Kapitel Zwei

Er befand sich irgendwo tief unter der Erde: in einem Abwasserkanal. Hin und wieder flackerte ein Licht auf, das die Dunkelheit eher unterstrich, als sie zu vertreiben.

Er war nicht allein. Andere Menschen gingen neben ihm her.

Jetzt lief er im Innern des Abwasserkanals längs, Schlamm und Schmutz spritzten. Wassertröpfchen fielen langsam und kristallklar in der Dunkelheit nieder.

Er bog um eine Ecke, und da wartete es auf ihn.

Es war riesengroß. Es füllte das Siel völlig aus: Den massigen Kopf hielt es gesenkt, Körper und Atem dampften in der kühlen Luft. Eine Art Keiler, dachte er zuerst, doch dann erkannte er, daß das Unsinn war: Kein Keiler war so riesengroß. Es hatte die Größe eines Bullen, eines Tigers, eines Autos.

Es starrte ihn an, und es hielt hundert Jahre lang inne, während er seinen Speer hob.

Und dann griff es an.

Er warf den Speer, doch es war bereits zu spät, und er spürte, wie das Ungeheuer ihm mit rasiermesserscharfen Hauern die Seite aufschlitzte, spürte, wie sein Leben entwich und im Schlamm versank: Und er stellte fest, daß er mit dem Gesicht voran ins Wasser gefallen war, das sich von dicken Strudeln erstickenden Blutes rotfärbte …

Und er versuchte zu schreien, er versuchte aufzuwachen, doch er atmete nur Schlamm und Blut und Wasser, er verspürte nur Schmerzen …

»Schlecht geträumt?« fragte das Mädchen.

Richard setzte sich nach Luft schnappend auf der Couch auf. Die Vorhänge waren noch zugezogen, aber er wußte, daß es Morgen war. Er tastete auf der Couch nach der Fernbedienung, die sich irgendwie in sein Kreuz verkeilt hatte, und stellte den Fernseher aus.

»Ja«, sagte er. »Irgendwie schon.«

Er wischte sich die Schlafkrusten aus den Augen und schaute an sich herab. Wenigstens hatte er seine Schuhe und seine Jacke ausgezogen, bevor er eingeschlafen war. Sein Hemd war über und über voll von getrocknetem Blut und Schmutz.

Das obdachlose Mädchen sagte nichts. Es sah furchtbar aus: blaß, unter dem Dreck und dem braun getrockneten Blut, und klein. Es trug alle möglichen Kleidungsstücke übereinander: Sachen, die nicht zusammenpaßten, schmutzigen Samt, schlammverkrustete Spitze, Löcher, durch die man andere Schichten und Stile sehen konnte.

Sie sieht aus, dachte Richard, als wäre sie mitten in der Nacht in die modegeschichtliche Abteilung des Victoria and Albert Museums eingebrochen und hätte alles, was sie hatte mitgehen lassen, anbehalten.

Richard haßte Leute, die das Offensichtliche aussprechen : Leute, die einem Dinge sagen, die einem unmöglich entgangen sein können: »Es regnet«, oder »Ihre Einkaufstüte ist gerade gerissen, und Ihr Essen ist in die Pfütze da gefallen«, oder gar: »Au. Das tut bestimmt weh.«

»Du bist also auf«, sagte Richard und haßte sich selbst.

»Wessen Baronie ist das hier?« fragte das Mädchen. »Welchem Lehnsherrn bist du untertan?«

»Ähm. Wie bitte?«

Sie sah sich mißtrauisch um. »Wo bin ich?«

»Wohnung Nr. Vier, Newton Mansions, Little Comden Street …«

Er schwieg. Sie hatte die Vorhänge geöffnet. Sie starrte aus Richards Fenster, obwohl die Aussicht nichts Besonderes war. Starrte mit großen Augen die Autos und Busse an, die paar Läden unter ihnen – ein Zeitungskiosk, ein Bäcker, eine Drogerie und ein Schnapsladen.

»Ich bin in Ober-London«, sagte sie.

»Ja, du bist in London«, sagte Richard. Ober-was? fragte er sich. »Ich glaube, du hattest letzte Nacht einen Schock oder so was. Die Wunde in deinem Arm sah ziemlich schlimm aus.« Er wartete darauf, daß sie etwas sagte, etwas erklärte. Sie warf ihm einen Blick zu und schaute dann wieder auf die Busse und Läden hinunter. Richard fuhr fort: »Ich, äh, hab’ dich auf der Straße gefunden. Es war alles voller Blut.«

»Keine Sorge«, sagte sie ernsthaft. »Das Blut stammte größtenteils von jemand anderem.«

Sie ließ den Vorhang wieder fallen.

Dann untersuchte sie die Wunde an ihrem Arm.

»Die müssen wir verarzten«, sagte sie. »Würdest du mir helfen?«

Richard verlor langsam ein wenig den Boden unter den Füßen. »Ich kenn’ mich mit Erster Hilfe nicht besonders aus«, sagte er.

»Na ja«, sagte sie, »wenn du das nicht verträgst, brauchst du nur die Bandagen festzuhalten und die Enden zu verknoten, an die ich nicht herankomme. Du hast doch Verbandszeug, oder?«

Richard nickte. »Na klar«, sagte er. »Im Erste-Hilfe-Kasten. Unterm Waschbecken.«

Und dann ging er in sein Schlafzimmer und zog sich um und fragte sich, ob der Dreck aus seinem Hemd (seinem besten Hemd, gekauft von, oh Gott, Jessica, die würde Zustände kriegen) je wieder rausgehen würde.



Das blutige Wasser sagte ihm etwas, vielleicht irgendein Traum, den er mal gehabt hatte, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

Er zog den Stöpsel heraus, ließ das Wasser aus dem Becken ab, füllte es wieder mit sauberem Wasser und fügte einen wolkigen Spritzer Desinfektonsmittel hinzu: Der scharfe, antiseptische Geruch wirkte so ausgesprochen vernünftig und medizinisch – ein Mittel gegen die Seltsamkeit seiner Situation und seines Gastes. Sie beugte sich herüber, und er benetzte ihren Arm und ihre Schulter mit warmem Wasser. Richard war nie so empfindlich, wie er glaubte. Oder vielmehr war er erstaunlich empfindlich, was Blut in Film und Fernsehen anbetraf: Bei einem guten Zombie-Film, sogar schon bei einem drastischen Krankenhausdrama hockte er hyperventilierend in einer Ecke, die Hände vor den Augen, und stammelte: »Sagt mir Bescheid, wenn es vorbei ist.« Aber bei echtem Blut, echtem Schmerz, da packte er einfach beherzt mit an.

Sie säuberten die Wunde – die viel weniger tief war, als Richard sie vom vorangegangenen Abend in Erinnerung hatte – und verbanden sie, und das Mädchen tat sein Bestes, um sich dabei nichts anmerken zu lassen. Und Richard ertappte sich dabei, daß er überlegte, wie alt sie sein mochte und wie sie unter dem Schmutz aussah und warum sie auf der Straße lebte und –

»Wie heißt du?« fragte sie.

»Richard. Richard Mayhew. Dick.«

Sie nickte, als würde sie ihn auswendig lernen.

»Richardrichardmayhewdick«, wiederholte sie.

Es klingelte an der Tür.

Richard ließ seinen Blick über den Schmutz und die Unordnung im Badezimmer und das Mädchen schweifen und fragte sich, was das alles auf einen klar denkenden Außenstehenden für einen Eindruck machen müßte. Wie zum Beispiel auf … »Oh, Gott«, sagte er und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. »Ich wette, das ist Jess. Sie wird mich umbringen.« Schadensbegrenzung. Schadensbegrenzung.

»Hör zu«, sagte er zu dem Mädchen. »Du wartest hier.«

Er schloß die Badezimmertür hinter sich und ging den Flur entlang.

Als er die Wohnungstür öffnete, stieß er aus tiefster Seele einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Es war nicht Jessica. Es waren – was? Mormonen? Die Zeugen Jehovas? Die Polizei? Er konnte es nicht sagen. Jedenfalls waren es zwei.

Sie trugen schwarze Anzüge, die etwas speckig waren, etwas fadenscheinig, und sogar Richard, der sich zu den modisch Ungebildeten zählte, fiel auf, daß die Anzüge irgendwie merkwürdig geschnitten waren. Solche Anzüge hätte vielleicht vor zweihundert Jahren jemand geschneidert, dem man einen modernen Anzug beschrieben, der jedoch nie einen gesehen hatte. Die Konturen stimmten nicht, ebensowenig wie die Verzierungen.

Ein Fuchs und ein Wolf, schoß es Richard durch den Kopf. Dann fragte er sich, wieso er das gedacht hatte.

Der vordere Mann, der Fuchs, war kleiner als Richard. Er hatte glattes, fettiges Haar und einen bleichen Teint; und als Richard die Tür öffnete, lächelte er breit und nur einen winzigen Moment zu spät. »Einen guten Morgen entbiete ich Ihnen, werter Herr«, sagte er, »an diesem wunderschönen Tag.«

»Ah. Hallo«, sagte Richard.

»Wir führen eine persönliche Befragung gewissermaßen delikater Natur durch, von Tür zu Tür. Dürfen wir eintreten?«

»Also, im Moment paßt es mir nicht besonders«, sagte Richard. Dann fragte er: »Sind Sie von der Polizei?«

Der zweite Besucher, ein großer Mann, der Wolf, der ein Stückchen hinter seinem Freund stand und einen Stapel Fotokopien an seine Brust hielt, hatte bisher nichts gesagt, sondern nur gewartet, riesengroß und teilnahmslos. Jetzt lachte er einmal, leise und trocken. Dieses Lachen hatte etwas Ungesundes.

»Solches Glück«, sagte der kleinere Mann, »ward uns bedauerlicherweise nicht beschieden. Eine Laufbahn als Gesetzeshüter, so verlockend sie auch unzweifelhaft ist, stand nicht in den Karten, die Madame Fortuna meinem Bruder und mir zugeteilt hat. Nein, wir sind nur einfache Privatbürger. Erlauben Sie mir, uns vorzustellen. Ich bin Mister Croup, und dieser Herr ist mein Bruder, Mister Vandemar.« Sie sahen nicht wie Brüder aus. Sie sahen wie gar nichts aus, was Richard schon mal gesehen hatte.

»Ihr Bruder?« fragte Richard. »Müßten Sie dann nicht den gleichen Namen haben?«

»Ich bin beeindruckt. Was für ein kluger Kopf, Mister Vandemar. Ein wahrer Pfiffikus. Es gibt Menschen, die sind so scharfsinnig«, und er rückte näher an Richard heran und stellte sich direkt vor ihm auf die Zehenspitzen, »daß sie Gefahr laufen, sich zu schneiden.«

Richard trat einen Schritt zurück.

»Können wir hereinkommen?« fragte Mr. Croup.

»Was wollen Sie?«

Mr. Croup seufzte auf eine Weise, die er offenbar für äußerst wehmütig hielt. »Wir suchen unsere Schwester«, erklärte er. »Ein ungezogenes Kind, widerspenstig und dickköpfig, das unserer armen, lieben, verwitweten Mutter fast das Herz gebrochen hat.«

»Weggelaufen«, erläuterte Mr. Vandemar milde. Er drückte Richard ein fotokopiertes Papier in die Hand. »Sie ist ein bißchen … komisch«, fügte er hinzu, und er ließ einen Finger neben seiner Schläfe kreisen, um anzudeuten, daß das Mädchen ein Fall für die Klapsmühle sei.

Richard schaute sich den Zettel an.

Da stand:

HABEN SIE DESES MÄDCHEN GESEHEN?

Darunter war auf einem fotokopiegrauen Foto ein Mädchen abgebildet, das in Richards Augen wie eine ordentlichere, sauberere, langhaarige Ausgabe der jungen Dame aussah, die er in seinem Badezimmer beherbergte.

Darunter stand:

Hört auf den Namen Doreen. Beißt und tritt. Ist weggelaufen. Informieren Sie uns, wenn Sie sie gesehen haben. Wir wollen sie wiederhaben. Belohnung.

Und darunter eine Telefonnummer.

Richard schaute wieder das Foto an. Das war eindeutig das Mädchen in seinem Badezimmer.

»Nein«, sagte er. »Ich fürchte, ich habe sie nicht gesehen. Tut mir leid.«

Mr. Vandemar hörte jedoch gar nicht zu. Er hatte den Kopf gehoben und schnüffelte, als röche er etwas Seltsames oder Unangenehmes. Richard wollte ihm das Blatt Papier zurückgeben, doch der Mann schob sich einfach an ihm vorbei und betrat die Wohnung, ein Wolf auf der Pirsch.

Richard lief ihm nach.

»Was fällt Ihnen ein? Lassen Sie das! Raus hier! Hören Sie, Sie können da nicht reingehen – « Denn Mr. Vandemar bewegte sich direkt auf das Badezimmer zu.

Richard hoffte, das Mädchen – Doreen? – war so geistesgegenwärtig gewesen, die Badezimmertür abzuschließen. Doch nein; die Tür ging auf, als Mr. Vandemar dagegenstieß. Er trat ein, und Richard, der sich wie ein harmloser kleiner Hund fühlte, der dem Briefträger kläffend an den Fersen hing, folgte ihm.

Es war kein großes Badezimmer. Es befanden sich eine Badewanne, eine Toilette, ein Waschbecken, ein paar Flaschen Shampoo, ein Stück Seife und ein Handtuch darin. Als Richard es vor ein paar Minuten verlassen hatte, hatten sich außerdem ein ziemlich schmutziges, blutiges Mädchen, ein sehr blutiges Waschbecken und ein offener Erste-Hilfe-Kasten darin befunden. Jetzt war es strahlend sauber.

Es gab nichts, wo das Mädchen sich hätte verstecken können.

Mr. Vandemar verließ das Badezimmer und stieß die Schlafzimmertür auf, ging hinein, schaute sich um.

»Ich weiß nicht, was Sie vorhaben«, sagte Richard. »Aber wenn Sie beide meine Wohnung nicht auf der Stelle verlassen, rufe ich die Polizei.«

Da wandte sich Mr. Vandemar, der gerade dabei gewesen war, Richards Wohnzimmer zu inspizieren, Richard zu, und dieser stellte plötzlich fest, daß er schreckliche Angst hatte, wie ein kleiner Hund, der gerade merkte, daß das, was er für einen Briefträger gehalten hatte, in Wirklichkeit ein riesiger hundefressender Außerirdischer aus der Art Film war, für die Jessica keine Zeit hatte.

Richard ertappte sich dabei, wie er überlegte, ob man zu jemandem wie Mr. Vandemar sagte: »Tun Sie mir nicht weh!«, und wenn ja, ob das überhaupt etwas nützen würde.

Und dann sagte Mr. Croup, verschlagen wie ein Fuchs: »Aber, aber, was ist denn nur in Sie gefahren, Mister Vandemar? Ich möchte wetten, der Kummer um unser geliebtes Geschwisterlein hat ihn um den Verstand gebracht. Bitten Sie den Herrn um Verzeihung, Mr. Vandemar.«

Mr. Vandemar nickte und überlegte einen Moment. »Dachte, ich müßte mal zur Toilette«, sagte er. »Mußte doch nicht. ’Tschuldigung.«

Mr. Croup begann den Flur entlangzugehen.

»Na also. Nun, ich hoffe, Sie vergeben meinem ungezogenen Bruder seine fehlenden Manieren. Ich bin sicher, vor lauter Sorge um unsere liebe, arme, verwitwete Mutter und um unsere Schwester, die just in diesem Moment durch die Straßen Londons streift, ohne jemanden, der sie liebt und sich um sie kümmert, ist er nicht mehr recht bei Sinnen. Aber dennoch ist er ein guter Mensch, und es ist schön, ihn an meiner Seite zu wissen. Ist es nicht so, strammer Geselle?«

Sie gingen jetzt aus der Tür ins Treppenhaus. Mr. Vandemar sagte nichts. Er sah nicht so aus, als sei er vor Kummer nicht mehr recht bei Sinnen.

Croup wandte sich zu Richard um und probierte noch ein füchsisch verschlagenes Lächeln. »Sie sagen uns Bescheid, wenn Sie sie sehen«, sagte er.

»Auf Wiedersehen«, sagte Richard. Dann machte er die Tür zu und schloß sie ab. Und zum ersten Mal, seit er hier wohnte, legte er die Sicherheitskette vor.

»Bin nicht fett«, sagte Mr. Vandemar.

Mr. Croup, der sofort das Telefonkabel gekappt hatte, als Richard gesagt hatte, er wolle die Polizei rufen, und sich jetzt fragte, ob es die richtige Schnur gewesen war – schließlich war die Technik des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gerade seine Stärke –, nahm ihm ein Flugblatt aus der Hand.

»Das habe ich nie behauptet«, sagte er. »Spucken!«

Mr. Vandemar hustete einen Mundvoll Schleim hoch und spuckte ihn säuberlich auf die Rückseite des Handzettels. Mr. Croup klatschte das Plakat mit Wucht an die Wand neben Richards Tür. Es blieb sofort kleben, und zwar bombenfest.

HABEN SIE DIESES MÄDCHEN GESEHEN? fragte es.

»›Strammer Geselle‹ haben Sie gesagt. Heißt fett.«

»Stramm heißt auch mutig, kühn, beherzt, furchtlos, wacker, tapfer, forsch, mannhaft, bravourös und unverzagt«, sagte Mr. Croup. »Glauben Sie ihm?«

Sie gingen die Treppe hinab.

»Papperlapapp«, sagte Mr. Vandemar. »Ich hab’ sie gerochen. «



Richard wartete hinter seiner Wohnungstür, bis er ein paar Stockwerke tiefer die Haustür zuschlagen hörte. Als er gerade den Flur entlang zurück zum Badezimmer ging, ließ ihn ein lautes Telefonklingeln zusammenzucken.

Er sprintete den Flur zurück und nahm den Hörer ab. »Hallo?« sagte Richard. »Hallo?«

Kein Geräusch drang aus dem Hörer. Statt dessen klickte es, und Jessicas Stimme kam aus dem Anrufbeantworter auf dem Tisch neben dem Telefon. Sie sagte: »Richard? Hier ist Jessica. Es tut mir leid, daß du nicht da bist, denn dies wäre unser letztes Gespräch gewesen, und ich wollte es dir so gern persönlich sagen.«

Das Telefon, stellte er fest, war völlig tot. Am Hörer hingen noch etwa dreißig Zentimeter Kabel, das am Ende sauber durchtrennt war. Er brüllte trotzdem hinein, Dinge wie »Jessica!« und »Ich bin da!« und »Bitte leg nicht auf!«

»Du hast mich gestern abend zutiefst blamiert, Richard«, fuhr die Stimme fort. »Ich betrachte unsere Verlobung als gelöst. Ich habe weder vor, dir den Ring zurückzugeben, noch dich jemals wiederzusehen. Ich hoffe, du und deine lahme Ente verfaulen in der Hölle. Leb wohl.«

»Jessica!« schrie Richard, in der Hoffnung, das Telekommunikationsnetzwerk vielleicht mit Hilfe reiner Lautstärke zu durchdringen.

Das Band hörte auf, sich zu drehen, es klickte noch mal, und die kleine rote Lampe begann zu blinken.

»Schlechte Nachrichten?« fragte das Mädchen.

Sie stand gleich hinter ihm, in der winzigen Küche, den Arm sauber bandagiert. Sie war gerade dabei, Teebeutel herauszuholen und sie in Becher zu legen. Das Wasser kochte.

»Ja«, sagte Richard. »Sehr schlechte.« Er ging zu ihr hinüber und gab ihr das HABEN SIE DIESES MÄDCHEN GESEHEN?-Plakat. »Das bist doch du, oder?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das auf dem Foto bin ich.«

»Dann bist du … Doreen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin Door, Richardrichardmayhewdick. Milch und Zucker?«

Richard verlor jetzt fürchterlich den Boden unter den Füßen. Und er sagte: »Richard. Nur Richard. Keinen Zucker.« Dann fragte er: »Sag mal, wenn die Frage nicht zu persönlich ist, was ist eigentlich mit dir passiert?«

Door goß das kochende Wasser in die Becher. »Besser, du weißt es nicht«, sagte sie einfach.

»Ach so, tut mir leid, wenn ich – «

»Nein. Richard. Ehrlich, es ist besser, du weißt es nicht. Es würde dir nichts nützen. Du hast jetzt schon mehr getan, als gut war.«

Sie holte die Teebeutel heraus und reichte ihm einen Becher Tee. Er nahm ihn entgegen und merkte, daß er immer noch mit dem Telefonhörer in der Hand herumlief.

»Na ja. Also. Ich konnte dich da schließlich nicht einfach liegenlassen.«

»Doch«, sagte sie. »Aber du hast es nicht getan.«

Sie preßte sich an die Wand und lugte aus dem Fenster. Richard ging zu ihr und schaute ebenfalls hinaus. Auf der anderen Straßenseite kamen Mr. Croup und Mr. Vandemar aus dem Zeitungsladen, und im Schaufenster klebte gut sichtbar HABEN SIE DIESES MÄDCHEN GESEHEN?

»Sind das wirklich deine Brüder?« fragte er.

»Bitte«, sagte Door ungerührt. »So weit kommt’s noch.«

Er nippte an seinem Tee und tat so, als sei alles normal.

»Wo warst du denn nun?« fragte er. »Gerade eben?«

»Ich war hier«, sagte sie. »Hör mal, da diese beiden sich hier immer noch herumtreiben, müssen wir jemanden benachrichtigen …« Sie zögerte. »Jemanden, der helfen kann. Ich traue mich nicht, die Wohnung zu verlassen.«

»Tja, kannst du denn nirgendwo hin? Niemanden anrufen?«

Sie nahm ihm den toten Telefonhörer, von dem das abgeschnittene Kabel herabhing, aus der Hand und schüttelte den Kopf. »Meine Freunde haben kein Telefon«, sagte sie. Sie legte den Hörer wieder auf den Apparat, wo er nutzlos und einsam liegenblieb.

Plötzlich lächelte sie verschmitzt. »Brotkrumen!« sagte sie.

»Wie bitte?« fragte Richard.



Sie öffnete das kleine Fenster an der Rückwand des Schlafzimmers, das auf ein kleines Areal aus Dachziegeln und Dachrinnen hinausging, und streute die Brotkrumen aus. Um das kleine Fenster zu erreichen, mußte man sich auf Richards Bett stellen.

»Aber ich versteh’ nicht«, sagte Richard.

»Natürlich nicht«, pflichtete sie ihm bei. »Und jetzt sei still!«

Da: Geflatter und der violett-grau-grüne Schimmer einer Taube. Sie pickte die Brotkrumen auf, und Door streckte die Hand aus und hob sie hoch. Die Taube sah sie gespannt an, doch sie beschwerte sich nicht.

Sie setzten sich aufs Bett. Door brachte Richard dazu, die Taube festzuhalten, während sie mit einem leuchtend blauen Gummiband, das Richard sonst dazu benutzte, seine Stromrechnungen zusammenzuhalten, eine Nachricht an ihrem Bein befestigte.

Richard war nicht gerade ein begeisterter Taubenfesthalter. »Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll«, erklärte er. »Ich meine, das ist keine Brieftaube. Das ist bloß eine normale Londoner Taube. Eine, die Lord Nelson vollkackt. «

»Stimmt«, sagte Door. Ihre Wange war zerkratzt, und ihr Haar war wirr, wirr, aber nicht verfilzt. Sie nahm ihm die Taube ab, hielt sie hoch und sah ihr ins Gesicht. Der Vogel legte den Kopf zur Seite und starrte zurück.

»Also gut«, sagte sie, und dann machte sie ein Geräusch, das wie das blubbernde Gurren von Tauben klang, »also gut, Crrpllrr, du suchst den Marquis de Carabas. Verstanden?«

Die Taube gurrte blubbernd zurück.

»Braves Mädchen. Hör zu, es ist wichtig, vielleicht solltest du – «

Die Taube unterbrach sie mit einem ziemlich ungeduldig klingenden Blubbern. »Tut mir leid«, sagte Door. »Natürlich, du weißt schon, was du tust.«

Sie brachte den Vogel zum Fenster und ließ ihn fliegen.

Richard hatte das Treiben mit ein wenig Erstaunen beobachtet. »Weißt du, daß es fast so klang, als würde sie dich verstehen?« fragte er, als der Vogel am Himmel schrumpfte und hinter ein paar Dachfirsten verschwand.

»Na, so was«, sagte Door. »Jetzt warten wir.«

Sie ging zu dem Bücherregal in der Ecke des Schlafzimmers hinüber, fand ein Exemplar von Mansfield Park, von dessen Existenz Richard bisher nichts gewußt hatte, und ging ins Wohnzimmer.

Richard folgte ihr. Sie machte es sich auf seinem Sofa bequem und schlug das Buch auf.

»Ist das die Abkürzung von Doreen?« fragte er.

»Was?«

»Dein Name.«

»Nein.«

»Wie wird das geschrieben?«

»D-o-o-r. Wie Tür.«

»Aha.« Er mußte etwas sagen, deshalb sagte er: »Was ist denn das für ein Name?«

Und sie sah ihn mit ihren merkwürdig gefärbten Augen an, und sie sagte: »Mein Name.« Dann wandte sie sich wieder Jane Austen zu.

Richard ergriff die Fernbedienung und stellte den Fernseher an. Dann schaltete er um. Schaltete noch mal um. Seufzte. Schaltete noch mal um.

»Und, worauf warten wir?«

Door blätterte um. Sie blickte nicht auf. »Auf eine Antwort. «

»Was für eine Antwort?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ach so.«

Ihm fiel auf, daß ihre Haut sehr weiß war, jetzt, wo sie größtenteils von Schmutz und Blut befreit war. Er fragte sich, ob sie so blaß war, weil sie krank war oder weil sie soviel Blut verloren hatte. Oder ob sie einfach nicht viel an die frische Luft kam. Vielleicht hatte sie im Gefängnis gesessen. Obwohl sie dafür etwas zu jung aussah. Vielleicht hatte der große Mann doch die Wahrheit gesagt, als er meinte, sie sei verrückt …

»Hör mal, als diese Männer hier waren …«

»Männer?« Ein Blitz aus den merkwürdig gefärbten Augen. »Croup und ähm, Vanderbilt.«

»Vandemar.« Sie überlegte einen Moment und nickte dann. »Ja, ich schätze, man könnte sie Männer nennen. Sie haben beide zwei Beine, zwei Arme und einen Kopf.«

Richard fuhr fort. »Als die vorhin hier waren. Wo warst du da?«

Sie leckte einen Finger an und blätterte um. »Ich war hier.«

»Aber – «

Ihm fehlten die Worte. In der Wohnung gab es nichts, wo sie sich hätte verstecken können. Aber verlassen hatte sie sie auch nicht. Aber –

Ein Kratzen war zu hören, und ein dunkler Umriß huschte aus dem Haufen Videokassetten unter dem Fernseher hervor.

»Ach du Scheiße!« sagte Richard, und er warf mit aller Kraft die Fernbedienung danach. Krachend landete sie in den Videokassetten. Von der dunklen Gestalt keine Spur.

»Richard!« sagte Door.

»Schon gut«, erklärte er. »Ich glaube, es war nur eine Ratte oder so was.«

Sie funkelte ihn zornig an. »Natürlich war es eine Ratte! Jetzt hast du ihr Angst gemacht. Das arme Ding.« Sie blickte sich im Zimmer um, und dann machte sie zwischen den Vorderzähnen ein leises Pfeifgeräusch. »Hallo? « rief sie. Sie kniete auf dem Boden, Mansfield Park war vergessen. »Hallo?«

Sie warf Richard einen wütenden Blick zu. »Wenn du ihr wehgetan hast … «, drohte sie, und dann sagte sie sanft ins Zimmer: »Tut mir leid, er ist ein Idiot, hallo?«

»Ich bin kein Idiot«, sagte Richard.

»Psst!« sagte sie. »Hallo?«

Zwei kleine schwarze Augen lugten unter dem Sofa hervor. Der Rest des Kopfes folgte, und sie musterte mißtrauisch ihre Umgebung. Sie war viel zu groß für eine Maus, daran bestand kein Zweifel.

»Hi!« sagte Door warm. »Alles in Ordnung?«

Sie streckte ihre Hand aus. Das Tier kletterte hinein, lief dann ihren Arm hoch und kuschelte sich in die Armbeuge. Door streichelte mit dem Finger seine Flanke. Es war dunkelbraun und hatte einen langen rosa Schwanz. Etwas, das aussah wie ein gefaltetes Stück Papier, war an seiner Seite befestigt.

»Das ist eine Ratte«, sagte Richard. Er fand, es gab Momente, in denen es verzeihlich war, das Offensichtliche zu sagen.

»Ja. Willst du dich nicht entschuldigen?«

»Was?«

»Entschuldige dich.«

Vielleicht hatte er sie nicht richtig verstanden. Vielleicht war er derjenige, der verrückt wurde. »Bei einer Ratte?«

Door sagte ziemlich bedeutungsschwanger nichts.

»Es tut mir leid«, sagte Richard würdevoll zu der Ratte, »wenn ich dich erschreckt habe.«

Die Ratte schaute zu Door auf.

»Nein, er meint es ernst«, sagte sie. »Das sagt er nicht nur so daher. Und, was hast du für mich?«

Sie fingerte an der Ratte herum und zog ein vielfach gefaltetes Stück braunes Papier hervor, das, wie Richard schien, mit einem leuchtend blauen Gummiband befestigt war.

Sie öffnete es: ein brauner Papierfetzen mit einer spinnenhaften schwarzen Handschrift darauf.

Sie las es und nickte. »Danke«, sagte sie zu der Ratte. »Für alles, was du getan hast.«

Die Ratte sprang auf die Couch hinunter, funkelte Richard kurz an, und dann war sie im Schatten verschwunden.

Das Mädchen namens Door reichte Richard den Zettel. »Hier«, sagte sie. »Lies das.«



Es war später Nachmittag in Central London, und da der Herbst nahte, war es schon fast dunkel. Richard hatte die U-Bahn zur Tottenham Court Road genommen und ging jetzt die Oxford Street in westlicher Richtung hinunter, das Stück Papier in der Hand.

»Das ist eine Nachricht«, sagte sie, als sie sie ihm gab. »Vom Marquis de Carabas.«

Richard war sicher, daß er den Namen schon mal gehört hatte. »Wie hübsch«, sagte er. »Hatte wohl keine Postkarten mehr?«

»So geht’s schneller.«

Er ging vorbei an den Lichtern des Virgin Megastore, an dem Geschäft, das Londoner Polizeihelme und kleine rote Londoner Busse als Souvenirs verkaufte, und an dem Laden, in dem man die Pizza stückweise bekam, und dann bog er rechts ab …

»Du mußt genau das tun, was hier steht. Paß auf, daß dir keiner folgt.« Dann seufzte sie und sagte: »Ich sollte dich da wirklich nicht so tief mit hineinziehen.«

»Wenn ich diese Anweisungen befolge … kannst du dann schneller wieder von hier verschwinden?«

»Ja.«

In die Hanway Street, eine enge, dunkle Straße voller trübseliger Plattenläden und geschlossener Restaurants. Nur aus den verschwiegenen Saufclubs in den oberen Stockwerken der Gebäude drang Licht. Er ging weiter.

»› … nach rechts in die Hanway Street, links in den Hanway Place, und dann wieder rechts in die Orme Passage. An der ersten Straßenlaterne stehenbleiben …‹ Bist du sicher, daß das stimmt?«

»Ja.«

Er konnte sich an keine Orme Passage erinnern, obwohl er schon mal am Hanway Place gewesen war. Es gab da ein indisches Kellerrestaurant, in das Garry-vonder-Arbeit gern ging. Soweit Richard sich erinnern konnte, war der Hanway Place eine Sackgasse.

The Mandeer: Das war das Restaurant. Er ging an der Eingangstür und den einladend zu ihr hinunterführenden Stufen vorbei, und dann bog er links ab …

Er hatte sich getäuscht. Es gab eine Orme Passage. Da war das Straßenschild.

ORME PASSAGE W1

Kein Wunder, daß er sie bislang nicht bemerkt hatte: Es war kaum mehr als ein kleine Gasse zwischen den Häusern, beleuchtet von einer spuckenden Gaslaterne.

Davon gibt’s auch nicht mehr viele, dachte Richard, und er hielt seine Anweisungen ins Gaslicht, um sie zu entziffern.

»›Dann dreh dich dreimal widersinns‹?«

»Widersinns heißt gegen den Uhrzeigersinn, Richard.«

Er drehte sich dreimal und kam sich blöd dabei vor.

»Hör mal, muß ich das wirklich alles machen, nur um deinen Freund zu treffen? Ich meine, dieser ganze Unsinn …«

»Das ist kein Unsinn. Im Ernst. Tu mir doch einfach den Gefallen, ja?«

Und sie hatte ihn angelächelt.

Er hörte auf, sich zu drehen. Dann ging er die Gasse bis ans Ende hinunter. Nichts. Eine metallene Mülltonne, und daneben etwas, das aussah wie ein Haufen Lumpen.

»Hallo?« rief Richard. »Ist da jemand? Ich bin ein Freund von Door. Hallo?«

Nichts. Es war niemand da.

Richard war ziemlich erleichtert. Jetzt würde er nach Hause gehen und dem Mädchen erklären, daß nichts passiert war. Dann würde er die zuständigen Behörden anrufen, und sie würden sich um alles kümmern.

Er zerknüllte den Zettel zu einer festen Kugel und zielte damit auf die Mülltonne.

Was Richard für einen Lumpenhaufen gehalten hatte, entfaltete sich, breitete sich aus und erhob sich in einer einzigen fließenden Bewegung, und eine Hand fing das zerknüllte Papier mitten im Flug auf.

»Meins, glaube ich«, sagte der Marquis de Carabas.

Er trug einen riesigen Trenchcoat, lange schwarze Stiefel und ziemlich zerlumpte Kleider. Seine Augen brannten weiß in einem dunklen Gesicht. Und für einen Augenblick entblößte er grinsend seine weißen Zähne, als hätte er einen Witz gemacht, den nur er verstand, verneigte sich vor Richard und sagte: »De Carabas, zu Ihren Diensten, und wer sind Sie?«

»Ähm«, sagte Richard. »Öh. Ähm.«

»Sie sind Richard Mayhew, der junge Mann, der unsere verletzte Door gerettet hat. Wie geht es ihr jetzt?«

»Ah. Ganz gut. Ihr Arm ist noch ein bißchen – «

»Zweifellos wird es uns alle erstaunen, wie schnell sie genesen wird. Ihre Familie hatte bemerkenswerte Selbstheilungskräfte. Es ist ein Wunder, daß es überhaupt jemandem gelungen ist, sie alle umzubringen, nicht wahr?« Der Mann, der sich Marquis de Carabas nannte, ging rastlos in der Gasse auf und ab. Er war ständig in Bewegung.

»Jemand hat Doors Familie umgebracht?« fragte Richard.

»Wir werden nicht besonders weit kommen, wenn Sie weiterhin alles wiederholen, was ich sage, oder?« sagte der Marquis, der jetzt vor Richard stand. »Setzen Sie sich«, befahl er. Richard sah sich in der Gasse nach einer Sitzgelegenheit um. Der Marquis legte ihm eine Hand auf die Schulter, und schon lag er platt auf dem Kopfsteinpflaster.

»Sie weiß, daß ich nicht billig bin. Was bietet sie mir denn?«

»Bitte?«

»Was springt für mich dabei heraus? Sie hat Sie als Unterhändler hergeschickt, junger Mann. Ich bin nicht billig, und zu verschenken habe ich erst recht nichts.«

Richard zuckte mit den Schultern, so gut er das im Liegen eben konnte. »Ich soll Ihnen sagen, sie möchte, daß Sie sie nach Hause begleiten – wo auch immer das sein mag – und ihr einen Leibwächter besorgen.«

Selbst wenn der Marquis stehenblieb, waren seine Augen noch unaufhörlich in Bewegung. Nach oben, nach unten, nach links und nach rechts, als ob er nach etwas suchte, über etwas nachdachte. Addierte, subtrahierte, kalkulierte.

Richard fragte sich, ob dieser Mann noch ganz bei Trost war.

»Und was bietet sie mir?«

»Na ja. Nichts.«

Der Marquis hauchte seine Fingernägel an und polierte sie an seinem Mantelkragen. Dann wandte er sich ab. »Sie bietet mir. Nichts.« Er hörte sich beleidigt an.

Richard rappelte sich wieder auf. »Also, von Geld hat sie nichts gesagt. Sie meinte nur, sie würde Ihnen dann einen Gefallen schulden.«

Die Augen blitzten. »Was denn für einen Gefallen?«

»Einen wirklich großen«, sagte Richard. »Sie meinte, sie würde Ihnen einen wirklich großen Gefallen schulden.«

De Carabas grinste wie ein Tiger, der ein verirrtes Bauernkind erblickt. Dann wandte er sich Richard zu. »Und Sie haben sie allein gelassen?« fragte er. »Obwohl Croup und Vandemar dort draußen unterwegs sind? Also, worauf warten Sie noch?«

Er kniete nieder und nahm einen kleinen Metallgegenstand aus einer Tasche. Er steckte ihn in einen Schachtdeckel am Rand der Gasse und drehte ihn. Der Schachtdeckel ging ganz leicht auf; der Marquis steckte den Metallgegenstand wieder weg und zog etwas aus einer anderen Tasche, das Richard ein wenig an einen langen Feuerwerkskörper oder eine Fackel erinnerte.

Er fuhr mit der Hand daran entlang, und aus einem Ende schlug eine scharlachrote Flamme.

»Darf ich etwas fragen?« fragte Richard.

»Aber nein«, sagte der Marquis. »Sie stellen keine Fragen. Sie bekommen keine Antworten. Sie weichen nicht vom Wege ab. Sie denken noch nicht einmal über das nach, was Sie hier gerade erleben. Verstanden?«

»Aber – «

»Am wichtigsten: Kein Aber. Nun denn: Ein Fräulein in Not wartet auf unsere Hilfe«, sagte de Carabas. »Und es gilt keine Zeit zu verlieren. Bewegen Sie sich!«

Richard bewegte sich: Er kletterte die metallene Leiter hinab, die unter dem Kanalschacht in die Wand eingelassen war, und hatte mittlerweile dermaßen den Boden unter den Füßen verloren, daß er ein Bathyskaph gebraucht hätte, um wieder bis an die Oberfläche sehen zu können.



Richard fragte sich, wo sie waren. Ein Abwasserkanal schien das nicht zu sein. Vielleicht war es ein Tunnel für Telefonkabel oder für ganz kleine Züge. Oder für … irgend etwas. Er stellte fest, daß er nicht besonders viel darüber wußte, was sich unter seinen Füßen abspielte.

Er war nervös, denn er hatte Angst, mit den Füßen irgendwo hängenzubleiben, in der Dunkelheit zu stolpern und sich den Knöchel zu brechen. De Carabas eilte unbekümmert voran. Offenbar war es ihm gleichgültig, ob Richard mit ihm Schritt halten konnte oder nicht.

Die rote Flamme warf riesige Schatten an die Tunnelwände. Richard rannte, um den Marquis einzuholen.

»Mal sehen … «, sagte de Carabas. »Ich muß sie zum Markt bringen. Der nächste findet in, hmm, zwei Tagen statt, wenn ich mich recht entsinne, was ich selbstverständlich immer tue. Bis dahin kann ich sie verstecken. «

»Markt?« fragte Richard.

»Der Wandermarkt. Aber es ist besser, wenn Sie nichts darüber wissen. Keine weiteren Fragen.«

Richard sah sich um. »Na ja, ich wollte Sie gerade fragen, wo wir jetzt sind. Aber ich nehme an, Sie würden sich weigern, es mir zu sagen.«

Der Marquis grinste wieder. »Sehr gut!« sagte er. »Sie haben schon genug Probleme.«

»Das können Sie laut sagen«, seufzte Richard. »Meine Verlobte hat mich verlassen, und ich muß mir wahrscheinlich ein neues Telefon besorgen – «

»Temple und Arch! Das Telefon ist noch Ihre geringste Sorge.«

De Carabas legte die Fackel auf den Boden, wo sie weiter zuckte und loderte, und er begann, ein paar in die Wand eingelassene Sprossen emporzuklettern.

Richard zögerte und folgte ihm dann.

Die Sprossen waren kalt und verrostet. Er spürte, wie sie beim Klettern rauh in seine Hände krümelten, und bekam Rostpartikel in die Augen und den Mund.

Das blutrote Licht von unten flackerte, und dann ging es aus. Sie kletterten in völliger Dunkelheit.

»Und, gehen wir jetzt zurück zu Door?«

»Später. Erst muß ich noch eine kleine Angelegenheit regeln. Eine Versicherung. Und wenn wir ans Tageslicht kommen, schauen Sie nicht nach unten.«

»Warum nicht?« fragte Richard.

Und dann traf ihn das Tageslicht ins Gesicht, und er schaute nach unten.



Es war Tag (wieso war es Tag? fragte eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf. Es war fast Nacht gewesen, als er die Gasse betreten hatte – wann, vor einer Stunde?), und er hielt sich an einer metallenen Leiter fest, die außen an einem sehr hohen Gebäude hinaufführte (aber noch vor ein paar Sekunden war er dieselbe Leiter hochgeklettert, und da war er drinnen gewesen, oder?), und unter sich sah er …

London.

Winzige Autos. Winzige Busse und Taxis. Winzige Gebäude. Bäume. Miniaturlastwagen. Sehr, sehr winzige Menschen. All das verschwamm ihm vor den Augen.

Zu sagen, Richard habe ein bißchen Höhenangst, wäre korrekt, aber den Tatsachen nicht ganz angemessen. Es wäre so, als würde man sagen, der Planet Jupiter sei größer als eine Ente. Soweit richtig, aber eigentlich könnte man doch noch ein bißchen weitergehen.

Er haßte steile Abhänge und hohe Gebäude: Irgendwo tief in ihm saß die Angst, daß er eines Tages, ohne es zu wollen, an den Rand des Abhangs ging und einfach ins Leere trat.

Richard erstarrte. Seine Hände umkrampften die Sprossen. Seine Augen taten weh, irgendwo hinter den Augäpfeln. Er begann, zu schnell und zu tief zu atmen.

»Da hat wohl jemand«, sagte eine amüsierte Stimme über ihm, »nicht auf mich gehört, was?«

»Ich …« Richards Kehle funktionierte nicht. Er schluckte, um sie zu befeuchten. »Ich kann mich nicht bewegen. « Seine Hände schwitzten. Was, wenn sie so sehr schwitzten, daß er einfach abrutschte und ins Leere fiel …

»Natürlich können Sie sich bewegen. Oder wenn nicht, können Sie hier an der Wand hängen bleiben, bis Ihre Hände erfrieren und Ihre Beine nachgeben und Sie dreihundert Meter tief in einen unappetitlichen Tod stürzen.«

Richard blickte zu dem Marquis auf. Dieser schaute auf Richard hinab und lächelte immer noch. Als er sah, daß Richard ihn beobachtete, ließ er mit beiden Händen die Sprossen los und wedelte mit den Fingern.

Richard durchfuhr eine Welle des Schwindels.

»Scheißkerl«, sagte er halblaut, und er ließ mit der rechten Hand die Sprosse los und bewegte sie zwanzig Zentimeter nach oben, bis sie die nächste fand. Dann setzte er das rechte Bein eine Sprosse weiter.

Dann tat er das gleiche mit der linken Hand.

Nach einer Weile fand er sich am Rand eines flachen Daches wieder: Und er stieg darüber hinweg und brach zusammen. Er merkte, daß sich der Marquis auf dem Dach schnellen Schrittes von ihm entfernte. Richard vergrub das Gesicht in den Händen und kostete das Gefühl aus, ein festes Gebäude unter sich zu spüren. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Eine barsche Stimme sagte: »Sie sind hier nicht erwünscht, de Carabas. Gehen Sie. Machen Sie, daß Sie wegkommen!«

»Old Bailey«, hörte er de Carabas sagen. »Sie sehen wunderbar wohl aus.«

Und dann schlurften Schritte auf ihn zu, und ein Finger stupste ihn sanft in die Rippen. »Alles in Ordnung, mein Junge? Ich hab’ da hinten einen Eintopf auf dem Feuer. Willst du was davon? Es ist Krähe.«

Richard öffnete die Augen. »Nein danke«, sagte er.

Zuerst sah er die Federn. Er wußte nicht, ob es ein Mantel war oder ein Cape oder sonst etwas, aber was für ein Stück Oberbekleidung es auch sein mochte, es war über und über mit Federn bedeckt. Ein Gesicht schaute über die Federn hinweg. Das Gesicht war freundlich und faltig. Der Körper war dort, wo keine Federn waren, mit Seilen umwickelt. Richard ertappte sich dabei, wie er an eine Robinson Crusoe-Aufführung denken mußte, in die in seiner Kindheit mal jemand mit ihm gegangen war: So würde Robinson Crusoe aussehen, wenn er auf einem Dach anstatt auf einer einsamen Insel gestrandet wäre.

»Man nennt mich Old Bailey, mein Junge«, sagte der Robinson-Crusoe-Mann. Er tastete nach der Brille, die an einem Band um seinen Hals hing, setzte sie auf und starrte Richard durch sie hindurch an. »Ich erkenne dich nicht. Welchem Baron bist du untertan? Wie heißt du?«

Richard setzte sich auf. Auf der anderen Seite des Daches stand etwas, das wie ein Zelt aussah. Ein altes braunes Zelt, oft geflickt, mit weißer Vogelscheiße besprenkelt.

»Halten Sie den Mund!« sagte der Marquis de Carabas. »Kein Wort mehr.« Dann wandte er sich Old Bailey zu. »Leuten, die ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen – « er schnippte unter der Nase des alten Mannes laut mit den Fingern, woraufhin dieser zusammenzuckte, » – kann es passieren, daß sie ihre Nase verlieren. Also. Sie schulden mir seit zwanzig Jahren einen Gefallen, Old Bailey. Einen großen Gefallen. Und jetzt löse ich ihn ein.«

Der alte Mann blinzelte. »Ich war ein Dummkopf«, sagte er leise.

»Es geht doch nichts über einen alten Dummkopf«, stimmte der Marquis zu. Er griff mit der Hand in eine Innentasche seines Mantels und zog eine Silberdose hervor, größer als eine Schupftabakdose, kleiner als eine Zigarrenkiste und um einiges aufwendiger verziert als beide. »Wissen Sie, was das ist?«

»Ich wünschte, ich wüßte es nicht.«

»Sie werden es an einem sicheren Ort für mich aufbewahren. «

»Ich will es nicht haben.«

»Sie haben keine andere Wahl«, sagte der Marquis. Dann gab er Richard mit seinem schwarzen Stiefel einen kleinen Stoß. »Nun denn«, sagte er. »Wir sollten uns besser wieder auf den Weg machen, was?«

Er schritt über das Dach davon, und Richard folgte ihm, äußerst darauf bedacht, daß er dem Rand des Gebäudes nicht zu nahe kam. Der Marquis öffnete eine Tür, und sie gingen eine schlechtbeleuchtete Wendeltreppe hinunter.

»Wer war dieser Mann?«

Ihre Schritte hallten in dem schwachen Licht auf den Stufen wider.

»Sie haben überhaupt nicht zugehört, was ich Ihnen gesagt habe, oder? Sie sind jetzt schon in Schwierigkeiten. Alles, was Sie tun, alles, was Sie sagen, alles, was Sie hören, macht es nur noch schlimmer. Beten Sie lieber, daß Sie nicht schon zu tief drinstecken.«

Richard legte den Kopf zur Seite. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich weiß, das ist eine persönliche Frage. Aber sind Sie vielleicht geisteskrank?«

»Möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Wieso?«

»Na ja«, sagte Richard. »Einer von uns muß es sein.«

Es war jetzt völlig dunkel, und Richard geriet ein wenig ins Straucheln, als er die letzte Stufe erreicht hatte und nach der nächsten suchte, die nicht da war.

»Achtung, Ihr Kopf«, sagte der Marquis, und er öffnete eine Tür, während Richard sich den Kopf an etwas stieß, hinaustrat und seine Augen gegen das Licht abschirmte.

Richard rieb sich die Stirn. Dann rieb er sich die Augen. Die Tür, durch die sie gerade gekommen waren, war die Tür zum Besenschrank in seinem Treppenhaus.

Der Marquis musterte das HABEN-SIE-DIESES-MÄDCHEN-GESEHEN? -Plakat, das neben Richards Wohnungstür klebte.

»Nicht ihre beste Seite«, sagte er.

Dann schloß Richard seine Wohnungstür auf, und er war zu Hause. Es war, wie er erleichtert durch die Fenster sah, wieder Nacht.

»Richard!« sagte Door. »Du hast es geschafft!«

Sie hatte sich gewaschen, während er weg war, und ihre Kleiderschichten sahen aus, als hätte sie zumindest versucht, den gröbsten Dreck und das Blut daraus zu entfernen. Ihr Gesicht und ihre Hände waren jetzt völlig sauber. Richard fragte sich, wie alt sie war: Fünfzehn? Sechzehn? Älter? Er konnte es immer noch nicht sagen.

Sie hatte die Lederjacke angezogen, die sie getragen hatte, als er sie fand: ein riesiges braunes Ding, eine Art alte Fliegerjacke, die sie irgendwie kleiner aussehen ließ, als sie war, und sogar verletzlicher.

»Äh, ja«, sagte Richard. Der Marquis de Carabas ging vor dem Mädchen in die Knie, neigte den Kopf und sagte: »Mylady.«

Ihr schien das unangenehm zu sein.

»Ach, stehen Sie schon auf, de Carabas. Ich freue mich, daß Sie gekommen sind.«

Er erhob sich in einer einzigen fließenden Bewegung. »Ich habe gehört«, sagte er, »daß die Worte Gefallen, sehr und groß genannt wurden, und zwar in einem Atemzug.«

»Später.« Sie ging hinüber zu Richard und nahm seine Hände in die ihren. »Richard. Danke. Ich weiß alles, was du getan hast, wirklich zu schätzen. Ich habe die Laken auf dem Bett gewechselt. Und ich wünschte, ich könnte mich irgendwie bei dir revanchieren.«

»Gehst du?«

Sie nickte. »Ich bin jetzt in Sicherheit. Mehr oder weniger. Hoffe ich. Eine Zeitlang.«

»Wo gehst du jetzt hin?« Sie lächelte sanft und schüttelte den Kopf. »Mh-mh. Ich verschwinde aus deinem Leben. Und du warst wunderbar.«

Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange.

»Wo kann ich dich erreichen, falls ich – ?«

»Gar nicht. Niemals. Und …«, und dann zögerte sie. »Hör zu, es tut mir leid, ja?«

Richard inspizierte etwas verlegen seine Füße. »Es gibt nichts, was dir leid tun müßte«, sagte er und fügte nicht ganz überzeugt hinzu: »Es hat Spaß gemacht.«

Dann blickte er auf.

Doch es war niemand mehr da.


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