KAPITEL ELF HIMMELSBOGEN

Vier Flugräder stiegen in einer Rautenformation in das schwindende Tageslicht. Das nackte Ringweltfundament blieb unter ihnen zurück.

Nessus hatte ihnen erklärt, wie man die Räder miteinander koppelte. Drei der Flugräder waren jetzt so programmiert, daß sie alles nachvollzogen, was Louis mit seinem vierten machte. Louis steuerte für alle. Er saß in seinem Kontursitz, der einem Massagestuhl ohne Massagemechanik ähnelte, und steuerte mit Fußpedalen und einem Joystick.

Über seinem Instrumentenbrett schwebten vier durchscheinende Miniaturköpfe wie Halluzinationen. Eine schöne Sirene mit rabenschwarzem Haar, ein wilder Quasi-Tiger mit Augen, die zu intelligent aussahen, und zwei irgendwie lächerlich wirkende einäugige Pythons. Die Konferenzschaltung funktionierte einwandfrei, und das Resultat erzeugte einen Eindruck wie im Delirium tremens.

Während die Flugräder sich über den schwarzen Lavawall erhoben, beobachtete Louis den Gesichtsausdruck der anderen.

Teela reagierte zuerst. Ihre Augen suchten die mittlere Umgebung ab, dann hob sie den Blick — und fand Unendlichkeit, wo sie sonst immer nur einen Horizont gesehen hatte. Ihre Augen wurden groß und rund. »Oh, Louis!«

»Was für ein außergewöhnlicher Berg!« sagte Der-zu-den-Tierenspricht.

Nessus sagte gar nichts. Seine Köpfe hüpften auf und ab und kreisten nervös.

Die Dunkelheit brach rasch herein. Ein schwarzer Schatten glitt plötzlich über den riesigen Berg. Sekunden später war er nicht mehr zu sehen. Die Sonne war jetzt nur noch ein feiner goldener Streifen, überdeckt von Schwärze. Und dann nahm etwas im dunkler werdenden Himmel Gestalt an.

Ein gigantischer Bogen.

Seine Umrisse wurden schnell deutlicher. Während Erde und Himmel in Dunkelheit versanken, wurde die volle Pracht der Ringwelt am nächtlichen Himmel sichtbar.

Die Ringwelt erhob sich in einem gigantischen Bogen über sich selbst. Streifen aus Babyblau mit weißen Wolkenfetzen wechselten sich mit schmaleren Streifen aus fast schwarzem Dunkelblau ab. An seiner Basis war der Bogen unglaublich breit. Mit zunehmender Höhe wurde er rasch schmaler. In der Nähe des Zenits war er kaum noch mehr als eine durchbrochene Linie aus leuchtendem Blauweiß. Im Zenit selbst war der Bogen vom ansonsten unsichtbaren Ring der Schattenblenden durchbrochen.

Die Flugräder stiegen schnell und lautlos auf. Die Schallfalte am Bug arbeitete äußerst wirkungsvoll. Louis hörte keinerlei Windgeräusche von draußen. Um so mehr erschrak er, als ein Schrei wie orchestrale Musik in seine kleine private Sphäre eindrang.

Es klang wie eine explodierende Dampforgel.

Es war schmerzhaft laut. Louis hielt sich die Ohren zu. Er war so benommen, daß er nicht gleich begriff, was vorging. Er betätigte die Interkomkontrolle, und Nessus Bild verblaßte wie ein Gespenst in der Dämmerung. Der Schrei (ein Kirchenchor, der bei lebendigem Leib verbrannte?) wurde beträchtlich leiser. Trotzdem konnte Louis ihn noch immer durch die Interkoms von Teela und Der-zu-denTieren-spricht hören.

»Warum schreit er denn so?« rief Teela erstaunt.

»Panik. Es wird eine Weile dauern, bis er sich daran gewöhnt hat.«

»Woran gewöhnt?«

»Ich übernehme das Kommando!« polterte Der-zu-den-Tierenspricht. »Der Blätteresser ist nicht mehr in der Lage, irgendwelche Entscheidungen zu treffen! Ich erkläre diese Mission zu einem militärischen Unternehmen und übernehme hiermit das Kommando!«

Einen Moment lang dachte Louis über die einzige Alternative nach: das Kommando für sich selbst zu beanspruchen. Aber wer mochte sich schon mit einem Kzin streiten? Außerdem gab der Kzin wahrscheinlich einen besseren Anführer ab.

Inzwischen waren die Flugräder eine halbe Meile hoch. Himmel und Erde waren größtenteils schwarz; doch auf der schwarzen Landschaft lagen noch schwärzere Schatten, die ihr Form verliehen, wenn schon keine Farben. Der Himmel war von Sternen übersät und wurde vom egozerschmetternden Bogen der Ringwelt dominiert.

Seltsam genug, daß Louis bei diesem Anblick an Dantes Göttliche Komödie denken mußte. Dantes Universum war ein komplexer Artefakt gewesen, mit den Seelen von Menschen und Engeln als präzisen, maschinenartigen Bestandteilen der riesigen Konstruktion. Die Ringwelt war unübersehbar ein Artefakt, ein konstruiertes Ding. Man konnte es nicht vergessen, nicht für einen einzigen Augenblick, denn der Beweis erhob sich über ihnen, blau und gescheckt und riesig, von einer Stelle hinter der Unendlichkeit bis hinauf in die nächste Unendlichkeit.

Kein Wunder, daß Nessus nicht imstande gewesen war, diesen Anblick zu ertragen. Er hatte zuviel Angst — und dachte zu realistisch. Vielleicht bemerkte er die Schönheit, vielleicht auch nicht. Was er jedoch ganz bestimmt nicht vergaß: daß sie auf einem Artefakten gestrandet waren, der größer war als alle Welten des früheren Puppenspieler-Imperiums zusammen.

»Ich glaube, ich kann die Randwälle sehen!« fauchte der Kzin.

Louis riß sich vom Anblick des Bogens los. Er sah nach Steuerbord und Backbord, und sein Mut sank.

Zur Linken (er blickte am Graben entlang, den die Landung der Lying Bastard hinterlassen hatte, also entsprach links Backbord) zeichnete sich der Randwall als eine kaum wahrnehmbare blauschwarze Linie auf blauschwarzem Hintergrund ab. Louis konnte nicht ausmachen, wie hoch er war. Die Basis konnte man nur erahnen. Er sah nur den obersten Rand, und während Louis noch hinstarrte, verschwand er. Die Linie war dort verlaufen, wo der Horizont sein mochte; genausogut hätte sie die Basis anstatt die Spitze von irgend etwas sein können.

Rechts oder in Richtung Steuerbord sah der andere Randwall fast genauso aus. Die gleiche Höhe, der gleiche Anblick, die gleiche Tendenz der dünnen Linie zu verblassen, wenn man länger hinsah.

Anscheinend war die Liar ziemlich genau in der Mitte des Rings abgestürzt. Die Randwälle schienen gleich weit entfernt… was bedeutete, daß sie beinahe eine halbe Million Meilen entfernt waren.

Louis schluckte. »Sprecher-zu-den-Tieren, was meinen Sie?«

»Meiner Meinung nach ist der Wall in Richtung Backbord ein klein wenig höher.«

»Okay.« Louis steuerte nach links. Die anderen Flugräder folgten automatisch.

Louis aktivierte den Interkom, um einen Blick auf Nessus zu werfen. Der Puppenspieler umklammerte den Sattel mit allen drei Beinen. Die beiden Köpfe waren zwischen Sattel und Körper versteckt. Er flog blind durch die Nacht.

»Sind Sie sicher, Sprecher?« fragte Teela.

»Selbstverständlich«, erwiderte der Kzin. »Der Wall in Richtung Backbord ist sichtbar höher!«

Louis lächelte insgeheim. Er war zwar nie militärisch ausgebildet worden, aber er wußte, was Krieg bedeutete. Er war am Boden überrascht worden, als auf Wunderland eine Revolution ausgebrochen war, und er hatte drei Monate als Guerilla gekämpft, bevor er sich bis zu einem Schiff durchschlagen konnte.

Ein Merkmal eines guten Offiziers war, so erinnerte sich Louis, daß er rasche Entscheidungen treffen konnte. Wenn sie dann zufällig auch noch richtig waren, um so besser…


Sie flogen über schwarzes Land in Richtung Backbord. Der Ring über ihnen leuchtete viel heller als der irdische Mond, doch Mondlicht reicht nicht aus, um aus der Luft Einzelheiten einer Landschaft zu erkennen. Die Meteorrinne, die die Lying Bastard in die Oberfläche der Ringwelt gerissen hatte, war ein silberner Draht hinter ihnen. Irgendwann verschwand sie ganz in der Dunkelheit.

Die Lufträder beschleunigten stetig und lautlos. Knapp unterhalb der Schallgeschwindigkeit durchdrang ein Rauschen die Schallfalte. Beim Durchdringen der Schallmauer erreichte es seine maximale Lautstärke, dann erstarb es jäh wieder. Die Schallfalte veränderte ihre Form, und erneut herrschte Stille.

Kurz darauf erreichten die Räder Reisegeschwindigkeit. Louis entspannte sich in seinem Sattel. Er schätzte, daß er mehr als einen Monat in diesem Sattel verbringen würde, und er tat gut daran, sich rechtzeitig daran zu gewöhnen.

Er fing an (weil er der einzige war, der tatsächlich flog, und weil er aus diesem Grund nicht einschlafen durfte), sein Flugrad durchzutesten.

Die Hygieneeinrichtung war einfach, bequem und leicht zu bedienen. Aber würdelos.

Er versuchte seine Hand in die Schallfalte zu schieben. Die Falte war ein Kraftfeld, ein Netz aus Kraftvektoren, die Luftströmungen um den Raum herumleiten sollten, den das Flugrad einnahm. Sie fühlte sich an wie ein starker Wind, der von allen Seiten zugleich auf das Luftfahrzeug zuströmte. Louis befand sich in einer geschützten Hülle aus Windströmungen.

Die Schallfalte war offenbar idiotensicher.

Er probierte es aus, indem er ein Taschentuch aus einem Ausgabeschlitz zog und es fallen ließ. Das Tuch flatterte unter das Flugrad und verharrte dort schwebend, wobei es wie verrückt vibrierte. Louis nahm an, daß er ebenfalls von dieser Schallfalte aufgefangen wurde, sollte er aus dem Sattel fallen — was gar nicht einfach war —, und in aller Ruhe in sein Flugzeug zurückklettern konnte.

Es sieht ihnen ähnlich, dachte Louis. Puppenspieler…

Aus dem Trinkschlauch kam aufbereitetes Wasser. Aus dem Essensschlitz kamen rötlich-braune flache Riegel. Sechsmal hintereinander wählte er, nahm einen Bissen und warf den Riegel anschließend in den Aufnahmetrichter. Jeder Riegel schmeckte anders, und alle schmeckten gut.

Wenigstens das Essen würde nicht langweilig werden. Jedenfalls nicht so schnell.

Wenn sie allerdings keine Pflanzen und kein Wasser fanden, um die Aufnahmetrichter damit zu füttern, dann würden aus dem Essensschlitz irgendwann keine Riegel mehr kommen.

Er wählte einen siebten Riegel und aß ihn.

Der Gedanke, wie weit sie von jeder Hilfe entfernt waren, wirkte entmutigend. Bis zur Erde waren es zweihundert Lichtjahre; die Weltenflotte der Puppenspieler, nur zwei Lichtjahr weit weg, floh mit Lichtgeschwindigkeit aus der Milchstraße. Selbst die halb verdampfte Lying Bastard war vom Beginn des Fluges an unsichtbar gewesen. Jetzt verschwand auch die schnurgerade Rinne allmählich außer Sicht. Wie einfach war es, das Schiff vollkommen zu verlieren?

Tanj unmöglich, entschied Louis. Antispinwärts lag der riesigste Berg, den je ein Mensch gesehen hatte. Es konnte nicht viele derartige Supervulkane auf der Ringwelt geben. Sie mußten nur auf den Berg zuhalten, um die Lying Bastard wiederzufinden, und von dort aus spinwärts fliegen, bis sie auf eine mehrere tausend Meilen lange schnurgerade Rinne stießen.

… doch der Bogen der Ringwelt leuchtete über ihnen: drei Millionen Mal so groß wie die Erdoberfläche. Es gab genügend Raum, um sich auf der Ringwelt gründlich zu verirren.

Nessus regte sich wieder. Zuerst schob sich ein Kopf unter seinem Torso hervor, dann auch der zweite. Mit dem Mund betätigte er mehrere Schalter und flötete: »Louis, können wir uns unter vier Augen unterhalten?«

Die transparenten Bilder von Teela und Der-zu-den-Tieren-spricht erweckten den Anschein, als dösten sie. Louis schaltete sie aus dem Interkom. »Schießen Sie los.«

»Was ist inzwischen geschehen?«

»Haben Sie nicht mitgehört?«

»Meine Ohren befinden sich in meinen Köpfen. Mein Gehör war blockiert.«

»Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Vielleicht verfalle ich erneut in Katatonie. Ich fühle mich sehr verloren, Louis.«

»Mir geht es nicht besser. Nun gut. In den letzten drei Stunden haben wir ungefähr zweitausendzweihundert Meilen zurückgelegt. Mit Transferkabinen hätten wir das schneller geschafft. Oder mit Stepperscheiben.«

»Unsere Ingenieure hatten leider keine Gelegenheit, Scheiben aufzustellen.« Die beiden Puppenspielerköpfe blickten sich gegenseitig in das Auge. Sie behielten die Position nur einen kurzen Moment, doch Louis hatte diese Geste schon öfters beobachtet.

Vorläufig nahm er an, daß es sich um das PuppenspielerÄquivalent eines Lachens handelte. Konnte ein verrückter Puppenspieler einen Sinn für Humor entwickeln?

»Wir fliegen nach Backbord«, fuhr Louis fort. »Der-zu-den-Tierenspricht entschied, daß der backbords gelegene Randwall näher ist. Ich schätze, wir hätten das genausogut entscheiden können, indem wir eine Münze warfen. Aber Der-zu-den-Tieren-spricht ist jetzt der Boß. Er übernahm das Kommando, als Sie in Katatonie fielen.«

»Eine unglückliche Entscheidung! Sein Flugrad ist außerhalb der Reichweite meines Tasps. Ich muß…«

»Augenblick mal. Warum lassen Sie ihm denn nicht einfach das Kommando?«

»Aber… aber… aber…«

»Denken Sie drüber nach«, drängte Louis. »Sie können immer Ihr Veto einlegen, indem Sie den Tasp benutzen. Wenn Sie ihm nicht das Kommando geben, wird er es jedesmal wieder an sich reißen, wenn Sie in Katatonie fallen oder sich ausruhen. Wir brauchen einen Anführer, der nicht dauernd angefochten wird.«

»Ich vermute, es kann nicht schaden«, flötete der Puppenspieler. »Es macht kaum einen Unterschied, ob ich Hinterster bin oder er. Unsere Chancen ändern sich dadurch nicht wesentlich.«

»Richtig so. Rufen Sie den Kzin und teilen Sie ihm mit, daß er jetzt der Hinterste ist!«

Louis schaltete sich in den Interkom von Der-zu-den-Tierenspricht, um den Wortwechsel zu verfolgen. Wenn er eine heftige Diskussion erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Der Kzin und der Puppenspieler wechselten ein paar zischende, spuckende Phrasen in der Heldensprache, und der Kzin ging aus der Leitung.

»Ich muß mich entschuldigen«, setzte Nessus das Gespräch unter vier Augen fort. »Meine Dummheit hat uns nichts als Katastrophen eingebracht.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, tröstete ihn Louis. »Sie sind in Ihrer depressiven Phase, das ist alles.«

»Ich bin ein intelligentes Wesen und kann die Wahrheit vertragen. Ich habe mich schrecklich geirrt, was Teela Brown angeht.«

»Mag sein, aber das war nicht Ihr Fehler.«

»Doch, es war mein Fehler, Louis. Ich hätte erkennen müssen, weshalb ich Schwierigkeiten hatte, andere Kandidaten außer Teela Brown zu finden.«

»Aha?«

»Die anderen hatten zuviel Glück!«

Louis pfiff leise durch die Zähne. Der Puppenspieler hatte eine brandneue Theorie entwickelt.

»Genauer gesagt«, fuhr Nessus fort, »hatten sie zuviel Glück, um in ein so gefährliches Unternehmen wie das unsrige verwickelt zu werden. Die Geburtsrechts-Lotterie hat nämlich tatsächlich ein physisches, vererbbares Glück hervorgebracht. Nur war es für mich nicht faßbar. Als ich versuchte, mit den Lotteriefamilien Kontakt aufzunehmen, fand ich einzig und allein Teela Brown.«

»Hören Sie…«

»Ich habe die anderen nicht antreffen können, weil sie zuviel Glück hatten. Ich traf Teela Brown, und es gelang mir, sie zu dieser Expedition zu überreden, weil sie das Glück eben nicht geerbt hat. Louis, bitte entschuldigen Sie.«

»Ach, legen Sie sich lieber schlafen!«

»Ich muß mich auch bei Teela Brown entschuldigen.«

»Nein. Das war meine Schuld! Ich hätte sie aufhalten können.«

»Wirklich?«

»Hm — vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Legen Sie sich schlafen!«

»Ich kann nicht schlafen.«

»Dann übernehmen Sie das Steuer, und ich schlafe.«

So geschah es. Ehe Louis die Augen schloß, wunderte er sich noch, wie sanft das Flugrad flog. Der Puppenspieler war ein exzellenter Pilot.


Louis erwachte mit dem ersten Tageslicht.

Er war nicht daran gewöhnt, unter Schwerkraft zu schlafen. Noch nie in seinem Leben hatte er eine Nacht im Sitzen verbracht. Als er gähnend zu sich kam und sich zu strecken versuchte, schienen seinen Muskeln unter der Anspannung zu zerreißen. Stöhnend rieb er sich die verklebten Augen und blickte sich um.

Die Schatten waren eigenartig; das Licht noch eigenartiger. Louis sah nach oben und entdeckte einen schmalen weißen Streifen Mittagssonne. Dummkopf, schalt er sich, während er darauf wartete, daß seine Augen aufhörten zu tränen. Seine Reflexe arbeiteten schneller als sein Gehirn.

Zu seiner Linken war alles dunkel und mit zunehmender Entfernung noch dunkler. Der fehlende Horizont war eine Schwärze aus Nacht und Chaos unter einem navyblauen Himmel, in dem der Ringweltbogen nur noch schwach leuchtete.

Rechts von ihm — spinwärts — herrschte heller Tag.

Die Dämmerung auf der Ringwelt war anders als auf anderen Welten.

Die Wüste blieb links und rechts in einer scharfgezeichneten Wellenlinie zurück. Hinter den Flugrädern schimmerte grell und öde fahlweißer Sand. Der riesige Berg verdeckte noch immer ein gewaltiges Stück Horizont. Weit voraus in Flugrichtung tauchten Flüsse und Seen auf, dazwischen grüne und braune Flecken Land.

Die Flugräder hatten ihre Formation eingehalten: ein weit auseinandergezogenes Trapez. Auf die Entfernung hin sahen sie alle gleich aus, wie silberne Käfer. Louis flog an der Spitze. Seiner Erinnerung nach hatte Der-zu-den-Tieren-spricht die Position spinwärts; Nessus flog antispinwärts und Teela bildete die Nachhut.

Spinwärts vom Riesenberg hing eine graue Staubwolke wie die Spur eines Bodenfahrzeugs, das eine Wüste durchquerte, nur größer. Sie mußte auch größer sein, obwohl sie auf diese Entfernung wie ein dünner Faden wirkte…

»Sind Sie wach, Louis?« flötete der Puppenspieler.

»Guten Morgen, Nessus. Sind Sie die ganze Nacht durchgeflogen?«

»Vor ein paar Stunden übergab ich das Steuer an den Kzin. Sie werden feststellen, daß wir bereits über siebentausend Meilen zurückgelegt haben.«

»Ja.« Es war nur eine Zahl, ein Bruchteil der Strecke, die sie noch zurücklegen mußten. Ein Leben mit dem Netz von Transferkabinen hatte Louis’ Gefühl für Entfernungen ruiniert.

»Schauen Sie mal nach hinten«, forderte er den Puppenspieler auf. »Sehen Sie diese Staubwolke? Haben Sie eine Idee, was das sein könnte?«

»Selbstverständlich. Verdampftes Gestein von unserer Kometenlandung. Es kondensiert in der Atmosphäre und hatte noch nicht genügend Zeit, sich aus so großer Höhe wieder zu legen.«

»Oh. Ich hatte eher an Sandstürme gedacht… Tanj! Sehen Sie nur, wie weit wir gerutscht sind!« Die Staubwolke war einige tausend Meilen lang, wenn sie so weit entfernt war wie das Schiff.

Himmel und Erde glichen zwei unendlich großen, zusammengepreßten Platten, und die kleine Gruppe war nichts als Mikroben, die zwischen diesen Platten krochen…

»Der Luftdruck hat zugenommen.«

Louis riß sich vom Anblick des Fluchtpunkts los. »Was haben Sie gesagt?«

»Sehen Sie auf Ihren Druckmesser. Wir müssen uns mindestens zwei Meilen über unserer augenblicklichen Flughöhe befunden haben, als wir landeten.«

Louis wählte einen Nahrungsriegel zum Frühstück. »Ist der Luftdruck denn so wichtig?«

»In einer unbekannten Umgebung muß man auf alles achten. Das kleinste Detail kann von entscheidender Bedeutung sein. Zum Beispiel ist der Berg, den wir als Orientierungspunkt gewählt haben, viel größer, als wir ursprünglich angenommen hatten. Und was halten Sie von diesem silbern glänzenden Punkt weiter vorne?«

»Wo?«

»Fast am hypothetischen Horizont, Louis. Direkt vor uns.«

Es war wie die Suche nach einem Detail auf einer Karte, auf die man waagerecht vom Rand her blickte. Louis entdeckte die Stelle trotzdem: Ein helles Blinken wie von einem Spiegel, kaum größer, um mehr als ein Punkt am Horizont zu sein.

»Reflektiertes Sonnenlicht. Was könnte es sein? Vielleicht eine gläserne Stadt?«

»Unwahrscheinlich.«

Louis lachte. »Sie sind gut! Auf jeden Fall muß es so groß sein wie eine gläserne Stadt. Vielleicht ein Riesenteleskop mit Reflektoren.«

»Dann ist es bestimmt außer Betrieb!«

»Warum?«

»Wir wissen bereits, daß diese Zivilisation in die Barbarei zurückgefallen ist. Warum sollten sonst solch riesige Wüstengebiete entstehen?«

Anfangs hatte Louis dieses Argument geglaubt. Jetzt jedoch… »Vielleicht machen Sie sich die Sache zu einfach. Die Ringwelt ist viel größer, als wir uns vorgestellt haben. Ich glaube, es gibt genug Raum für Barbarei und Zivilisation und alle Stufen dazwischen.«

»Zivilisationen tendieren aber dazu, sich auszubreiten, Louis.«

»Zugegeben…«

Sie würden herausfinden, was es mit diesem hellen Punkt auf sich hatte. Er lag direkt auf ihrem Kurs.

Es gab keinen Wählschalter für Kaffee.


Louis schluckte den letzten Bissen seines Frühstücksriegels, als ihm zwei blinkende grüne Dioden auf seinem Armaturenbrett auffielen. Er rätselte darüber, bis ihm einfiel, daß er am vergangenen Abend Teela und den Kzin aus dem Interkom geworfen hatte. Er schaltete die beiden wieder hinzu.

»Guten Morgen«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Haben Sie die Dämmerung gesehen, Louis? Ein erhebender Anblick!«

»Ich habe ihn genossen. Guten Morgen, Teela!«

Teela gab keine Antwort.

Louis sah genauer hin. Teela war fasziniert; entrückt wie jemand, der im Nirwana angekommen war.

»Nessus, haben Sie Ihren Tasp an meiner Gefährtin ausprobiert?«

»Nein, Louis. Warum sollte ich?«

»Wie lange verharrt sie schon in diesem Zustand?«

»In welchem Zustand?« fragte der Kzin. »Sie war in letzter Zeit nicht besonders gesprächig, falls Sie das meinen, Louis.«

»Ich meine ihren Gesichtsausdruck, tanj nochmal!«

Teelas Bild schwebte auf seinem Armaturenbrett. Ihr Blick war durch Louis’ Kopf hindurch in die Unendlichkeit gerichtet. Sie war still und schien vollkommen glücklich zu sein.

»Sie wirkt entspannt«, sagte der Kzin. »Aber nicht unbehaglich. Die Feinheiten der menschlichen Mimik…«

»Vergessen Sie’s. Landen Sie uns irgendwo, ja? Teela ist in Plateau-Trance gefallen.«

»Ich verstehe nicht?«

»Landen Sie einfach.«

Sie fielen aus einer Meile Höhe. Louis ließ eine längere Periode freien Falls über sich ergehen, bevor der Kzin die Thruster wieder einschaltete. Louis beobachtete Teelas Gesicht auf eine Reaktion hin, doch er sah keine. Sie blieb so verklärt und gelassen wie zuvor. Ihre Mundwinkel bogen sich unmerklich nach oben.

Louis tobte innerlich, während sie nach unten fielen. Er wußte ein wenig über Hypnose: Bruchstücke und Kleinigkeiten, die man eben so sammelte, wenn man zweihundert Jahre lang 3D gesehen hatte…

Grün und Braun löste sich in Wald und Feld und den silbern glänzenden Faden eines kleinen Flusses auf. Es war ein üppiges, wildes Land unter ihnen, die Sorte Land, die ein Flatlander auf einer jungen Kolonialwelt anzutreffen erwartete. Leider.

»Versuchen Sie, uns in einem Tal zu landen!« sagte Louis zu dem Kzin. »Ich möchte gerne, daß Teela den Horizont nicht mehr sieht.«

»In Ordnung. Ich schlage vor, daß Sie und Nessus den Autopiloten abschalten und mir manuell nach unten folgen. Ich werde Teela nach unten bringen.«

Die Diamantformation der Flugräder löste sich auf und gruppierte sich neu. Der Kzin steuerte nach Backbord und spinwärts auf das Flußtal zu, das Louis zuvor entdeckt hatte. Die anderen folgten ihm.

Sie verloren immer noch an Höhe, als sie den Wasserlauf überquerten. Der-zu-den-Tieren-spricht schwenkte spinwärts, um ihm zu folgen. Inzwischen krochen sie nur noch dicht über den Baumwipfeln dahin. Der Kzin suchte nach einer Stelle am Ufer, die nicht von Bäumen blockiert war.

»Diese Pflanzen scheinen sehr erdähnlich«, sagte Louis. Die beiden Aliens gaben zustimmende Laute von sich.

Sie umrundeten eine Flußbiegung.

Die Eingeborenen standen an einem breiten Abschnitt des Wasserlaufs. Sie brachten ein Fischnetz aus. Als die Reihe von Flugrädern in Sicht kamen, blickten die Eingeborenen auf. Eine ganze Weile unternahmen sie nichts anderes, als das Netz fallenzulassen und mit offenen Mündern hinauf zu den Fremden zu starren.

Louis, der Kzin und Nessus reagierten nicht anders. Sie zogen sofort hoch. Die Eingeborenen schrumpften zu winzigen Punkten, und aus dem Wasserlauf wurde erneut ein silberner Faden. Der üppige Urwald verschwamm wieder zu Grün und Braun.

»Schalten Sie die Autopiloten ein!« rief der Kzin in unmißverständlichem Befehlston. »Ich werde uns zu einem anderen Landeplatz bringen!«

Er muß diese Kommandosprache speziell für den Umgang mit Menschen gelernt haben. Die Pflichten eines Botschafters, überlegte Louis, sind in der Tat sehr vielseitig.

Teela hatte offensichtlich nichts von dem Vorfall bemerkt.

»Nun?« meinte Louis.

»Das waren Menschen!« sagte Nessus.

»Also habe ich mich nicht getäuscht«, erwiderte Louis.

»Ich dachte schon, ich leide an Halluzinationen. Fragt sich nur, wie Menschen hierher kommen konnten!« Weder Nessus noch der Kzin versuchten, Louis eine Antwort zu geben.

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