»Sie hätten eigentlich niederknien müssen«, beschwerte sich Louis. »Das hat mich zum Narren gehalten. Und der Translator hat immer wieder ›Baumeister‹ gesagt, wenn ›Schöpfer‹ gemeint war.«
»Schöpfer?«
»Sie haben die Erbauer der Ringwelt zu Göttern erhoben. Die Stille hätte mir auffallen müssen. Tanj, niemand außer dem Priester gab auch nur den kleinsten Laut von sich! Sie verhielten sich, als lauschten sie irgendeiner uralten Litanei. Und ich gab ständig die falschen Antworten!«
»Eine Religion! Wie merkwürdig! Du hättest jedenfalls nicht lachen dürfen«, sagte Teelas Bild im Interkom. »Niemand lacht in einer Kirche, nicht einmal Touristen.«
Sie flogen unter einer verblassenden Mittagssonne dahin. Die Ringwelt erhob sich in leuchtenden hell- und dunkelblauen Streifen über sich selbst und wurde von Minute zu Minute heller.
»Aber es war in dem Augenblick lustig«, verteidigte sich Louis. »Es ist noch immer lustig. Sie haben vergessen, daß sie auf einem Ring leben. Sie denken, es ist ein Bogen!«
Ein Rauschen durchdrang die Schallfalte. Für einen Augenblick wurde es laut wie ein Hurrikan, dann brach es abrupt ab. Sie hatten die Schallmauer durchbrochen.
Zignamucklickklick blieb hinter ihnen zurück. Die Stadt würde niemals eine Gelegenheit zur Rache an den Dämonen erhalten. Wahrscheinlich würden sie niemals wieder hier vorbeikommen.
»Es sieht wirklich aus wie ein Bogen«, sagte Teela.
»Richtig. Ich hätte nicht lachen dürfen«, gab Louis zu. »Wir haben Glück. Wir können unsere Fehler einfach hinter uns zurücklassen. Wir müssen nichts weiter tun, als wieder in die Luft zu steigen. Nichts kann uns einfangen.«
»Einige Fehler verfolgen uns trotzdem, ob wir wollen oder nicht«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht.
»Eigenartig, daß Sie das erwähnen.« Louis kratzte sich geistesabwesend die blutige Nase, die so taub war wie ein Stück Holz. Sie würde verheilt sein, bevor das Betäubungsmittel nachließ.
Louis faßte einen Entschluß. »Nessus?«
»Ja, Louis?«
»Mir ist etwas aufgefallen, dort hinten in der Stadt. Sie haben uns erzählt, Sie gälten als verrückt, weil Sie Mut besitzen. Richtig?«
»Wie taktvoll Sie sind, Louis! Ihre vorsichtige Ausdrucksweise…«
»Nein, im Ernst. Sie und Ihre Artgenossen sind allesamt dem gleichen Trugschluß erlegen. Ein Puppenspieler dreht sich instinktiv um, um vor der Gefahr zu flüchten, stimmt’s?«
»Ja, Louis.«
»Falsch. Ein Puppenspieler wendet sich instinktiv von der Gefahr ab. Aber nur, um seinen Hinterhuf kampfbereit zu haben. Dieser Huf ist eine tödliche Waffe, Nessus.«
In einer einzigen fließenden Bewegung war der Puppenspieler auf seinen Vorderbeinen herumgewirbelt und hatte mit dem Hinterbein ausgetreten. Seine Köpfe waren weit gespreizt nach hinten gerichtet, wie sich Louis erinnerte, um das Ziel besser zu triangulieren. Nessus hatte einem Angreifer mit tödlicher Präzision das Herz durch das brechende Rückgrat hindurch nach draußen getreten.
»Ich konnte nicht weglaufen«, sagte der Puppenspieler. »Ich hätte mein Flugrad hinter mir zurückgelassen. Das wäre zu gefährlich gewesen.«
»Sie haben keine Sekunde darüber nachgedacht«, widersprach Louis. »Ihre Reaktion war instinktiv. Sie wenden einem Feind automatisch den Rücken zu. Umdrehen und auskeilen. Ein normaler Puppenspieler dreht sich um, um zu kämpfen, und nicht, um zu flüchten. Sie sind nicht verrückt, Nessus!«
»Sie irren sich. Die meisten Puppenspieler rennen vor der Gefahr davon.«
»Aber…«
»Die Mehrheit bestimmt, was normal ist, Louis.«
Herdentier! Louis gab auf. Er hob die Augen und beobachtete, wie das letzte schmale Stück Sonne verschwand.
Einige Fehler verfolgen uns, ob wir wollen oder nicht…
Der-zu-den-Tieren-spricht hatte sicher an etwas anderes gedacht, als er das gesagt hatte. Aber an was?
Im Zenit kreiste ein Ring aus schwarzen Rechtecken. Der eine, der die Sonne verbarg, wurde von einem perlfarbenen Leuchten wie von einer Korona umgeben. Die blaue Ringwelt bildete einen parabelförmigen Bogen über allem, umrahmt von einem sternenübersäten Himmel.
Es sah aus wie etwas, das von einem Kind mit einem Bau-dir-eineStadt-Spielzeugkasten geschaffen worden war. Einem Kind, das zu klein war, um zu wissen, was es tat.
Nessus hatte die Flugräder gelenkt, als sie Zignamucklickklick hinter sich gelassen hatten. Später hatte er das Steuer an Der-zuden-Tieren-spricht übergeben. Sie waren die ganze Nacht hindurch geflogen. Jetzt verkündete ein helleres Leuchten entlang einem Rand der zentralen Schattenblende das Heraufziehen der Morgendämmerung.
Irgendwann im Verlauf der letzten Stunden hatte Louis einen Weg gefunden, sich die Dimensionen der Ringwelt bildhaft vorzustellen.
Er ging von einer Merkatorprojektion der Erde aus — einer gewöhnlichen rechteckigen Landkarte, wie sie in Schulklassen an der Wand hing — allerdings im Maßstab 1:1. Eine solche Karte konnte man mit einem Relief überziehen, so daß man am Äquator das Gefühl hatte, tatsächlich auf der Erde zu stehen. Und von diesen Karten konnte man vierzig Stück nebeneinander legen, um die Ringwelt von einem Rand zum anderen auszufüllen.
Die Merkatorprojektion besaß eine größere Oberfläche als die Erde. Man könnte sie auf der Ringwelt ablegen, nur einen Augenblick lang wegschauen — und würde sie niemals wiederfinden.
Aber es ging noch besser, wenn man die Werkzeuge besaß, die zum Bau der Ringwelt nötig waren. Diese beiden großen Salzwasserozeane auf gegenüberliegenden Seiten des Rings — jeder davon war größer als jede von Menschen besiedelte Welt. Kontinente waren schließlich auch nur große Inseln. Man konnte die gesamte Erde in einen solchen Ozean einzeichnen und würde noch immer Platz ringsum haben.
Ich hätte nicht lachen sollen, schalt sich Louis. Ich habe ziemlich lang gebraucht, um die wirkliche Größe dieses… Artefakts zu begreifen. Warum sollten ausgerechnet die Eingeborenen besser damit zurechtkommen?
Nessus hatte es früher begriffen. Vorletzte Nacht, als sie zum ersten Mal den Bogen erblickt hatten, hatte Nessus geschrien und versucht, sich zu verstecken.
»Ach, was zum tanj…!« Es spielte keine Rolle. Nicht, wenn man alle Fehler mit mehr als zwölfhundert Meilen in der Stunde hinter sich lassen konnte.
Irgendwann meldete sich Der-zu-den-Tieren-spricht über Interkom und übergab Louis das Steuer über die kleine Flotte. Louis flog weiter, während der Kzin schlief.
Die Morgendämmerung brach mit siebenhundert Meilen in der Sekunde herein.
Die Linie, die die Nacht vom Tag trennt, wird Terminator genannt. Der Terminator der Erde ist vom Mond aus zu sehen, genau wie aus dem Orbit; auf der Erde selbst ist er unsichtbar.
Die geraden Linien, die auf dem Bogen der Ringwelt Licht und Dunkel trennten, waren allesamt Terminatoren.
Von spinwärts her bewegte sich die Terminatorlinie auf die Flotte aus Flugrädern zu. Sie reichte vom Boden bis in den Himmel, von der Unendlichkeit backbords bis in die Unendlichkeit an Steuerbord. Sie nahte heran wie sichtbar gemachtes Schicksal; eine sich bewegende Mauer, die zu mächtig war, um ihr auszuweichen.
Dann war sie heran. Die Korona über ihren Köpfen wurde heller und erstrahlte in gleißendem Licht, als die zurückweichende Schattenblende den Rand der Sonnenscheibe freigab. Louis betrachtete die Nacht zu seiner Linken, den Tag zur Rechten und die Terminatorlinie, die über eine endlose Ebene davonraste. Eine fremdartige Dämmerung, die da für den Touristen Louis Wu in Szene gesetzt wurde.
Weit an Steuerbord, hinter dem Dunst, der über der Landschaft lag, materialisierten die Umrisse eines Berggipfels im neuen Licht des Tages.
»Die Faust Gottes«, sagte Louis andächtig und ließ den Namen auf der Zunge zergehen. Welch ein Name für einen Berg! Insbesondere: Welch ein Name für den größten Berg der Welt!
Louis Wu hatte Schmerzen am ganzen Leib. Wenn sein Körper sich nicht bald an die neuen Belastungen gewöhnte, würden seine Gelenke in sitzender Position steif werden, und er könnte sich nie wieder bewegen. Außerdem schmeckten seine Nahrungsbriketts allmählich wie… Briketts. Seine Nase war noch immer teilweise taub. Und es gab noch immer keinen Kaffee.
Dafür bot sich Louis Wu, dem Touristen, ein königliches Schauspiel.
Zum Beispiel der Fluchtreflex der Pierson-Puppenspieler. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, daß es sich dabei zugleich um einen Kampfreflex handelte. Niemand außer Louis Wu.
Oder die Sternsäerlockvögel. Ein einfaches Gerät, vor Jahrtausenden erfunden, wie Nessus gesagt hatte. Und kein Puppenspieler hatte daran gedacht, es zu erwähnen. Bis gestern jedenfalls. Welch ein poetischer Name für einen Apparat.
Aber Puppenspieler waren völlig unpoetisch.
Ob sie wußten, warum die Outsiderschiffe den Sternsäern folgten? Ergötzten sie sich an ihrem Wissen? Oder waren sie hinter das Geheimnis gekommen und hatten es als unbedeutend abgetan für ihre Ziele?
Nessus hatte sich aus dem Interkom geschaltet. Wahrscheinlich schlief er. Louis schickte ihm ein Signal. Der Puppenspieler würde das Licht auf seiner Konsole sehen und zurückrufen, sobald er wieder aufwachte.
Ob Nessus es wußte?
Sternsäer: Vernunftlose Geschöpfe, die das galaktische Zentrum durchstreiften. Ihr Metabolismus war der eines solaren Phönix, und ihre Nahrung bestand aus dem spärlich verteilten Wasserstoff des interstellaren Raums. Sie bewegten sich mit Hilfe eines riesigen, hoch reflektierenden Photonensegels durch das All, das wie ein Springerschirm kontrolliert wurde. Zum Ablaichen zogen die Sternsäer gewöhnlich entlang der galaktischen Achse zum Rand der Milchstraße und anschließend ohne ihr Ei wieder zurück. Das geschlüpfte Sternsäerküken mußte den Weg nach Hause ohne Hilfe finden, indem es auf den Photonenwinden zum warmen, wasserstoffreichen Zentrum ritt.
Wo die Sternsäer hingingen, da waren auch die Outsider.
Warum folgten die Outsider den Sternsäern? Ein kurioses Rätsel, wenn auch poetisch.
Vielleicht auch nicht so kurios. Damals, auf dem Höhepunkt des ersten Krieges zwischen Menschen und Kzin, war ein Sternsäer von seinem Kurs abgeschwenkt. Das Outsiderschiff in seinem Kielwasser war an Procyon vorbeigekommen. Und hatte lange genug angehalten, um der menschlichen Kolonie auf We Made It einen Hyperraumschaltmotor zu verkaufen.
Das Schiff hätte genausogut Kzintigebiet statt von Menschen besiedeltes Gebiet ansteuern können.
Hatten die Puppenspieler nicht um diese Zeit herum die Kzinti studiert?
»Tanj! Das hat man davon, wenn man seinen Gedanken freien Lauf läßt. Ein wenig mehr Disziplin könnte nicht schaden.«
Aber war es nicht genau um diese Zeit gewesen? Sicher war es das. Nessus hatte es ihnen erzählt. Die Puppenspieler hatten die Kzinti erforscht und waren der Frage nachgegangen, ob es einen Weg gab, sie gefahrlos zu eliminieren.
Dann hatte der Krieg zwischen Menschen und Kzinti das Problem gelöst. Ein Schiff der Outsider hatte sich in den von Menschen besiedelten Raum verirrt und We Made It einen Hyperraumschaltmotor verkauft, während die Armada der Kzinti von der gegenüberliegenden Grenze her vordrang. Nachdem die Kriegsschiffe der Menschen mit Hyperraumtriebwerken ausgerüstet waren, hatten die Kzinti keine Bedrohung mehr dargestellt, weder für Menschen noch für Puppenspieler.
»Das würden sie nicht wagen…!« sagte Louis leise zu sich selbst. Er war entsetzt.
»Falls Der-zu-den-Tieren-spricht jemals…« Aber diese Möglichkeit erschien ihm noch schlimmer.
»Ein Zuchtexperiment«, sagte Louis. »Selektive tanj Zuchtwahl! Und sie benutzten uns. Sie benutzten uns!«
»Ja«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht.
Einen Augenblick lang dachte Louis, er habe sich alles nur eingebildet. Dann erblickte er das transparente Miniaturholo auf seiner Konsole. Er hatte vergessen, den Interkom abzuschalten.
»Tanj und zugenäht! Sie haben alles gehört!«
»Unbeabsichtigt, Louis. Ich habe vergessen, meinen Interkom abzuschalten.«
»Oh.« Zu spät erinnerte sich Louis an das Grinsen des Kzin, vorgeblich außer Hörweite, während Nessus ihm beschrieben hatte, wie ein Sternsäer aussah. Zu spät erinnerte er sich, daß Kzintiohren Raubtierohren waren. Und daß das Lachen eines Kzin die Zähne für den Kampf entblößen sollte und nichts mit Humor zu tun hatte.
»Sie sprachen von selektiver Zuchtwahl«, hakte Der-zu-denTieren-spricht nach.
»Ich habe lediglich… lediglich…« Louis stotterte.
»Die Puppenspieler haben unsere Spezies aufeinandergehetzt, um die Expansion der Kzinti einzudämmen. Sie hatten einen Sternsäerlockvogel, Louis. Sie setzten ihn ein, um ein Outsiderschiff in Ihren Einflußbereich zu locken, damit die Menschen den Krieg gewannen. Selektive Zuchtwahl, wie Sie schon sagten.«
»Hören Sie, das sind doch alles nur gewagte Spekulationen. Wenn Sie sich für einen Augenblick beruhigen würden…«
»Aber wir beide finden diese Spekulationen logisch.«
»Hm.«
»Ich war mir nicht sicher, ob ich das Thema gegenüber Nessus zur Sprache bringen oder lieber abwarten sollte, bis wir unser Ziel erreicht und die Ringwelt wieder verlassen haben. Aber jetzt, da Sie ebenfalls Bescheid wissen, bleibt mir keine andere Wahl.«
»Aber…« Louis verstummte. Die Sirene hätte ihn so oder so übertönt. Der-zu-den-Tieren-spricht hatte den Alarm ausgelöst.
Ein irrsinniges mechanisches Schrillen, Infraschall und Ultraschall und nervenzerfetzend. Nessus erschien über der Konsole. »Ja? Was ist denn los?«
Der-zu-den-Tieren-spricht brüllte seine Antwort. »Sie haben sich zugunsten des Feindes in den Krieg eingemischt! Ihre Handlungsweise ist gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung gegen das Patriarchat!«
Teela hatte sich rechtzeitig in den Interkom geschaltet, um den letzten Wortwechsel mitzuverfolgen. Louis erhaschte ihren Blick und schüttelte den Kopf. Misch dich nicht ein.
Die Köpfe des Puppenspielers fuhren zurück wie Schlangenhälse, um sein Erstaunen zu zeigen. Seine Stimme klang emotionslos wie stets. »Wovon reden Sie eigentlich?«
»Der erste Krieg gegen die Menschen! Sternsäerlockvögel! Der Hyperraumantrieb der Outsider!«
Ein dreieckiger Kopf verschwand aus dem Holo. Louis sah, wie ein silbernes Flugrad die Formation verließ und wußte, daß es Nessus gehörte.
Er machte sich keine großen Sorgen. Die beiden anderen Flugräder sahen aus wie silberne Mücken, so weit waren sie entfernt und auseinander. Hätte die Konfrontation auf dem Boden stattgefunden, wäre sicherlich jemand ernsthaft verletzt worden. Aber hier oben — was konnte schon geschehen? Das Flugrad des Puppenspielers war schneller als das von Sprecher-zu-den-Tieren. Der Puppenspieler würde dafür Sorge getragen haben. Er würde sichergestellt haben, daß er einem Kzin nötigenfalls davonfliegen konnte.
Doch der Puppenspieler floh nicht. Er schwenkte zum Flugrad des Kzin herum.
»Ich will Sie nicht töten«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Falls Sie beabsichtigen, mich aus der Luft anzugreifen, dann sollten Sie vielleicht bedenken, daß die Reichweite Ihres Tasps geringer ist als die des Slaver-Desintegratorstrahls!« Er fauchte.
Der Kampfruf der Kzinti brachte das Blut zum Erstarren. Louis’ Muskeln verkrampften sich, als hätte er plötzlich Tetanus. Er bemerkte nur am Rande den silbernen Punkt, der vom Flugrad des Kzin abdrehte.
Was ihm jedoch nicht entging, das war Teelas offene Bewunderung.
»Ich habe nicht vor, Sie zu töten!« sagte Der-zu-den-Tieren-spricht jetzt ein wenig ruhiger. »Allerdings schulden Sie mir ein paar Antworten, Nessus. Wir wissen, daß Ihre Rasse Sternsäer manipulieren kann.«
»Ja«, erwiderte Nessus. Sein Flugrad entfernte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit in Richtung Backbord. Die äußerliche Ruhe der beiden Aliens war reine Einbildung. Sie schienen allein deswegen ruhig, weil Louis den Gesichtsausdruck eines Aliens nicht lesen konnte, und weil sie ihre Emotionen nicht auf Interspeak ausdrücken konnten.
Nessus floh eindeutig um sein Leben. Der Kzin hatte seinen Platz in der Formation bisher nicht verlassen. »Ich verlange Antworten, Nessus«, sagte er.
»Sie haben richtig vermutet«, gestand der Puppenspieler. »Unsere Untersuchungen bezüglich sicherer Methoden, die gewalttätigen, fleischfressenden Kzinti auszulöschen, haben gezeigt, daß Ihre Spezies ein hohes Potential besitzt, und daß Sie von beträchtlichem Nutzen für uns sein könnten. Wir unternahmen Schritte, um Sie bis zu einem Punkt weiterzuentwickeln, an dem Sie friedlich mit anderen, Ihnen fremden Rassen umgehen konnten. Unsere Methoden waren indirekt und äußerst sicher.«
»Äußerst sicher, Nessus? Ich bin nicht zufrieden.«
»Genausowenig wie ich«, sagte Louis Wu.
Ihm war die Tatsache nicht entgangen, daß die beiden Aliens sich weiterhin auf Interspeak unterhielten. Sie hätten ihre Unterhaltung durchaus vor Louis und Teela verbergen können, indem sie sich der Heldensprache bedienten. Doch sie hatten es vorgezogen, die Menschen mit einzubeziehen — und das mit Recht, denn es war auch Louis Wus Auseinandersetzung.
»Sie haben uns benutzt«, stellte er fest. »Sie haben uns genauso ausgenutzt wie die Kzinti!«
»Aber zu unserem Nachteil«, warf Der-zu-den-Tieren-spricht ein.
»In den Kriegen fanden auch zahlreiche Menschen den Tod.«
»Louis, warum fällst du Nessus in den Rücken?« rief Teela und mischte sich in den Disput ein. »Tanj, wären nicht die Puppenspieler gewesen, wir wären inzwischen längst alle Sklaven der Kzinti! Die Puppenspieler haben die Kzinti daran gehindert, unsere Zivilisation zu zerstören.«
»Auch wir hatten eine Zivilisation«, sagte Der-zu-den-Tierenspricht und grinste.
Der Puppenspieler war ein schweigendes, geisterhaftes Wesen — eine einäugige Python, die den Hals zurückgebogen hatte und bereit war zum Zuschlagen. Wahrscheinlich steuerte er mit dem anderen Mund sein Flugrad, das inzwischen ein gutes Stück weit entfernt war.
»Die Puppenspieler haben uns benutzt«, sagte Louis Wu. »Sie haben uns als Werkzeug benutzt, um die Kzinti weiterzuentwickeln.«
»Aber es hat funktioniert!« beharrte Teela.
Das Geräusch klang wie ein Schnarchen, ein leises, beunruhigendes Schnarren. Weder Louis noch Teela hätten den Gesichtsausdruck des Kzin mit einem Lächeln verwechselt.
»Es hat funktioniert!« ereiferte sich Teela. »Ihr seid jetzt eine friedfertige Rasse, Sprecher-zu-den-Tieren! Ihr kommt mit allen zurecht…«
»Schweigen Sie, Mensch!«
»… die euch zumindest ebenbürtig sind«, beendete sie großmütig. »Und ihr habt seit Ewigkeiten keine anderen Spezies mehr angegriffen…«
Der Kzin hielt den silbernen Slaver-Desintegrator vor die Optik seines Interkoms, so daß Teela ihn sehen konnte. Sie verstummte urplötzlich.
»Es hätte genausogut uns treffen können«, sagte Louis.
Sie wandten sich zu ihm um. »Es hätte genausogut uns treffen können«, wiederholte er. »Hätten die Puppenspieler Menschen auf eine bestimmte Eigenschaft hin züchten wollen…« Er unterbrach sich. »Oh«, sagte er. »Teela. Natürlich!«
Der Puppenspieler reagierte nicht.
Teela fühlte sich unter Louis’ Blicken sichtlich unbehaglich. »Was ist, Louis? Louis!«
»Tut mir leid. Mir ist gerade etwas klar geworden…
Nessus, reden Sie! Wie war das mit den irdischen Fortpflanzungsgesetzen?«
»Louis, bist du verrückt geworden?« fragte Teela verständnislos.
»Urrr«, grollte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Ich wäre wahrscheinlich auch auf diesen Gedanken gekommen. Nessus?«
»Ja«, antwortete Nessus.
Das Flugrad des Puppenspielers war eine silberne Motte, die sich immer weiter in Richtung Backbord entfernte. Es verschwand beinahe vor einem größeren, verschwommenen, hellen Punkt weiter voraus, weiter von der kleinen Flotte entfernt, als zwei Punkte auf der Erde nur sein konnten. Das Gesicht des Puppenspielers im Interkom trug den starren, leicht dämlichen, undeutbaren Ausdruck, den ein flacher dreieckiger Kopf mit lose, herabhängenden Greiflippen nur haben konnte. Er konnte überhaupt nicht gefährlich aussehen. Jedenfalls dieser Puppenspieler nicht.
»Sie haben die Fortpflanzungsgesetze der Erde manipuliert!«
»Ja.«
»Warum?«
»Wir mögen die Menschen. Wir vertrauen ihnen. Wir haben einträgliche Geschäfte mit ihnen gemacht. Es ist für uns von Vorteil, die Menschen zu fördern. Sie werden die Kleinere Magellansche Wolke sicher vor uns erreichen.«
»Wunderbar. Sie mögen uns also. Und?«
»Wir versuchten, Sie genetisch zu verbessern. Was konnten wir verbessern? Nicht Ihre Intelligenz. Intelligenz ist nicht gerade Ihre Stärke, genausowenig wie Selbsterhaltungstrieb oder Widerstandsfähigkeit oder Ihr Talent als Kämpfer.«
»Also beschlossen Sie, uns zu Glückspilzen zu machen.« Louis brach in Gelächter aus.
Teela begriff endlich. Ihre Augen wurden groß, und sie war entsetzt. Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte nur ein Krächzen zustande.
»Selbstverständlich«, gestand Nessus. »Bitte hören Sie auf zu lachen, Louis! Die Entscheidung war vernünftig. Ihre Spezies hat bisher unglaublich viel Glück gehabt. Ihre Geschichte liest sich wie eine Aneinanderreihung von Beinahe-Katastrophen, angefangen von Atomkriegen innerhalb Ihrer eigenen Spezies über die Verseuchung Ihres eigenen Planeten mit Industrieabfällen und andere ökologische Zwischenfälle, über gewaltige Asteroiden und die Launen Ihrer wechselhaften Sonne bis hin zur Explosion des galaktischen Zentrums, das Sie nur durch einen unglaublichen Zufall entdeckten. Louis, warum lachen Sie immer noch?«
Louis lachte noch immer, weil er Teela angesehen hatte. Sie war puterrot angelaufen. Ihre Augen zuckten unruhig hin und her, als suchte sie einen Platz, um sich zu verstecken. Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn man herausfindet, daß man sein Leben einem genetischen Experiment verdankt.
»Also manipulierten wir die Fortpflanzungsgesetze auf der Erde. Es war überraschend einfach. Unser Rückzug aus dem Bekannten Weltraum führte zu einem Börsenkrach sondergleichen. Ökonomische Einflußnahme ruinierte verschiedene Angehörige des Fortpflanzungsausschusses. Wir bestachen einige von ihnen und erpreßten die anderen mit ihren Schulden, anschließend benutzten wir die Korruption innerhalb der Fortpflanzungsbehörde als Publicity, um eine Änderung zu erzwingen. Es war ein furchtbar teures Unterfangen, aber es war ziemlich sicher — und wenigstens teilweise von Erfolg gekrönt. Wir waren imstande, die Geburtsrechts-Lotterie einzuführen. Wir hofften, ein Geschlecht von Menschen zu züchten, die außergewöhnlich viel Glück hatten.«
»Monster!« rief Teela. »Monster!«
Der-zu-den-Tieren-spricht hatte sein Slaver-Grabwerkzeug wieder weggesteckt. »Sie haben sich nicht beschwert, als Sie erfuhren, daß die Puppenspieler das Erbgut meiner Rasse manipulierten, Teela«, sagte er. »Sie suchten nach einer Methode, zahme Kzinti zu züchten. Die Puppenspieler haben uns gezüchtet, wie ein Botaniker Stheets züchtet: Die gestörten wurden ausgemerzt, die gesunden gehegt und gepflegt. Sie haben sich daran ergötzt, Teela, daß dieses Verbrechen dem Wohl Ihrer Spezies diente. Jetzt beschweren Sie sich. Warum?«
Teela schäumte vor Wut. Sie schaltete ihren Interkom ab.
»Ein zahmer Kzin«, wiederholte Der-zu-den-Tieren-spricht. »Ihre Rasse wollte einen zahmen Kzin züchten, Nessus. Wenn Sie meinen, Sie hätten Erfolg gehabt, dann kommen sie doch wieder zurück zu uns…«
Der Puppenspieler gab keine Antwort. Irgendwo weit voraus war der silberne Punkt seines Flugrads, zu klein, um ihn noch zu sehen.
»Sie wollen nicht zu uns zurückkommen? Wie kann ich Sie dann vor den unbekannten Gefahren dieses Landes schützen? Aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Sie tun gut daran, mißtrauisch zu sein«, sagte der Kzin. Er hatte die Krallen ausgefahren. Nadelspitze, leicht gekrümmte Krallen. »Ihr Versuch, glückliche Menschen zu züchten, war ebenfalls ein Fehlschlag.«
»Nein«, widersprach Nessus über Interkom. »Wir produzierten glückliche Menschen! Ich habe sie für diese verdammte Expedition gesucht, aber ich konnte sie nicht finden. Sie hatten einfach zuviel Glück.«
»Sie haben mit unseren beiden Spezies gespielt. Sie haben sich als Gott aufgeführt. Kommen Sie bloß nicht wieder!«
»Ich werde über Interkom mit Ihnen in Kontakt bleiben.«
Das Holo von Der-zu-den-Tieren-spricht verschwand.
»Louis, der Kzin hat mich ausgeschaltet«, beschwerte sich Nessus. »Wenn ich ihm etwas zu sagen habe, dann müssen Sie es an ihn weitergeben.«
»Prima«, sagte Louis und schaltete seinen eigenen Empfänger ebenfalls aus. Fast im gleichen Augenblick leuchtete eine Diode auf, wo zuvor der geisterhafte Kopf des Puppenspielers geschwebt hatte. Nessus wollte reden.
Tanj über ihn.
Später im Verlauf des Tages überquerten sie einen See von der Größe des Mittelmeers. Louis ging tiefer, um sich die Sache anzusehen, und stellte fest, daß die anderen ihm folgten. Er steuerte die kleine Flotte also noch immer — trotz der Tatsache, daß keiner mit ihm reden wollte.
Die Küstenlinie wurde von einer einzigen riesigen Stadt gebildet, und diese Stadt lag in Ruinen. Abgesehen von den Docks unterschied sie sich kaum von Zignamucklickklick. Louis verzichtete auf eine Landung. Hier würden sie nichts Neues in Erfahrung bringen.
Später stieg das Land nach und nach an, bis es in den Ohren knackte und die Druckanzeigen fielen. Die üppig grüne Landschaft wich einer braunen Steppe, dann einer Hochlandtundra, dann Meilen um Meilen nacktem Fels, dann…
Über eine Strecke von mehr als fünfhundert Meilen hatten Stürme Pflanzen und Erde und Felsgestein weggerissen. Nichts war übriggeblieben bis auf das nackte Ringweltfundament, halb transparent und grau und scheußlich anzusehen.
Schlampige Instandhaltung! Kein Ringweltkonstrukteur hätte einen derartigen Zustand zugelassen. Also mußte die Ringweltzivilisation schon vor langer Zeit niedergegangen sein. Der Niedergang hatte hier angefangen, mit nackten Stellen, die durch die dünne Fassade kamen, an Orten, wo niemand hinging…
Weit voraus, in der Richtung, in die Nessus verschwunden war, schimmerte ein ausgedehnter glänzender Fleck in der Landschaft. Louis schätzte, daß er vielleicht dreißig- bis fünfzigtausend Meilen entfernt war. Ein glänzender Fleck von der Größe Australiens.
Noch mehr nackter Ringweltboden? Weite, ausgedehnte Flächen Fundament, die durch den einst fruchtbaren Boden kamen, Boden, der austrocknete und starb und davongeweht wurde, wenn die Flußsysteme zusammenbrachen. Der Fall der Stadt Zignamucklickklick, der allgemeine Ausfall der Energieversorgung war wahrscheinlich nur das letzte Stadium des Zusammenbruchs gewesen.
Wie lange mochte er gedauert haben? Zehntausend Jahre?
Länger?
»Tanj! Ich wünschte, ich könnte mit jemandem darüber reden. Vielleicht ist es von Bedeutung!« Louis starrte verdrießlich in die Landschaft.
Die Zeit verging anders, wenn die Sonne immer am gleichen Fleck stand. Der Morgen und der Nachmittag waren identisch. Entscheidungen hatten scheinbar nichts Endgültiges. Die Wirklichkeit war scheinbar nicht ganz wirklich. Es ist, dachte Louis, wie der winzig kleine Zeitraum, den man zwischen zwei Transferkabinen verbringt.
Das war es. Sie befanden sich zwischen zwei Transferkabinen. Eine an Bord der Lying Bastard, die andere beim Randwall. Sie träumten nur, in einer Dreiecksformation von Flugrädern über flaches graues Land zu fliegen.
Sie flogen durch erstarrte Zeit, immer weiter nach Backbord.
Wie lange war es her, daß irgend jemand zu irgend jemand anderem ein Wort gesprochen hatte? Vor Stunden hatte Louis Teela signalisiert, daß er mit ihr reden wollte. Nicht viel später hatte er dem Sprecher-zu-den-Tieren das gleiche Signal gesandt. Die Anzeigen hatten auf ihren Konsolen gebrannt, und sie hatten sie ignoriert — genau wie Louis das Licht auf seiner eigenen Konsole ignorierte.
»Jetzt reicht’s«, sagte er zu sich selbst und schaltete den Interkom ein.
Und erwischte einen unglaublichen Schwall orchestraler Musik, bevor der Puppenspieler seine Anwesenheit bemerkte. Dann: »… wir müssen unbedingt dafür sorgen, daß die Mitglieder dieser Expedition sich ohne Blutvergießen wieder vertragen«, sagte Nessus. »Haben Sie einen Vorschlag, Louis?«
»Ja. Es ist unhöflich, bei einer Unterhaltung mittendrin anzufangen.«
»Entschuldigen Sie, Louis. Danke, daß Sie auf meinen Ruf reagiert haben. Wie fühlen Sie sich?«
»Einsam und wütend, und es ist alles Ihre Schuld. Niemand will mit mir reden.«
»Kann ich helfen?«
»Vielleicht. Hatten Sie etwas mit der Manipulation der Fortpflanzungsgesetze zu schaffen?«
»Ich leitete das Projekt.«
Louis schnaubte. »Das war die falsche Antwort. Machen Sie so weiter, und Sie werden das erste Opfer retroaktiver Geburtenkontrolle. Teela wird nie wieder ein Wort mit mir reden.«
»Sie hätten sie nicht auslachen sollen.«
»Ich weiß. Wissen Sie, was mir bei dieser ganzen Geschichte am meisten Angst bereitet? Nicht Ihre tanj Arroganz«, sagte Louis. »Es ist die Tatsache, daß Sie Entscheidungen von derartiger Tragweite treffen und gleich im Anschluß etwas so Dämliches tun können, daß… daß…«
»Kann Teela Brown uns hören, Louis?«
»Nein, natürlich nicht. Tanj, Nessus! Wissen Sie eigentlich, was Sie ihr angetan haben?«
»Wenn Sie wußten, daß es ihrem Ego derartigen Schmerz zufügen würde — warum haben Sie denn überhaupt angefangen davon zu reden?«
Louis stöhnte. Er hatte in Gedanken ein Problem gewälzt, und die Lösung war ihm sofort offensichtlich erschienen. Er hatte nicht einen Augenblick daran gedacht, sie besser für sich zu behalten. Louis dachte nicht in solchen Bahnen.
»Haben Sie darüber nachgedacht, wie wir die Expedition wieder zusammenbringen können?« fragte der Puppenspieler.
»Ja«, erwiderte Louis — und schaltete erneut ab. Sollte der Puppenspieler ruhig noch ein wenig schwitzen.
Das Land senkte sich und wurde nach und nach wieder grün.
Sie überflogen ein weiteres Meer und ein großes dreieckiges Flußdelta. Das Flußbett war trocken, genau wie das Delta. Änderungen in der Windrichtung hatten anscheinend die Quellen versiegen lassen.
Louis ging tiefer, und es wurde deutlich, daß all die scheinbar willkürlichen, mäandernden Kanäle und Rinnen, aus denen das Delta bestand, absichtlich und permanent in das Land gestanzt worden waren. Die Ringweltschöpfer hatten sich nicht damit zufrieden gegeben, daß der Fluß sich sein eigenes Bett suchte. Sie hatten gut daran getan: die Bodenschicht der Ringwelt war einfach nicht dick genug. Eingriffe von außen waren notwendig.
Doch die leeren Kanäle waren häßlich. Louis schürzte mißbilligend die Lippen und zog wieder hoch.