KAPITEL ZWANZIG FLEISCH

Nessus war gelandet, um das Halbdunkel tief unten zu erkunden. Abgeschnitten vom Interkom versuchte Louis zu beobachten, was der Puppenspieler trieb. Schließlich gab er auf.

Eine ganze Weile später vernahm er Schritte. Diesmal ohne Glöckchen.

Er formte mit den Händen einen Trichter und rief nach unten: »Nessus!«

Der Ruf echote die Wände hinab und fokussierte in der Mitte des umgekehrten Konus’. Der Puppenspieler sprang erschrocken auf, huschte zu seinem Flugrad und startete. Oder schaltete wahrscheinlich einfach die Maschinen aus. Zweifellos hatte er den Motor laufen lassen, um das Feld zu überwinden, das Louis und den Kzin hier oben festhielt.

Er war zurück zwischen den schwebenden Wracks, bevor die Schritte irgendwo über ihnen Halt machten.

»Was zum tanj treibt sie nur?« flüsterte Louis.

»Geduld. Sie dürfen nicht erwarten, daß sie von einer einzigen Anwendung des Tasp bereits konditioniert ist, noch dazu mit schwacher Energie.«

»Versuchen Sie, das in Ihre beiden dicken, hirnlosen Schädel zu kriegen, Nessus: Ich kann mein Gleichgewicht nicht ewig halten!«

»Sie müssen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Wasser«, ächzte Louis mit einer Zunge wie zwei Meter aufgerollter Flannell.

»Sind Sie durstig? Wie kann ich Ihnen Wasser geben? Sobald Sie den Kopf drehen, verlieren Sie möglicherweise Ihr Gleichgewicht.«

»Ich weiß. Vergessen Sie’s.« Louis erschauerte. Merkwürdig, daß Louis Wu, der Raumfahrer, eine derartige Höhenangst entwickelte. »Wie geht es unserem Sprecher-zu-den-Tieren?«

»Ich mache mir seinetwegen Sorgen. Er ist schon zu lange bewußtlos.«

»Tanj, tanj…!«

Schritte.

Das ständige Wechseln der Kleider scheint eine Manie von ihr zu sein, dachte Louis. Diesmal trug sie etwas, das nur aus überlappenden Falten in Orange und Grün bestand. Wie sämtliche vorherigen Aufzüge verriet auch dieser nichts von ihrer Figur.

Sie kniete am Rand der Beobachtungsplattform nieder und musterte Louis kühl. Louis klammerte sich an sein metallenes Floß und wartete die weitere Entwicklung ab.

Er sah, wie ihre Gesichtszüge weicher wurden. Ihre Augen sahen mit einem Mal verträumt aus, und die Winkel ihres kleinen Mundes bogen sich nach oben.

Nessus sagte etwas.

Sie dachte darüber nach. Schließlich sagte sie etwas, das durchaus eine Antwort sein konnte.

Dann ging sie wieder.

»Und?«

»Wir werden sehen.«

»Ich werde noch ganz krank vom Warten.«

Unvermittelt schwebte das Flugrad des Puppenspielers höher. Höher und zum Rand des Trichters hin. Es stieß an die Kante der Beobachtungsplattform wie ein Ruderboot, das am Steg anlegte.

Anmutig stieg Nessus aus.


Die Frau kam, um ihn zu begrüßen. In ihrer Linken hielt sie etwas, das eine Waffe sein mußte. Mit der anderen Hand berührte sie den einen Kopf des Puppenspielers, zögerte, und fuhr mit den Fingernägeln an seinem Hals entlang.

Nessus gab ein Geräusch des Wohlbefindens von sich.

Sie drehte sich um und stieg die Treppen hinauf, ohne einen einzigen Blick nach hinten zu werfen. Sie schien anzunehmen, daß Nessus ihr folgen würde wie ein Hund. Der Puppenspieler enttäuschte sie nicht.

Gut, dachte Louis. Sei unterwürfig. Gewinne ihr Vertrauen.

Nachdem der eigenartige Rhythmus ihrer Schritte verklungen war, wurde der Zellenblock zu einer gigantischen Friedhofshalle.

Der-zu-den-Tieren-spricht schwebte dreißig Fuß von Louis entfernt in einem Sargassosee aus Metall. Vier fleischige schwarze Finger und ein Streifen orangefarbenes Gesicht lugten zwischen den grünen Ballons hervor. Louis hatte keine Möglichkeit, näher heranzugehen. Der Kzin war vielleicht längst tot.

Zwischen den weißen Knochen tief unten lagen zumindest ein Dutzend Schädel. Knochen und Alter und verrostetes Metall und… Stille. Louis Wu klammerte sich an sein Flugrad und wartete, daß ihn die Kräfte verließen.


Nicht viel später döste er vor sich hin, als irgend etwas geschah. Sein Gleichgewicht geriet ins Wanken…

Louis’ Leben hing von seiner Balance ab. Die momentane Desorientierung ließ ihn in starre Panik ausbrechen. Er blickte sich hektisch um, ohne den Kopf zu bewegen.

Die Metallwracks ringsum hingen reglos in der Luft. Aber irgend etwas bewegte sich!

Irgendwo stieß ein Fahrzeug an. Kreischen von Metall auf Metall, und dann stieg es hoch.

Was?

Nein. Es stieg nicht hoch. Es war auf dem oberen Zellenring gelandet. Die gesamte Sargassosee sank gleichförmig dem Boden entgegen.

Eines nach dem anderen landeten die Fahrzeuge und Jetpacks geräuschvoll auf Simsen und Vorsprüngen und blieben zurück.

Louis’ Flugrad krachte heftig gegen Beton, drehte sich im Strudel elektromagnetischer Felder halb zur Seite und kippte um. Louis löste sich und rollte zur Seite.

Augenblicklich versuchte er, auf die Beine zu kommen. Sein Gleichgewichtssinn spielte nicht mit; er konnte sich nicht aufrecht halten. Seine Hände waren zu Klauen gekrümmt, schmerzhaft verkrampft, nutzlos. Er lag schwer atmend auf der Seite, und sein einziger Gedanke lautete, daß es zu spät war. Das Flugrad des Kzin mußte auf Der-zu-den-Tieren-spricht gelandet sein.

Die Maschine war leicht zu erkennen. Sie lag zwei Ränge weiter oben auf der Seite. Der-zu-den-Tieren-spricht lag ebenfalls dort, doch er war nicht unter seinem Flugrad begraben. Er mußte sich darunter befunden haben, bevor das Rad zur Seite kippte, doch selbst dann hätten die prallen Ballons ihm einigen Schutz gewährt.

Louis kroch auf allen Vieren zu ihm hin.

Der Kzin atmete und war am Leben, doch er war bewußtlos. Das Gewicht seines Flugrads hatte ihm nicht das Genick gebrochen, vielleicht, weil er kein richtiges Genick besaß. Louis zerrte den Flashlaser aus seinem Gürtel und benutzte den feinen grünen Strahl, um Der-zu-den-Tieren-spricht aus seinen Ballons zu befreien.

Was jetzt?

Louis erinnerte sich, daß er am Verdursten war.

Der Schwindel hatte aufgehört. Louis erhob sich und stand auf unsicheren Beinen. Dann suchte er nach der einzigen Wasserquelle, die er kannte.

Der Zellenblock bestand aus konzentrischen kreisförmigen Simsen, und jedes Sims bildete das Dach der darunterliegenden Zellen. Der-zu-den-Tieren-spricht und Louis waren auf dem vierten Ring von unten gelandet.

Louis fand sein Flugrad. Ballonfetzen verdeckten es halb. Dort ruhte ein weiteres, einen Rang weiter unten, auf der gegenüberliegenden Seite des Trichterbodens in der Mitte ihres Gefängnisses. Es besaß einen Sattel für Humanoide. Das dritte…

Nessus Flugrad war einen Rang tiefer als das von Der-zu-denTieren-spricht gelandet.

Louis ging nach unten. Seine Füße schmerzten, als er die Treppe hinunterstieg. Seine Muskeln waren zu ausgelaugt, um die Erschütterungen zu absorbieren.

Beim Anblick der Instrumentenkonsole schüttelte Louis den Kopf. Niemand würde einen Versuch unternehmen, Nessus Flugrad zu stehlen! Die Beschriftungen waren unglaublich verwirrend. Louis fand den Wasserhahn.

Das Wasser war warm und geschmacklos wie destilliertes Wasser, und es war herrlich.

Nachdem Louis seinen ersten Durst gelöscht hatte, versuchte er einen Nahrungsriegel aus der Küchenautomatik. Er schmeckte äußerst seltsam. Louis beschloß, jetzt noch nicht zu essen. Vielleicht war die Nahrung der Puppenspieler mit Zusätzen versehen, die für den menschlichen Stoffwechsel giftig waren. Er würde Nessus fragen.

In seinem Schuh, dem ersten Behälter, der ihm in den Sinn kam, trug er Wasser zu dem Kzin. Er tröpfelte ihm die Flüssigkeit in den Mund. Der Kzin schluckte im Schlaf und lächelte. Louis ging zurück, um eine weitere Ladung zu holen, und die Kräfte verließen ihn, bevor er das Flugrad des Puppenspielers erreicht hatte.

Er rollte sich auf dem flachen Plastikmaterial des Simses zusammen und schloß die Augen.

Sicherheit. Er war in Sicherheit.

Er hätte augenblicklich einschlafen müssen, doch irgend etwas ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Überanstrengte, ausgelaugte Muskeln, Krämpfe in Händen und Oberschenkeln, die Furcht zu fallen, die ihn selbst jetzt noch nicht verlassen wollte, und noch etwas anderes… irgend etwas anderes…

Er setzte sich auf. »Tanj!« murmelte er.

Sprecher?

Der Kzin schlief zusammengerollt auf dem Boden. Er hatte die Ohren eng an den Kopf gelegt und die Slaver-Waffe an den Bauch gepreßt, so daß nur die doppelläufige Mündung hervorschaute. Sein Atem ging regelmäßig, aber sehr rasch. War das richtig so?

Nessus würde es wissen. Bis dahin sollte er ruhig schlafen.

»Tanj«, murmelte Louis erneut.

Er war allein und einsam, und das Hochgefühl des Sabbatjahrs hatte ihn längst verlassen. Louis war verantwortlich für das Wohlbefinden anderer. Sein eigenes Leben und seine Gesundheit hingen davon ab, wie gut Nessus diese verrückte, halb kahle Frau hinters Licht führen konnte, die sie hier gefangen hielt. Kein Wunder, daß Louis nicht schlafen konnte.

Trotzdem…

Seine Augen fanden es wieder und blieben daran haften. Louis’ eigenes Flugrad.

Sein eigenes Flugrad mit den zerschossenen Sicherheitsballons. Nessus Maschine hier neben ihm. Die Maschine des Kzin neben dem Kzin. Und das vierte Flugrad, mit dem menschlichen Sattel, ohne ausgelöste Airbags. Vier Flugräder.

Verzweifelt vor Durst hatte er sich beim ersten Anblick des vierten Flugrads nichts gedacht. Jetzt… Teelas Maschine. Sie schien hinter einem der größeren Wracks gesteckt zu haben. Und keine ausgelösten Ballons. Keine Airbags.

Sie mußte herabgefallen sein, als die Maschine kippte.

Oder heruntergerissen, als die Schallfalte bei Mach Zwo zusammenbrach.

Was hatte Nessus noch gleich gesagt? Ihr Glück ist offensichtlich unzuverlässig. Und Der-zu-den-Tieren-spricht: Wenn ihr Glück sie auch nur ein einziges Mal im Stich läßt, ist sie tot.

Teela war tot. Sie mußte tot sein.

Ich bin mitgekommen, weil ich dich liebe.

»Pech«, sagte Louis Wu. »Dein Pech, daß du mir begegnet bist.«

Er rollte sich auf dem Beton zusammen und schlief ein.

Später, eine ganze Zeitlang später, schreckte er aus dem Schlaf und sah Der-zu-den-Tieren-spricht über sich gebeugt. Die grelle orangefarbene Pelzmaske ließ die Augen des Kzin doppelt groß erscheinen, und sie besaßen einen wehmütigen Ausdruck…

»Können Sie die Nahrung des Blätteressers verdauen?« erkundigte sich der Kzin.

»Ich habe bisher nicht gewagt, es auszuprobieren«, antwortete Louis. Das große, leere Loch in seinem Bauch ließ all seine übrigen Probleme unvermittelt trivial aussehen — bis auf eines.

»Ich glaube, ich bin der einzige von uns dreien, der nichts zu essen hat«, sagte der Kzin.

Dieser wehmütige Blick, mit dem er Louis gemustert hatte… Louis standen mit einem Mal die Haare zu Berge. Mit fester Stimme sagte er: »Sie wissen, daß Sie etwas zu essen haben. Die Frage ist: Werden Sie essen?«

»Ganz bestimmt nicht, Louis. Wenn die Ehre gebietet zu verhungern, obwohl Fleisch in Reichweite ist, dann werde ich verhungern.«

»Gut.« Louis drehte sich um und gab vor wieder einzuschlafen.

Als er einige Stunden später aufwachte, wußte er, daß er tatsächlich geschlafen hatte. Sein Unterbewußtsein mußte dem Wort des Kzin völlig vertrauen, erkannte er. Wenn der Kzin sagte, er würde lieber verhungern, dann würde er verhungern.

Louis’ Blase war randvoll. In seiner Nase hing Gestank. Seine Muskeln schmerzten aufdringlich. Der Boden des Trichters löste das erste Problem, und das Flugrad des Puppenspielers lieferte Wasser, um den Dreck von seinem Ärmel zu waschen. Anschließend humpelte Louis eine Treppe weit nach unten zu seinem eigenen Flugrad und dem Medikit darin.

Das Kit war kein einfacher Verbandskasten, sondern eine komplexe Diagnose- und Versorgungseinheit. Die Waffe der Ringweltler hatte es ausbrennen lassen.

Es wurde dunkler.

Zellen mit Falltüren über den Eingängen. Schmale transparente Fenster rings um die Türen. Louis ließ sich auf den Bauch nieder, um in eine der Zellen zu spähen. Ein Bett, eine merkwürdig aussehende Toilette, und… Tageslicht, das durch ein großes Panoramafenster fiel.

»Sprecher-zu-den-Tieren!« rief Louis den Kzin.

Sie benutzten den Slaver-Desintegrator, um einzubrechen. Das Panoramafenster war groß und rechteckig; ein merkwürdiger Luxus für eine Gefängniszelle. Das Glas war bis auf ein paar scharfe Splitter entlang der Fassung verschwunden.

Fenster, um die Gefangenen zu verspotten? Ihnen zu zeigen, wie die Freiheit aussah?

Das Fenster zeigte nach Backbord. Draußen herrschte Dämmerung; der Schatten der Terminatorlinie eilte von spinwärts heran wie ein schwarzer Vorhang. Voraus lag der Hafen. Quader, die Lagerhäuser zu sein schienen, verrottete Docks, Kräne von elegant einfachem Design, und ein gewaltiges Bodeneffektschiff in einem Trockendock. Alles war von rotem Rost überzogen.

Zur Linken und Rechten zog sich Meile um Meile geschwungener Küste dahin. Ein Stück Strand, dann eine Reihe Docks, erneut ein Stück Strand… Das Muster schien in die Küste gehauen zu sein, flacher Sandstrand wie in Waikiki, dann tiefes Wasser mit einer Steilküste, perfekt für einen Hafen geeignet, und wieder flacher Sandstrand.

Dahinter der Ozean. Er schien nicht aufhören zu wollen, bis er am unendlichen Horizont im Dunst verblaßte. Versuchen Sie, über den Atlantik zu blicken…

Wie ein Vorhang zog die Dämmerung heran, von rechts nach links. Die noch funktionierenden Lichter der Stadt wurden heller, während Docks und Strände und Ozean in Dunkelheit versanken. Antispinwärts leuchtete noch immer goldener Tag.

Der-zu-den-Tieren-spricht hatte sich in das ovale Bett der Zelle gelegt.

Louis lächelte. Er sah so friedlich aus, der furchterregende Kzintikrieger. Kurierte er im Schlaf seine Verletzungen? Die Verbrennungen mußten ihn sehr geschwächt haben. Oder versuchte er, durch Schlafen seinen nagenden Hunger zu vergessen?

Louis ließ ihn schlafen.

In der Beinahe-Dunkelheit des Gefängnisses suchte er nach Nessus Flugrad. Sein Hunger war so übermächtig geworden, daß er einen Nahrungsriegel herunterwürgte, der für die Kehle eines Puppenspielers gemacht war, und den merkwürdigen Geschmack ignorierte. Die Finsternis machte ihm zu schaffen, und so schaltete er die Scheinwerfer am Flugrad des Puppenspielers ein. Anschließend rannte er zu den anderen Maschinen und schaltete auch dort das Licht ein. Als er fertig war, war es ziemlich hell, und die Schatten waren kompliziert und fremdartig.

Was hielt Nessus so lange auf?

Es gab nicht viel Abwechslung in dem alten schwebenden Gefängnis. Man konnte nur eine gewisse Zeit schlafen, und Louis hatte sein Quantum ausgeschöpft. Man konnte nicht unendlich lang darüber nachdenken, was der Puppenspieler dort oben so lange machte, bevor einen das Gefühl beschlich, daß er einen gerade verkaufte.

Schließlich war Nessus nicht nur ein Alien. Er war ein PiersonPuppenspieler mit einer meilenlangen Akte, wie er die Menschheit zu seinem eigenen Vorteil manipuliert hatte. Falls er ein Übereinkommen mit einer (wahrscheinlichen) Angehörigen der Rasse der Ringweltkonstrukteure treffen konnte, würde er Louis und Der-zuden-Tieren-spricht im gleichen Augenblick fallenlassen, ohne jedes Zögern. Ein Puppenspieler hatte überhaupt keinen Grund, anders zu handeln.

Und es gab mindestens zwei gute Gründe, genau so zu handeln.

Der-zu-den-Tieren-spricht würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen letzten, verzweifelten Versuch unternehmen, Louis Wu die Long Shot vorzuenthalten und den Quantum II Hyperraumantrieb seiner eigenen Rasse zu reservieren. Ein Puppenspieler könnte in der daraus entbrennenden Schlacht verwundet werden. Es war sicherer, Der-zu-den-Tieren-spricht jetzt zu verlassen — und Louis gleich mit, weil er einen derartigen Betrug nicht dulden würde.

Außerdem — sie wußten zuviel. Nach Teelas Tod wußten nur noch Louis und Der-zu-den-Tieren-spricht von den Experimenten der Puppenspieler, die Evolution beider Rassen zu steuern. Die Sternsäerlockvögel, die Fortpflanzungsgesetze — falls man Nessus den Befehl erteilt hatte, diese Geheimnisse zu enthüllen, um die Reaktionen seiner Besatzung zu testen, dann hatte er wahrscheinlich auch den Befehl erhalten, sie irgendwann während der Reise auszusetzen.

Es waren nicht eben neue Gedanken. Louis hatte mit einer derartigen Reaktion gerechnet, seit Nessus zugegeben hatte, daß die Puppenspieler ein Outsiderschiff mit Hilfe eines Sternsäerlockvogels nach Procyon gelockt hatten. Louis’ Paranoia war also in gewisser Hinsicht begründet. Aber es gab tanj noch mal überhaupt nichts, das er dagegen hätte tun können.

Um sich abzulenken, brach Louis in eine weitere Zelle ein. Er fokussierte seinen Flashlaser und stellte ihn auf hohe Energie, und dann bestrich er alles mit dem Strahl, was nach Schloß aussah. Beim vierten Versuch glitt die Falltür nach oben.

Ein schrecklicher Gestank schlug Louis entgegen. Louis hielt den Atem an und steckte den Kopf und die vorgehaltene Waffe eben lange genug in die Zelle, um die Ursache herauszufinden. Irgend jemand war hier drin gestorben, nachdem die Belüftung ausgesetzt hatte. Der Leichnam saß mit dem Rücken an das Panoramafenster gelehnt und hielt einen schweren Krug in der Hand. Der Krug war zerbrochen. Das Fenster war intakt.

Die nächste Zelle war leer. Louis nahm sie in Besitz.

Er hatte den Trichter umrundet, weil er eine Zelle mit Ausblick nach Steuerbord wollte. Direkt vor sich sah er den rollenden Hurrikan des Sturmauges. Seine Größe war beträchtlich, wenn man bedachte, daß er bereits zweitausendfünfhundert Meilen hinter ihnen lag. Ein riesiges, brütendes blaues Auge.

Spinwärts ruhte ein großes, schmales Schwebebauwerk, so groß wie ein Passagierraumer. Louis stellte sich vor, es wäre tatsächlich ein Raumschiff, das hier sein Versteck hatte. Um die Ringwelt wieder zu verlassen, müßten sie lediglich…

Es war müßig.

Louis prägte sich den Grundriß der Stadt ein. Es konnte wichtig werden. Es war der erste Ort, an dem sie einen Hinweis auf eine noch aktive Hochzivilisation gefunden hatten. Vielleicht eine Stunde später legte Louis eine Pause ein. Er saß auf der schmutzigen ovalen Pritsche, starrte auf das ferne Sturmauge und… Dahinter, ein gutes Stück zur Seite, entdeckte er ein kleines, graubraun schimmerndes Dreieck.

»Hmmm«, sagte Louis leise. Das Dreieck war gerade groß genug, um als solches erkennbar zu sein. Es stand mitten im grau-weißen Chaos am unendlichen Horizont. Was bedeutete, daß dort Tag herrschte — obwohl Louis direkt nach Steuerbord blickte…

Louis ging, um sein Fernglas zu holen.

Damit wurden alle Einzelheiten so klar und deutlich wie die Mondkrater von der Erde aus. Ein unregelmäßiges Dreieck, rotbraun in der Nähe der Basis, hell wie von schmutzigem Schnee am Gipfel… die Faust Gottes. Ein gutes Stück größer, als Louis zuerst gedacht hatte. Um auf eine derartige Entfernung hin sichtbar zu sein, mußte der größte Teil des Berges über die Atmosphäre ragen.

Die Flugradflottille hatte vom Absturzort bis hierher schätzungsweise 150.000 Meilen zurückgelegt. Die Faust Gottes mußte wenigstens tausend Meilen hoch sein!

Louis pfiff leise. Und hob das Fernglas erneut an die Augen.


Louis saß in der Beinahe-Dunkelheit und wurde sich allmählich der Geräusche bewußt, die von oben her zu ihm drangen.

Er steckte den Kopf aus der Zellentür.

»Willkommen, Louis!« brüllte Der-zu-den-Tieren-spricht. Er winkte ihm mit einem rohen, halb aufgefressenen Kadaver von etwas Ziegengroßem zu. Dann riß er einen Bissen von der Größe eines Chateaubriands heraus, dann noch einen, und noch einen. Seine Zähne waren zum Reißen gemacht, nicht zum Kauen.

Er strecke die Hand aus und hielt Louis ein blutiges Hinterbein mitsamt Haut und Huf entgegen. »Das habe ich für Sie aufgehoben, Louis! Es ist schon ein paar Stunden tot, aber das ist egal. Wir sollten uns beeilen. Der Blätteresser zieht es vor, uns nicht beim Essen zuzusehen. Er genießt die Aussicht aus meiner Zelle.«

»Warten Sie nur, bis er die aus meiner gesehen hat«, entgegnete Louis. »Wir haben uns in der Faust Gottes gewaltig getäuscht. Sie ist wenigstens tausend Meilen hoch. Der Gipfel ist nicht von Schnee bedeckt, sondern…«

»Louis! Essen Sie erst einmal!«

Louis bemerkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, das Ding zu garen…«

Es gab eine. Er brachte den Kzin dazu, die Haut für ihn abzuziehen, dann klemmte er den Huf in eine zerbrochene Treppenstufe, trat einen Schritt zurück und grillte das Fleisch mit dem Flashlaser auf hoher Intensität und mit weitem Fokus.

»Das Fleisch ist nicht frisch«, sagte Der-zu-den-Tieren-spricht zweifelnd. »Verbrennen nutzt da nichts.«

»Wie geht’s Nessus? Ist er ihr Gefangener, oder hat er sie unter Kontrolle?«

»Teilweise, denke ich. Sehen Sie nach oben.«

Die Baumeisterfrau war eine winzige Gestalt auf der Beobachtungsplattform. Ihre Beine baumelten über die Kante. Ihr Gesicht und bis auf den Haarkranz kahler Schädel schimmerten weiß, während sie nach unten blickte.

»Merken Sie etwas? Sie läßt Louis keine Sekunde aus den Augen.«

Louis beschloß, daß sein Fleisch gar war. Während er aß, beobachtete der Kzin ungeduldig, wie Louis jeden einzelnen Bissen kaute, bevor er ihn hinunterschluckte. Louis kam es vor, als verschlänge er sein Essen wie ein verhungerndes Raubtier. Er war tatsächlich hungrig. Um den Puppenspieler nicht zu verunsichern, warfen sie die Überreste durch das zerbrochene Fenster nach draußen, auf die Stadt unter dem schwebenden Gefängnis. Anschließend trafen sich alle beim Flugrad des Puppenspielers wieder.

»Ich habe sie teilweise konditionieren können«, berichtete Nessus. Er hatte Schwierigkeiten zu atmen… oder mit den Gerüchen von rohem und gegrilltem Fleisch. »Ich habe einiges von ihr in Erfahrung bringen können.«

»Dann wissen Sie sicher auch, warum sie uns eingefangen hat?«

»Ja. Nicht nur das. Wir hatten eine Menge Glück. Sie ist Raumfahrerin. Besatzungsmitglied an Bord eines Ramjetschiffs.«

»Volltreffer!« sagte Louis Wu.

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