Der Raum befand sich ganz oben im schwebenden Schloß, wie um seine Bedeutung zu unterstreichen. Louis atmete schwer vom Treppensteigen. Er hatte sich ziemlich anstrengen müssen, um mitzuhalten. Der Kzin war nicht gerannt, aber er ging schneller, als ein Mensch gehen konnte.
Louis erreichte den obersten Treppenabsatz, als Der-zu-denTieren-spricht die schwere Doppeltür vor sich aufstieß.
Durch die Öffnung erblickte Louis ein horizontales Band aus tiefstem Schwarz, drei Fuß über dem Boden und vielleicht acht Zoll breit. Er blickte über das Band hinweg, suchte nach einem ähnlichen Band in Babyblau mit dunkelblauen Streifen, und er fand es.
Volltreffer.
Louis blieb im Eingang stehen und nahm Einzelheiten in sich auf. Die Miniaturringwelt füllte fast den gesamten Raum aus, einen kreisförmigen Saal von sicher hundertzwanzig Fuß Durchmesser. In der Nabe der ringförmigen Weltkarte stand ein schwerer rechteckiger Schirm auf einem massiven Gestell. Er zeigte vom Eingang weg, doch die Konstruktion war drehbar.
Hoch oben an den Wänden befanden sich zehn rotierende Globen von unterschiedlicher Größe. Sie drehten sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten, doch alle zehn besaßen die gleiche charakteristische Farbe: das satte Blau mit den weißen Polkappen und Wolken wirbeln einer erdähnlichen Welt. Unterhalb jedes Globus befand sich eine Kegelschnittkarte.
»Ich habe die Nacht hier oben verbracht und gearbeitet«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. Er stand hinter dem Schirm. »Ich muß Ihnen eine ganze Menge zeigen. Kommen Sie her.«
Louis hätte sich fast unter dem Ring hindurch geduckt. Ein Gedanke ließ ihn innehalten. Der Mann mit dem Falkengesicht, der in der Banketthalle thronte, würde sich niemals gebückt haben — nicht einmal, um das Allerheiligste zu betreten. Louis ging auf den Ring zu… und hindurch. Es war ein Hologramm.
Er trat hinter den Kzin.
Der Bildschirm war von Kontrollpaneelen umgeben. Die Knöpfe waren groß, aus massivem Silber gefertigt und Tierköpfen nachgebildet. Die Konsolen waren geschwungen und ebenfalls verziert. Verschönert, dachte Louis. Waren sie am Ende dekadent?
Der Schirm war hell. Die Vergrößerung war schwach, und Louis sah ein Stück Ringwelt, wie sie aus dem Orbit der Schattenblenden ausgesehen hatte. Er spürte einen Stich wie von einem Deja vu.
»Ich hatte die Stelle bereits«, sagte der Kzin. »Wenn ich mich recht entsinne…« Er berührte einen Knopf, und das Bild auf dem Schirm expandierte so rasch, daß Louis unwillkürlich nach einem imaginären Haltegriff suchte. »Ich möchte Ihnen den Randwall zeigen. Rrrr… ein wenig abseits…« Der-zu-den-Tieren-spricht berührte einen anderen wilden Tierkopf, und die Sicht glitt seitwärts. Sie sahen über den Rand der Ringwelt hinaus.
Irgendwo mußten sich Teleskope befinden, um dieses Bild zu ermöglichen. Wo? Vielleicht auf den Schattenblenden?
Sie sahen auf tausend Meilen hohe Berge hinunter. Das Bild expandierte noch immer. Der-zu-den-Tieren-spricht fand immer feinere Kontrollen. Louis staunte, wie die Berge, die mit Ausnahme ihrer gewaltigen Größe sehr natürlich wirkten, scharfkantig und abrupt aufhörten, um den Blick auf den Weltraum dahinter freizugeben.
Dann erblickte er, was entlang der Gipfel verlief.
Es war eine Linie silberner Punkte, doch es gab nur eine Möglichkeit, was es sein konnte. »Ein Linearbeschleuniger.«
»Genau«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Ohne Transferkabinen ist es der einzige praktikable Weg, größere Strecken auf der Ringwelt zurückzulegen. Wahrscheinlich war es das wichtigste Transportsystem.«
»Aber sie liegen tausend Meilen hoch! Aufzüge?«
»Überall am Randwall. Dort zum Beispiel.« Inzwischen waren die silbernen Punkte zu winzigen Schlaufen angewachsen, weit voneinander entfernt und vor dem darunterliegenden Land durch Berggipfel verborgen. Eine Röhre, so schlank, daß sie aus dieser Entfernung fast unsichtbar war, führte von einer der Schlaufen einen gewaltigen Berghang hinunter, bis sie in einer Wolkenschicht am Boden der Ringweltatmosphäre verschwand.
»Die elektromagnetischen Schlaufen bilden in der Nähe der Aufzugschächte regelrechte Cluster. Überall sonst stehen sie bis zu einer Million Meilen auseinander. Ich nehme an, sie werden lediglich zum Beschleunigen und Abbremsen und für Korrekturen benötigt. Ein Fahrzeug könnte bis zum freien Fall beschleunigt werden, um mit 770 Meilen in der Sekunde den Rand entlangzufahren, bis es in der Nähe eines weiteren Aufzugs von einem anderen Schlaufencluster wieder abgebremst wird.«
»Es würde bis zu zehn Tage dauern, auf die andere Seite der Ringwelt zu gelangen! Beschleunigungs- und Abbremsmanöver nicht mit eingerechnet.«
»Trivial. Sie benötigen sechzig Tage, um Silvereyes zu erreichen, die am weitesten von der Erde entfernte Kolonie. Sie würden sogar viermal so lang benötigen, um den Bekannten Weltraum von einem Rand zum anderen zu durchqueren.«
Er hatte recht. Und der Lebensraum auf der Ringwelt war größer als der aller bewohnbaren Planeten des Bekannten Weltraums zusammen. Sie haben für Platz gesorgt, als sie dieses Ding gebaut haben. »Konnten Sie Anzeichen von Aktivität erkennen? Werden die Linearbeschleuniger noch von irgend jemandem benutzt?«
»Die Frage ist ohne Bedeutung. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.« Das Panorama änderte sich. Die Landschaft glitt seitwärts und expandierte langsam. Es war Nacht. Dunkle Wolken zogen über dunkles Land, und dann…
»Erleuchtete Städte. Wunderbar.« Louis schluckte. Es war zu plötzlich gekommen. »Also ist nicht alles tot. Wir können Hilfe bekommen.«
»Ich denke eher nicht. Es wird vielleicht schwierig zu finden sein… ah.«
»Finagles schwarze Hand!«
Das Schloß, offensichtlich das Schloß, in dem sie sich befanden, schwebte gleichmütig über einem Meer aus Licht. Fenster, Neon, Ströme von gleichförmig dahinziehenden Staubkörnern, wahrscheinlich Fahrzeugen… merkwürdig geformte schwebende Bauwerke… wundervoll.
»Bandaufzeichnungen! Tanj! Wir sehen alte Bänder! Ich dachte, es seien Live-Übertragungen.« Einen großartigen Augenblick lang hatte es ganz danach ausgesehen, als sei ihre Suche vorüber. Helle, geschäftige Städte, auf einer Karte mit höchster Genauigkeit eingezeichnet… doch diese Bilder mußten Ewigkeiten alt sein.
»Ich dachte genau das gleiche gestern nacht, viele Stunden lang. Ich hatte nicht den Hauch eines Verdachts, bis es mir nicht gelingen wollte, den Tausende von Meilen langen Meteoritenkrater zu finden, den die Lying Bastard bei ihrer Landung gezogen hat.«
Louis war sprachlos. Er schlug dem Kzin auf die nackte rot- und lavendelfarbene Schulter. Sie war fast außerhalb seiner Reichweite.
Der Kzin ignorierte die vertrauliche Geste. »Nachdem ich das Schloß lokalisiert hatte, ging alles ganz schnell. Passen Sie auf.« Die Sicht glitt rasch nach Backbord. Das dunkle Land verschwamm, und sämtliche Einzelheiten verschwanden. Dann waren sie über einem schwarzen Ozean.
Die Kamera schien zurückzuweichen…
»Sehen Sie? Die Bucht eines der beiden großen Salzwassermeere liegt in unserem Weg zum Randwall. Der Ozean selbst ist mehrere Male größer als alle Meere der Erde oder Kzins. Die Bucht allein ist größer als unser größtes Meer.«
»Noch mehr Verzögerungen! Können wir ihn überqueren?«
»Vielleicht können wir das. Aber uns erwarten noch größere Hindernisse als das dort.« Der Kzin streckte die Hand nach einem silbernen Knopf aus.
»Warten Sie. Ich möchte einen genaueren Blick auf diese Inselgruppen werfen.«
»Warum, Louis? Meinen Sie, wir könnten dort anhalten, um Verpflegung aufzunehmen?«
»Nein… Sehen Sie, die Inseln bilden sämtlich Gruppen, und zwischen den Gruppen liegen riesige Flächen Ozean. Nehmen Sie zum Beispiel diese Gruppe hier.« Louis’ Zeigefinger umkreiste die Abbildungen auf dem Schirm. »Sehen Sie sich diese Formation hier an und werfen Sie einen Blick auf jene Karte dort.«
»Ich verstehe nicht.«
»Und diese Gruppe hier, in der von Ihnen so genannten Bucht… vergleichen Sie sie mit der Karte hinter Ihnen. Die Kontinente auf den Kegelschnitten sind ein wenig verzerrt… Verstehen Sie jetzt? Zehn Welten, zehn Inselgruppen. Nicht im Maßstab eins zu eins, aber jede Wette, daß diese Insel so groß ist wie Australien, und der ursprüngliche Kontinent auf dem Globus dort sieht nicht größer aus als Eurasien.«
»Welch ein makabrer Scherz. Louis, ist das typisch menschlicher Sinn für Humor?«
»Nein, nein! Sentimentalität. Es sei denn…«
»Ja?«
»Ich hatte noch gar nicht daran gedacht. Die erste Generation… sie mußten ihre eigenen Welten hinter sich lassen, aber sie wollten etwas als Erinnerung behalten. Drei Generationen später war es nur noch komisch. So ist es immer.«
Der Kzin wartete, bis er sicher war, daß Louis ausgeredet hatte. Dann fragte er ein wenig zaghaft: »Glaubt ihr Menschen eigentlich, daß ihr uns Kzinti versteht?«
Louis lächelte und schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte der Kzin und wechselte das Thema. »Ich habe letzte Nacht einige Zeit damit zugebracht, den nächstgelegenen Raumhafen zu erkunden.«
Sie standen auf der Nabe der Miniaturringwelt und blickten durch einen rechteckigen Bildschirm in die Vergangenheit.
Die Vergangenheit, die sich ihren Augen erschloß, war eine Vergangenheit der großartigsten Errungenschaften. Der-zu-den-Tierenspricht hatte die Kamera auf den Raumhafen fokussiert, ein breites, vorspringendes Sims auf der raumwärts gelegenen Seite des Randwalls. Sie beobachteten, wie ein riesiger Zylinder mit stumpfen Enden und Tausenden hell erleuchteter Fenster in elektromagnetischen Feldern gelandet wurde. Die Felder leuchteten in Pastellfarben, wahrscheinlich, damit die Maschinenführer sie visuell manipulieren konnten.
»Es ist ein Endlosband«, erklärte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Ich habe es letzte Nacht eine ganze Weile angesehen. Die Passagiere scheinen direkt durch den Randwall zu gehen, als hätten sie eine Art Osmoseprozeß verwendet.«
»Ah«, sagte Louis niedergeschlagen. Das Raumhafensims lag Ewigkeiten spinwärts von ihrem jetzt Standort — so weit, daß die Entfernung, die sie bereits zurückgelegt hatten, wie ein winziger Schritt aussah.
»Ich habe einem Schiff beim Start zugesehen. Sie benutzten keinen Linearbeschleuniger dazu. Er wurde nur für Landungen eingesetzt, um die Geschwindigkeit des ankommenden Schiffes der Eigengeschwindigkeit der Ringwelt anzupassen. Zum Start kippten sie die Schiffe einfach ins All hinaus.
Genau wie der Blätteresser vermutet hat, Louis. Erinnern Sie sich an diese merkwürdige Falltür? Die Ringwelt rotiert schnell genug, damit ein elektromagnetisches Ramfeld operieren kann. Louis, hören Sie mir überhaupt zu?«
Louis schüttelte sich. »Tut mir leid, Sprecher. Ich muß andauernd daran denken, daß unser Trip siebenhunderttausend Meilen länger wird als vorgesehen.«
»Möglicherweise können wir ihr Haupttransportsystem benutzen. Die kleineren Linearbeschleuniger auf dem Randwall.«
»Mit Sicherheit nicht. Das sind wahrscheinlich alles nur noch Ruinen. Zivilisation tendiert dazu sich auszubreiten, falls es ein geeignetes Transportsystem gibt.
… selbst wenn wir die Beschleuniger zum Funktionieren bringen — wir steuern nicht auf einen der Aufzüge zu.«
»Das stimmt«, sagte der Kzin. »Ich habe nach einem Schacht gesucht.«
Auf dem Bildschirm war das Schiff inzwischen gelandet. Schwebegleiter verbanden eine Röhre mit der Hauptschleuse. Passagiere ergossen sich in die Röhre.
»Sollen wir unseren Kurs ändern?«
»Das können wir nicht. Der Raumhafen ist noch immer unsere beste Chance.«
»Ist er das?«
»Ja, tanj! So groß sie auch sein mag, die Ringwelt ist eine Koloniewelt! Und auf Koloniewelten ballt sich die Zivilisation immer um Raumhäfen.«
»Weil dort Schiffe von der Heimatwelt landen und Informationen und technologische Neuerungen mitbringen. Aber wir gehen davon aus, daß die Ringweltler ihre Heimatwelt verlassen haben.«
»Trotzdem können noch immer Schiffe eintreffen!« beharrte Louis. »Von den verlassenen Welten! Aus vergangenen Jahrhunderten! Ramjetschiffe unterliegen der Relativität. Sie erleiden Zeitdilatation.«
»Sie hoffen darauf, alte Raumfahrer zu treffen, die den Wilden das längst vergessene Wissen einzutrichtern versuchen? Vielleicht haben Sie sogar recht«, gab der Kzin zu. »Aber ich bin die Ringwelt allmählich leid, und der Raumhafen ist verdammt weit entfernt. Was kann ich Ihnen sonst noch auf dem Kartenschirm zeigen?«
Unvermittelt fragte Louis: »Wie weit sind wir eigentlich gekommen, seit wir die Liar verlassen haben?«
»Ich sagte Ihnen schon, daß ich unsere Einschlagsstelle nicht finden kann. Sie können genausogut raten wie ich. Aber ich weiß, wie weit es noch ist. Von diesem Schloß bis zum Randwall ungefähr zweihunderttausend Meilen.«
»Ein langer Weg… Sie haben sicher den Berg gefunden?«
»Nein.«
»Den Riesenberg. Die Faust Gottes. Wir sind praktisch auf seinen Hang geprallt.«
»Nein.«
»Das gefällt mir nicht. Sind wir vielleicht vom Kurs abgekommen, Sprecher? Sie hätten die Faust Gottes finden müssen, wenn Sie vom Schloß aus einfach nach Steuerbord zurückgehen.«
»Habe ich aber nicht«, erwiderte Der-zu-den-Tieren-spricht mit Bestimmtheit. »Wollen Sie sonst noch etwas sehen? Es gibt zum Beispiel weiße Flecken auf der Karte. Wahrscheinlich kommen sie daher, daß das Band so stark abgenutzt ist. Allerdings habe ich mich gefragt, ob der Grund nicht vielleicht der ist, daß man gewisse Gegenden auf der Ringwelt verbergen wollte, die als geheim galten.«
»Wir müßten schon selbst nachsehen, um es herauszufinden…«
Der-zu-den-Tieren-spricht wandte sich plötzlich mit weit aufgefächerten Ohren zu dem Doppelportal um. Leise ließ er sich auf alle Viere nieder, dann sprang er los.
Louis blinzelte. Was mag das jetzt schon wieder sein? Dann hörte er es selbst…
Wenn man ihr Alter bedachte, dann liefen die Maschinen des Schlosses bemerkenswert leise. Doch jetzt ertönte ein tiefes Summen von außerhalb der schweren Doppeltür.
Der-zu-den-Tieren-spricht war nicht mehr zu sehen. Louis zog seinen Flashlaser und folgte dem Kzin vorsichtig —
Er fand ihn am Ende der Treppe. Er steckte die Waffe wieder ein, und gemeinsam beobachteten sie, wie Teela die Treppe hinaufglitt.
»Sie funktionieren nur nach oben«, erzählte sie. »Nicht nach unten. Und die Treppe zwischen dem vierten und fünften Stock funktioniert gar nicht mehr.«
Louis stellte die naheliegende Frage. »Wie hast du sie dazu gebracht, daß sie sich bewegen?«
»Du mußt nur das Geländer anfassen und nach vorne drücken. Vorher passiert gar nichts. Ich fand es zufällig heraus.«
»Dachte ich mir. Ich bin heute morgen alle zehn Stockwerke zu Fuß hinaufgeklettert. Wie viele bist du hochgestiegen, bevor du es entdeckt hast?«
»Kein einziges. Ich wollte nach oben, um mir ein Frühstück zu machen. Ich stolperte auf der ersten Stufe und packte das Geländer.«
»Hätte ich mir denken können. Typisch.«
Teela blickte beleidigt drein. »Es ist nicht meine Schuld, wenn du…«
»Tut mir leid. Hast du dein Frühstück bekommen?«
»Nein. Ich habe Leute unten in der Stadt beobachtet. Wußtest du, daß sie direkt unter dem Schloß einen großen öffentlichen Platz haben?«
Sprecher riß die Ohren weit auf. »Tatsächlich? Und die Stadt ist nicht verlassen?«
»Nein. Sie strömten aus allen Richtungen herbei, den ganzen Morgen über. Inzwischen müssen es Hunderte sein.« Sie lächelte strahlend wie ein Sonnenaufgang. »Und sie singen wunderschön.«
Überall in den Korridoren des Schlosses gab es hübsche Stellen, Alkoven, die mit kleinen Teppichen ausgelegt und mit Tischen und Stühlen möbliert waren, allem Anschein nach, damit umherwandernde Bewohner sich überall niederlassen und eine Mahlzeit zu sich nehmen konnten, wann immer ihnen danach war. In eine dieser Nischen, in der Nähe des untersten Geschosses, war ein großes rechtwinkliges Fenster eingelassen, halb Wand und halb Boden.
Louis war ein wenig außer Atem, weil er zehn Stockwerke Treppen hinuntergestiegen war. Er bewunderte den Eßtisch in der Nische. Seine Oberseite war mit Ornamenten versehen, deren Konturen hohe und flache Teller, Butterdosen, Schüsseln oder Untertassen darstellten. Dekaden oder Jahrhunderte der Benutzung hatten das harte weiße Material fleckig werden lassen.
»Sie haben keine Teller benutzt«, mutmaßte Louis. »Sie haben das Essen direkt in die Vertiefungen gegeben und hinterher den ganzen Tisch abgewaschen.«
Es erschien ihm unhygienisch, aber… »Sie haben bestimmt keine Fliegen und Moskitos und Wölfe mitgenommen. Warum sollten sie Bakterien mitgebracht haben?
… Kolibakterien«, beantwortete er seine Frage selbst. »Zur Verdauung. Und wenn eines dieser Bakterien mutierte und bösartig wurde…« Zu diesem Zeitpunkt war niemand mehr gegen irgendwelche Krankheiten immun gewesen. War die Ringweltzivilisation vielleicht deswegen untergegangen? Jede Zivilisation braucht eine Mindestbevölkerung, um zu überleben.
Teela und Der-zu-den-Tieren-spricht hatten ihm nicht zugehört. Sie knieten in der Fensterbeuge und sahen nach unten. Louis gesellte sich zu ihnen.
»Sie sind noch immer dran«, sagte Teela. Sie hatte recht. Louis schätzte, daß wenigstens tausend Leute zu ihm aufblickten. Sie sangen jetzt nicht mehr.
»Sie können nicht wissen, daß wir hier sind«, sagte er.
»Vielleicht beten sie das Gebäude an«, schlug Der-zu-den-Tierenspricht vor.
»Selbst wenn — sie können es nicht jeden Tag tun. Wir sind zu weit vom Stadtrand entfernt. Sie könnten die Felder nicht erreichen.«
»Vielleicht sind wir zufällig an einem besonderen Tag hier. Einem Feiertag.«
»Vielleicht ist letzte Nacht etwas passiert. Irgend etwas Besonderes, wie unsere Ankunft, falls uns jemand dabei beobachtet hat. Oder das dort.« Sie deutete in die Richtung.
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Der-zu-denTieren-spricht. »Wie lange regnet er schon herab?«
»Seit ich aufgewacht bin, wenn nicht länger. Es ist wie Regen oder eine merkwürdige Art von Schnee. Draht von den Schattenblenden, Meile um Meile. Was meinen Sie, warum er ausgerechnet hier niedergeht?«
Louis stellte sich sechs Millionen Meilen vor, den Abstand zwischen den einzelnen Schattenblenden… und einen sechs Millionen Meilen langen Drahtfaden, der vom Aufprall der Liar losgerissen worden war… und zusammen mit dem Schiff der Ringweltoberfläche entgegenfiel, auf fast identischem Kurs. Es war kaum überraschend, daß sie über einen Teil dieses gewaltigen Fadens gestolpert waren.
Allerdings war Louis nicht in der Stimmung zu langatmigen Erklärungen. »Zufall«, sagte er. »Wie auch immer, er hat sich wie ein Umhang über uns gelegt, und er fällt wahrscheinlich schon die ganze Nacht durch. Und die Eingeborenen beten das Schloß sowieso an, weil es nämlich schwebt.«
»Überlegen Sie«, sagte der Kzin langsam. »Wenn heute die Ringweltkonstrukteure auftauchten und aus diesem fliegenden Schloß herabschwebten — die Eingeborenen würden es eher als angemessen denn als überraschend empfinden. Louis, sollen wir versuchen, Gott zu spielen?«
Louis wollte sich zum Antworten umdrehen, doch es ging nicht. Er hatte alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Vielleicht hätte er es sogar geschafft, doch Der-zu-den-Tieren-spricht erklärte Teela ihren Plan:
»Louis hat vorgeschlagen, daß wir vielleicht besser fahren, wenn wir gegenüber den Eingeborenen als Ringweltkonstrukteure auftreten. Sie und Louis sind die Akolythen. Nessus sollte einen gefangenen Dämon spielen; aber es geht bestimmt auch ohne ihn. Ich sollte einen Gott spielen, einen Kriegsgott oder so etwas…«
Teela fing an zu lachen, und Louis konnte sich nicht länger beherrschen.
Der Kzin, acht Fuß groß und unglaublich breit gebaut, war zu stark und zu wehrhaft, um etwas anderes als furchteinflößend zu sein, selbst mit stärksten Verbrennungen. Der rattenähnliche Schwanz war noch am wenigsten beeindruckend. Und nun besaß seine Haut überall die gleiche Farbe: rosig wie bei einem Baby, durchzogen von lavendelfarbenen Adern. Ohne das Fell, das seinen Kopf noch mächtiger erscheinen ließ, waren seine Ohren lächerlich pinkfarbene Segelohren. Das orangefarbene Fell über der Augenpartie sah aus wie eine Dominomaske, und darüber hinaus schien der Kzin ständig ein angewachsenes Sitzkissen aus flauschigem orangefarbenem Pelz mit sich herumzuschleppen.
Es war lebensgefährlich, einen Kzin auszulachen, doch das machte es nur noch komischer. Louis hielt sich den Leib und krümmte sich vor Lachen. Er bekam kaum noch Luft und ging rückwärts auf etwas zu, von dem er hoffte, daß es ein Stuhl war.
Eine unmenschlich große Pranke umschloß seine Schulter und hob ihn hoch. Louis zuckte noch immer unkontrolliert, als der Kzin ihm direkt in die Augen starrte. »Wirklich, Louis, dieses Verhalten müssen Sie mir erklären.«
Louis strengte sich an. »E-e-einen Kriegsgott oder so etwas!« stieß er hervor und prustete erneut los. Teela gab erstickte Gluckser von sich.
Der Kzin setzte Louis wieder ab und wartete geduldig, bis es vorbei war.
»Sie sind im Augenblick einfach nicht beeindruckend genug, um einen Gott zu spielen«, erklärte ihm Louis einige Minuten später. »Nicht, bevor Ihr Fell wieder nachgewachsen ist.«
»Wenn ich ein paar Menschen mit meinen Händen in der Luft zerreiße, werden sie sicher beeindruckt sein.«
»Sie würden Sie aus der Entfernung und aus sicheren Verstecken heraus respektieren. Das würde uns überhaupt nichts nutzen. Nein, wir müssen abwarten, bis die Haare nachgewachsen sind. Und selbst dann werden wir den Tasp des Puppenspielers benötigen.«
»Der Puppenspieler ist nicht da.«
»Aber…«
»Ich sagte, er ist nicht da! Wie sollen wir mit den Eingeborenen Kontakt aufnehmen?«
»Sie müssen hierbleiben. Finden Sie heraus, was der Kartenraum sonst noch alles an Überraschungen bereithält. Teela und ich…« Plötzlich fiel ihm ein, daß Teela den Kartenraum noch gar nicht gesehen hatte.
»Wie sieht er aus?«
»Du bleibst hier bei Der-zu-den-Tieren-spricht. Er soll dir alles zeigen. Ich gehe allein nach unten. Ihr beide könnt meine Bewegungen über die Kommunikatorscheiben verfolgen und mir zu Hilfe kommen, wenn es Schwierigkeiten gibt. Sprecher, geben Sie mir Ihren Flashlaser.«
Der Kzin murrte, doch er überließ Louis das Werkzeug. Ihm blieb immer noch der modifizierte Slaver-Desintegrator als Waffe.
Aus einer Höhe von tausend Fuß über ihren Köpfen hörte Louis, wie das ehrfürchtige Schweigen einem erstaunten Geraune wich. Da wußte er, daß sie ihn entdeckt hatten, ein heller Punkt, der das Schloß aus einem der Fenster verließ. Er sank ihnen entgegen.
Das Murmeln erstarb nicht, sondern wurde leiser. Louis hörte den Unterschied.
Dann fingen sie von neuem an zu singen.
»Es klingt so getragen«, hatte Teela ihm gesagt. »Sie bleiben nicht im Rhythmus.« Und: »Der Gesang ist schrecklich flach.« Louis war überrascht, als er es schließlich mit eigenen Ohren hörte. Der Gesang war viel besser, als er erwartet hatte.
Wahrscheinlich benutzten sie eine Zwölftonleiter. Die Oktaven der diatonischen Tonleiter waren ähnlich, doch es gab ein paar Unterschiede. Kein Wunder, daß Teela es als flach empfunden hatte.
Und ja, es klang getragen. Kirchenmusik, langsam und feierlich und eintönig, ohne Harmonien. Doch der Gesang besaß Erhabenheit.
Der Platz unter dem Schloß war enorm. Tausend Menschen waren eine gewaltige Menge nach den Wochen der Einsamkeit, doch der Platz hätte zehnmal so viele aufnehmen können. Lautsprecher hätten geholfen, ihren Gesang im Rhythmus zu halten, doch es gab keine. Ein einzelner Mann auf einem Podest in der Mitte des Platzes winkte mit ausgestreckten Armen. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Sie alle blickten zu Louis Wu.
Die Musik war wunderschön.
Teela hatte kein Ohr für ihre Schönheit. Die Musik, die sie kannte, stammte von Konserven und aus 3D-Anlagen und ging stets vorher durch ein Mikrophon. Man konnte sie verstärken, korrigieren, die Stimmen vervielfachen oder verbessern und schlechte Passagen überarbeiten oder herausschneiden. Teela Brown hatte niemals in ihrem Leben ein Live-Konzert gehört.
Im Gegensatz zu Louis Wu. Er verlangsamte seinen Sinkflug, um Zeit zu finden, sich an den Rhythmus zu gewöhnen. Ihm fielen die großen öffentlichen Gesangsveranstaltungen auf den Klippen über Crashlanding City ein, wo mehr als zweimal so viele Menschen gesungen hatten wie hier. Es hatte anders geklungen, und nicht zuletzt aus einem ganz besonderen Grund: Louis Wu hatte mitgesungen. Jetzt, während er die Musik auf sich einwirken ließ, nahmen seine Ohren die leicht scharfen, flachen Noten wahr, die verschwommenen Stimmen, die Eintönigkeit, die langsame Majestät des Liedes.
Er überraschte sich dabei, wie er in das Lied einstimmen wollte. Das ist keine gute Idee, dachte er und steuerte das Flugrad zur Platzmitte.
Auf dem Podest hatte einst eine Statue gestanden. Louis erblickte humanoide Fußabdrücke, jeder gut über einen Meter lang, wo die Statue gestanden haben mußte. Jetzt befand sich auf dem Podest eine Art dreieckiger Altar. Ein Mann stand mit dem Rücken zum Altar und wedelte mit den Armen, während die Menge sang.
Eine graue Robe, darüber etwas rosafarben Glänzendes — Louis vermutete, daß der Mann einen Kopfschmuck trug. Wahrscheinlich aus rosa Seide.
Er beschloß, auf dem Podest selbst zu landen. Das Flugrad hatte kaum aufgesetzt, als der Chorleiter sich zu Louis umwandte. Vor Schreck hätte Louis fast seine Maschine ruiniert.
Es war rosige Kopfhaut, die Louis gesehen hatte. Als einziges in der Menge goldener Köpfe und blondbehaarter Gesichter, aus denen nur die Augen hervorstachen, war das Gesicht dieses Mannes so nackt wie Louis Wus eigenes.
Mit ausgestrecktem Arm und nach unten gekehrten Handflächen hielt der Mann die letzte Note des Gesangs… hielt sie sekundenlang… und schnitt sie ab. Einen Sekundenbruchteil später erklangen aus den Ecken des Platzes die verhallenden Echos der Nachzügler. Der… Priester?… betrachtete Louis in der plötzlichen Stille.
Er war genauso groß wie Louis Wu, ungewöhnlich für einen Eingeborenen. Seine Gesichts- und Kopfhaut war so bleich, daß sie transparent wirkte. Wie ein Albino von We Made It. Er mußte sich viele Stunden zuvor mit einem nicht ganz scharfen Messer rasiert haben, und nun kamen die Stoppeln überall wieder zum Vorschein: überall ein grauer Schimmer, bis auf zwei kreisrunde Aussparungen um die Augen.
Er sprach mit Vorwurf in der Stimme, wenigstens klang es so. Die Translatorscheibe übersetzte augenblicklich: »Also seid ihr am Ende doch gekommen.«
»Wir wußten nicht, daß man uns erwartet«, erwiderte Louis wahrheitsgemäß. Er besaß nicht genug Selbstvertrauen, um auf sich allein gestellt einen Gott zu spielen. Im Verlauf seines langen Lebens hatte er gelernt, daß eine konsistente Reihe von Lügen zu einer höllisch komplizierten Angelegenheit werden konnte.
»Dir wächst Haar auf dem Kopf«, stellte der Priester fest. »Man könnte annehmen, dein Blut wäre nicht ganz rein, Baumeister.«
Das war es also! Die Rasse der Ringwelterbauer schien vollkommen kahl gewesen zu sein. Dieser Priester hier mußte sie imitieren, indem er seine zarte Haut mit einer stumpfen Klinge mißhandelte. Oder… hatten die Baumeister vielleicht Enthaarungscreme oder etwas ähnlich einfach Anzuwendendes benutzt, weil Kahlköpfigkeit gerade Mode gewesen war? Der Priester sah dem Drahtporträt in der Banketthalle des Schlosses jedenfalls verblüffend ähnlich.
»Mein Blut geht dich nichts an«, erwiderte Louis und drängte das Problem damit beiseite. »Wir sind auf der Reise zum Rand der Welt. Was weißt du über unsere Route?«
Der Priester war ganz deutlich verwirrt. »Du fragst mich nach Informationen? Du, ein Baumeister?«
»Ich bin kein Baumeister.« Louis hielt die Hand über der Konsole, um jederzeit die Schallfalte aktivieren zu können.
Doch der Priester sah nur noch verwirrter aus. »Und warum bist du dann halb haarlos? Und wie fliegst du durch die Luft? Hast du dem Himmel Geheimnisse entwendet? Was willst du hier? Bist du gekommen, um mir meine Gemeinde wegzunehmen?«
Die letzte Frage schien die wichtigste zu sein. »Wir sind auf der Reise zum Rand der Welt. Wir brauchen nichts weiter als Informationen.«
»Sicher findest du die Antworten im Himmel.«
»Werde nicht frech, Bursche!« wies Louis ihn zurecht.
»Aber du bist direkt aus dem Himmel gekommen! Ich habe dich gesehen!«
»Oh, du meinst das Schloß! Wir haben das Schloß durchsucht. Es hat uns nicht viel verraten. Zum Beispiel: Waren die Erbauer wirklich haarlos?«
»Manchmal habe ich überlegt, daß sie sich vielleicht nur rasierten, wie ich es auch tue. Doch dein Kinn scheint von Natur aus haarlos zu sein.«
»Ich depiliere mich regelmäßig.« Louis blickte sich um. Er sah ein Meer ehrfürchtiger goldener Gesichter. »Was glauben sie denn? Sie scheinen deine Zweifel nicht zu teilen.«
»Sie sehen, wie wir als Gleiche miteinander reden, in der Sprache der Ringwelterbauer. Ich würde gerne dabei bleiben, wenn es dir nichts ausmacht.« Die Haltung des Priesters war jetzt eher konspirativ als feindselig.
»Würde das dein Ansehen bei ihnen heben? Vermutlich würde es das«, sagte Louis. Der Priester hatte tatsächlich gefürchtet, seine Anhängerschar zu verlieren — wie das jeder Priester tat, wenn sein Gott plötzlich zum Leben erwachte und selbst zu übernehmen versuchte. »Können sie uns verstehen?«
»Vielleicht jedes zehnte Wort.«
An dieser Stelle bedauerte Louis die Effizienz, mit der sein Translator arbeitete. Er konnte nicht feststellen, ob der Priester in der Sprache von Zignamucklickklick redete. Mit diesem Wissen und der Erkenntnis, wie weit die beiden Dialekte sich seit dem Zusammenbruch der Kommunikation voneinander entfernt hatten, wäre er imstande gewesen, den Niedergang der Zivilisation zu datieren.
»Was war dieses Schloß, das ihr Himmel nennt?« fragte er. »Weißt du etwas darüber?«
»Die Legenden sprechen von Zrillir und davon, wie er alles Land unter dem Himmel regierte«, erwiderte der Priester. »Auf diesem Podest hier stand die Statue von Zrillir, und sie war lebensgroß. Die Länder versorgten den Himmel mit Delikatessen, die ich dir aufzählen könnte, weil wir ihre Namen auswendig lernen, doch sie wachsen heutzutage nicht mehr. Soll ich…?«
»Nein, danke. Was ist geschehen?«
Die Stimme des Mannes ging unmerklich in einen Singsang über. Er schien die jetzt folgende Geschichte schon oft gehört und häufig selbst erzählt haben…
»Der Himmel wurde erschaffen, als die Baumeister die Welt und den Bogen errichteten. Wer den Himmel regierte, herrschte auch über das Land von einem Rand zum andern. Und so regierte Zrillir viele Leben lang und warf Sonnenfeuer vom Himmel, wann immer etwas sein Mißfallen erweckte. Eines Tages entstand der Verdacht, daß Zrillir kein Sonnenfeuer mehr schleudern konnte.
Das Volk gehorchte ihm nicht länger. Es schickte kein Essen mehr. Es riß die Statue um. Als Zrillirs Engel Steine vom Himmel schleuderten, lachten die Menschen nur und wichen ihnen aus.
Dann kam der Tag, an dem das Volk den Himmel über die fahrende Treppe zu stürmen versuchte. Doch Zrillir machte, daß die Treppe fiel. Anschließend verließen seine Engel in fliegenden Wagen den Himmel.
Später bedauerten die Menschen, daß sie Zrillir verloren hatten. Der Himmel war stets bedeckt, und das Getreide wuchs nur noch zögernd. Wir haben um Zrillirs Rückkehr gebetet…«
»Wie genau ist diese Überlieferung deiner Meinung nach?«
»Bis zum heutigen Morgen hätte ich nichts von alledem geglaubt. Bis du aus dem Himmel herabgeflogen kamst. Du machst mir schreckliche Angst, o Baumeister. Vielleicht will Zrillir tatsächlich zurückkehren und schickt seine Bastarde voraus, um die falschen Priester aus dem Weg zu räumen?«
»Ich könnte meinen Schädel rasieren. Würde das helfen?«
»Nein. Es spielt keine Rolle. Stell deine Fragen.«
»Was kannst du mir über den Niedergang der Ringweltzivilisation berichten?«
Der Priester blickte noch beunruhigter drein. »Wieso? Geht die Zivilisation unter?«
Louis seufzte und wandte sich zum ersten Mal um, um den Altar in Augenschein zu nehmen.
Der Altar stand im Zentrum des Podiums. Er bestand aus dunklem Holz. In die rechteckige Tischfläche war ein Kartenrelief geschnitzt, das Berge und Täler und Flüsse und einen einzelnen See zeigte und sich an zwei gegenüberliegenden Rändern nach oben wölbte. Die beiden anderen, kürzeren Ränder bildeten die Basis für einen goldenen, paraboloiden Bogen.
Das Gold des Bogens war angelaufen und stumpf. Im Zenit hing ein goldener Ball an einem Draht herab, und dieses Gold war auf Hochglanz poliert.
»Ist die Zivilisation in Gefahr? So viel ist geschehen. Der Sonnendraht, eure eigene Ankunft — es ist doch Sonnendraht? Fällt die Sonne auf uns herab?«
»Das bezweifle ich sehr. Du sprichst von dem Draht, der schon den ganzen Morgen über herabregnet?«
»Ja. In unserer religiösen Ausbildung lernen wir, daß die Sonne mit einem sehr starken Draht am Bogen hängt. Dieser Draht hier ist sehr stark. Wir wissen das«, erklärte der Priester. »Ein kleines Mädchen versuchte ihn anzufassen und eine Schlinge zu entwirren, und der Draht schnitt ihr die Finger ab.«
Louis nickte. »Jedenfalls fällt die Sonne nicht auf euch.« Nicht einmal die Schattenblenden, dachte er. Selbst wenn ihr alle Drähte durchschneidet, würden sie die Ringwelt nicht treffen. Die Ringweltkonstrukteure hatten ihnen ein orbitales Aphelium innerhalb des Ringes gegeben.
Ohne viel Hoffnung erkundigte er sich: »Was weißt du über das Transportsystem auf dem Randwall?« Im gleichen Augenblick wußte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Eine dunkle Vorahnung, ein Gefühl bevorstehender Gefahr hatte Louis erfaßt. Was nur?
»Würdest du die letzte Frage bitte wiederholen?« bat der Priester.
Louis wiederholte sie.
»Dein Ding hat beim ersten Mal etwas anderes gesagt. Irgend etwas von einer verbotenen… ich weiß es nicht.«
»Eigenartig«, brummte Louis. Und diesmal hörte er es selbst. Der Translator sprach in einem anderen Tonfall, und er sprach eine ganze Weile.
»›Sie benutzen eine verbotene Wellenlänge und verstoßen…‹ An den Rest entsinne ich mich nicht«, sagte der Priester. »Wir sollten diese Unterhaltung besser beenden. Du hast irgend etwas Altes aufgeweckt. Etwas Böses…« Der Priester unterbrach sich, denn Louis’ Translator hatte erneut zu reden angefangen, erneut in der Sprache des Priesters. »›… verstoßen gegen Gesetz Nummer Zwölf und behindern Wartung und Reparatur…‹ Hast du genug Macht, um es aufzuhalten…?«
Was immer der Priester sonst noch sagte, es wurde nicht mehr übersetzt.
Die Translatorscheibe wurde plötzlich in Louis’ Hand rotglühend. Er schleuderte sie heftig weg. Sie glühte weiß und leuchtete hell auf, als sie auf dem Boden auftraf — glücklicherweise, ohne jemanden zu verletzen (soweit Louis sehen konnte). Dann übermannte ihn der Schmerz, und er war halb blind vor Tränen.
Er sah noch, wie der Priester ihm zunickte, sehr formell und sehr majestätisch.
Louis erwiderte das Nicken mit ausdruckslosem Gesicht. Er war zu keiner Zeit von seinem Flugrad abgestiegen. Jetzt gab er Gas, und die Maschine schoß in die Luft. Louis steuerte auf das Schloß zu.
Als sie sein Gesicht nicht mehr sehen konnten, verzog er es vor Schmerz. Er stöhnte laut und benutzte ein Wort, das er früher einmal auf Wunderland gehört hatte — von einem Mann, der ein tausend Jahre altes Stück Steubenkristall fallengelassen hatte.