie gestürzt waren. Wir sind gestartet und haben Ihre Verfolger, den Kontinent und den Planeten hinter uns gelassen. Augenblicklich befinden wir uns im Orbit um Ihre Welt, aber den werden wir in Kürze verlassen.“
„Wenn Sie mich tragen konnten, dann müssen Sie kräftiger sein als Sie aussehen.“
„Offensichtlich.“
„Wohin wollen Sie mich denn nun bringen?“
„Zu einem anderen Planeten – einem sehr hübschen, aber der Name wird Ihnen wahrscheinlich nichts sagen.“
„Warum?“
„Sicherheit und Notwendigkeit. Sie sind in der Position, Informationen zu besitzen, die sehr nützlich sein könnten hinsichtlich eines Falles, mit dem wir zu tun haben. Wir möchten diese Informationen natürlich haben, aber es gibt andere, die sie ebenfalls wollen. Wegen dieser anderen wären Sie auf Ihrem eigenen Planeten ständig in Gefahr. Daher ist es das einfachste, Sie von dort wegzubringen, sowohl in Ihrem als auch in unserem Interesse.“
„Fragen Sie mich ruhig. Da Sie mich gerettet haben, werde ich mich nicht undankbar zeigen. Was wollen Sie wissen? Wenn es dasselbe ist, was auch Zeemeister und Buckler wissen wollten, dann werde ich aber kaum eine Hilfe für Sie sein.“
„Von dieser Voraussetzung gehen wir aus. Aber wir sind der Meinung, daß die Informationen, die wir meinen, auf einer unterbewußten Ebene doch vorhanden sind. Und die beste Methode, so etwas ans Licht zu fördern, besteht darin, das Büro eines telepathischen Analytikers aufzusuchen. Von denen gibt es viele dort, wo wir hingehen.“
„Wie lange werden wir denn dort sein?“
„Sie werden so lange dort bleiben, bis wir unsere Untersuchungen abgeschlossen haben.“
„Und wie lange wird das dauern?“
Er schüttelte seufzend den Kopf.
„Das können wir im Augenblick unmöglich sagen.“
Ich fühlte, die sanfte Schwärze streifte mich wie der Schwanz einer vorbeigehenden Katze. Noch nicht! Mein Gott, nein … Ich konnte doch nicht ohne weiteres zulassen, daß sie mich einfach so mitnahmen, für einen unbefristeten Zeitraum, weg von allem, was mir vertraut war. In diesem Augenblick durchlebte ich das typische Totenbett-Syndrom – überall lose Enden, all die Kleinigkeiten, die man unbedingt noch in Ordnung bringen sollte, bevor man geht: Briefe schreiben, Kontoauszüge holen, das Buch auf dem Nachttisch zu Ende lesen … Wenn ich jetzt das Semester schleifen ließ, dann würde mich das in einen akademischen und finanziellen Ruin stürzen – und wer würde mir diese Erklärung schon abkaufen? Nein. Daß sie mich mitnahmen, konnte ich unmöglich zulassen. Aber die samtenen Schatten kamen bereits wieder näher. Ich mußte mich beeilen.
„Tut mir leid“, konnte ich eben noch hervorstoßen, „aber das ist unmöglich. Ich kann nicht mitgehen …“
„Ich fürchte, Sie müssen. Das ist eine absolute Notwendigkeit“, sagte er.
„Nein“, sagte ich, langsam panisch, wobei ich gegen das Schlafen ankämpfte. „Nein, das … können Sie mir nicht antun.“
„Ich glaube, in Ihrem eigenen Rechtswesen existiert eine vergleichbare Maßnahme. Man nennt es ‚Schutzhaft’.“
„Und was ist mit Artikel 7224, Absatz C?“ keuchte ich. Ich spürte, wie meine Redeweise schleppend wurde, während mir die Augen zufielen.
„Was haben Sie gesagt?“
„Das haben Sie genau verstanden“, murrte ich. „Sieben … zwo … zwo … vier, Ab … satz … C … Das ist der Grund für …“
Und dann, wieder einmal, nichts.
Mehrere Zyklen der Wahrnehmung brachten mich in die nächste Nähe dessen, was man als ‚bei Bewußtsein’ bezeichnet – aber es verging eine gewisse Zeit, bis ich voll wach war. Mein so erreichtes Wachsein verbrachte ich zunächst mit dem Betrachten Kaliforniens. Es dauerte jedoch seine Zeit, bis ich auf den herrschenden Streit aufmerksam wurde, der in einer verhaltenen, fast akademischen Weise ausgetragen wurde. Sie ereiferten sich über eine meiner Bemerkungen.
Oh, ja …
Artikel 7224, Absatz C. Das hatte, so erinnerte ich mich, etwas zu tun mit dem Abtransport intelligenter Wesen von ihrem Heimatplaneten ohne deren Erlaubnis. Teil eines intergalaktischen Kidnappings, bei dem die Welt meiner Retter ihre Finger im Spiel hatte, das kam einer interstellaren Verschwörung schon sehr nahe. In der gegenwärtigen Situation gab es aber auch wahrlich genügend viele Dinge, über die man geteilter Meinung sein konnte: etwa über das Entführen intelligenter Lebewesen, die das überhaupt nicht haben wollten, über Quarantäne zum Schutz der betreffenden Spezies, über nichtmilitärische Repressalien bei Rechtsverletzungen, über Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit der galaktischen Population und noch viele andere Themen aus diesem Komplex, die sie alle mit großer Breite durchdiskutierten. Offensichtlich hatte ich ein delikates Thema berührt, ganz besonders im Licht ihres erst kurze Zeit zurückliegenden Erstkontaktes mit der Erde. Ragma beharrte darauf, daß sie, wenn sie mich unter Berufung auf eine Ausnahmesituation mitnahmen, volle Rückendeckung ihrer Vorgesetzten haben würden. Wenn es je zu einem Punkt kommen sollte, wo eine Adjudikation notwendig wurde, und wenn das dann später ans Tageslicht kam, dann, so meinte Charv, würde man ihnen ihre Gesetzesinterpretation nicht so einfach durchgehen lassen; wahrscheinlich würde man sie sogar aus ihrem Job als trainierte Spezialisten zum Bodenpersonal versetzen. Mittlerweile versteifte Charv sich aber zu der Meinung, keine der Ausnahmeregelungen würde auf ihre Situation zutreffen, und es wäre nur zu offensichtlich, was sie getan hatten. Es wäre besser, entschied er, den telepathischen Analytiker, den sie konsultieren wollten, den Wunsch zur Kooperation in meinen Verstand implantieren zu lassen. Er war sicher, daß es einige gab, die ihr Problem auf diese Weise lösen konnten. Das aber erzürnte Ragma. Das sei sowohl eine klare Verletzung meiner Rechte unter einem anderen Vorzeichen als auch die Verschleierung ihrer eigenen Übertretungen. An so etwas wolle er nicht teilhaben. Wenn sie mich schon verschleppten, dann wolle er eine ordentliche Verteidigung, keine Verschleierung ihrer Tat. Also gingen sie alle Ausnahmesituationen noch einmal durch, jedes Wort sorgfältig abwägend. Sie sprachen frühere Präzedenzfälle durch, wobei ihr Tonfall immer an Jesuiten, Talmudisten, Wörterbuchherausgeber oder Jünger des Neuen Kritizismus erinnerte, je nachdem. Wir umkreisten immer noch die Erde.
Eine ganze Weile später gab Charv ihrer Diskussion eine neue Wendung, und zwar mit einer Frage, die mich auch schon sehr beschäftigt hatte: „Wo hat er etwas über Artikel 7224 erfahren?“
Sie kamen zu mir herüber, wodurch ich gezwungen war, den Blick von dem sturmumtosten Kap Hatteras abzuwenden. Als sie sahen, daß ich die Augen offen hatte, nickten sie und gestikulierten, was zweifellos ihren guten Willen ausdrücken sollte, wie es mir schien.
„Haben Sie gut geschlafen?“ fragte Charv.
„Es geht.“
„Wasser?“
„Bitte.“
Ich trank einige Schlucke. Dann: „Brot?“ fragte er.
„Ja. Danke.“
Er holte eines, und ich begann zu essen.
„Wir haben uns große Sorgen über Ihr Wohlbefinden und über unsere Handlungsweise in Ihrem Fall gemacht.“
„Das ist lieb von Ihnen.“
„Wir wunderten uns über etwas, das Sie vor geraumer Zeit gesagt haben, im Zusammenhang mit unserem Angebot, Ihnen während einer Routineuntersuchung auf unserem Planeten Zuflucht zu gewähren. Es schien, als hätten Sie einen Absatz des Galaktischen Kodex zitiert, kurz bevor Sie das letzte Mal eingeschlafen sind. Aber Sie murmelten etwas, daher waren wir nicht ganz sicher. War das tatsächlich der Fall?“
„Ja.“
„Ich verstehe“, sagte er, seine Sonnenbrille zurechtrückend. „Würde es Ihnen etwas ausmachen zu sagen, wie Sie zu diesem Wissen gekommen sind?“
„Solche Dinge sprechen sich in akademischen Kreisen rasch herum“, meinte ich leichthin; das war die beste Antwort, die mir einfiel, um sie auf eine falsche Fährte zu lenken.
„Das wäre möglich“, sagte Charv, der damit wieder an ihr früheres Gespräch anknüpfte. „Ihre Studenten arbeiten an den Übersetzungen. Sie könnten mittlerweile ihre Arbeit abgeschlossen haben, und solche Sachen verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Aber das fällt nicht in mein Fachgebiet, daher kann ich nicht absolut sicher sein.“
„Und wenn jemand schon eine Vorlesung darüber abhält, dann kann der hier sie ja belegt haben“, meinte Charv. „Unglücklicherweise.“
„Dann müssen Sie aber auch wissen“, fuhr er, nun wieder in englischer Sprache, fort, „daß Ihr Heimatplanet die Vereinbarungen bisher noch nicht unterzeichnet hat.“
„Natürlich“, antwortete ich. „Aber meine Sorge gilt allein Ihrem Verhalten unter den gegebenen Umständen.“
„Ja, selbstverständlich“, sagte er und blickte zu Ragma, der etwas entfernt stand.
Ragma kam näher, seine unbeweglichen Wombataugen funkelten.
„Mister Cassidy“, sagte er, „lassen Sie mich es Ihnen so einfach wie möglich erklären. Wir sind Gesetzeshüter – Polizisten, wenn Sie so wollen, und wir haben eine Aufgabe zu erledigen. Leider können wir Ihnen die Einzelheiten aber nicht mitteilen, was Ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit wahrscheinlich erheblich steigern würde. Und so wie die Dinge liegen, wäre Ihre Anwesenheit auf Ihrem Planeten ein mehr oder weniger großes Hindernis für uns, während Ihre Abwesenheit die Lage wesentlich vereinfachen würde. Zudem sind Sie, wie wir Ihnen schon gesagt haben, in großer Gefahr, wenn Sie bleiben. Angesichts dieser Tatsachen wäre es doch wirklich für beide Seiten besser, wenn Sie einem kurzen Urlaub zustimmen würden, nicht wahr?“
„Tut mir leid“, sagte ich.
„Dann“, sagte er darauf, „kann ich nur noch an Ihre Korruptheit und an Ihre Abenteuerlust appellieren. Eine solche Reise würde Sie unter normalen Umständen ein Vermögen kosten, zudem werden Sie Dinge sehen, die noch kein Angehöriger Ihrer Rasse jemals zuvor gesehen hat.“
Darüber hatte ich mir auch schon Gedanken gemacht. Unter anderen Umständen hätte ich auch keinen Augenblick gezögert. Aber nun war ich schon mit meinen Gefühlen ins reine gekommen. Etwas war nicht in Ordnung, und ich war ein Teil davon. Aber es war mehr als nur die Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten war. Etwas, das ich nicht verstand, war geschehen/geschah mit mir. In mir wuchs die Überzeugung, nur etwas herausfinden und ändern zu können, wenn ich zu Hause blieb und auf eigene Faust Nachforschungen anstellte. Ich bezweifelte, daß jemand anders meine Interessen so gut vertreten konnte, wie ich sie vertrat.
Also: „Tut mir leid“, wiederholte ich.
Er seufzte, wandte sich ab, um durch die Luke die Erde zu betrachten.
Schließlich: „Ihre Rasse ist sehr starrsinnig“, meinte er seufzend.
Da ich nicht antwortete, fügte er noch hinzu: „Aber meine ebenfalls. Wir müssen Sie zurückbringen, wenn Sie darauf bestehen. Aber ich werde eine Möglichkeit finden, die nötigen Resultate auch ohne Ihre Mithilfe zu bekommen.“
„Was meinen Sie damit?“ fragte ich.
„Wenn Sie Glück haben“, sagte er, „dann leben Sie lange genug, um Ihren Entschluß zu bedauern.“