Kapitel Vierzehn

Die HMS Belfast ist ein 11000-Tonnen-Kriegsschiff, 1939 in Dienst gestellt, das im Zweiten Weltkrieg als Schlachtschiff eingesetzt wurde. Seither liegt es am Südufer der Themse, im Postkartenland zwischen der Tower Bridge und der London Bridge, gegenüber dem Tower of London. Man kann von dort aus St. Paul’s Cathedral sehen und das Monument, das Christopher Wren zur Erinnerung an den Großen Brand errichtet hat. Es dient als schwimmendes Museum, als Denkmal, als Ausbildungsstätte.

Vom Ufer führt eine Fußgängerbrücke aufs Schiff, und diese kamen sie in Zweier- und Dreiergruppen und zu Dutzenden herunter. Sie bauten ihre Stände so früh auf, wie sie konnten, all die verschiedenen Stämme Unter-Londons, vereint vom Marktfrieden und dem allen gemeinsamen Wunsch, ihre Buden so weit wie möglich von dem der Sielmenschen entfernt aufzustellen.

Vor über hundert Jahren war der Beschluß gefaßt worden, daß die Sielmenschen nur auf jenen Märkten einen Stand aufbauen durften, die im Freien abgehalten wurden.

Dunnikin und seine Leute warfen ihre Beute auf einen großen Haufen, auf eine Gummimatte unter einer großen Kanone. Niemand kam sofort zum Stand der Sielmenschen: Doch gegen Ende des Markts würden sie auftauchen, die Schnäppchenjäger, die Neugierigen und jene seltenen Individuen, die das Glück hatten, keinen Geruchssinn zu besitzen.

Richard und Hunter und Door bahnten sich ihren Weg durch die Menschenmenge an Deck.

Richard stellte fest, daß er gar nicht mehr das Bedürfnis hatte, hemmungslos zu gaffen. Die Menschen waren zwar nicht weniger seltsam als auf dem letzten Wandermarkt: aber er selbst war doch wohl schließlich mindestens ebenso seltsam, nicht wahr?

Er schaute sich um und ließ im Gehen seinen Blick über die Gesichter in der Menge schweifen, auf der Suche nach dem ironischen Lächeln des Marquis.

»Ich sehe ihn nicht«, sagte er.

Sie näherten sich dem Stand eines Schmieds. Ein Mann, der, hätte man den zottigen braunen Bart übersehen, leicht als kleiner Berg durchgegangen wäre, warf einen rotgeschmolzenen Metallklumpen auf einen Amboß. Richard hatte noch nie einen richtigen Amboß gesehen. Er konnte die Hitze des geschmolzenen Metalls noch in mehreren Metern Entfernung spüren.

»Such weiter. De Carabas wird schon auftauchen«, sagte Door und schaute sich um. »Wie ein falscher Fuffziger. « Sie überlegte einen Moment. »Was ist ein falscher Fuffziger?« Und dann, noch bevor Richard antworten konnte, quietschte sie: »Hammersmith!«

Der bärtige Berg schaute hoch, hörte auf, auf das geschmolzene Metall einzuschlagen, und dröhnte: »Beim Tempel und beim Arch! Lady Door!« Dann hob er sie hoch, als wöge sie nicht mehr als eine Maus.

»Hallo, Hammersmith«, sagte Door. »Ich hatte gehofft, daß du hier sein würdest.«

»Ich verpasse nie einen Markt, Lady«, donnerte er vergnügt. Dann bekannte er: »Wissen Sie, dies ist der Ort, wo die Geschäfte laufen. Nun denn«, sagte er, da er sich wieder auf den kaltwerdenden Metallklumpen auf seinem Amboß besann, »warten Sie hier einen Moment.« Er setzt Door in Augenhöhe ab, oben auf seinem Stand, zwei Meter über dem Deck. Er schlug den Metallklumpen mit seinem Hammer und verbog ihn dabei mit einem Werkzeug, das Richard völlig zu Recht für eine Zange hielt. Unter den Hammerschlägen verwandelte sich der Klumpen von einem amorphen Etwas zu einer perfekten schwarzen Rose, ein Werk von erstaunlicher Zartheit, jedes Blütenblatt vollkommen und einzigartig.

Hammersmith tauchte die Rose in einen Eimer mit kaltem Wasser neben dem Amboß. Es zischte und dampfte. Dann zog er sie heraus und reichte sie einem fetten Mann in einem Kettenhemd, der geduldig danebenstand; der fette Mann drückte seine Zufriedenheit aus und gab Hammersmith als Gegenleistung eine grüne Marks-and-Spencer-Plastiktüte mit verschiedenen Käsesorten darin.

»Hammersmith?« sagte Door von ihrem Sitz herunter. »Das sind meine Freunde.«

Hammersmith umfaßte Richards Hand mit der seinen, die mehrere Nummern größer war. Sein Händedruck war freudig, aber sehr sanft, als seien ihm in der Vergangenheit beim Händeschütteln eine Reihe von Unfällen widerfahren, woraufhin er so lange geübt hatte, bis er es richtig hinbekam. »Angenehm«, donnerte er.

»Richard«, sagte Richard.

Hammersmith sah erfreut aus. »Richard! Schöner Name! Ich hatte mal ein Pferd namens Richard.« Er ließ Richards Hand los, wandte sich zu Hunter und sagte: »Und Sie sind … Hunter? Hunter! So wahr ich lebe, atme und Stuhlgang habe! Sie ist es!«

Hammersmith errötete wie ein Schuljunge. Er spuckte in seine Hand und versuchte unbeholfen, sich die Haare nach hinten zu kleistern. Dann streckte er die Hand aus, und ihm fiel ein, daß er gerade hineingespuckt hatte, und er wischte sie an seiner Lederschürze ab und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Hammersmith«, sagte Hunter mit einem perfekten karamelfarbenen Lächeln.

»Hammersmith?« fragte Door. »Würdest du mir bitte herunterhelfen?«

Er sah verlegen aus. »Verzeihung, Lady«, sagte er und hob sie herunter. Da wurde Richard klar, daß Hammersmith Door schon als kleines Kind gekannt haben mußte, und er ertappte sich dabei, daß er unerklärlicherweise eifersüchtig auf den riesigen Mann war.

»Also«, sagte Hammersmith gerade zu Door. »Was kann ich für Sie tun?«

»Einiges«, sagte sie. »Aber zuerst – « Sie drehte sich zu Richard um. »Richard? Ich hab’ eine Aufgabe für dich.«

Hunter zog eine Augenbraue hoch. »Für ihn?«

Door nickte. »Für euch beide. Könntet ihr uns etwas zu essen besorgen? Bitte?«

Richard verspürte ein seltsames Gefühl des Stolzes. Er hatte sich bei der Prüfung bewährt. Er war Einer von Ihnen. Er würde Losgehen, und er würde Etwas Zu Essen Holen. Er warf sich in die Brust.

»Ich bin Ihre Leibwächterin. Ich bleibe an Ihrer Seite«, sagte Hunter.

Door grinste. Ihre seltsam gefärbten Augen blitzten. »Auf dem Markt? Das ist nicht nötig, Hunter. Der Marktfrieden hält. Niemand wird mir hier etwas tun. Und Richard hat einen Aufpasser nötiger als ich.«

Richard fiel in sich zusammen, aber keiner sah es.

»Und was ist, wenn jemand den Waffenstillstand bricht?« fragte Hunter.

Hammersmith schauderte trotz der Hitze. »Den Marktfrieden brechen? Brrrr.«

»Das wird nicht geschehen. Geht schon. Ihr beide. Curry, bitte. Und bringt mir bitte ein paar Papadams mit. Scharf.« Hunter fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Dann drehte sie sich um und ging fort in die Menge, und Richard ging mit ihr.

»Was würde denn passieren, wenn jemand den Marktfrieden bräche?« fragte Richard, während sie sich durch die Menschenmassen schoben.

Sie dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Das ist zum letzten Mal vor etwa dreihundert Jahren geschehen. Zwei Freunde gerieten auf dem Markt wegen einer Frau in Streit. Ein Messer wurde gezogen, und einer von ihnen starb. Der andere floh.«

»Was ist mit ihm passiert? Wurde er umgebracht?«

Hunter schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Er wünscht sich immer noch, er sei derjenige gewesen, der gestorben ist.«

»Er ist noch am Leben?«

Hunter schürzte die Lippen. »Sowas ähnliches«, sagte sie nach einer Weile.

»Puuhh!« Richard glaubte, er müsse sich übergeben. »Was ist denn das – dieser Gestank?«

»Die Sielmenschen.«

Richard wandte den Kopf ab und beschloß, nicht mehr durch die Nase zu atmen, bis sie den Stand der Sielmenschen weit hinter sich gelassen hatten.

»Schon irgendeine Spur vom Marquis?« fragte er.

Hunter schüttelte den Kopf. Sie hätte die Hand ausstrecken und ihn berühren können.

Sie gingen eine Planke hoch, auf die Essensstände und freundlicheren Gerüche zu.



Old Bailey fand die Sielmenschen ohne größere Schwierigkeiten, indem er einfach seiner Nase folgte. Er zog eine ziemliche Schau ab, indem er erst ostentativ den toten Cockerspaniel, die Beinprothese und das feuchte und dreckige Handy untersuchte und jedesmal gequält den Kopf schüttelte.

Dann bemerkte er auf theatralische Weise die Leiche des Marquis. Er kratzte sich an der Nase. Er setzte seine Brille auf und inspizierte den Körper. Er nickte vor sich hin. Dann winkte er Dunnikin heran und deutete auf die Leiche.

Dunnikin streckte die Hände aus, lächelte glückselig und blickte zum Himmel empor, um zu vermitteln, welch einen Segen die Überreste des Marquis in ihr Leben gebracht hatten. Er legte eine Hand an die Stirn, senkte sie und schaute zutiefst erschüttert drein, um zu vermitteln, welche Tragödie der Verlust einer solch bemerkenswerten Leiche wäre.

Old Bailey steckte eine Hand in die Tasche und holte einen halb aufgebrauchten Deostift hervor. Er reichte ihn Dunnikin, der ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte, daran leckte und ihn zurückgab. Old Bailey steckte ihn wieder ein. Schaute noch einmal die Leiche des Marquis de Carabas an, nur halb bekleidet, barfuß, noch feucht von ihrer Reise durch die Abwasserkanäle. Der Körper war aschfahl, durch die vielen kleinen und großen Wunden war das Blut daraus gewichen, und die Haut war von dem langen Aufenthalt im Wasser runzlig wie eine Dörrpflaume.

Dann zog er eine Flasche hervor, die zu drei Vierteln mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war, und warf sie Dunnikin zu. Dieser sah sie mißtrauisch an. Die Sielmenschen wissen, wie eine Flasche Chanel No. 5 aussieht, und sie versammelten sich glotzend um Dunnikin. Vorsichtig, wichtigtuerisch schraubte er den Deckel der Flasche ab und tupfte sich eine winzige Menge aufs Handgelenk. Und dann, mit einer Feierlichkeit, um die ihn der feinste Pariser Parfumier beneidet hätte, schnupperte er daran.

Daraufhin nickte er begeistert und ging auf Old Bailey zu, um ihn zu umarmen und den Handel zu besiegeln. Old Bailey wandte das Gesicht ab.

Und dann hielt Old Bailey einen Finger hoch und tat sein Bestes, um zu zeigen, daß er auch nicht mehr der Jüngste war und der Marquis de Carabas, tot oder lebendig, doch ein wenig arg schwer.

Dunnikin pulte sich nachdenklich in der Nase, und anschließend bedeutete er mit einer Handbewegung, die nicht nur Großmut, sondern auch eine idiotische und fehlgeleitete Großzügigkeit signalisierte, die ihn, Dunnikin, und den Rest der Sielmenschen mit Sicherheit ins Armenhaus bringen würde, einem der jüngeren Sielmänner, den Leichnam auf die untere Hälfte des alten Kinderwagens zu schnüren. Der alte Dachmann bedeckte den Körper mit einem Stück Stoff, und dann zog er ihn fort, quer über das menschengefüllte Deck.



»Eine Portion Gemüsecurry, bitte«, sagte Richard zu der Frau am Currystand. »Und, ähm, eine Frage. Das Fleischcurry. Was für Fleisch ist denn das?«

Die Frau sagte es ihm.

»Oh«, sagte Richard. »Gut. Ähm. Dann eben Gemüsecurry für alle.«

»Hallo«, sagte eine volle Stimme neben ihm. Es war die blasse Frau, die sie in den Höhlen getroffen hatten, mit dem schwarzen Kleid und den fingerhutfarbenen Augen.

»Hallo«, sagte Richard mit einem Lächeln. » – Ach, und ein paar Papadams bitte. – Wollen Sie, ähm, Curry kaufen? «

Sie fixierte ihn mit ihren violetten Augen und sagte, Bela Lugosi imitierend: »Ich esse kein … Curry.« Und dann lachte sie, ein überschwengliches, fröhliches Lachen, und Richard merkte plötzlich, wie lange es her war, daß er mit einer Frau gemeinsam über einen Witz gelacht hatte.

»Oh. Ähm. Richard. Richard Mayhew.« Er streckte die Hand aus. Sie berührte sie mit der ihren. Ihre Hand war sehr kalt, aber schließlich ist es Ende Herbst mitten in der Nacht auf einem Schiff draußen auf der Themse sehr kalt.

»Lamia«, sagte sie. »Ich bin eine Velvet.«

»Ach«, sagte er. »Aha. Gibt es davon viele?«

»Ein paar«, erwiderte sie.

Richard nahm die Behälter mit dem Curry darin entgegen. »Was machen Sie?« fragte er.

»Wenn ich nicht gerade etwas zu essen suche«, lächelte sie, »bin ich Fremdenführerin. Ich kenne jeden Zentimeter der Unterseite.«

Hunter stand, obwohl Richard hätte schwören können, daß sie auf der anderen Seite der Bude war, neben Lamia. Sie sagte: »Er ist nichts für Sie.«

Lamia lächelte liebenswürdig. »Das zu beurteilen überlassen Sie besser mir.«

Richard sagte: »Hunter, das ist Lamia. Sie ist eine Velcro.«

»Vel-vet«, verbesserte Lamia liebenswürdig.

»Sie ist Fremdenführerin.«

»Ich bringe Sie, wohin Sie wollen.«

Hunter nahm Richard die Tüte mit dem Essen aus der Hand. »Zeit, zurückzugehen«, sagte sie.

»Also«, sagte Richard. »Wenn wir zu dem Sie-wissenschon gehen, könnte sie uns vielleicht helfen.«

Hunter sah Richard an. Wenn sie ihn einen Tag vorher so angesehen hätte, hätte er das Thema fallenlassen. Aber das war gestern. »Mal sehen, was Door davon hält«, sagte Richard. »Irgendwelche Anzeichen für den Marquis?«

»Noch nicht«, sagte Hunter.



Old Bailey hatte den Leichnam, der an seinem Kinderwagenunterteil festgebunden war wie das Gespenst von Guy Fawkes, die Planke hinabgezerrt. Er zog ihn über die Tower Bridge und vorbei am Tower of London. Er ging weiter zur Haltestelle Tower Hill und machte kurz davor Halt, neben einem großen grauen Mauervorsprung. Es war zwar kein Dach, dachte Old Bailey, aber es würde reichen.

Es war einer der letzten Überreste der London Wall. Der Überlieferung nach hatte der römische Kaiser Konstantin der Große die Stadtmauer im dritten Jahrhundert n. Chr. bauen lassen, auf Verlangen seiner Mutter (ihr Name war Helena), die aus London stammte und die Nase voll davon hatte, sich ständig von Potentaten und Stadtoberhäuptern aus dem ganzen Reich so nebenbei anhören zu müssen, wie dick die Stadtmauern dort, wo sie herkamen, seien und wie denn die Stadtmauern bei ihr aussehen würden.

Als die Mauer fertig war, umschloß sie die ganze Stadt; sie war neun Meter hoch und zweieinhalb Meter dick, und sie war zweifelsfrei eine Mauer. Jetzt war sie nicht mehr neun Meter hoch, denn die Erdoberfläche hatte sich seit den Zeiten von Konstantins Mutter gehoben, und sie umschloß die Stadt nicht mehr ganz. Aber es war immer noch ein imposantes Stück Mauer.

Old Bailey nickte heftig vor sich hin. Er befestigte ein Seil an dem Kinderwagenunterteil und kletterte die Mauer hoch; dann, begleitet von Grunzen und »Au-weia«-Gestöhn, zog er den Marquis hoch bis zum oberen Ende der Mauer.

Er band den Körper von den Kinderwagenrädern los und legte ihn sanft auf den Rücken, die Arme zu beiden Seiten lagernd. Aus ein paar Wunden quoll noch Flüssigkeit. Er war sehr tot.

»Du Dummkopf«, flüsterte Old Bailey. »Wieso mußtest du dich bloß umbringen lassen?«

Der Mond schien hell und klein und hoch in der kalten Nacht, und herbstliche Sternbilder sprenkelten den blauschwarzen Himmel wie der Staub gemahlener Diamanten. Eine Nachtigall flatterte auf die Mauer, untersuchte den Leichnam des Marquis de Carabas und zwitscherte lieblich. »Halt den Schnabel«, sagte Old Bailey barsch. »Ihr Vögel duftet, verdammt noch mal, auch nicht gerade nach Rosen.«

Sie zwitscherte ihm eine melodische Nachtigallen-Obszönität zu und flog fort in die Nacht.

Old Bailey griff in seine Tasche und holte die schwarze Ratte heraus, die inzwischen eingeschlafen war. Sie schaute sich verschlafen um und gähnte dann, wobei sie ihre ungeheuer lange Rattenzunge entblößte. »Wenn’s nach mir ginge«, sagte Old Bailey zu der schwarzen Ratte, »wäre ich froh, wenn ich nie wieder etwas riechen müßte.«

Er setzte sie auf die Steine der London Wall, und sie quiekte ihn an. Old Bailey seufzte. Behutsam nahm er das Silberkästchen aus seiner Tasche, und aus einer Innentasche holte er die Röstgabel.

Er stellte das Silberkästchen auf de Carabas’ Brust.

Dann streckte er nervös die Röstgabel aus und öffnete damit den Deckel des Kästchens. Drinnen lag ein Entenei, bläßlich blaugrün im Mondlicht. Old Bailey hob die Röstgabel, kniff die Augen zusammen und zerschlug das Ei.

Es machte »pop«, als es implodierte.

Für einen Moment herrschte eine große Ruhe; dann kam der Wind auf. Er hatte keine Richtung, sondern schien irgendwie von überall herzukommen, ein plötzlicher Wirbelsturm. Herbstlaub, Zeitungsseiten, der ganze Bodensatz der Stadt wurde von der Erde hochgefegt und durch die Luft geblasen.

Der Wind streifte die Oberfläche der Themse und trug das kalte Wasser als feines, fliegendes Spray in die Luft.

Es war ein wütender Wind, ein gefährlicher, irrer Wind. Die Standbetreiber an Deck der Belfast verfluchten ihn und hielten ihre Besitztümer fest, damit sie nicht weggeweht wurden.

Und dann, als es schien, der Wind würde so stark, daß er die ganze Welt fortwehte und die Sterne davonbliese und die Menschen durch die Luft wirbelte wie vertrocknetes Herbstlaub –

In dem Moment –

– war er vorbei, und das Laub und die Zeitungen und die Plastiktüten segelten wieder auf die Erde und die Straße und aufs Wasser zurück.

Hoch oben auf dem Überrest der London Wall war die Stille, die auf den Wind folgte, ebenso laut, wie der Wind es gewesen war.

Sie wurde durch ein Husten durchbrochen; ein grauenhaftes, nasses Husten.

Dann hörte man, wie sich jemand mühsam umdrehte, und dann, wie sich jemand furchtbar und widerlich übergab.

Der Marquis de Carabas erbrach Sielwasser über den Rand der London Wall, das die grauen Steine mit brauner Fäulnis befleckte. Er brauchte lange dafür, das Wasser aus seinem Körper loszuwerden.

Und dann sagte er, mit heiserer Stimme, die kaum mehr war als ein schmirgelndes Flüstern: »Ich glaube, man hat mir die Kehle durchgeschnitten. Haben Sie etwas, womit man sie verbinden kann?«

Old Bailey suchte in seinen Taschen herum und zog eine schmuddelige Stoffbahn hervor. Die reichte er dem Marquis, der sie sich ein paarmal um den Hals wickelte und dann fest verknotete. Old Bailey fühlte sich unpassenderweise an die hochgeschnürten Beau-Brummel-Kragen der Regency-Dandys erinnert.

»Was zu trinken?« krächzte der Marquis.

Old Bailey zog seinen Flachmann heraus, schraubte den Deckel ab und reichte ihn dem Marquis, der einen Mundvoll herunterstürzte, dann vor Schmerz zusammenzuckte und schwach hustete.

Die schwarze Ratte, die die gesamte Szene mit Interesse beobachtet hatte, begann nun den Mauerrest hinunterzuklettern. Sie würde es den Goldenen mitteilen: Alle Gefallen waren nun vergolten, alle Schulden bezahlt.

Der Marquis gab Old Bailey seinen Flachmann zurück. Dieser steckte ihn weg. »Wie fühlen Sie sich?« fragte er.

»Mir ging’s schon mal besser.«

Der Marquis setzte sich zitternd auf. Seine Nase lief, und seine Augen flackerten hin und her. Er starrte hinaus in die Welt, als hätte er sie nie zuvor gesehen.

»Wieso mußten Sie sich bloß umbringen lassen, das wüßt’ ich gern«, fragte Old Bailey.

»Informationen«, flüsterte der Marquis. »Die Menschen erzählen einem sehr viel mehr, wenn sie wissen, daß man gleich tot sein wird. Und wenn man dann tot ist, reden sie immer noch weiter.«

»Dann haben Sie herausgefunden, was Sie wissen wollten?«

Der Marquis betastete die Wunden an seinen Armen und Beinen. »Aber ja. Größtenteils. Jetzt habe ich mehr als nur eine Ahnung, worum es bei dieser ganzen Sache eigentlich geht.« Dann schloß er wieder die Augen, schlang die Arme um sich und schaukelte langsam vor und zurück.

»Wie ist es denn eigentlich?« fragte Old Bailey. »Tot zu sein?«

Der Marquis seufzte. Und dann grinste er schwach, und sein altes Ich schien ein wenig durch, als er antwortete: »Leben Sie lange genug, Old Bailey, dann können Sie es selbst herausfinden.«

Old Bailey wirkte enttäuscht. »Mistkerl. Nach allem, was ich getan habe, um Sie von dem schrecklichen Ort zurückzuholen, von dem es kein Zurück gibt. Na ja, normalerweise kein Zurück gibt.«

Der Marquis de Carabas blickte zu ihm auf. Seine Augen waren weiß im Mondlicht. Und er flüsterte: »Wie es ist, tot zu sein? Es ist sehr kalt, mein Freund. Sehr dunkel und sehr kalt.«



Door hielt die Kette hoch. Daran baumelte der Schlüssel rotorange im Licht von Hammersmiths Kohlenbecken.

»Gute Arbeit, Hammersmith.«

»Danke, Lady.«

Sie hängte sich die Kette um den Hals und verbarg den Schlüssel in ihren Kleiderschichten. »Was möchtest du dafür haben?«

Der Schmied schaute betreten drein. »Es liegt mir fern, Ihre Großherzigkeit auszunutzen …«, murmelte er.

Door zog ihr ›Na-komm-schon‹-Gesicht. Er bückte sich und holte ein schwarzes Kästchen unter einem Haufen Werkzeuge hervor. Es war aus dunklem Holz mit Glas- und Kupferintarsien, und es war so groß wie ein gutes Wörterbuch. Er drehte es wieder und wieder in seinen Händen. »Das ist ein Puzzle«, erklärte er. »Ich habe es vor ein paar Jahren für eine Schmiedearbeit bekommen. So oft ich es auch versuche, ich bekomme es nicht auf.«

»Gib her.«

Door nahm das Kästchen und fuhr mit den Fingern über die Oberfläche. »Kein Wunder, daß du es nicht aufbekommen hast. Der Mechanismus ist ganz verklemmt. Da rührt sich nichts.«

Hammersmith sah niedergeschlagen aus. »Dann finde ich also nie heraus, was drin ist.«

Door sah amüsiert aus. Ihre Finger untersuchten die Oberfläche des Kästchens. Ein Stift glitt seitlich heraus. Sie drückte den Stift zur Hälfte wieder hinein und drehte ihn dann. Tief drinnen machte es Klonk, und in der Seite öffnete sich ein Türchen.

»Hier«, sagte Door.

»Mylady«, sagte Hammersmith. Er nahm ihr das Kästchen aus der Hand und zog die Tür ganz auf. Im Inneren befand sich eine Schublade, die er öffnete.

Die kleine Kröte in der Schublade quakte und schaute sich desinteressiert um. Hammersmith machte ein langes Gesicht. »Ich hatte gehofft, es wären Perlen und Diamanten«, sagte er.

Door streckte die Hand aus und streichelte der Kröte den Kopf.

»Er hat schöne Augen«, sagte sie. »Behalte ihn, Hammersmith. Er wird dir Glück bringen. Und nochmals danke. Ich weiß, ich kann mich auf deine Diskretion verlassen. «

»Das können Sie, Lady«, sagte Hammersmith ernst.



Sie saßen zusammen oben auf der London Wall und schwiegen. Old Bailey ließ langsam die Kinderwagenräder auf den Boden unter ihnen herab.

»Wo ist der Markt?« fragte der Marquis.

Old Bailey deutete auf das Kriegsschiff. »Dort drüben.«

»Door und die anderen. Sie werden mich erwarten.«

»Sie sind nicht in der Verfassung, irgendwo hinzugehen. «

Der Marquis hustete schmerzvoll. In Old Baileys Ohren klang es so, als hätte der Marquis noch jede Menge Abwasser in den Lungen.

»Jetzt habe ich heute schon so eine weite Reise gemacht«, flüsterte er. »Da werde ich auch noch ein kleines Stückchen durchstehen.« Er untersuchte seine Hände, krümmte langsam die Finger, als wollte er sehen, ob sie ihm gehorchten oder nicht. Und dann drehte er seinen Körper herum und begann schwerfällig die Mauer hinabzuklettern. Doch bevor er das tat, sagte er heiser und vielleicht ein wenig traurig:

»Es sieht so aus, Old Bailey, als schuldete ich Ihnen einen Gefallen.«



Als Richard mit den Currygerichten zurückkam, lief Door auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Sie umarmte ihn fest und tätschelte ihm sogar den Hintern, bevor sie sich die Papiertüte schnappte und sie voller Begeisterung aufriß.

Sie nahm einen Behälter mit Gemüsecurry und begann selig zu essen. »Danke«, sagte sie mit vollem Mund. »Irgendeine Spur vom Marquis?«

»Keine«, sagte Hunter.

»Croup und Vandemar?«

»Nein.«

»Leckerer Curry. Schmeckt richtig gut.«

»Hast du die Kette bekommen?« fragte Richard.

Door zog die Kette an ihrem Hals hoch, weit genug, um zu zeigen, daß sie da war, und ließ sie wieder zurückfallen, so daß das Gewicht des Schlüssels sie hinabzog.

»Door«, sagte Richard, »das ist Lamia. Sie ist Fremdenführerin. Sie sagt, sie kann uns auf der Unterseite überall hinbringen.«

»Überall?« Door mampfte ein Papadam.

»Überall«, sagte Lamia.

Door legte den Kopf zur Seite. »Wissen Sie, wo der Engel Islington ist?«

Lamia blinzelte. Lange Wimpern bedeckten und enthüllten ihre fingerhutfarbenen Augen. »Islington?« sagte sie. »Da können Sie nicht hin …«

»Wissen Sie es?«

»Down Street«, sagte Lamia. »Am Ende der Down Street. Aber das ist keine sichere Gegend.«

Hunter hatte diese Unterhaltung mit verschränkten Armen und unbeeindruckt verfolgt. Jetzt sagte sie: »Wir brauchen keine Fremdenführerin.«

»Also«, sagte Richard. »Ich finde doch. Der Marquis ist nirgends aufzutreiben. Wir wissen, daß es eine gefährliche Reise wird. Wir müssen den … das Ding, das ich besorgt habe … dem Engel bringen. Und dann wird er Door das über ihre Familie erzählen, und mir wird er sagen, wie ich nach Hause komme.«

Lamia schaute Hunter vergnügt an. »Und Ihnen wird er ein Hirn geben«, sagte sie, »und mir ein Herz.«

Door wischte den letzten Rest Curry mit den Fingern aus der Schale und leckte sie ab. »Wir drei kommen schon allein zurecht, Richard. Wir können uns keine Fremdenführerin leisten.«

Lamia warf stolz den Kopf zurück. »Ich lasse mich von ihm bezahlen, nicht von Ihnen.«

»Und was für eine Bezahlung verlangt jemand von Ihrer Sorte?« fragte Hunter.

»Das«, sagte Lamia mit einem liebenswürdigen Lächeln, »ist meine Sache, und er wird es noch früh genug erfahren.«

Door schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.«

Richard schnaubte verächtlich. »Euch gefällt bloß nicht, daß ich auch mal die Zügel in die Hand nehme, anstatt euch blind hinterherzulaufen und immer nur zu tun, was man mir sagt.«

»Darum geht es überhaupt nicht.«

Richard wandte sich an Hunter. »Nun, Hunter. Kennen sie den Weg zu Islington?«

Hunter schüttelte den Kopf.

Door seufzte. »Wir müssen los. Down Street, sagen Sie?«

Lamia lächelte mit pflaumenfarbenen Lippen. »Ja, Lady.«



Als der Marquis auf dem Markt ankam, waren sie fort.


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