KAPITEL VIERUNDZWANZIG DIE FAUST GOTTES

Das Land wurde trocken und die Luft dünn. Die Faust Gottes schien vor ihnen zu fliehen. Die Früchte waren ausgegangen, und der Fleischvorrat schwand dahin. Sie befanden sich auf dem kahlen Hang, der zur Faust Gottes selbst hinaufführte, eine Wüste, die nach Louis Wus Schätzung größer war als die gesamte Erdoberfläche.

Wind pfiff und rauschte um die Ecken und in den Nischen der Unwahrscheinlich. Inzwischen befanden sie sich ziemlich genau spinwärts vom Riesenberg. Der Bogen leuchtete blau und scharf umrandet, und die Sterne waren gleißend hell funkelnde Punkte am Himmel.

Der-zu-den-Tieren-spricht sah durch das große Panoramafenster nach oben. »Louis, können Sie von hier aus das galaktische Zentrum sehen?«

»Wozu? Wir wissen doch, wo wir sind.«

»Machen Sie es trotzdem.«

Louis hatte in den Monaten unter freiem Himmel vorsichtig ein paar verzerrte Sternbilder zu identifizieren versucht. »Dort, glaube ich. Hinter dem Bogen.«

»Genau. Das galaktische Zentrum liegt in der Ebene der Ringwelt.«

»Das sagte ich bereits.«

»Erinnern Sie sich, daß das Material, aus dem das Ringweltfundament besteht, Neutrinos aufhält? Wahrscheinlich hält es auch andere subatomare Partikel auf.« Der Kzin wollte eindeutig auf etwas Bestimmtes hinaus.

»… das ist richtig. Die Ringwelt ist immun gegen die Explosion des Zentrums! Wann haben Sie denn das herausgefunden?«

»Gerade eben erst. Ich ahnte schon seit einiger Zeit, wo das galaktische Zentrum liegt.«

»Es wird einiges an Streustrahlung geben. Schwere Strahlenbelastung entlang dem Randwall.«

»Na und? Das Glück der Teela Brown würde sie weit wegführen, bevor die Wellenfront ankommt.«

»Zwanzigtausend Jahre…« Louis erschrak. »Finagles strahlendes Lachen! Wie kann man in derartigen Zeiträumen denken?«

»Krankheit und Tod sind stets Pech, Louis. Nach dem, was Sie glauben, müßte Teela Brown ewig leben.«

»Aber… aber… Sie haben recht. Teela Brown denkt nicht in diesen Bahnen. Es ist ihr Glück, das uns alle wie Marionetten umherschubst…«


Nessus war inzwischen seit zwei Monaten ein starrer Leichnam bei Zimmertemperatur. Er verweste nicht. Die Kontrollampen auf seinem Medikit blieben an, und hin und wieder erloschen einige, und andere flackerten auf. Es war das einzige Lebenszeichen von Nessus.

Minutenlang starrte Louis auf den Puppenspieler. Plötzlich hatte er einen Gedanken. »Puppenspieler«, sagte er leise.

»Louis?«

»Ich frage mich, ob die Puppenspieler ihren Namen nicht deswegen haben, weil sie mit allen Spezies ringsum spielen. Sie haben Kzinti und Menschen wie Marionetten behandelt, daran besteht nicht der geringste Zweifel.«

»Aber Teelas Glück hat Nessus zu seiner Marionette gemacht.«

»Wir alle haben auf die eine oder andere Weise Gott gespielt«, entgegnete Louis. Er nickte Prill zu, die ungefähr jedes dritte Wort verstand. »Prill und Sie und ich. Wie hat es sich angefühlt, Sprecher? Waren Sie ein guter oder ein schlechter Gott?«

»Woher soll ich das wissen? Es war nicht meine eigene Spezies, obwohl ich die Menschen ausgiebig studiert habe. Sie werden sich erinnern, daß ich einen Krieg verhindert habe. Ich machte beiden Seiten deutlich, daß sie nur verlieren konnten. Es ist erst drei Wochen her.«

»Ja. Meine Idee.«

»Selbstverständlich.«

»Jetzt werden Sie erneut Gott spielen müssen«, sagte Louis. »Bei den Kzinti.«

»Ich verstehe nicht.«

»Nessus und die andern Puppenspieler haben Menschen und Kzinti gezüchtet wie Tiere«, fuhr Louis fort. »Sie riefen bewußt eine Situation herbei, in der friedliebende Kzinti einen evolutionären Vorteil hatten. Richtig?«

»Ja.«

»Was wird geschehen, wenn das Patriarchat davon erfährt?«

»Krieg«, sagte der Kzin. »Eine schwer ausgerüstete Flotte würde nach einer Fahrt von zwei Jahren die Weltenflotte der Puppenspieler angreifen. Vielleicht würde sich die Menschheit sogar anschließen. Sicher haben die Puppenspieler Ihre Spezies genausosehr beleidigt.«

»Das haben sie. Und dann?«

»Dann würden die Blätteresser meine Spezies bis zum letzten Kätzchen eliminieren. Louis, ich habe nicht vor, irgend jemandem irgend etwas über Sternsäerlockvögel und Zuchtexperimente der Puppenspieler zu erzählen. Darf ich Sie bitten, ebenfalls Stillschweigen zu bewahren?«

»Genau.«

»Ist es das, was Sie meinten? Ich müsse erneut Gott spielen, bei meiner eigenen Spezies?«

»Das, und noch etwas«, sagte Louis. »Die Long Shot. Wollen Sie sie immer noch stehlen?«

»Vielleicht«, erwiderte der Kzin.

»Das schaffen Sie nicht«, sagte Louis. »Angenommen, Sie schaffen es doch. Was dann?«

»Dann hätte das Patriarchat den Quantum II Hyperraumantrieb.«

»Und?«

Prill schien zu bemerken, daß etwas Entscheidendes im Gange war. Sie beobachtete die beiden, als sei sie bereit, jederzeit dazwischen zu gehen.

»Bald schon hätten wir Kriegsschiffe, die imstande wären, ein Lichtjahr in wenig mehr als einer Minute zurückzulegen. Wir würden den Bekannten Weltraum beherrschen und jede Spezies in Reichweite versklaven.«

»Und dann?«

»Dann wäre es vorbei. Mehr wollen wir nicht, Louis.«

»Nein. Sie würden weitermachen. Mit einem Antrieb wie diesem würden Sie sich in alle Richtungen ausbreiten und jede Welt in Besitz nehmen, die Sie finden. Sie würden mehr erobern, als Sie halten könnten… und irgendwann würden Sie auf einen Gegner stoßen, der wirklich gefährlich ist. Die Weltenflotte der Puppenspieler. Eine zweite Ringwelt, aber auf der Höhe ihrer Macht. Eine neue Slaverrasse, die gerade anfängt zu expandieren. Bandersnatcher mit Händen, Grogs mit Füßen, Kdatlyno mit Waffen.«

»Schlimme Vorstellung.«

»Sie haben die Ringwelt gesehen, Sprecher. Sie haben die Weltenflotte der Puppenspieler gesehen. Es gibt ganz sicher noch mehr in dem gewaltigen Raum, der Ihnen mit dem Quantum II Hyperraumantrieb zugänglich ist.«

Der Kzin schwieg.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Louis. »Denken Sie darüber nach. Sie können die Long Shot sowieso nicht stehlen. Sie würden uns alle bei dem Versuch töten.«

Am folgenden Tag überquerte die Unwahrscheinlich einen langgestreckten, schnurgeraden Meteorkrater. Sie drehten nach Antispin, direkt auf die Faust Gottes zu.


Die gewaltige Faust Gottes war groß geworden, ohne merklich näher zu kommen. Größer als jeder Asteroid und grob kegelförmig sah sie aus wie ein ganz normaler schneebedeckter Berg, der ins Alptraumhafte angeschwollen war. Und der Alptraum ging weiter, weil die Faust Gottes noch immer schwoll.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Prill. Sie war verwirrt und aufgeregt zugleich. »Ich kenne diese Formation nicht. Warum hat man sie errichtet? Am Rand gibt es Berge, die genauso hoch, genauso dekorativ und weitaus nützlicher sind, weil sie die Luft zurückhalten.«

»Genau das dachte ich auch«, stimmte Louis Wu ihr zu. Mehr sagte er nicht.

An diesem Tag entdeckten sie eine kleine gläserne Flasche am Ende des Meteoritenkraters, dem sie seit einiger Zeit gefolgt waren.

Die Liar lag noch genauso da, wie sie sie verlassen hatten: auf dem Rücken, auf einer Oberfläche ohne jeden Reibungswiderstand. Louis verschob in Gedanken die Feier. Noch waren sie nicht wieder zu Hause.

Am Ende mußte Prill mit der Unwahrscheinlich über der Lying Bastard schweben, so daß Louis von der Landeplattform an Bord gehen konnte. Er fand Kontrollen, die beide Türen der Luftschleuse gleichzeitig öffneten. Luft strömte die ganze Zeit über aus dem Schiff, während sie Nessus an Bord schafften. Sie konnten den Kabinendruck nicht ohne Nessus verringern, und Nessus war allem Anschein nach tot.

Trotzdem verfrachteten sie ihn in den Autodoc. Die Maschine sah aus wie ein Sarg für Puppenspieler, genau angepaßt an Nessus Gestalt, und sie war sperrig. Puppenspielerchirurgen und Mechaniker hatten sie gebaut, und sie war imstande, mit allen denkbaren Verwundungen umzugehen. Aber hatten die Konstrukteure auch an eine Enthauptung gedacht?

Sie hatten. Zwei Köpfe befanden sich in der Maschine, zwei weitere mitsamt Hälsen, und genügend Organe und andere Körperteile, um mehrere vollständige Puppenspieler daraus zu machen. Wahrscheinlich aus Nessus eigenem Gewebe gezüchtet. Die Gesichter sahen jedenfalls sehr vertraut aus.

Prill kam an Bord — und landete auf dem Kopf. Selten hatte Louis jemanden so verblüfft gesehen. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht, ihr von künstlicher Schwerkraft zu erzählen. Ihr Gesicht verriet nichts, als sie wieder aufstand, doch ihre Haltung… Sie hatte vor Ehrfurcht die Sprache verloren.

In diese geisterhafte Stille ihrer Heimkehr hinein kreischte Louis Wu plötzlich auf wie eine Weiße Frau.

»Kaffee!« kreischte er. Und: »Heißes Wasser!« Er rannte in die Luxuskabine, die er mit Teela Brown geteilt hatte. Einen Augenblick später steckte er den Kopf durch die Tür und rief: »Prill!«

Prill folgte ihm.


Sie haßte Kaffee. Sie mußte glauben, Louis sei verrückt, daß er dieses bittere Zeug trank, und das sagte sie ihm auch.

Die Dusche war ein lange verlorener, heiß ersehnter Luxus, nachdem Louis ihr die Kontrollen erklärt hatte.

Die Schlafplatten brachten sie ganz aus dem Häuschen.

Der-zu-den-Tieren-spricht feierte die Heimkehr auf seine eigene Weise. Louis wußte nicht alles über die Kabine des Kzin. Was er wußte war, daß der Kzin sich mit Nahrung vollstopfte bis zum Platzen.

»Fleisch!« rief der Kzin. »Frisches Fleisch! Gott sei Dank! Ich konnte dieses alte Zeug nicht mehr sehen.«

»Was Sie gerade essen ist Synthetiknahrung.«

»Na und? Es schmeckt wie frisch erlegt.«

Am Abend zog sich Prill auf eine Couch in der Lounge zurück. Sie liebte die Schlafplatten, allerdings nicht zum Schlafen. Louis Wu schlief zum ersten Mal seit drei Monaten wieder in Schwerelosigkeit.

Er schlief zehn Stunden durch. Als er erwachte, fühlte er sich wie ein Tiger. Unter seinen Füßen flammte eine halb verdeckte Sonnenscheibe. Wieder an Bord der Unwahrscheinlich setzte er seinen Flashlaser ein, um das verdickte Ende des Schattenblendendrahts zu lösen. Als er fertig war, klebten noch immer Überreste des elektrostatisch gehärteten Kunststoffs daran.

Louis versuchte nicht, den Draht zur Lying Bastard zu tragen. Das schwarze Material war viel zu gefährlich und das nackte Ringweltfundament viel zu schlüpfrig. Louis kroch auf allen Vieren über den Boden und zog das dicke Ende hinter sich her.

Der Kzin beobachtete ihn schweigend von der Luftschleuse aus.

Louis kletterte mit Hilfe von Prills Trittleiter in die Luftschleuse, schob sich an Der-zu-den-Tieren-spricht vorbei und ging nach achtern. Der Kzin beobachtete ihn unablässig.

Der am weitesten achtern liegende Punkt des Wracks der Lying Bastard war ein Schacht von Oberschenkeldicke. Durch diesen Schacht waren Kabel zur Maschinerie auf dem großen Deltaflügel verlaufen, als die Liar noch einen Flügel und Maschinen gehabt hatte. Jetzt war der Schacht mit einer Schleusenluke versiegelt. Louis öffnete die Luke und warf das verdickte Ende des Schattenblendendrahts nach draußen.

Er ging wieder nach vorn. In regelmäßigen Abständen überprüfte er die Position des Drahts mit Hilfe eines Jinxianischen Würstchens aus dem Ausgabeschlitz der Küchenautomatik. Anschließend markierte er die Stelle mit gelber Leuchtfarbe. Als er fertig war, verlief eine Linie gelber Punkte längs durch das Schiff.

Wenn der Draht sich straffte, würde er sicher durch einen Teil der inneren Trennwände schneiden. Die gelbe Farbe ermöglichte Louis abzuschätzen, welchen Weg er dabei nehmen würde, und dadurch sicherzustellen, daß er keinen Teil des Lebenserhaltungssystems beschädigen konnte. Doch die Farbe hatte noch einen anderen Zweck. Sie würde alle warnen, sich vom Draht fernzuhalten, wenn sie nicht ihre Finger oder Schlimmeres verlieren wollten.

Louis trat aus der Luftschleuse und wartete, daß Der-zu-denTieren-spricht ihm nach draußen folgte. Dann schloß er die äußere Luke.

An dieser Stelle erkundigte sich der Kzin: »Ist das der Grund, aus dem wir zurückgekommen sind?«

»Das sage ich Ihnen in einer Minute«, entgegnete Louis. Er ging unter der General-Products-Zelle nach hinten, nahm das verdickte Ende mit beiden Händen auf und zog vorsichtig daran. Der Draht hielt.

Er legte sein Gewicht hinein. Er zog mit all seiner Kraft. Der Draht gab keinen Millimeter nach. Die Luftschleuse hielt ihn fest.

»Ich habe keine Möglichkeit, ihn einem stärkeren Belastungstest zu unterziehen. Ich wußte nicht genau, ob die Luftschleuse ihn fest genug halten würde. Ich war nicht sicher, ob der Draht nicht die General-Products-Zelle durchschneiden würde. Ich bin immer noch nicht sicher. Aber wenn Sie es wissen wollen: Ja, das ist der Grund, aus dem wir zurückgekommen sind.«

»Was machen wir als nächstes?«

»Wir öffnen die Luftschleuse wieder.« Er öffnete die Luke. »Wir lassen den Draht ungehindert durch das Schiff laufen, während wir das Ende zur Unwahrscheinlich zurücktragen und dort festzementieren.« Und sie machten genau das.

Der Draht, der die Schattenblenden untereinander verbunden hatte, zog sich unsichtbar in Richtung Steuerbord. Sie hatten ihn Tausende von Meilen hinter der Unwahrscheinlich hergeschleppt, weil es keine Möglichkeit gegeben hatte, ihn an Bord zu nehmen. Vielleicht erstreckte er sich den ganzen Weg zurück bis in die Stadt unter dem schwebenden Schloß namens Himmel, bis in das Gewirr, das wie eine schwarze Rauchwolke ausgesehen hatte und aus Millionen von Meilen Schattenblendendraht bestand.

Jetzt führte der Draht durch die Luftschleuse der Lying Bastard, durch den Rumpf, und durch den Kabelschacht mit der kleineren Schleuse wieder nach draußen, zurück zu einem Klumpen elektrisch gehärteten Kunststoffs auf der Unterseite des schwebenden Polizeigebäudes namens Unwahrscheinlich.

»So weit, so gut«, sagte Louis. »Jetzt brauche ich Prill. Nein, tanj! Ich vergaß. Prill hat keinen Druckanzug.«

»Druckanzug?«

»Wir schaffen die Unwahrscheinlich die Faust Gottes hinauf. Das Gebäude ist nicht luftdicht. Wir benötigen Druckanzüge, und Prill hat keinen. Wir müssen sie hier lassen.«

»Die Faust Gottes hinauf«, wiederholte der Kzin. »Louis, ein Flugrad allein hat nicht genügend Kraft, um die Lying Bastard auf diesen Berg zu schleppen. Außerdem belasten Sie den Thruster zusätzlich mit der Masse dieses Gebäudes.«

»Nein, nein, nein. Ich beabsichtige nicht, die Liar zu schleppen. Ich will nichts weiter, als den Schattenblendendraht hinter uns herziehen. Er gleitet ungehindert durch die Lying Bastard, bis ich Prill ein Zeichen gebe, die Luftschleuse zu schließen.«

Der-zu-den-Tieren-spricht dachte nach. »Es könnte funktionieren, Louis. Falls das Flugrad des Puppenspielers nicht genügend Kraft hat, können wir Brocken von der Unwahrscheinlich wegschneiden, um sie leichter zu machen. Aber warum das alles? Was erwarten Sie auf dem Gipfel zu finden?«

»Ich könnte es Ihnen in einem einzigen Wort erklären, und dann würden Sie mich auslachen. Sprecher-zu-den-Tieren, ich schwöre Ihnen, daß Sie es nie erfahren werden, falls ich mich irre.«

Ich muß Prill sagen, was sie zu tun hat, dachte er. Und den Kabelschacht der Lying Bastard mit Kunststoff versiegeln. Er wird den Draht nicht am Durchgleiten hindern, aber die Lying Bastard verliert keine Luft mehr.

Die Unwahrscheinlich war kein Raumschiff. Ihre Motoren erzeugten elektromagnetische Felder, die sie vom Ringweltfundament abstießen. Der Ringweltboden stieg zur Faust Gottes hin an, denn die Faust Gottes war hohl.

Selbstverständlich drohte die Gefahr, daß die Unwahrscheinlich kippte und gegen den Schub aus dem Flugrad des Puppenspielers wieder nach unten glitt.

Für dieses Problem hatte der Kzin bereits eine Lösung gefunden.

Sie stiegen in Druckanzüge, bevor ihre Reise überhaupt richtig angefangen hatte. Louis saugte Brei durch einen Schlauch und dachte sehnsüchtig an ein gegrilltes Steak. Der-zu-den-Tieren-spricht saugte synthetisches Blut und dachte wehmütig an seine eigene Nahrung.

Sie benötigten die Küche nicht. Also schnitten sie diesen Teil aus der Unwahrscheinlich heraus und vergrößerten so die Neigung des Schiffs beträchtlich.

Sie schnitten die Klimaanlage und die Polizeiquartiere weg. Die Generatoren, die ihre Flugräder ruiniert hatten, wurden erst entfernt, nachdem sie sicher waren, die Schwebemotoren nicht zu beschädigen. Wände fielen. Einige Wände wurden noch gebraucht, um Schatten zu werfen. Im direkten Sonnenlicht wurde das Abführen von Wärme zu einem Problem.

Tag um Tag näherten sie sich dem Krater auf dem Gipfel der Faust Gottes, einem Krater, der groß genug war, um die meisten Asteroiden zu verschlucken. Der Kraterrand sah anders aus als alles, was Louis je gesehen hatte. Scharfgezackte Ränder wie Speerspitzen aus Obsidian bildeten einen ausgefransten Ring. Speerspitzen, die selbst so groß waren wie Berge… Sie entdeckten eine Lücke zwischen zwei dieser Spitzen… dort konnten sie hindurch.

»Ich nehme an, Sie wollen in den Krater hinein«, sagte Der-zuden-Tieren-spricht.

»Das ist richtig.«

»Dann ist es gut, daß Sie den Paß entdeckt haben. Der Abhang darüber ist zu steil für unseren Antrieb. Wir sind bald da.«

Der Kzin steuerte die Unwahrscheinlich, indem er den Schub von Nessus Flugrad veränderte. Das war notwendig geworden, seit sie den Stabilisierungsmechanismus in einem letzten Versuch, das Gewicht der Unwahrscheinlich zu reduzieren, abgeschnitten hatten. Louis hatte sich an das bizarre Aussehen des Kzin gewöhnt; die fünf transparenten konzentrischen Ballons seines Druckanzugs, den Helm, der mit seinem Labyrinth von Zungenkontrollen wie ein umgestülptes Goldfischglas auf seinem Kopf saß und das halbe Gesicht verbarg, und den gewaltigen Tornister auf dem Rücken.

»Ich rufe Prill«, sagte Louis in den Interkom. »Halrloprillalar, bitte melden. Bist du da?«

»Ich bin da.«

»Halte dich bereit. Wir sind in zwanzig Minuten durch.«

»Gut. Es hat lange genug gedauert.«

Der Bogen schien über ihnen zu brennen. Tausend Meilen über der Ringwelt konnte man sehen, wie der Bogen in die Welt selbst überging, in die beiden Randwälle und das flache Land dazwischen. Wie die ersten Menschen im Weltraum, die vor einem Jahrtausend auf die Erde hinunter gesehen und bei Jahves mächtigem Hammer! festgestellt hatten, daß sie tatsächlich eine Kugel war.

»Wir konnten es schließlich nicht wissen«, sagte Louis Wu leise. Der Kzin blickte von seiner Arbeit auf.

Louis bemerkte den seltsamen Blick nicht, den Der-zu-den-Tierenspricht ihm zuwarf. »Es hätte uns so viel Ärger erspart. Wir hätten gleich umkehren können, nachdem wir den Schattenblendendraht gefunden hatten. Tanj, wir hätten die Lying Bastard geradewegs hinter unseren Flugrädern die Faust Gottes hinauf ziehen können! Aber dann hätte Teela Brown nicht ihren Sucher getroffen.«

»Wieder einmal das Glück der Teela Brown?«

»Sicher.« Louis schüttelte sich. »Habe ich Selbstgespräche geführt?«

»Ich habe zugehört.«

»Wir hätten es wissen müssen«, sagte Louis. Die Lücke zwischen den gigantischen Speerspitzen war sehr nah. Louis verspürte das Bedürfnis zu reden. »Die Baumeister hätten niemals hier einen Berg wie diesen errichtet. Sie haben über eine Milliarde Meilen tausend Meilen hoher Berge, wenn Sie an die beiden Randwälle denken.«

»Aber die Faust Gottes ist real, Louis.«

»Nein, nein, nein. Sie ist nur eine Schale. Sehen Sie nach unten. Was erkennen Sie?«

»Ringweltfundament.«

»Als wir es zuerst sahen, dachten wir, es sei schmutziges Eis. Schmutziges Eis, im Vakuum! Vergessen wir das einmal. Erinnern Sie sich an die Nacht, als Sie die riesige Ringweltkarte erforschten? Sie konnten die Faust Gottes nicht entdecken. Warum nicht?«

Der Kzin gab keine Antwort.

»Sie war nicht da, deswegen! Sie existierte noch gar nicht, als die Karte angefertigt wurde. Prill, hörst du zu?«

»Sicher. Warum?«

»Gut. Schließ jetzt die Luftschleuse. Ich wiederhole: Mach die Luftschleuse zu. Paß auf, daß du dich nicht schneidest.«

»Mein Volk hat diesen Draht erfunden, Louis.« Ihre Stimme war durchsetzt von Statik. Sie war eine Minute weg, dann: »Beide Luken sind jetzt geschlossen.«

Die Unwahrscheinlich glitt über den Paß zwischen den beiden riesigen Bergzacken. Louis wartete gespannt; unterbewußt rechnete er mit einem Canyon oder einer Schlucht zwischen den Gipfeln.

»Louis, was erwarten Sie im Krater der Faust Gottes vorzufinden?«

»Sterne«, erwiderte Louis Wu.

Der Kzin war ebenso aufgeregt wie Louis. »Verspotten Sie mich nicht! Allen Ernstes…«

… und sie waren hindurch. Es gab keine Schlucht und keinen Canyon. Nur eine zerbrochene Eierschale aus Ringweltfundament, überdehnt von schier unvorstellbaren Kräften, bis sie nur noch wenige Fuß dick gewesen war. Dahinter: Der Krater der Faust Gottes.

Sie fielen. Der Krater war voller Sterne.


Louis Wu besaß eine exzellente Vorstellungskraft. Vor seinem geistigen Auge spielte sich ab, was sich zugetragen haben mußte.

Er sah das Ringweltsystem. Es war steril, sorgfältig von allen Himmelskörpern befreit, leer von Schiffen leer bis auf eine G2Sonne, einen Kranz von Schattenblenden und die Ringwelt.

Er sah, wie ein fremder Körper in der Nähe vorüberzog. Zu nah. Louis beobachtete die hyperbolische Bahn aus dem interstellaren Raum, und er sah, daß etwas im Weg war… die Unterseite der Ringwelt.

Vor seinem geistigen Auge hatte der fremde Himmelskörper die Größe des irdischen Mondes.

Er mußte in den ersten Sekunden in ionisiertes Plasma übergegangen sein. Ein Meteorit kann durch Abschmelzen Wärme abgeben. Durch das Verdampfen der eigenen Haut. Doch hier konnte das ionisierte Gas nicht expandieren. Es hatte sich einen Weg in die Unterseite der Ringwelt gebahnt und eine tiefe Tasche erzeugt. Die Innenseite hatte sich nach oben gewölbt, und die sorgfältig geplante Ökologie einer Fläche, die größer war als die Erde, war zum Teufel gegangen. Die riesige Wüste… und die Faust Gottes selbst, die mehr als tausend Meilen in die Höhe reichte, bevor das unglaublich reißfeste Material des Ringweltfundaments aufgerissen war, um den Feuerball durchzulassen.

Die Faust Gottes? Tanj, genau das war sie. Louis hatte überall deutliche Spuren sehen können. Auf der gesamten Ringwelt mußte es zu sehen gewesen sein: Ein Feuerball so groß wie der irdische Mond, der durch den Boden brach wie die Faust eines starken Mannes durch eine Obstkiste aus dünnem Holz.

Die Eingeborenen mußten dankbar sein, daß das Fundament sich so weit verformt hatte. Das Loch war groß genug, um die gesamte Atmosphäre entweichen zu lassen. Doch es lag tausend Meilen zu hoch…


Der Krater war voller Sterne.

Es gab keine Gravitation; es gab überhaupt nichts mehr, gegen das die Schwebemotoren der Unwahrscheinlich arbeiten konnten. Louis hatte nicht so weit vorausgedacht.

»Halten Sie sich an irgendwas fest!« bellte er. »Wenn Sie durch das Fenster fallen, gibt es keine Rettung!«

»Sicher nicht«, erwiderte der Kzin. Er klammerte sich an eine nackte Metallstrebe. Louis hielt sich an einer anderen fest.

»Na? Hatte ich recht? Sterne!«

»Ja, Louis. Aber woher wußten Sie…?«

Gravitation wurde spürbar, ein stetiges, kräftiges Zerren an der Unwahrscheinlich. Die Überreste des einstigen Gebäudes neigten sich zur Seite, und das Fenster war plötzlich oben.

»Es hält!« sagte Louis heftig. Er wand sich auf die rechte, obere Seite der Strebe. »Das sollte es auch besser! Ich hoffe nur, daß Prill sich angeschnallt hat; es wird ein ungemütlicher Ritt. Am Ende eines zehntausend Meilen langen Stückes Schattenblendendraht die Faust Gottes hinauf! Hinauf und über den Rand und…«

Sie blickten auf die Unterseite der Ringwelt. Eine unendliche, modellierte Fläche. In der Mitte ein gewaltiger konischer Einschlagtrichter, dessen Boden hell schimmerte. Während die Unwahrscheinlich wie ein Bleigewicht unter die Ringwelt sank, blitzte unvermittelt die Sonne am Boden des Trichters auf.

»… hinaus und hinunter! Wir sind mit der Lying Bastard verbunden, und die Lying Bastard ist unterwegs, um mit siebenhundert Meilen in der Sekunde von hier zu verschwinden. Reichlich Zeit für den Draht, uns zueinander zu ziehen, und wenn das nicht funktioniert, haben wir immer noch den Thruster aus Nessus Flugrad.

Woher ich das alles wußte? Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt. Habe ich nicht die Landschaft erwähnt?«

»Nein.«

»Das war es also. All die vielen Gipfel aus nacktem Fundament, die durch die Felsen stechen. Der Niedergang der Zivilisation vor kaum fünfzehnhundert Jahren! Der Grund dafür sind die beiden Asteroidenlöcher. Sie veränderten die Windströmungen. Ist Ihnen aufgefallen, daß wir den größten Teil unserer Expedition zwischen den beiden Löchern zugebracht haben?«

»Eine sehr indirekte Argumentationsweise, Louis.«

»Aber es funktionierte!«

»Ja. Ich werde einen weiteren Sonnenuntergang erleben«, sagte der Kzin sehr leise.

Louis spürte eine elektrisierendes Kribbeln. »Sie auch?« fragte er.

»Ja. Hin und wieder beobachte ich den Sonnenuntergang. Lassen Sie uns über die Long Shot reden.«

»… was sagten Sie?«

»Wenn ich die Long Shot von Ihnen stehlen könnte, würde meine Rasse über den Bekannten Weltraum herrschen, bis eine stärkere Spezies am Rand unserer Einflußsphäre auftaucht. Wir hätten alles vergessen, was wir so schmerzhaft lernen mußten. Ich rede von Kooperation mit fremden Spezies.«

»Das stimmt«, sagte Louis im Dunkeln. Der Zug des Schattenblendendrahts war jetzt deutlich spürbar. Die Lying Bastard war auf dem zehn Grad geneigten Hang der Faust Gottes ein gutes Stück weit gekommen.

»Vielleicht kommen wir gar nicht so weit, bei dem Glück so zahlreicher Teela Browns, die die Erde bevölkern. Trotzdem führt mich meine Ehre in Versuchung«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Wie kann ich meine Rasse vom ehrenvollen Pfad des Krieges wegführen? Die Götter der Kzinti würden mich verstoßen.«

»Ich habe Sie davor gewarnt, Gott zu spielen. Es ist nicht immer angenehm.«

»Glücklicherweise steht das gar nicht erst zur Debatte. Sie haben selbst gesagt, daß ich die Long Shot zerstören würde, wenn ich sie zu entführen versuche. Das Risiko ist zu groß. Wir werden den Hyperraumantrieb dringend benötigen, um der Wellenfront von der Explosion des galaktischen Zentrums zu entfliehen.«

»Da haben Sie allerdings recht«, stimmte Louis zu. Der Kzin würde in den nächsten Gravitationstrichter fallen, falls er versuchte, die Long Shot in den Hyperraum zu bringen. Louis wußte Bescheid. Trotzdem fragte er: »Einmal angenommen, ich hätte gelogen?«

»Ich kann nicht darauf hoffen, ein Wesen von Ihrer Intelligenz zu überlisten.«

Erneut blitzte die Sonne im Krater der Faust Gottes auf.

»Denken Sie nur, wie lang wir für den Rückweg gebraucht haben«, sagte Louis. »Einhundertfünfzigtausend Meilen in fünf Tagen. Für die gleiche Entfernung zurück haben wir über zwei Monate gebraucht. Ein Siebtel der Breite der Ringwelt. Und Teela und Sucher wollen den gesamten Umfang bereisen.«

»Dummköpfe.«

»Wir haben den Randwall kein einziges Mal aus der Nähe gesehen. Die beiden werden ihn sehen. Ich frage mich, was wir sonst noch alles versäumt haben. Falls die Ramjetschiffe der Baumeister bis zur Erde gekommen sind, haben sie vielleicht ein paar Blauwale und Pottwale eingesammelt, bevor die Menschen sie ausrotten konnten. Wir waren kein einziges Mal auf dem Ozean.«

»Die Menschen, denen sie begegnen werden. Niemand weiß, wie sich Kulturen entwickeln. Und der Raum… die Ringwelt ist so gewaltig…«

»Wir kommen nicht wieder zurück, Louis…«

»Nein. Natürlich nicht.«

»… jedenfalls nicht, bevor wir nicht unser Geheimnis bei unseren beiden Völkern abgeliefert haben. Und wieder ein funktionsfähiges Schiff besitzen.«


ENDE
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