12


Zeit.

Mehr Fragmente, Scherben, Bruchstücke … Zeit.

Epiphanie in Schwärze & Licht, Szenario in Grün, Gold, Purpur & Grau …

Da ist ein Mann. Er klettert in der dunstigen, abendlichen Luft, er besteigt den hohen Turm von Cheslerei in einer Stadt namens Ardel, neben einem Meer, dessen Namen er bisher noch nicht einmal richtig aussprechen kann. Das Meer selbst ist dunkel und dickflüssig wie Johannisbeersaft, das Licht von Canis Vibesper spiegelt sich darin wieder, der Sonne, die gerade eben unter dem Horizont versunken ist, um nun einem anderen Kontinent Licht und Wärme zu spenden. Eine sanfte Brise streicht über die Bauwerke, Balkone, Türme, Wälle und Häuser der Stadt, sie trägt die Gerüche des Festlandes hinaus zu seinem älteren, kälteren Gefährten …

An der seewärts gerichteten Seite klettert er mit dem fliehenden Tag um die Wette. Der Turm von Cheslerei wird von den letzten Strahlen der Sonne erhellt, nur noch die äußerste Spitze ist in Licht gebadet. Vom Beginn des Sonnenuntergangs an stieg er dem entschwindenden Licht nach, um der Nacht an der letztmöglichen Stelle zu begegnen.

Mittlerweile klettert er mit den Schatten um die Wette, sein eigener wird bereits diffus, seine Hände ragen wie Fische aus dem Meer der Dunkelheit heraus. Am gewaltigen Firmament über ihm hält die Nacht mit all ihrer Sternenpracht ihren Einzug. Durch die kristallene Maske der Atmosphäre hindurch sieht er ihr unverblümt ins Antlitz. Nun hält er inne, das letzte goldene Fleckchen ist verschwunden. Die Schatten dringen auf ihn ein.

Doch noch einmal blitzt es kurz auf, dieses Fleckchen Helligkeit. Vielleicht an einen anderen, grünen und goldenen Ort denkend, bewegt der Mann sich nur noch rascher, sein Schatten folgt ihm beharrlich. Das Licht verblaßt einen Moment, kehrt wieder.

In diesem Augenblick umklammert er die Brüstung, er zieht sich hoch wie ein Schwimmer, der das Wasser verläßt.

Er steht auf, dreht sich um, um sich der See und dem Licht zuzuwenden. Ja …

Er sieht ihn, den letzten, verschwindenden goldenen Fleck. Nur einen Augenblick sieht er ihm nach.

Dann setzt er sich auf den kühlen Stein und betrachtet stumm die Wunder der Nacht, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Lange Zeit sitzt er schweigend so da …

Oh ja, ich kenne ihn sehr gut.

Portrait: Junge und Hund tollen am Strand umher. Tick-Tack-zurück in die Vergangenheit. Fragment …

„Fang, Junge, fang!“

„Verdammt, Ragma! Jetzt lerne endlich, wie man einen Frisbee richtig wirft, wenn du schon spielen willst! Ich habe es satt, immer hinterherzurennen.“

Er kicherte. Ich holte den Frisbee, warf ihn wieder zu ihm hin. Er fing ihn und warf ihn gleich darauf wieder irgendwo in die Büsche.

„Da hast du’s!“ rief ich. „Du bist ein guter Fänger, aber ein lausiger Werfer. Ich geb’s auf.“

Ich wandte mich um und ging zum Wasser. Wenig später hörte ich ein schnaufendes Geräusch, dann war er an meiner Seite.

„Bei uns zu Hause gibt es ein ähnliches Spiel“, sagte er. „Darin war ich auch nie besonders gut.“

Wir sahen dem Spiel der Brandung zu, grau und grün, die schaumgekrönten Wellen rollten ans Ufer.

„Gib mir eine Zigarette“, sagte Ragma.

Ich gab ihm eine und steckte mir ebenfalls eine an.

„Wenn ich dir das erzähle, was du wissen willst, dann würde das gegen die Sicherheitsvorschriften verstoßen“, sagte er.

Ich antwortete nicht. Das hatte ich bereits vermutet.

„Aber ich werde es dir trotzdem erzählen“, fuhr er fort.

„Natürlich nicht mit allen Details. Nur das allgemeine Bild. Ich werde meine Diskretion nicht verletzen. Es ist sowieso mehr ein offenes Geheimnis. Und jetzt, wo dein Volk zu den Sternen fährt und Besucher von anderen Welten empfängt, werdet ihr es sowieso früher oder später erfahren. Besser, du hörst es gleich von einem Freund.“

„Meine Katze …“ begann ich.

„… war ein Whillowhim“, sagte er. „Der Repräsentant einer der mächtigsten Kulturen der Galaxis. Ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen Spezies, die zusammen die Zivilisation formen, war schon immer mit Schwierigkeiten verbunden. Da gibt es große Kulturen und massive Machtblöcke, und dann gibt es da – wie soll ich mich ausdrücken? – aufstrebende Welten wie deine eigene, die gerade an der Schwelle zur großen Welt stehen. Eines Tages wird dein Volk wahrscheinlich die Mitgliedschaft im Rat innehaben, verbunden mit dem Stimmrecht. Was für eine Stärke werdet ihr deiner Meinung nach haben?“

„Eine verdammt geringe“, antwortete ich.

„Und was macht man unter diesen Umständen?“

„Man geht Allianzen ein, schließt Verträge. Man sucht nach Bündnisgenossen mit ähnlichen Problemen und Interessen.“

„Ihr könntet eine Allianz mit einem der großen Machtblöcke eingehen. Sie würden bestimmt gute Gegenwerte für die Unterstützung durch dein Volk bieten.“

„Dabei besteht aber immer die Gefahr, zur Marionette zu werden. Man kann auch eine Menge verlieren.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Solche Dinge kann man nur schwer vorhersehen. Andererseits könntet ihr euch auch mit den kleineren Gruppierungen zusammentun, die, wie gesagt, wahrscheinlich vergleichbare Interessen haben. Natürlich birgt auch das Gefahren in sich. Verstehst du nun, worauf ich hinaus will?“

„Vielleicht. Gibt es viele aufstrebende Welten wie meine?“

„Ja“, entgegnete er. „Eine ganze Menge. Und ständig kommen neue dazu. Das ist auch gut so – für alle. Wir benötigen die Vielseitigkeit, die neuen Anschauungen, die Standpunkte den Dingen gegenüber, die das Leben für uns bereithält.“

„Gehe ich richtig in der Annahme, daß viele junge Welten in grundlegenden Fragen zusammenhalten?“

„Da gehst du richtig.“

„Ist die Anzahl groß genug? Können sie wirklich etwas ausrichten?“

„Es nähert sich der entscheidenden Grenze.“

„Ich verstehe“, sagte ich.

„Ja. Einige der älteren und mächtigeren Gruppierungen sehen es nicht gerne, wie ihre Vormachtstellung schwindet. Die Zahl der Neuen gering zu halten ist ein Mittel dagegen.“

„Wenn wir mit dem Artefakt Pech gehabt hätten, hätte uns das permanent ausgeschlossen?“

„Keinesfalls. Ihr seid schließlich da. Ihr existiert. Und ihr seid weit genug entwickelt. Früher oder später würde man sich mit euch auseinandersetzen müssen, auch wenn man euch am Anfang totgeschwiegen hätte. Aber natürlich wäre es ein Punkt gegen euch gewesen. Es hätte alles erheblich verzögert.“

„Hast du die ganze Zeit über die Whillowhim verdächtigt?“

„Ich vermutete, daß eine der Großmächte im Spiel war. Es hat bereits eine ganze Reihe ähnlicher Zwischenfälle gegeben – darum behalten wir die Neuen auch besonders im Auge. In eurem Fall war es leicht, eine verfahrene Situation zu finden, die sie als Ausgangspunkt nehmen konnten. Aber bezüglich der eigentlichen Drahtzieher vermutete ich falsch. Erst als unser Freund, der Speicher, seine Botschaft übermitteln konnte und du den Whillowhim gestellt hast, wurde mir alles klar. Aber das spielt keine Rolle mehr. Wenn wir jetzt den Whillowhim unsere Beweise vorlegen würden und sie beschuldigen – was wir selbstverständlich nicht tun –, dann würden sie ganz einfach behaupten, daß ihr Agent überhaupt nicht ihr Agent ist, sondern ein Privatmann, der auf eigene Faust gehandelt hat, und sie würden die resultierenden Unannehmlichkeiten natürlich zutiefst bedauern. Nein. Das Bewußtsein ihres Scheiterns wird genügen. Wir haben unsere Wachsamkeit demonstriert. Sie wissen, wir sind auf der Hut und ihr seid gewarnt – wie auch unsere Vorgesetzten. Ich glaube nicht, daß ihr in Zukunft noch einmal mit etwas Vergleichbarem belästigt werdet.“

„Ich vermute, das nächste Mal werden sie mit Geschenken kommen.“

„Das ist sehr wahrscheinlich. Aber wieder ist dein Volk vorgewarnt. Auch andere werden kommen. Es sollte nicht besonders schwer sein, einen gegen den anderen auszuspielen.“

„Also landet doch alles wieder bei den verräucherten Räumen …“

„Oder sonstwo. Vielleicht auch bei methangefüllten“, sagte er.

„Politik“, sagte ich. „Komplizierte Sache.“

„Oh ja. Eine der Kleinigkeiten, die das Leben erschweren.“

„Ragma, ich würde dir gerne eine persönliche Frage stellen.“

„Nur zu. Wenn sie zu peinlich ist, werde ich sie ganz einfach nicht beantworten.“

„Dann sag mir bitte, wenn du willst, wie du deine eigene Kultur charakterisieren würdest, dein Volk, deine Zivilisation – wies eure Soziologen eure ganze Gruppe auch immer nennen, du weißt schon, was ich meine –, und zwar vor dem Hintergrund der gesamten galaktischen Zivilisation.“

„Oh, wir betrachten uns als recht praktisch, effizient, aufgeschlossen …“

„Hilfsbereit“, warf ich ein.

„Auch das. Dazu idealistisch, erfinderisch, kulturell mannigfaltig …“

Ich hustete.

„… und voller schlummernder Kräfte und ungeahnter Fähigkeiten“, sagte er. „Erfüllt vom Traum der Jugend.“

„Danke.“

Danach wandten wir uns um und liefen weg, immer knapp an der Grenze zum Wasser.

„Hast du dir schon Gedanken über den Antrag gemacht?“ fragte er schließlich.

„Ja“, antwortete ich.

„Schon eine Entscheidung getroffen?“

„Nein“, sagte ich. „Ich werde eine Weile weggehen und darüber nachdenken.“

„Hast du eine Vorstellung, wie lange das dauern wird?“

„Nein.“

„Nur so. Nur so. Du wirst uns selbstverständlich sofort benachrichtigen, wenn du zu einem Entschluß gekommen bist …“

„Selbstverständlich.“

Wir passierten ein ausgeblichenes BADEN-VERBOTEN-Schild, ich blieb einen Moment stehen, um darüber nachzudenken, daß ich noch bis vor kurzem W3TOH.H3V M3QAS gelesen hätte. Meine Wunden waren wieder an der richtigen Stelle, und auch die Zigaretten schmeckten nicht mehr komisch. Die inversen Versionen von Pommes frites, schalen Hamburgern, altem Salat und vom Mensakaffee würden mir fehlen, dachte ich. Am meisten aber schmerzte mich die Erinnerung an den Stereoisofusel, den mystischen Nektar, den Spiegelschnaps, der mich noch immer verfolgte wie eine Brise aus dem Reich der Feen …

„Gehen wir lieber wieder in die Stadt zurück“, sagte Ragma. „Merimees Party wird bald beginnen.“

„Richtig“, sagte ich. „Aber verrat mir noch eines: Ich dachte gerade an Inversionen, die nicht im atomaren Bereich aufhören, sondern weitergehen, bis ins Subatomare …“

„Und du möchtest gerne wissen, warum der Inverter nicht winzige Antimateriepillen produziert, richtig?“

„Richtig.“

Er zuckte die Achseln.

„Das läßt sich bewerkstelligen, wenn man auch eine Menge Maschinen dabei verliert, unter anderem. Die vorliegende ist antiquiert. Es ist die zweite N-Axiale Inversionseinheit, die jemals gebaut worden ist.“

„Was geschah mit der ersten?“

Er kicherte.

„Sie besaß kein Partikel-Exzeptorprogramm.“

„Was ist das?“

Er schüttelte den Kopf.

„Es gibt einige Dinge, die die Menschen nicht wissen dürfen“, sagte er bestimmt.

„Es ist verdammt blöde, in diesem Stadium zu verbleiben.“

„Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht.“

„Oh.“

„Gehen wir. Bei Merimee warten Schnaps und Zigaretten“, drängelte er. „Außerdem möchte ich noch einmal mit deinem Onkel sprechen. Er hat mir übrigens einen Job angeboten.“

„Tatsächlich? Was für einen?“

„Er hat einige interessante Vorstellungen, die den interstellaren Handel betreffen. Er möchte gerne ein großes Export/Import-Geschäft aufbauen. Weißt du, ich möchte meiner anstrengenden Arbeit gerne den Rücken kehren, und zufällig sucht er gerade jemanden mit meiner Erfahrung als Partner. Zusammen wird uns bestimmt etwas einfallen.“

„Er ist mein Lieblingsonkel“, sagte ich. „Ich verdanke ihm sehr viel. Aber trotzdem fühle ich mich verpflichtet, dich darauf hinzuweisen, daß seine Geschäftspraktiken manchmal nicht gerade sauber sind.“

Ragma zuckte die Achseln.

„Die Galaxis ist groß“, sagte er. „Es gibt Regeln und Gesetze für alles mögliche. Darüber soll ich ihm Auskunft geben.“

Ich nickte bedächtig, apokalyptische Bruchstücke familiärer Folklore waren mir erst gestern abend von Merimee anläßlich eines gemütlichen Beisammenseins aufgehellt worden; sie alle hatten irgendwie mit Onkel Albert zu tun gehabt.

„Nebenbei bemerkt, Doktor Merimee wird ebenfalls Partner in der Gesellschaft sein.“

Ich nickte weiter.

„Was auch immer geschehen wird“, versprach ich ihm, „ich bin sicher, es wird eine aufregende und lehrreiche Zeit für dich sein.“

Wir gingen zurück zum Auto, stiegen ein, fuhren stadteinwärts. Hinter mir war der Sandstrand plötzlich voller Tore, den Toren des Sandes, den Toren der Wüste. Ich dachte an Frauen, Tiger, Schuhe, Schiffe, Siegelwachs und an andere Dinge auf der Schwelle. Bald, bald, bald …

Variationen über ein Thema des Dritten Scheusals: Sterne und der Traum der Zeit …

In einer kleinen Stadt im Schatten der Alpen fand ich ihn endlich. Er saß auf dem Dach der Kirche des Orts und betrachtete die große Uhr der Stadthalle.

„Guten Abend, Professor Dobson.“

„Eh? Fred? Gute Güte! Passen Sie beim nächsten Stein auf, der Mörtel ist brüchig – so, ja. Ausgezeichnet. Sie hätte ich heute nacht am wenigsten erwartet. Aber ich bin trotzdem froh, Sie zu sehen. Ich wollte Ihnen morgen früh eine Postkarte schreiben und Ihnen von hier berichten. Nicht nur vom Klettern, sondern auch von der Perspektive. Behalten Sie die große Uhr im Auge, ja?“

„Gerne“, sagte ich, setzte mich, machte es mir bequem und stemmte einen Fuß gegen eine ornamentale Verzierung.

„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht“, sagte ich und reichte ihm das Päckchen.

„Oh, vielen Dank. Hatte ich nicht erwartet. Eine Überraschung … Es blubbert ja, Fred.“

„Das tut es.“

Er packte es aus.

„Prächtig! Ich kann leider das Etikett nicht lesen, daher probiere ich am besten einmal.“

Ich betrachtete die große Turmuhr.

„Fred!“ rief er nach wenigen Augenblicken. „Ich habe noch nie etwas Ähnliches getrunken. Was ist das?“

„Das Stereoisomer eines gewöhnlichen Bourbon“, antwortete ich. „Man erlaubte mir kürzlich, ein paar Flaschen durch die Rhenniusmaschine zu schicken. Das Spezialkomitee der UN in Sachen Außerirdische Artefakte ist neuerdings sehr nett zu mir. Sie haben also eben ein sehr, sehr seltenes Getränk gekostet.“

„Ich verstehe. Ja … Und aus welchem Anlaß?“

„Die Sterne haben endlich auf ihren feurigen Routen die gewünschten Konstellationen erreicht, ihre eleganten Positionen sprechen ein gutes Omen aus.“

Er nickte.

„Gut gesprochen“, sagte er feierlich. „Aber was meinen Sie damit?“

„Um mit dem Wichtigsten zu beginnen, ich wurde graduiert.“

„Oh, das tut mir leid. Ich glaubte schon, sie würden es nie schaffen.“

„Ich auch. Aber sie haben es geschafft. Ich arbeite jetzt für das Innenministerium oder die Vereinten Nationen, je nachdem, aus welcher Warte man es sieht.“

„Was für eine Position haben Sie?“

„Darüber denke ich gegenwärtig nach. Wissen Sie, die Entscheidung liegt bei mir.“

Er nahm einen weiteren Schluck, dann reichte er mir die Flasche herüber.

„Das sind immer scheußliche Momente“, sagte er. „Hier.“

Ich nickte. Ich trank auch einen Schluck.

„Daher wollte ich mit Ihnen reden, bevor ich mich entschließe.“

„Es ist scheußlich, Entscheidungen treffen zu müssen“, wiederholte er und nahm die Flasche wieder an sich. „Warum mit mir?“

„Vor einiger Zeit, als ich in der Wüste gefoltert wurde, da dachte ich an die vielen Studienberater, die ich bisher gehabt habe. Da ging mir erst auf, warum einige besser und einige schlechter waren. Die besten, heute weiß ich das, waren immer die, die mich nicht zwingen wollten, vorgegebenen Routen zu folgen. Aber sie haben auch nicht einfach nur meine Karte unterschrieben. Sie haben sich immer eine Weile mit mir unterhalten. Nicht das übliche Geschwätz. Sie haben mich nie abgekanzelt, wie die Situation es erfordert hätte. Ich erinnere mich nur noch an die wenigsten Unterhaltungen. Über Dinge, die sie selbst gelernt hatten, die sie als wichtig ansahen, nehme ich an. Im großen und ganzen nichtakademische Dinge. Das waren diejenigen, die mir wirklich etwas gegeben haben, wahrscheinlich haben sie mich sogar indirekt in eine bestimmte Richtung geführt. Sie wollten nicht, daß ich das tat, was sie verlangten, sondern daß ich etwas sah, was sie ebenfalls gesehen hatten. Ein Stück ihrer Weltanschauung, über das ich mir dann meine eigenen Gedanken machen mußte. Wie auch immer, Sie selbst sind der einzige, der sich im Lauf der Jahre allen formellen Zwängen entziehen konnte – daher kam ich zu Ihnen.“

„Ich hatte niemals beabsichtigt …“

„Exakt. Und das war in meinem Fall die beste Lösung. Wahrscheinlich sogar die einzige. Sie haben mir viele Dinge gezeigt, die mir geholfen haben. Oft. Und augenblicklich denke ich an unsere letzte Unterhaltung, damals, kurz bevor Sie sich zurückgezogen haben.“

„Ich erinnere mich noch gut.“

Ich zündete eine Zigarette an.

„Die ganze Situation ist nur schwer zu erklären“, sagte ich. „Ich bemühe mich, es so einfach wie möglich zu machen. Der Sternstein, dieses Artefakt, den wir von einer außerirdischen Rasse bekamen, ist künstlichen Ursprungs. Er wurde von einer heute verschwundenen Rasse geschaffen, die der unseren sehr ähnlich gewesen sein muß. Jahrhunderte nach ihrem Verschwinden wurde er in den Ruinen ihrer Zivilisation gefunden, und niemand erkannte, was er wirklich war. Das ist nicht sehr verwunderlich, denn nirgends stand etwas darüber, das ihn als den oft erwähnten Speicher ausgewiesen hätte, der immer wieder in den alten Schriften angesprochen wurde. Man vermutete, der gewaltige Speicher sei eine Computereinheit, die sich mit allen Bereichen des sozialen Lebens auseinandersetzen konnte. Aber in Wirklichkeit war immer vom Sternstein die Rede. Um richtig funktionieren zu können, benötigt er einen Wirt, der uns Menschen ähnlich ist. Dann existiert er als Symbiont im Organismus des Wirts und kann Daten über dessen Nervensystem abgeben und aufnehmen. Er ist eine Art soziologischer Computer, der alle Eindrücke verarbeitet. Als Gegenleistung wacht er über das Wohlbefinden seines Wirtes. Auf Anfrage gibt er bereitwillig Auskunft über alle Informationen, die er gespeichert hat und die mehr oder weniger alle Lebensformen angehen, aber bedingt durch die Natur des Eingabe-Mechanismus mehr geschöpforientiert sind. Er zieht einen mobilen Wirt mit einem soliden Grundwissen vor.“

„Faszinierend. Wie haben Sie das alles erfahren?“

„Durch einen Unfall; ich habe den Stein teilweise aktiviert. Er drang in meinen Körper ein und brachte mich dazu, ihn ganz zu aktivieren. Das habe ich auch getan. Durch diesen Prozeß war ich aber hinterher außerstande, ordentlich mit ihm zu kommunizieren. Später wurde er entfernt, und ich wurde wieder in meinen Normalzustand gebracht. Er funktioniert einwandfrei, telepathische Analytiker können mit ihm Kontakt aufnehmen. Sowohl die Vereinten Nationen als auch der Galaktische Rat würden den Stein gerne wieder ganz aktivieren. Man möchte ihn als ganz besondere Gabe in der Kula-Kette weiterreichen und jede Welt, die er besucht, mit einem vollständigen Bericht informieren. Der Stein könnte über Räume und Generationen hinweg seine Informationsbasis immer weiter ausbauen und über jede einzelne Welt einen kompletten Datenberg sammeln. Im Endeffekt könnte er den Rat dann mit Informationen über ganze galaktische Sektoren versorgen. Er ist ein lebender Datenverarbeiter, telepathisch begabt – er hat im Lauf der Jahrhunderte genug erfahren, um mich mit Informationen über den Galaktischen Kodex und die Funktionsweise einer bestimmten Maschine versorgen zu können. Er repräsentiert eine einzigartige Kombination von Objektivität und Empathie, und gerade deswegen sind seine Berichte von allergrößtem Wert.“

„So langsam fange ich an, die Situation zu verstehen“, sagte er.

„Ja. Speicher scheint großen Gefallen an mir gefunden zu haben. Er möchte mich gerne als Wirt.“

„Eine einmalige Gelegenheit.“

„Richtig. Wenn ich einwillige, kann ich wahrscheinlich alle Wunder der Galaxis sehen. Lehne ich ab, kann ich auf der Erde alle außerirdischen Kulturen studieren.“

„Warum sollten Sie sich auf die Theorie beschränken, wenn Sie die Praxis haben können?“

„Ich habe mir Gedanken über die immense Geschwindigkeit des Fortschritts gemacht. Vor einer Weile waren wir hier, nun sind wir da. Alles andere ist ein klein wenig unreal – die Distanz zwischen diesem Turm und dem letzten. Hier oben bemerke ich, hinunterblickend, zum ersten Mal, daß meine Turmspitzen immer näher zusammenrücken. Das Tempo der Veränderungen hat eine meßbare Geschwindigkeit erreicht. Alles dort unten wird immer hektischer und immer absurder. Sie sagten mir damals, wenn mir das einmal bewußt werde, solle ich den Brandy nicht vergessen.“

„Richtig. Das habe ich. Hier.“

Ich drückte meine Zigarette aus. Ich erinnerte mich an den Brandy, trank einen Schluck.

„Wäre die Entfernung nicht so gewaltig“, sagte er, „dann könnte man der Zeit wirklich ins Antlitz speien.“ Er nahm die Flasche wieder an sich. „Ja, all das sagte ich damals, und es stimmte auch. Für mich.“

„Und wohin führt es uns?“ fragte ich. „Zum Gipfel einer nur schwer zu erklimmenden Treppe, von der wir wissen, daß schon andere oben sind. Sie betrachten uns als aufstrebende Welt – als Barbaren. Wahrscheinlich haben sie sogar recht. Entziehen wir uns der Wahrheit nicht. Wir werden zum Gipfel der Treppe geprügelt. Wenn ich den Job annehme, dann werde ich das Ausstellungsstück sein, nicht Speicher.“

„Statistisch gesehen“, sagte er, „war es wenig wahrscheinlich, daß wir uns an der Spitze der Leiter befinden würden, ebenso wenig wie ganz unten. Ich glaubte zu jedem Zeitpunkt das, was ich gesagt habe, manches sogar heute noch. Aber Sie dürfen dabei die Umstände nicht vergessen. Ich sprach vom Ende einer Karriere, nicht vom Anfang, und ich sprach alle Gedanken aus, die einem bei einem solchen Anlaß durch den Kopf gehen. Mittlerweile habe ich neue Erkenntnisse gewonnen. Viele Erkenntnisse. Wie etwa Professor Kuhns Bemerkungen über die Struktur der industriellen Revolution – eine gewaltige neue Idee taucht auf und zerschmettert das alte Weltbild vollkommen, danach muß alles wieder von Grund auf neu aufgebaut werden. Nach einer Weile sieht das Bild dann wieder ganz ordentlich aus, abgesehen von einigen Rissen und Sprüngen vielleicht. Und dann wirft wieder jemand einen Stein durchs Fenster. So hat sich das immer für uns abgespielt. In den letzten Jahren kamen die Steinwürfe nur immer häufiger. Wir haben kaum mehr Zeit zum Aufräumen, geschweige denn zum Neuaufbau. Das verwirrt den Intellekt natürlich. Was auch immer wir sind, wir unterscheiden uns von denen dort draußen. Das ist nur natürlich. Kein Mensch ist dem anderen gleich. Wenn es sonst auch keine Gründe gibt, nur deswegen haben wir etwas beizutragen. Das werden wir ganz einfach herausfinden müssen. Wir müssen den gegenwärtigen Steinhagel überleben, denn andere haben das auch getan. Wenn wir das können, dann sind wir das Überleben wert. Es war nicht falsch von mir, der erste und Beste sein zu wollen, aber es war falsch, der einzige sein zu wollen. Das Dumme mit euch Anthropologen ist, bei allem Geschwätz über kulturellen Relativismus, daß ihr durch die Evolution selbst auf eine höhere Warte gehoben werdet und auf alle älteren Kulturen herunterblicken könnt. Nun wird man eben eine Weile auf uns herunterblicken, auch auf unsere Anthropologen. Ich vermute, das hat Sie härter getroffen, als Sie zuzugeben bereit sind, da es zudem um Ihr Spezialgebiet geht. Lernen Sie etwas daraus, mehr will ich nicht sagen. Wenigstens Bescheidenheit. Wir stehen an der Schwelle einer neuen Renaissance, wenn ich die Zeichen richtig deute. Aber eines Tages wird der Steinhagel aufhören, dann können wir mit dem Wiederaufbau beginnen. Wir werden wieder Gelegenheit bekommen, uns auf uns selbst zu besinnen. Wer wird uns Gesellschaft leisten, wenn dieser Tag gekommen ist?“

Er schwieg. Dann: „Sie sind gekommen, um bei mir Rat zu suchen“, sagte er. „Ich habe Ihnen vielleicht mehr erzählt, als Sie hören wollten. Aber Sie waren mir schon immer ein guter Freund und Kamerad. Daher trinke ich nun auf Sie und auf die Zeit, die an mir vorübergegangen ist. Klettern Sie weiter. Mehr sage ich nicht mehr. Klettern Sie immer weiter. Immer ein bißchen höher.“

Ich genehmigte mir noch einen Schluck. Danach starrte ich hinüber zum Nachbargebäude. Ich zündete mir eine Zigarette an.

„Warum betrachten wir die Uhr?“ fragte ich.

„Wegen des mitternächtlichen Läutens. Es wird jeden Moment soweit sein, denke ich.“

„Die Moral präsentiert sich sehr drastisch. Außerdem ist das Timing perfekt.“

Er kicherte.

„Ich habe nichts geplant, Fred“, versicherte er. „Zudem habe ich Ihnen meine Moral bereits mitgeteilt. Ich möchte das Schauspiel einfach nur genießen. Auch die Dinge an sich können interessant sein.“

„Stimmt. Tut mir leid. Vielen Dank auch.“

„Es ist soweit“, rief er.

Zu beiden Seiten der Uhr öffneten sich Kläppchen. Aus einem kam ein geharnischter Ritter heraus, aus dem anderen ein buckliger Narr. Der eine hatte ein Schwert, der andere einen Stab bei sich. Sie gingen aufeinander zu, der Ritter stolz aufgerichtet, der Narr hinkend oder hüpfend – ich war mir nicht ganz sicher. Nachdem sie am Ende ihres Weges angekommen waren, machten sie um neunzig Grad kehrt und strebten dem Glockenstuhl zu. Dort angekommen, hob der Ritter sein Schwert und tat den ersten Schlag. Der Klang der Glocke war tief und weich. Augenblicke später schwang der Narr seinen Stab gegen die zweite. Der Ton war härter, die Lautstärke etwa gleich.

Ritter, Narr, Ritter, Narr … Die Gestalten waren uns sehr nahe, daher hörten wir die Schläge ebenso gut wie den Hall der Glocken. Narr, Ritter, Narr, Ritter … Sie beendeten den alten Tag und läuteten gleichzeitig den neuen ein. Der Narr tat den letzten Schlag.

Danach schienen sie sich einen Augenblick lang anzustarren, dann gingen sie, wie in stummer Übereinstimmung, auseinander und wieder auf ihre angestammten Türchen zu. Die Tore schlossen sich hinter ihnen, sogar die Echos erstarben.

„Leute, die nicht auf die Kathedralen klettern, versäumen die besten Shows“, sagte ich.

„Sparen Sie sich ihre verdammte Moral für später auf,“ sagte er. Dann: „Auf dich, Kassiopeia!“

„Und auf die Plejaden“, endete ich.

Bruchstücke und Fragmente. Verloren im Hilbert-Raum. Hervortretend zur Beschreibung Langsamer Symphonien & der Architektur der beharrlichen Passion …

Er betrachtet die See, wie er sie noch nie zuvor gesehen hat, auf der Spitze des hohen Turms von Cheslerei in Ardel, am Ufer des Meeres mit dem kryptischen Namen. Irgendwo sammelt Paul Byler Kunstgegenstände ferner Planeten, mit denen er sich ausgiebig befaßt. Ira Enterprises, eine Gesellschaft, deren Direktor Albert Cassidy ist, steht im Begriff, Filialen auf vierzehn Planeten zu eröffnen. Ein Buch mit dem Titel The Retching of the Spirit, von einem unbekannten, Traven vergleichbaren Autor, in dem ein Mädchen, ein Zwerg und ein Esel die Hauptrollen spielen, hat gerade Bestsellerstatus erreicht. La Gioconda verbindet auch weiterhin Kritik mit einer gesunden Portion Humor und traditioneller Scharfzüngigkeit. Dennis Wexroth liegt mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus, die Folge eines Sturzes bei dem Versuch, die Mensa zu besteigen.

An diese und viele andere Dinge denkt er, während er den nächtlichen Himmel betrachtet. Er resümiert seine Vergangenheit.

Charv hatte gesagt: „Du rauchst zuviel, weißt du. Vielleicht kannst du dir das bei dieser Reise abgewöhnen oder es wenigstens eindämmen. Wie auch immer, ich wünsche dir viel Spaß. Denn nur durch Spaß und ehrliche Arbeit dreht sich die Welt.“

Nadler hatte ihm die Hand geschüttelt, gelächelt und gesagt: „Ich weiß, Sie werden immer eine Stütze des Korps sein, Doktor Cassidy. Verlassen Sie sich im Zweifelsfall auf unsere ehrwürdigen Traditionen. Vergessen Sie vor allem nie, was Sie repräsentieren.“

Merimee hatte gewinkt und gesagt: „Wir eröffnen eine ganze Freudenhauskette für galaxisreisende Erdenmenschen und abenteuerlustige Außerirdische. Wird nicht mehr lange dauern. Solange müssen wir eben mit Kultur und Philosophie vorliebnehmen. Und sollten Sie je in Schwierigkeiten kommen, vergessen Sie nicht meine Telefonnummer.“

„Fred, mein Junge“, hatte sein Onkel gesagt, seinen schwarzen Mantel beiseite geschlagen, um ihm auf die Schulter klopfen zu können, „dies ist ein großer Tag für die Cassidys! Ich wußte schon immer, daß dir dein Schicksal irgendwo zwischen den Sternen winkt. Das Zweite Gesicht, weißt du. Viel Glück – hier, ich gebe dir noch eine Ausgabe von Thomas Monis mit auf den Weg. Ich werde über unser Büro im Vibesper-System mit dir in Verbindung bleiben und später vielleicht Ragma schicken. Das Geld für deine Ausbildung hat sich wirklich gelohnt, mein Junge!“

Der Zwischenfall damals im Bus tut mir leid, Fred. Ich wollte nur herausfinden, wie dein Körper funktioniert, falls ich einige Reparaturen durchzuführen hätte. Ich war gehandicapt durch die Inversionsbarriere.

„Das habe ich mir gedacht – später.“

Diese Welt ist ein interessanter Ort, Fred. Wir sind erst einen Tag hier, aber ich kann bereits jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, daß wir einige aufregende Abenteuer erleben werden.

„Was für eine Befriedigung verschafft dir das alles, Speicher?“

Ich bin eine Aufzeichungs- und Analysiereinrichtung. Der beste Vergleich, der mir einfällt, ist der mit dem Touristen und seiner Kamera. In dem Augenblick, wo beide zusammenarbeiten, da sind ihre Empfindungen vielleicht mit meinen vergleichbar.

„Es ist bestimmt schön, seine eigenen Gefühle so gut zu kennen. Ich glaube, das wird mir nie gelingen.“

Er zündet sich eine Zigarette an. Er gestikuliert.

„Nun, war es die Reise wert?“ fragt er.

Du kennst die Antwort bereits.

„Ja. Ich denke auch.“

Die Leute, die hier hochkletterten und sämtliche Höhlen und Steine dekorierten, hatten recht, denkt er. Ja, das hatten sie.

Ich bin nicht sicher, warum er zu diesem Schluß kommt. Oh ja, ich kenne ihn natürlich sehr gut. Aber ich bezweifle, ob ich ihn jemals durch und durch kennen werde. Ich bin eine Aufzeichnung …



Загрузка...