KAPITEL ACHTZEHN DAS GLÜCK DER TEELA BROWN

Es herrschte finsterste Nacht, als sie aus der Iris des Sturmauges heraus waren. Die Sterne waren nicht zu sehen, und nur gelegentlich schimmerte schwaches blaues Licht vom Bogen durch einen Riß in der Wolkendecke.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Nessus, Sie dürfen sich uns wieder anschließen, wenn Sie möchten.«

»Das möchte ich«, erwiderte der Puppenspieler.

»Wir brauchen Ihre Einblicke als Alien. Sie haben großen Einfallsreichtum demonstriert. Sie werden begreifen, daß ich das Verbrechen nicht vergessen kann, das Ihre Rasse gegen die meine begangen hat.«

»Ich will versuchen, Ihre Einstellung zu respektieren, Sprecher-zuden-Tieren.«

Louis bemerkte diesen Triumph der Praxis über die Ehre und der Intelligenz über die Xenophobie kaum. Er suchte die Stelle, wo die ausgedehnte Wolkenbank den unendlichen Horizont traf, nach Teela Browns Kondensstreifen ab. Es war keine Spur mehr zu sehen.

Teela war noch immer bewußtlos. Ihr Interkombild bewegte sich unruhig, und Louis rief: »Teela!« Doch sie reagierte nicht.

»Wir haben uns in ihr getäuscht«, sagte Nessus. »Aber ich verstehe nicht wieso. Warum sind wir abgestürzt, wenn ihr Glück derart mächtig ist?«

»Genau das habe ich Louis auch gesagt!«

»Aber«, fuhr der Puppenspieler fort, »wenn ihr Glück nicht von Dauer ist — wie hat sie dann den Notschub aktivieren können? Ich glaube, ich hatte von Anfang an recht. Teela Brown hat physisches Glück.«

»Und warum wurde sie dann von Ihnen gefunden? Warum stürzte die Lying Bastard ab? Haben Sie darauf auch eine Antwort?«

»Hören Sie auf«, sagte Louis.

Sie ignorierten ihn. Nessus erwiderte: »Ihr Glück ist eindeutig unzuverlässig.«

»Wenn ihr Glück sie auch nur einmal im Stich gelassen hätte, wäre sie längst tot.«

»Wäre sie tot oder hätte sie sich einmal verwundet, würde ich sie nicht mitgenommen haben. Ich nehme an, es war einfach Zufall«, sagte Nessus. »Vergessen Sie nicht, Sprecher-zu-den-Tieren, daß die Wahrscheinlichkeitsgesetze den Zufall nicht nur gestatten, sondern sogar vorsehen.«

»Aber sie sehen keine Zauberei vor. Ich glaube nicht, daß man Glück züchten kann.«

»Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben«, warf Louis ein.

Diesmal hörten sie auf ihn. Er fuhr fort: »Ich hätte viel eher darauf kommen müssen. Nicht, weil sie andauernd irgendwelchen Debakeln entging. Es waren die kleinen Dinge. Dinge in ihrer Persönlichkeit. Sie ist ein Glückskind, Sprecher. Glauben Sie mir.«

»Louis, wie können Sie nur diesen Unsinn glauben?«

»Sie hat sich niemals verletzt. Noch nie im Leben.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich weiß es eben. Sie weiß alles über Vergnügen, aber nichts über Schmerz. Erinnern Sie sich, als die Spiegelblumen auf Sie schossen? ›Ich bin geblendet!‹ sagten Sie. Und Teela erwiderte: ›Ja, aber können Sie sehen!‹ Sie glaubte Ihnen nicht.

Und dann, ja, direkt nach unserem Absturz. Sie versuchte barfuß über einen Lavahang zu laufen, der noch glühend heiß war.«

»Sie ist nicht besonders intelligent, Louis.«

»Sie ist intelligent, tanj! Sie hat sich nur einfach noch niemals verletzt! Als sie sich die Füße verbrannte, rannte sie schnurstracks den Hang hinunter auf eine Fläche, die ein Dutzendmal schlüpfriger ist als Eis — haben Sie sie etwa fallen gesehen? Nein.

Aber soviel Einzelheiten braucht man gar nicht«, sagte Louis. »Man muß nichts weiter tun, als ihren Gang zu beobachten. Ungeschickt. Es sieht aus, als würde sie jede Sekunde über irgend etwas stolpern oder hinfallen. Doch das geschieht nicht. Sie stößt sich nicht die Ellbogen an irgendwelchen Kanten. Sie verschüttet keine Flüssigkeiten, und sie läßt nichts fallen. Noch nie im Leben. Sie hat nie gelernt aufzupassen, verstehen Sie? Also ist sie auch nicht elegant.«

»So etwas fällt Nichtmenschen nicht ohne weiteres auf«, sagte Derzu-den-Tieren-spricht zweifelnd. »Ich muß Ihnen Glauben schenken, Louis. Trotzdem — wie kann ich an physisches Glück glauben?«

»Ich tue es auch. Mir bleibt gar nichts anderes übrig.«

»Wäre Teela Browns Glück zuverlässig«, sagte Nessus, »dann wäre sie niemals auf die Idee gekommen, über kürzlich erstarrte Lava zu laufen. Und doch schützt das Glück von Teela Brown sporadisch auch uns. Beruhigend, nicht wahr? Sie drei wären längst tot, hätten die Wolken Sie nicht abgeschirmt, als Sie das Spiegelblumenfeld überquerten.«

»Ja«, stimmte Louis zu, und er erinnerte sich, daß die Wolken gerade lange genug aufgerissen waren, um Der-zu-den-Tieren-spricht zu verbrennen. Er erinnerte sich an die neun Stockwerke Treppen, die Teela Brown hinaufgefahren war, während Louis hatte laufen müssen. Er spürte die Pflaster auf seinen Fingern und erinnerte sich an die bis auf die Knochen verbrannte Hand von Der-zu-den-Tierenspricht, während Teela Browns Translatorscheibe in ihrer Satteltasche geschmolzen war, ohne Schaden anzurichten. »Teelas Glück beschützt sie um einiges besser als uns«, sagte er.

»Warum auch nicht. Sie wirken aufgebracht, Louis.«

»Vielleicht bin ich das…« Ihre Freunde hatten wahrscheinlich schon lange aufgehört, von ihren Sorgen zu erzählen. Teela verstand nicht, was Sorgen waren. Teela Schmerz zu beschreiben war, als wollte man einem Blinden Farben beschreiben.

Herzschlingern? Teela hatte sich niemals unglücklich verliebt. Der Mann, den sie wollte, kam zu ihr und blieb, bis sie seiner fast überdrüssig war, um dann freiwillig wieder zu gehen.

Sporadisch oder nicht — Teelas seltsame Gabe machte sie… ein wenig anders als andere Menschen. Sie war eine Frau, sicherlich, doch mit anderen Talenten und Stärken… und natürlich Schwächen. Und sie war eine Frau, die Louis geliebt hatte. Sehr, sehr eigenartig.

»Sie hat mich ebenfalls geliebt«, sinnierte Louis. »Seltsam. Ich bin gar nicht ihr Typ. Und wenn sie sich nicht in mich verliebt hätte, dann…«

»Was ist, Louis? Reden Sie mit mir?«

»Nein, Nessus. Ich rede mit mir selbst…« War das der wahre Grund, aus dem Teela sich Louis Wu und seiner buntgescheckten Mannschaft angeschlossen hatte? Dann war ihr Glück ein zweischneidiges Schwert. Glück hatte Teela Brown einen unpassenden Mann lieben lassen und sie motiviert, sich einer sowohl unbequemen als auch vom Pech verfolgten Expedition anzuschließen, so daß sie mehrere Male nur um Haaresbreite einem gewaltsamen Tod entronnen war. Es ergab keinen Sinn.

Teelas Interkombild rührte sich. Ein verständnisloser Blick aus leeren Augen… Verwirrung… und plötzlich nacktes Entsetzen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie nach unten. Ihr sonst so liebliches Gesicht war von wahnsinniger Angst verzerrt.

»Ruhig«, sagte Louis. »Ganz ruhig. Entspann dich. Du bist außer Gefahr.«

»Aber…« Ihre Stimme war ein Falsettquieken.

»Wir sind wieder draußen. Wir haben es weit hinter uns gelassen. Sieh dich um. Tanj! Sieh dich endlich um!«

Sie drehte sich um. Einen langen Augenblick sah Louis nur ihr weiches dunkles Haar. Als sie wieder in die Kamera sah, hatte sie sich besser unter Kontrolle.

»Nessus«, sagte Louis. »Erzählen Sie ihr, was sie tun muß.«

Der Puppenspieler sagte: »Sie sind über eine halbe Stunde mit Mach Vier geflogen. Um Ihr Flugrad auf normale Geschwindigkeit zurückzubringen, schieben Sie Ihren Zeigefinger in den Schlitz mit der grünen Markierung…«

Sie war noch immer entsetzt, aber sie konnte schon wieder Anordnungen gehorchen.

»Und jetzt müssen Sie zu uns zurückkehren. Mein Signal zeigt an, daß Sie eine weite Kurve geflogen sind. Sie befinden sich an Backbord und spinwärts von uns. Da Sie keinen Positionszeiger besitzen, muß ich Sie zu uns zurück dirigieren. Als erstes drehen Sie und fliegen genau antispinwärts.«

»Welche Richtung ist das?«

»Drehen Sie nach links, bis Sie auf die Basis des Bogens zuhalten.«

»Ich kann den Bogen nicht sehen. Ich muß über die Wolken gehen.« Sie schien sich wieder völlig unter Kontrolle zu haben.

Tanj, sie hatte schreckliche Angst gehabt! Louis konnte sich nicht erinnern, jemals jemanden mit soviel Angst gesehen zu haben. Ganz bestimmt hatte er Teela noch niemals so gesehen.

Hatte er sie überhaupt jemals verängstigt gesehen?

Louis warf einen Blick über die Schulter. Das Land unter den Wolken war finster, doch das Sturmauge, weit hinter ihnen, schimmerte blau im Licht des Bogens. Es starrte ihnen hinterher, voller Konzentration und ohne jedes Zeichen von Bedauern.


Louis war tief in Gedanken versunken, als eine Stimme seinen Namen nannte. »Ja?« sagte er.

»Bist du nicht wütend?«

»Wütend?« Louis dachte darüber nach. Ihm kam flüchtig zu Bewußtsein, daß Teela Brown, gemessen an normalen Standards, etwas unglaublich Dummes getan hatte, als sie mit ihrem Flugrad so tief heruntergegangen war. Er suchte nach Wut in sich, wie man einen alten Zahnschmerz sucht. Er fand nichts.

Normale Standards waren für Teela Brown nicht angemessen.

Der Zahn war tot.

»Ich schätze nicht. Was hast du dort unten gesehen?«

»Ich hätte sterben können!« sagte sie mit wachsendem Ärger. »Hör auf, den Kopf über mich zu schütteln, Louis Wu! Ich hätte sterben können! Liebst du mich nicht mehr?«

»Und du?«

Sie zuckte zurück, als hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben. Dann — er sah eine Handbewegung, und weg war sie.

Einen Augenblick später war sie wieder da. »Ich habe ein Loch gesehen«, rief sie wütend. »Und unten am Boden war Nebel. Bist du zufrieden?«

»Wie groß?«

»Woher soll ich das wissen?« Weg war sie.

Richtig. Wie hätte sie die Größe im flackernden Licht abschätzen sollen?

Sie riskiert ihr eigenes Leben, dachte Louis, und dann macht sie mir Vorwürfe, weil ich nicht wütend bin. Was soll das? Will sie meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Wie lange geht das schon?

Jeder andere an ihrer Stelle würde jung sterben!

»Aber nicht sie«, sagte Louis zu sich. »Nicht…«

Habe ich Angst vor ihr?

»Oder bin ich am Ende durchgedreht?«

Es war anderen in Louis’ Alter passiert. Ein Mann in Louis Wus Alter hatte immer und immer wieder gesehen, wie an und für sich unmögliche Dinge geschahen. Für einen Mann in Louis’ Alter verschwamm hin und wieder die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Vielleicht würde er ultrakonservativ werden und das Unmögliche selbst dann noch von sich weisen, wenn es eingetreten war… wie Kragen Perel, der nicht glauben wollte, daß es Thrusterantriebe gab, weil sie dem Newtonschen Grundgesetz der Dynamik widersprachen. Oder er würde alles glauben… wie Zero Haie, der unablässig gefälschte Slaver-Relikte kaufte.

Beides würde auf Dauer zu Ruin und Wahnsinn führen.

»Nein!« Wenn Teela Brown dem sicheren Tod entkommt, indem sie mit dem Kopf auf die Konsole ihres Rades kracht, dann hat das nichts mehr mit Zufall zu tun!

Aber warum ist dann die Liar abgestürzt?

Ein silberner Punkt tauchte zwischen Louis und dem kleineren Fleck von Der-zu-den-Tieren-spricht weiter spinwärts auf. »Willkommen zurück«, sagte Louis.

»Danke sehr«, antwortete Nessus. Er hatte wahrscheinlich die Notschaltung benutzt, um so rasch aufzuholen. Es war kaum zehn Minuten her, daß der Kzin seine Einladung ausgesprochen hatte.

Zwei dreieckige Köpfe, klein und transparent, musterten Louis von der Instrumentenkonsole her. »Ich fühle mich jetzt sicher«, sagte er. »Wenn Teela in einer halben Stunde wieder bei uns ist, werde ich mich noch sicherer fühlen.«

»Warum das?«

»Das Glück von Teela Brown beschützt uns, Louis.«

»Das glaube ich kaum«, erwiderte er.

Der-zu-den-Tieren-spricht schwieg. Er beobachtete Louis und Nessus durch den Interkom. Lediglich Teela war nicht zugeschaltet.

»Ihre Arroganz macht mir zu schaffen«, sagte Louis Wu. »Der Versuch, glückliche Menschen zu züchten, zeugt von einer teuflischen Arroganz. Wissen Sie, was das ist? Der Teufel?«

»Ich habe darüber gelesen.«

»Sie sind ein Snob. Ihre Arroganz wird nur noch von Ihrer Dummheit übertroffen? Sie gehen unbekümmert davon aus, daß alles, was für Teela Brown gut ist, automatisch auch für Sie gut sein muß. Warum um alles in der Welt sollte das so sein?«

Nessus stotterte. Dann: »Das ist doch nur natürlich. Wenn wir beide in der gleichen Raumschiffhülle eingeschlossen sind, dann bedeutet ein Riß Pech für uns beide.«

»Sicher. Aber einmal angenommen, sie kommen irgendwohin, wo Teela hinwill, und weiter angenommen, sie wollen nicht dorthin. Wenn Ihr Antrieb in diesem Augenblick versagt, bedeutet das Glück für Teela Brown, aber nicht für Sie!«

»Welch ein Unsinn, Louis! Warum sollte Teela Brown zur Ringwelt reisen wollen? Sie wußte nicht einmal von ihrer Existenz, bevor ich ihr davon erzählte.«

»Aber Teela ist diejenige mit dem Glück. Wenn sie aus irgendeinem Grund herkommen mußte, von dem sie gar nichts wußte, dann wäre sie so oder so gekommen. Dann wäre ihr Glück nicht sporadisch, wie Sie es nennen, Nessus. Oder? Es hätte die ganze Zeit über funktioniert. Glück, daß Sie sie gefunden haben. Glück, daß Sie niemand anderen finden konnten, der qualifiziert war. All diese falschen Telefonnummern, erinnern Sie sich?«

»Aber…«

»Glück, daß wir abgestürzt sind. Erinnern Sie sich, wie Sie und Der-zu-den-Tieren-spricht darüber stritten, wer die Expedition anführt? Nun, jetzt wissen Sie es.«

»Aber wieso?«

»Wenn ich das wüßte!« Frustriert fuhr sich Louis mit den Fingern durch die Haare. Auf seinem ehemals kahlgeschorenen Schädel wuchsen die Haare inzwischen länger als einen Zoll.

»Bringt Sie die Frage aus der Fassung, Louis? Mich bringt sie aus der Fassung. Was könnte es hier auf der Ringwelt geben, das Teela Brown anzieht? Diese Welt ist… ist unsicher! Merkwürdige Stürme, schlecht programmierte Maschinen, Spiegelblumenfelder und unberechenbare Eingeborene, die unser Leben bedrohen!«

»Hah!« bellte Louis. »Richtig. Das gehört dazu! Gefahr existiert nicht für Teela Brown, sehen Sie das denn nicht? Unsere Einschätzung der Ringwelt muß das einfach berücksichtigen.«

Der Puppenspieler öffnete und schloß die beiden Münder mehrfach in rascher Folge.

»Es macht die Dinge schwierig, nicht wahr?« kicherte Louis. Für ihn lag Vergnügen im Lösen von Problemen. »Aber es ist erst die halbe Antwort. Wenn wir davon ausgehen…«

Der Puppenspieler kreischte.

Louis war schockiert. Er hatte nicht erwartet, daß es Nessus so schwer treffen würde. Der Puppenspieler heulte zweistimmig. Dann, ohne ersichtliche Hast, steckte er die beiden Köpfe unter den Bauch. Louis sah nur noch die wirre Mähne, die den Höcker mit dem Gehirn darin bedeckte.

Dann meldete sich Teela über Interkom.

»Ihr habt euch über mich unterhalten«, sagte sie ruhig. (Louis erinnerte sich, daß sie nicht nachtragend sein konnte. Machte das die Fähigkeit, nachtragend zu sein, zu einem Überlebensfaktor?) »Ich habe versucht, eurer Unterhaltung zu folgen, aber ich habe nichts verstanden. Was ist mit Nessus?«

»Mein großes Maul. Ich habe ihm Angst eingejagt. Wie sollen wir dich jetzt finden?«

»Kannst du mir nicht sagen, wo ich bin?«

»Nessus hat den einzigen Positionsanzeiger. Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem er uns nicht verraten hat, wie die Notschaltung aktiviert wird.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, erwiderte Teela.

»Er wollte sichergehen, daß er einem wütenden Kzin davonfliegen konnte. Na ja, egal. Was hast du nicht verstanden?«

»Fast alles. Ihr habt euch immer wieder gefragt, warum ich herkommen wollte. Louis, ich wollte nicht herkommen. Ich bin mit dir gekommen, weil ich dich liebe!«

Louis nickte. Sicher. Wenn Teela zur Ringwelt mußte, dann brauchte sie ein Motiv, um mit Louis Wu mitzukommen. Es war nicht gerade schmeichelhaft.

Sie liebte ihn um ihres eigenen Glücks willen. Einst hatte er geglaubt, sie würde ihn um seiner selbst willen lieben.

»Ich fliege über eine Stadt«, sagte Teela unvermittelt. »Ich erkenne ein paar Lichter. Nicht viele. Es muß eine große, dauerhafte Energiequelle gegeben haben. Der-zu-den-Tieren-spricht kann sie wahrscheinlich auf seiner Karte sehen.«

»Ist sie einen Blick wert?«

»Ich habe dir schon gesagt, es gibt Lichter! Vielleicht…« Ihre Stimme brach ohne jede Warnung ab.

Louis starrte auf den leeren Platz über seiner Konsole. Dann rief er: »Nessus!«

Keine Reaktion.

Louis aktivierte die Sirene.

Nessus kam hervor wie eine Familie von Schlangen aus einem brennenden Zoo. Unter anderen Umständen hätte Louis laut gelacht: Zwei sich hektisch entwirrende Hälse, die anschließend wie zwei Fragezeichen über der Konsole schwebten. »Was ist los, Louis?« bellte der Puppenspieler.

Der-zu-den-Tieren-spricht hatte augenblicklich auf Louis’ Notruf reagiert. Anscheinend hatte er auf Anweisungen und Aufklärung gewartet.

»Irgend etwas ist mit Teela passiert.«

»Gut«, sagte Nessus. Und zog die Köpfe wieder ein.

Wütend schaltete Louis die Sirene ab, wartete einen Augenblick, und schaltete sie erneut ein. Nessus reagierte wie zuvor. Diesmal redete Louis zuerst.

»Wenn wir nicht herausfinden, was mit Teela passiert ist, werde ich Sie töten«, sagte er.

»Ich habe den Tasp«, erwiderte Nessus. »Er funktioniert bei Kzinti und Menschen gleichermaßen. Sie haben seine Auswirkungen bei Der-zu-den-Tieren-spricht gesehen.«

»Glauben Sie, er würde mich davon abhalten, Sie zu töten?«

»Ja, Louis. Das glaube ich.«

»Um was«, fragte Louis gefährlich leise, »wollen wir wetten?«

Der Puppenspieler dachte nach. »Teela zu retten ist wohl kaum so gefährlich wie diese Wette. Ich hatte vergessen, daß sie Ihre Gefährtin ist.« Er sah nach unten. »Sie erscheint nicht mehr auf meinem Positionsanzeiger. Ich kann nicht sagen, wo sie sich befindet.«

»Bedeutet das, daß ihr Flugrad beschädigt wurde?«

»Ja, und zwar schwer. Der Sender befindet sich neben einem der Thrusteraggregate. Vielleicht ist sie auf eine andere funktionierende Maschine gestoßen, ähnlich der, die unsere Kommunikatorscheiben zerstört hat.«

»Hm. Aber Sie wissen, wo sie war, als die Kommunikation zusammenbrach?«

»Zehn Grad spinwärts von Backbord. Ich weiß nicht, wie weit sie entfernt war, doch das können wir aus der Durchschnittsgeschwindigkeit ihrer Maschine errechnen.«

Sie flogen in einer weitläufigen Kurve nach der handgezeichneten Karte von Der-zu-den-Tieren-spricht. Zwei Stunden lang suchten sie vergeblich nach den Lichtern der Stadt, und Louis fragte sich allmählich, ob sie sich verflogen hatten.

Dreitausendfünfhundert Meilen hinter dem Hurrikan, den sie Sturmauge getauft hatten, endete die Linie auf der Karte von Derzu-den-Tieren-spricht an einer Küste mit einer Hafenstadt. Hinter der Küste befand sich eine Bucht von der Größe des atlantischen Ozeans. Weiter konnte Teela nicht gekommen sein. Die Hafenstadt war ihre letzte Chance…

Unvermittelt tauchten hinter einer täuschend sanft ansteigenden Hügelkette Lichter auf.

»Hochziehen!« flüsterte Louis aufgeregt, ohne zu wissen, warum er flüsterte. Der-zu-den-Tieren-spricht hatte die Flugräder allerdings schon mitten in der Luft angehalten.

Sie schwebten auf der Stelle und studierten das Terrain und die Lichter.

Das Terrain: Stadt. Überall Stadt. Unter ihnen, schattig im blauen Licht des Bogens, standen Häuser wie Bienenkörbe mit runden Fenstern, durch Gassen voneinander getrennt, die zu schmal waren, um den Namen Straße zu verdienen. Weiter voraus: Mehr vom Gleichen. Noch weiter voraus: Höhere, größere Bauwerke, bis hin zu Wolkenkratzern und Schwebebauten.

»Sie hatten unterschiedliche Baustile«, flüsterte Louis. »Die Architektur… sie ist anders als in Zignamucklickklick. Ein anderer Stil…«

»Wolkenkratzer«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Und das, obwohl sie so unendlich viel Raum hatten auf der Ringwelt?«

»Um zu beweisen, daß sie es konnten. Nein, das wäre dämlich«, sagte Louis. »Es würde keinen Sinn machen, wenn sie so etwas wie die Ringwelt bauen konnten.«

»Vielleicht kamen die hohen Bauwerke später, während des Niedergangs der Zivilisation?«

Die Lichter: strahlend weiße Fensterreihen, ein Dutzend einzelner Türme, die von der Spitze bis zur Basis in Licht getaucht waren. Sie standen zusammengeballt im Stadtzentrum, wie Louis es bei sich nannte, weil sich alle sechs Schwebebauten ebenfalls dort befanden.

Und noch etwas: Ein kleiner Vorort spinwärts vom Stadtzentrum leuchtete in düsterem Orange.


Im ersten Stock eines der Bienenkorbhäuser saßen sie zu dritt um die Karte von Der-zu-den-Tieren-spricht.

Der Kzin hatte darauf bestanden, die Flugräder mit hinein zu nehmen. »Sicherheitshalber.« Das Licht stammte aus den Scheinwerfern des Flugrads von Der-zu-den-Tieren-spricht, weich zurückgeworfen von einer gekrümmten Wand. Ein Tisch mit Ausformungen für Teller und Unterteller war zusammengebrochen und zu Staub zerfallen, als Louis darübergewischt hatte. Auf dem Boden lag zollhoch Staub. Die Farbe an der gekrümmten Wand war abgebröckelt und lag entlang der Basis als himmelblauer Staub auf dem Boden.

Louis spürte, wie das Alter der Stadt ihn bedrückte.

»Als die Bänder aus dem Kartenraum angefertigt wurden, war das hier eine der größten Städte auf der gesamten Ringwelt«, sagte Derzu-den-Tieren-spricht. Er fuhr mit der gekrümmten Klaue über die Karte. »Ursprünglich entstand die Stadt auf dem Reißbrett. Ein Halbrund mit der flachen Seite zur See. Das Schloß namens Himmel muß erst viel später erbaut worden sein, als die Stadt sich bereits weit entlang der Küste ausgedehnt hatte.«

»Schade, daß Sie keinen Stadtplan angefertigt haben«, sagte Louis. Auf der handgezeichneten Karte des Kzin war nichts als ein schraffierter Halbkreis zu sehen.

Der-zu-den-Tieren-spricht hob die Karte auf und faltete sie zusammen. »So eine verlassene Metropole birgt sicher viele Geheimnisse. Wir müssen vorsichtig sein. Falls die Zivilisation sich auf dieser Welt — auf diesem Artefakten — überhaupt je wieder erholen kann, dann sicher dort, wo Hinweise auf die verlorenen Technologien zu finden sind.«

»Was ist mit Metallen?« fragte Nessus. »Auf der Ringwelt kann eine gefallene Zivilisation nicht wieder auferstehen. Es gibt keine abbaubaren Mineralien, keine fossilen Treibstoffe, nichts. Werkzeuge beschränken sich auf Holz und Knochen.«

»Aber wir haben Lichter gesehen.«

»In einem zufälligen Muster. Resultat zahlreicher autarker Energiequellen, die nach und nach versagten. Trotzdem haben Sie vielleicht recht«, sagte Nessus. »Wenn irgendwo wieder angefangen wurde, Werkzeuge herzustellen, dann müssen wir mit den Werkzeugmachern Kontakt aufnehmen. Aber zu unseren Bedingungen.«

»Vielleicht wurden wir anhand unserer Interkomsignale bereits geortet.«

»Nein, Sprecher-zu-den-Tieren. Der Interkom arbeitet über Richtfunk.«

Louis hatte nur halb zugehört. Sie könnte verletzt sein, dachte er. Sie könnte irgendwo liegen und sich nicht mehr bewegen. Sie würde auf uns warten, auf Hilfe.

Louis konnte es selbst nicht so recht glauben.

Es sah ganz danach aus, als wäre Teela Brown über eine weitere alte Ringweltmaschine gestolpert: vielleicht eine ausgeklügelte automatische Waffe, falls die Ringweltler solche Dinge besessen hatten. Möglicherweise hatte der Mechanismus lediglich ihren Interkom und den Peilsender zerstört und die Antriebssysteme intakt gelassen. Allerdings schien das unwahrscheinlich.

Und warum zur Hölle wollte sich bei Louis einfach kein Gefühl von Dringlichkeit einstellen? Louis Wu, kalt wie ein Computer, während seine Gefährtin unbekannten Gefahren ausgesetzt war…

Seine Gefährtin… ja, und noch mehr. Und etwas anders.

Wie dumm von Nessus anzunehmen, daß eine auf Glück gezüchtete Frau genauso dachte wie die Menschen, die er bis dahin kennengelernt hatte! Würde ein Puppenspieler mit soviel Glück etwa denken wie der gesunde Chiron?

Vielleicht war Furchtsamkeit ja genetisch in den Puppenspielern verankert.

Menschen jedenfalls mußten Furcht erst lernen.

»Wir müssen von einem vorübergehenden Versagen von Teela Browns sporadischem Glück ausgehen. Weiterhin können wir ruhig annehmen, daß sie unverletzt ist.«

»Was?« Louis schrak zusammen. Der Puppenspieler schien den gleichen Gedankengang gehabt zu haben wie Louis.

»Falls ihr Flugrad versagt hätte, wäre sie wahrscheinlich tot. Und wenn sie nicht augenblicklich gestorben ist, dann hat man sie gerettet, sobald ihr Glück seine ursprüngliche Kraft zurückgewonnen hat.«

»Das ist doch lächerlich! Sie können doch nicht im Ernst erwarten, daß physische Kräfte Gesetzen wie diesen folgen!«

»Die Logik ist fehlerlos, Louis. Was ich damit sagen will: Wir müssen Teela nicht retten, so schnell wir können. Falls sie noch am Leben ist, kann sie warten. Wir können uns Zeit lassen, bis es Morgen wird, und zuerst die Umgebung erkunden.«

»Und dann? Wie finden wir sie?«

»Sie ist in sicheren Händen, wenn ihr Glück sie nicht verlassen hat. Und wenn es keine Hände gab, werden wir das morgen früh herausfinden. Hoffen wir, daß sie uns ein Signal geben kann. Es gibt verschiedene Wege, das zu bewerkstelligen.«

Der-zu-den-Tieren-spricht meldete sich. »Aber sie funktionieren alle mit Licht.«

»Und wenn nicht?«

»Sie werden funktionieren. Ich habe darüber nachgedacht. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ihre Scheinwerfer noch arbeiten. Sie wird sie angelassen haben. Sie behaupten doch, Teela sei intelligent, Louis.«

»Das ist sie.«

»Und sie hat keine Ahnung, was Sicherheit angeht. Sie wird keinen Gedanken daran verschwenden, was sie getroffen hat — solange wir sie hinterher finden. Falls ihre Scheinwerfer kaputt sind, kann sie immer noch ihren Flashlaser benutzen, um alles auf sich aufmerksam zu machen, was sich bewegt — oder ein Feuer anzünden.«

»Was Sie damit sagen ist, daß wir sie im Tageslicht nicht finden können. Und damit haben Sie recht«, gestand Louis.

»Zuerst einmal müssen wir die Stadt bei Tageslicht erkunden«, sagte Nessus. »Wenn wir Bewohner finden, um so besser. Ansonsten werden wir morgen abend nach Teela suchen.«

»Sie wollen sie dreißig Stunden lang irgendwo liegen lassen? Sie kaltblütiger…! Tanj, dieser Lichtfleck, den wir von weitem sahen… vielleicht war sie das! Keine Straßenbeleuchtung, sondern brennende Häuser!«

Der-zu-den-Tieren-spricht erhob sich. »Sie haben recht. Wir müssen der Angelegenheit nachgehen.«

»Ich bin der Hinterste dieser Expedition! Ich sage, daß Teela nicht so bedeutsam ist, als daß wir riskieren dürften, mitten in der Nacht über eine fremde Stadt zu fliegen!«

Der-zu-den-Tieren-spricht war bereits auf sein Flugrad geklettert. »Wir befinden uns in möglicherweise feindlichem Gebiet. Aus diesem Grund befehle ich. Wir werden jetzt aufbrechen und nach Teela Brown suchen. Sie ist ein Mitglied unserer Expedition!«

Der Kzin startete und hob ab. Er steuerte sein Flugrad durch ein großes ovales Fenster nach draußen. Hinter dem Fenster befanden sich die Ruinen einer Veranda, und dann ging es in die Vororte der unbekannten Stadt.

Die restlichen Flugräder standen noch im Erdgeschoß. Louis eilte vorsichtig die Treppe hinunter, denn ein paar Stufen waren eingestürzt, und die Aufzugsmaschinerie hatte sich schon vor einer Ewigkeit in Rost aufgelöst.

Nessus blickte über den Rand des Treppengeländers hinter ihm her. »Ich bleibe hier, Louis. Ich betrachte dies als Meuterei.«

Louis würdigte den Puppenspieler keiner Antwort. Er stieg auf seine Maschine, steuerte sie durch den ovalen Ausgang und flog in die Nacht hinaus.


Die Nacht war kühl. Das Licht des Bogens tauchte die Stadt in navyblaue Schatten. Louis entdeckte das Schimmern vom Flugrad des Kzin und folgte ihm in Richtung des orangefarben glühenden Stadtbezirks, spinwärts vom hell erleuchteten Stadtzentrum.

Ringsum war nichts als Stadt. Hunderte von Quadratmeilen Stadt. Es gab nicht einmal Parkanlagen. Warum hatten sie so dicht an dicht gebaut, bei diesem unendlichen Raum auf der Ringwelt? Selbst auf der Erde schätzten die Menschen ein gewisses Maß an Ellbogenfreiheit.

Doch auf der Erde gab es auch Transferkabinen. Das mußte der Grund sein: Die Ringweltler hatten gesparte Reisezeit höher bewertet als Ellbogenfreiheit.

»Wir bleiben niedrig«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht über Interkom. »Falls das Licht lediglich von Straßenlaternen stammt, kehren wir augenblicklich wieder zu Nessus zurück. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, daß Teela vielleicht abgeschossen wurde.«

»Sie haben recht«, stimmte Louis ihm zu. Und dachte insgeheim: Hör sich einer das an! Ein Kzin macht sich angesichts eines rein hypothetischen Feindes Gedanken um Sicherheit. Ein Kzin, unbesonnen und rücksichtslos, benahm sich in Gegenwart Teela Browns vorsichtig wie ein Puppenspieler.

Wo mochte sie jetzt stecken? War sie unverletzt oder nicht? Oder vielleicht sogar tot?

Sie hatten nach zivilisierten Ringweltbewohnern gesucht, seit sie in das System eingeflogen waren, lange vor dem Absturz der Liar. Hatten sie sie schließlich doch noch gefunden? Das war jedenfalls der Grund, der Nessus davon abgehalten hatte, Teela aufzugeben. Louis’ Drohung war völlig bedeutungslos, und Nessus hatte das sehr wohl gewußt.

Wenn sie auf zivilisierte Ringweltler gestoßen waren und diese ihnen feindlich gegenüberstanden — nun, das kam kaum überraschend…

Sein Flugrad trieb nach links ab. Louis korrigierte.

»Louis.« Der-zu-den-Tieren-spricht schien mit irgend etwas zu kämpfen. »Es scheint eine Interferenz zu geben…« Dann, drängend, mit dem geübten Peitschen einer befehlsgewohnten Stimme: »Louis, kehren Sie augenblicklich um! Jetzt!«

Die Kommandostimme drang direkt in Louis’ Kleinhirn. Louis machte auf der Stelle kehrt.

Sein Flugrad gehorchte ihm allerdings nicht mehr. Es flog geradeaus.

Louis stemmte sich mit aller Kraft in den Lenker. Es nutzte nichts. Das Flugrad bewegte sich weiter in Richtung des erleuchteten Stadtzentrums.

»Irgend etwas hat uns gepackt!« rief Louis, und im gleichen Augenblick drohte ihn Panik zu übermannen. Sie waren nichts als Marionetten. Riesig und finster und überlegen bog der Marionettenspieler ihre Arme und Beine und bewegte sie nach einem Drehbuch, das sie nicht kannten. Louis Wu kannte den Namen des Marionettenspielers.

Das Glück der Teela Brown.

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