Kapitel Acht

Es war früh am Abend, und der wolkenlose Himmel wechselte seine Farbe von Königsblau zu einem tiefen Violett, mit einem Fleckchen Feuerorangerot und Limonengrün im Westen über Kensington, wo, jedenfalls von Old Baileys Standort aus gesehen, die Sonne gerade prachtvoll untergegangen war.

Himmel. Keiner wie der andere. Weder bei Tag noch bei Nacht. In Himmelsdingen war er so etwas wie ein Connaisseur, der alte Bailey, und dieser hier war ganz besonders gelungen.

Old Bailey hatte sein Zelt für die Nacht auf einem Dach gegenüber von St. Paul’s Cathedral aufgeschlagen, im Zentrum der City of London. Er mochte die Kathedrale, wenigstens sie hatte sich in den letzten dreihundert Jahren kaum verändert. Sie war aus weißem Portland-Stein gebaut, der durch den Ruß und Schmutz in der verqualmten Londoner Luft langsam schwarz geworden war, und jetzt war sie gereinigt worden und wieder weiß. Aber sie war immer noch St. Paul’s.

Er bezweifelte, daß auch die restliche City of London immer noch die alte war: Er lugte über das Dach, wandte den Blick von seinem geliebten Himmel ab und starrte hinunter auf die natriumbeleuchtete Straße. Er sah Überwachungskameras an einer Wand, ein paar Autos und einen späten Büroangestellten, der eine Tür abschloß und dann zur U-Bahn ging.

Brrr. Allein der Gedanke daran, sich unter die Erde zu begeben, ließ Old Bailey schaudern. Er war ein Dachmann, und darauf war er stolz; dem Erdboden war er schon vor langer Zeit entflohen …

Old Bailey erinnerte sich noch an Zeiten, als die Menschen noch hier in der City lebten, anstatt nur zu arbeiten; lebten und liebten und lachten, Häuser bauten, die sich eins ans andere lehnten, jedes voller Menschen. Tja, der Lärm und der Dreck und der Gestank und die Lieder aus der Gasse gegenüber (die damals Shitten Alley, vollgeschissene Gasse, hieß) waren zu ihrer Zeit legendär.

Jetzt lebte niemand mehr in der City. Sie war ein kaltes und freudloses Büroviertel geworden: Tagsüber arbeiteten die Menschen hier, und abends fuhren sie irgendwohin nach Hause. Die City war kein Ort zum Leben mehr. Er vermißte sogar den Gestank.

Das letzte Fleckchen Orange wurde zu einem nächtlichen Blaurot.

Er deckte die Käfige zu, damit die Vögel eine Mütze voll Schlaf nehmen konnten. Sie murrten und schlummerten dann ein.

Old Bailey kratzte sich an der Nase, ging dann in sein Zelt und holte einen rußgeschwärzten Kochtopf, Wasser, ein paar Karotten und Kartoffeln, Salz und zwei tote, gerupfte Stare heraus.

Er ging aufs Dach hinaus, machte in einer rußigen Kaffeebüchse ein kleines Feuer und setzte gerade seinen Eintopf auf, als ihm bewußt wurde, daß ihn jemand aus dem Schatten neben einem Schornstein heraus beobachtete.

Er nahm seine Röstgabel und gestikulierte damit drohend in Richtung Schornstein. »Wer ist da?«

Der Marquis de Carabas trat aus dem Schatten, verneigte sich flüchtig und lächelte strahlend. Old Bailey ließ seine Röstgabel sinken. »Ach«, sagte er. »Sie sind’s. Nun, was wollen Sie? Informationen? Oder Vögel?«

Der Marquis ging zu ihm, fischte eine rohe Karottenscheibe aus dem Eintopf und zerkaute sie. »Informationen«, sagte er. Old Bailey gluckste. »Hah!« sagte er. »Na, das ist ein Ding, was?« Dann beugte er sich zu dem Marquis. »Was bekomme ich dafür?«

»Was brauchen Sie?«

»Vielleicht sollte ich das gleiche wie Sie tun. Ich sollte verlangen, daß Sie mir eines Tages einen Gefallen tun müssen. Als Investition.« Old Bailey grinste.

»Das ist auf die Dauer viel zu teuer«, sagte der Marquis humorlos.

Old Bailey nickte. Jetzt, da die Sonne untergegangen war, wurde es sehr schnell sehr kalt.

»Dann eben Schuhe. Und eine Wollmütze.« Er inspizierte seine fingerlosen Handschuhe: Sie bestanden fast nur aus Löchern. »Und neue Handschuhe. Es wird ein hundsgemeiner Winter.«

»Wie Sie wollen. Ich werde Ihnen alles besorgen.« Der Marquis de Carabas steckte seine Hand in eine Innentasche und holte wie ein Zauberkünstler, der plötzlich eine Rose in der Hand hält, die schwarze Tierfigur hervor, die er aus Porticos Arbeitszimmer hatte mitgehen lassen. »Also. Was können Sie mir hierüber sagen?«

Old Bailey setzte seine Brille auf. Er nahm de Carabas den Gegenstand aus der Hand. Er fühlte sich kalt an. Old Bailey setzte sich auf das Gebläse einer Klimaanlage, und dann verkündete er, die Obsidianstatue hin- und herdrehend: »Das ist das Große Ungeheuer von London.«

Der Marquis sagte nichts. Seine Augen flackerten ungeduldig zwischen der Statue und Old Bailey hin und her.

Old Bailey genoß es, den Marquis ein wenig auf die Folter spannen zu können, und fuhr fort: »Also, es heißt, noch vor dem Feuer und der Pest habe ein Metzger unten am Fleet gelebt, und der besaß so eine arme Kreatur, die er für Weihnachten mästen wollte. (Einige sagten, es sei ein Ferkel, und andere meinten, es sei keins, und dann gab es noch welche, die wußten es gar nicht.) Eines Nachts ist das Tier weggelaufen, hinein ins Fleet, und es verschwand in der Kanalisation. Und es ernährte sich von den Abwässern, und es wuchs und wuchs. Und es wurde immer grausamer und gefährlicher. Von Zeit zu Zeit ließ man es jagen.«

»Es muß doch schon seit dreihundert Jahren tot sein.«

Old Bailey schüttelte den Kopf. »So etwas ist zu böse, um zu sterben. Zu alt und groß und häßlich.«

Der Marquis seufzte. »Ich dachte, das sei bloß eine Legende«, sagte er. »Wie die Alligatoren in der Kanalisation von New York.«

Old Bailey nickte weise: »Was, diese großen weißen Dinger? Die gibt es wirklich da unten. Ein Freund von mir hat durch so eins seinen Kopf verloren.« Kurze Stille. Old Bailey gab dem Marquis die Statue zurück. Dann hob er die Hand und schnappte damit nach de Carabas, als wäre sie ein Krokodilmaul. »War aber nicht so schlimm«, knurrte Old Bailey. »Er hatte noch einen.«

Der Marquis ließ die Statue des Ungeheuers in seinem Mantel verschwinden.

»Warten Sie«, sagte Old Bailey.

Er ging in sein braunes Zelt und kam mit dem silbernen Kästchen wieder heraus, das der Marquis ihm bei ihrem letzten Treffen gegeben hatte. Er streckte es dem Marquis entgegen. »Und was ist hiermit?« fragte er. »Wollen Sie es nicht wieder zurücknehmen? Mich gruselt’s, wenn ich es in meiner Nähe habe.«

Der Marquis ging zum Rand des Daches und ließ sich die zweieinhalb Meter bis zum nächsten Gebäude fallen. »Ich nehme es zurück, wenn all dies vorüber ist«, rief er. »Hoffen wir, daß Sie es nicht benutzen müssen.«

Old Bailey beugte sich vor. »Woher weiß ich denn, daß ich es muß?«

»Das werden Sie schon merken«, rief der Marquis. »Und die Ratten werden Ihnen sagen, was Sie damit anfangen sollen.«

Und damit schwang er sich über den Rand des Daches und glitt, sich an Abflußrohren und Simsen festhaltend, die Wand hinunter.

»Hoffe nur, daß ich es niemals herausfinden muß«, sagte Old Bailey zu sich selbst. Dann kam ihm ein Gedanke.

»Hey!« rief er in die Nacht und die City hinaus. »Denken Sie an die Schuhe und die Handschuhe!«



Die Plakate warben für Horlicks, für Zugreisen ans Meer zum Preis von zwei Schilling, für Bücklinge und Stiefelwichse. Es waren rauchgeschwärzte Überreste der späten zwanziger oder frühen dreißiger Jahre.

Es schien dort vollkommen verlassen zu sein: ein vergessener Ort. »Das ist die Haltestelle British Museum«, gab Richard zu. »Aber … aber es hat nie eine Haltestelle British Museum gegeben. Das ist doch alles nicht wahr.«

»Sie wurde 1933 geschlossen und versiegelt«, sagte Door.

»Wie bizarr«, sagte Richard. Es war, als mache er einen Spaziergang mitten durch die Geschichte. Er hörte Züge durch nahegelegene Tunnel hallen, spürte den Luftzug, wenn sie vorbeifuhren. »Gibt es viele solche Haltestellen ?«

»Ungefähr fünfzig«, sagte Hunter. »Man kommt allerdings nicht in alle hinein. Nicht einmal wir.«

Etwas bewegte sich im Schatten am Rande des Bahnsteigs.

»Hallo«, sagte Door fröhlich. »Bin ich froh, daß du nicht auch tot bist.«

Richard rückte näher. »Ähm, Door. Könntest du der Ratte etwas für mich sagen?«

Die Ratte wandte ihm den Kopf zu. »Miss Whiskers sagt, wenn du ihr etwas sagen willst, kannst du es selbst tun«, sagte Door.

»Miss Whiskers?«

Door zuckte mit den Schultern. »Das ist eine wörtliche Übersetzung. Auf Rattisch klingt es besser.«

Daran hatte Richard keine Zweifel. »Ähm. Hallo … Miss Whiskers … Hör mal, es gab da jemanden von euren Rattensprecherleuten, ein Mädchen namens Anaesthesia. Sie hat mich zum Markt gebracht. Wir sind über diese Brücke im Dunkeln gegangen, und sie hat es einfach nicht bis auf die andere Seite geschafft.«

Die Ratte unterbrach ihn mit einem scharfen Quiek. Door begann stockend zu sprechen, wie eine Simultandolmetscherin. »Sie sagt … die Ratten geben dir nicht die Schuld für das Unglück. Die Nacht hat sich … hmm … deine Führerin als Tribut genommen.«

»Aber – «

Die Ratte quiekte wieder. »Manchmal kommen sie zurück... « sagte Door. »Und sie hat deine Besorgnis zur Kenntnis genommen … und dankt dir dafür.«

Die Ratte nickte Richard zu, blinzelte mit ihren perlenschwarzen Augen, sprang dann auf den Boden und huschte zurück in die Finsternis.

»Nette Ratte«, sagte Door. Ihre Laune hatte sich merklich verbessert, seit sie im Besitz der Schriftrolle war. »Dort oben«, fuhr sie fort und deutete auf einen Türbogen, der wie unüberwindlich durch eine Eisentür versperrt wurde.

Sie gingen hinüber. Richard drückte gegen das Metall. Es war von der anderen Seite verriegelt.

»Sieht aus, als wäre sie versiegelt«, sagte Richard. »Dafür brauchen wir Spezialwerkzeug.«

Door lächelte plötzlich; ihr Gesicht sah wie erleuchtet aus. Einen Moment lang war ihr Koboldgesicht richtig schön. »Richard«, sagte sie. »Meine Familie. Wir sind Öffner. Das ist unsere besondere Begabung. Schau her …« Sie streckte eine schmutzige Hand aus und berührte die Tür. Einen langen Moment lang passierte nichts, dann krachte es auf der anderen Seite der Tür laut, und auf ihrer Seite war ein Scheppern zu hören. Door stieß gegen die Tür, und mit einem schrillen Quietschen der verrosteten Türangeln ging sie auf.

Door stellte den Kragen ihrer Lederjacke hoch und steckte die Hände tief in die Taschen. Hunter leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die Schwärze jenseits der Tür: eine steinerne Treppe, die hinauf ins Dunkel führte.

»Hunter. Können Sie als letzte gehen?« fragte Door. »Ich marschiere voran. Richard kommt in die Mitte.«

Sie stieg ein paar Stufen empor. Hunter blieb, wo sie war. »Lady?« fragte sie. »Gehen Sie nach Ober-London?«

»Richtig«, sagte Door. »Wir gehen ins British Museum. «

Hunter biß sich auf die Unterlippe. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich muß in Unter-London bleiben«, sagte sie. Ihre Stimme bebte leicht.

Richard stellte fest, daß er bei Hunter, die sonst ausschließlich mühelose Überlegenheit und gelegentlich nachsichtige Belustigung zur Schau trug, gerade zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung bemerkte.

»Hunter«, sagte Door. »Sie sind meine Leibwächterin.«

Hunter war die Sache offenbar unangenehm. »Ich bin in Unter-London Ihre Leibwächterin«, sagte sie. »Nach Ober-London kann ich nicht mitkommen.«

»Aber das müssen Sie.«

»Mylady. Ich kann nicht. Ich dachte, das hätten Sie begriffen. Der Marquis weiß schließlich Bescheid.«

Hunter wird auf Sie aufpassen, solange Sie sich in Unter-London aufhalten, dachte Richard. Ja.

»Nein«, sagte Door, das spitze Kinn vorgeschoben, die seltsam gefärbten Augen verengt. »Ich begreife nicht. Was ist es?« fügte sie spöttisch hinzu. »Irgendein Fluch oder so etwas?«

Hunter zögerte, leckte sich die Lippen und nickte dann. Es war, als gäbe sie zu, an einer gesellschaftlich verpönten Krankheit zu leiden.

»Hören Sie zu, Hunter«, hörte Richard seine eigene Stimme sagen, »seien Sie doch nicht dumm.«

Einen Moment lang glaubte er, sie würde ihn schlagen, was schlimm gewesen wäre, oder sogar zu weinen anfangen, was noch sehr viel schlimmer gewesen wäre. Dann holte sie tief Luft und sagte in gemessenem Tonfall: »Ich werde an Ihrer Seite sein, wenn Sie sich in Unter-London aufhalten, und ich werde Ihren Leib vor allem erdenklichen Übel beschützen. Aber verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen nach Ober-London folge. Das kann ich nicht.«

Sie verschränkte die Arme unter ihren Brüsten, stemmte die Beine leicht gegrätscht auf den Boden und sah – Unterwelt hin oder her – aus wie das unverrückbare Standbild einer Frau, die nirgendwo hingeht, aus Messing und Bronze und Karamel gegossen.

»Na gut«, sagte Door. »Komm, Richard.« Und sie stieg weiter die Stufen empor.

»Hör mal«, sagte Richard. »Warum bleiben wir nicht hier unten? Wir können den Marquis holen und dann alle zusammen losziehen, und – « Door verschwand in der Dunkelheit über ihm. Hunter stand wie angewurzelt am Fuß der Treppe.

»Ich werde hier warten, bis sie zurückkommt«, sagte Hunter zu ihm. »Sie können gehen oder bleiben, ganz wie Sie wollen.«

Richard jagte im Dunkeln die Stufen hoch, so schnell er konnte. Bald sah er Doors Lampe über sich leuchten. »Warte!« keuchte er. »Bitte!«

Sie blieb stehen und wartete darauf, daß er sie einholte. Und dann, als er sie eingeholt hatte und neben ihr auf einem Treppenabsatz stand, der so klein war, daß man Platzangst bekam, wartete sie, bis er wieder zu Atem kam.

»Du kannst doch nicht einfach so weglaufen«, sagte Richard. Door sagte nichts; ihre Lippen wurden etwas schmaler; ihr Kinn hob sich fast unmerklich.

»Sie ist deine Leibwächterin!« sagte Richard.

Door begann, die nächste Treppe hinaufzusteigen. Richard folgte ihr. »Wir sind schließlich bald wieder zurück«, sagte Door. »Dann kann sie mich weiter bewachen. «

Die Luft war dick, feucht, erdrückend. Richard fragte sich, wie man wohl ohne einen Kanarienvogel herausfand, ob die Luft giftig ist oder nicht, und begnügte sich damit zu hoffen, daß sie es nicht sei. »Ich glaube, der Marquis wußte wahrscheinlich wirklich Bescheid. Über ihren Fluch, oder was immer es ist«, sagte er.

»Ja«, sagte sie. »Das nehme ich auch an.«

»Er …«, begann Richard. »Der Marquis. Also, weißt du, um ehrlich zu sein, kommt er mir ein klein bißchen windig vor.« Door blieb stehen. Die Stufen endeten an einer schroffen Backsteinmauer. »Hm. Er ist ebenso ein klein bißchen windig, wie Ratten ein klein bißchen Fell am ganzen Körper haben.«

»Warum hast du dann ausgerechnet ihn um Hilfe gebeten? Gab es denn niemand anderen, zu dem du mich hättest schicken können?«

»Darüber reden wir später.« Sie öffnete die Schriftrolle, die ihr der Earl gegeben hatte, überflog die altertümliche Handschrift und rollte sie wieder zusammen. »Wir werden es schon schaffen«, sagte sie entschlossen. »Es steht alles hier drin. Wir müssen nur ins British Museum kommen. Da suchen wir den Angelus, und dann gehen wir wieder. Ganz einfach. Nichts dabei. Kinderleicht. Mach die Augen zu.«

Richard schloß gehorsam die Augen.

»Nichts dabei«, wiederholte er. »Wenn das jemand im Film sagt, bedeutet das immer, daß gleich etwas Schreckliches passiert.«

Er spürte einen Luftzug auf seinem Gesicht. Irgendwie veränderte sich die Beschaffenheit der Finsternis vor seinen geschlossenen Augenlidern.

»Worauf willst du hinaus?« fragte Door. Die Akustik hatte sich ebenfalls verändert: Sie befanden sich in einem größeren Raum. »Du kannst jetzt die Augen wieder aufmachen. « Er öffnete die Augen. Sie waren auf der anderen Seite der Mauer, in einer Art Rumpelkammer, nahm er an. Allerdings nicht irgendeiner Rumpelkammer: Dieses Gerümpel hatte etwas ziemlich Ausgefallenes an sich. Wo gibt es so ein prachtvolles, seltenes, fremdartiges und kostbares Gerümpel, wenn nicht im …

»Sind wir im British Museum?« fragte er.

Sie runzelte die Stirn und schien nachzudenken oder zu lauschen. »Nicht direkt. Wir sind ganz in der Nähe. Ich glaube, das hier muß eine Art Lager sein oder sowas.«

Sie streckte die Hand aus und berührte den Stoff eines antiken Anzuges, der einer Wachspuppe angezogen worden war. »Ich wünschte, wir wären unten bei der Leibwächterin geblieben«, sagte Richard.

Door legte den Kopf zur Seite und sah ihn ernst an. »Wovor mußt du denn beschützt werden, Richard Mayhew? «

»Vor nichts«, gab er zu. Und dann bogen sie um die Ecke, und er sagte: »Na ja … vielleicht vor denen«, und gleichzeitig sagte Door: »Scheiße.«

Der Grund, weshalb Richard »Vielleicht vor denen« und Door »Scheiße« sagte, war folgender: Mr. Croup und Mr. Vandemar standen auf Sockeln zu beiden Seiten des Ganges, den sie gerade entlanggingen. Sie erinnerten Richard auf schreckliche Weise an eine Ausstellung moderner Kunst, in die ihn Jessica einmal mitgenommen hatte: Ein aufregender junger Künstler wollte damit alle Tabus der Kunstgeschichte brechen, und zu diesem Zweck hatte er systematisch Gräber geplündert und die dreißig interessantesten Ergebnisse seiner Raubzüge in Glaskästen ausgestellt.

Die Ausstellung wurde geschlossen, nachdem der Künstler den ›Gestohlenen Leichnam Nummer 25‹ für eine sechsstellige Summe an eine Werbeagentur verkauft hatte und die Angehörigen des ›Gestohlenen Leichnams Nummer 25‹, die ein Foto der Skulptur in der Sun gesehen hatten, beide auf einen Anteil am Erlös verklagten und darauf, daß der Name des Kunstobjekts zu ›Edgar Fospring, 1919-1987, Unser liebender Gatte, Vater und Onkel. Ruhe in Frieden, Papa‹ geändert wurde.

Richard hatte die im Glas eingeschlossenen Leichen in ihren fleckigen Anzügen und zerrissenen Kleidern voll Grausen angestarrt: Er haßte sich dafür, daß er hinschaute, doch wegschauen konnte er auch nicht.

Mr. Croup lächelte wie eine Schlange, die versucht, die Mondsichel zu verschlucken, was seine Ähnlichkeit mit den Gestohlenen Leichnamen Nummer 1 bis 30 nur noch verstärkte. »Was?« fragte der lächelnde Mr. Croup. »Wo ist denn der Herr ›Was bin ich schlau‹-Marquis? Und ‹Ach, hab, ich euch das nicht gesagt? Hoppla! Ich kann nicht nach oben!‹-Hunter?« Er machte eine dramatische Pause. Mr. Croup hatte etwas von einem verfaulten Schinken an sich. »Da mal mich doch einer grau an und nenn mich den bösen Wolf, wenn das nicht zwei verirrte Lämmchen sind, ganz allein in der Finsternis.«

»Mich können Sie auch ruhig Wolf nennen, Mister Croup«, sagte Mr. Vandemar zuvorkommend.

Mr. Croup kletterte von seinem Sockel herunter. »Ein freundliches Wort in eure wolligen Ohren, kleine Lämmchen«, sagte er. Richard schaute sich um. In irgendeine Richtung mußten sie doch weglaufen können. Er griff hinunter, umklammerte Doors Hand und ließ verzweifelt seinen Blick umherschweifen.

»Nein, bitte. Bleiben Sie einfach, wo Sie sind«, sagte Mr. Croup. »So gefallen Sie uns am besten. Und wir wollen Ihnen doch nicht wehtun müssen.«

»Doch«, sagte Mr. Vandemar.

»Nun ja, Mister Vandemar, wenn Sie es unbedingt so deutlich sagen müssen. Wir wollen Ihnen beiden wehtun. Wir wollen Ihnen außerordentlich wehtun. Aber deshalb sind wir zur Zeit nicht hier. Wir sind hier, um die Sache interessanter zu machen. Sehen Sie, wenn wir uns langweilen, werden mein Partner und ich nervös, und, so schwer das auch zu glauben sein mag, dann ist es vorbei mit unserem sonnigen Gemüt.« Mr. Vandemar zeigte ihnen die Zähne, um ihnen sein sonniges Gemüt zu demonstrieren. Es war zweifellos das Schrecklichste, was Richard je gesehen hatte.

»Laßt uns in Ruhe«, sagte Door. Ihre Stimme war klar und fest.

Richard drückte ihre Hand. Wenn sie mutig sein konnte, dann konnte er es auch. »Wenn ihr ihr wehtun wollt«, sagte er, »müßt ihr zuerst mich umbringen.«

Mr. Vandemar schien angesichts dieser Aussicht überaus erfreut. »In Ordnung«, sagte er. »Danke.«

»Wehtun werden wir Ihnen aber auch«, ergänzte Mr. Croup. »Jetzt allerdings noch nicht«, sagte Mr. Vandemar.

»Wissen Sie«, erklärte Mr. Croup mit einer Stimme wie ranzige Butter, »im Moment sind wir nämlich nur hier, um ihr Angst zu machen.«

Mr. Vandemars Stimme war ein Nachtwind, der über eine Wüste voller Knochen blies. »Um sie leiden zu lassen«, sagte er. »Ihnen den Tag zu verderben.«

Mr. Croup setzte sich auf den Fuß von Mr. Vandemars Sockel. »Sie haben heute dem Earl’s Court einen Besuch abgestattet«, sagte er in einem Ton, den er, wie Richard vermutete, fälschlicherweise für heiter und beschwingt hielt.

»Und?« fragte Door. Sie begann, von ihnen abzurücken.

Mr. Croup lächelte. »Woher wissen wir das? Woher wußten wir, wo wir Sie finden konnten?«

»Sie entkommen uns nicht«, sagte Mr. Vandemar beinahe im Flüsterton.

»Man hat Sie reingelegt, kleine Lady«, sagte Mr. Croup zu Door, und zwar, wie Richard feststellte, nur zu Door. »Sie haben einen Verräter im Nest. Einen Kuckuck.«

»Komm!« sagte sie. Und sie rannte los.

Richard rannte mit, durch die Halle mit dem Gerümpel, auf eine Tür zu. Auf Doors Berührung hin öffnete sie sich.

»Sagen Sie ihnen Lebwohl, Mister Vandemar«, hörten sie Mr. Croups Stimme hinter sich.

»Bye-bye«, sagte Mr. Vandemar.

»Nein-nein«, verbesserte Mr. Croup. »Au revoir.«

Dann machte er ein Geräusch – ein Kuck-kuck, Kuck-kuck, wie es ein Kuckuck vielleicht machen würde, wenn er einen Meter siebzig groß wäre und eine Schwäche für Menschenfleisch hätte –, während Mr. Vandemar, was mehr seinem Charakter entsprach, seinen Ballonschädel zurückwarf und wie ein Wolf heulte, geisterhaft und wild und irr.



Sie waren draußen im Freien, nachts, und rannten eine Straße entlang. Richard glaubte, ihm würde vor Herzklopfen die Brust zerspringen. Ein großes schwarzes Auto fuhr vorbei.

Das British Museum lag jenseits eines hohen, schwarzlackierten Gitters. Diskretes indirektes Licht erhellte die Außenfront des hohen weißen Gebäudes, die Säulen und Stufen und Mauern.

Sie erreichten ein Tor. Door umklammerte es mit beiden Händen und drückte dagegen. Nichts geschah.

»Kannst du nicht machen, daß es aufgeht?« fragte Richard.

»Was glaubst du, was ich hier versuche?« fauchte sie ihn an. Etwa hundert Meter die Straße hinunter, vor dem Haupteingang, fuhren große Wagen vor, elegant gekleidete Paare stiegen aus und gingen die Zufahrt zum Museum hinauf.

»Da drüben«, sagte Richard. »Der Haupteingang.«

Door nickte. Sie schaute sich um.

»Offenbar folgen sie uns nicht«, sagte sie. Sie eilten zum Haupteingang.

»Fehlt dir etwas?« fragte Richard. »Was ist passiert?«

Door verkroch sich tief in ihrer Lederjacke. Sie sah blaß aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Ich bin müde«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Hab’ heute zu viele Türen geöffnet. Das zehrt an meinen Kräften. Ich brauche ein wenig Zeit, um mich zu erholen. Wenn ich etwas zu essen kriege, geht’s mir wieder gut.«

An der Tür stand ein Wachmann, der penibel die geprägten Einladungen überprüfte, die all die gutrasierten Männer im Smoking und all die parfümierten Frauen im Abendkleid vorzeigen mußten, und ihre Namen dann auf einer Liste abhakte, bevor sie eintreten durften. Ein uniformierter Polizist musterte die Gäste unbarmherzig.

Richard und Door gingen durch das Tor, und niemand würdigte sie eines Blickes. Auf den Steinstufen, die zu den Museumstüren hinaufführten, standen die Menschen Schlange, und Richard und Door reihten sich ein. Ein weißhaariger Mann in Begleitung einer Frau, die mutig einen Nerzmantel trug, stellte sich unmittelbar hinter ihnen an.

Richard kam ein Gedanke. »Können die uns wohl sehen? « fragte er.

Door drehte sich zu dem Herrn um. Sie blickte zu ihm hoch. »Hallo«, sagte sie.

Der Mann sah sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck um, als wüßte er nicht genau, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Dann fiel sein Blick auf Door, die direkt vor ihm stand. »Hallo …?« sagte er.

»Ich bin Door«, erklärte sie. »Das ist Richard.«

»Ach … «, erwiderte er. Dann wühlte er in einer Innentasche, zog ein Zigarrenetui hervor und vergaß sie einfach wieder.

»Na also. Verstehst du?« fragte Door.

»Ich glaube ja«, antwortete Richard.

Eine Zeitlang sagten sie nichts, während sich die Schlange langsam auf die einzige offene Tür des Museums zubewegte. Door schaute irgend etwas auf ihrer Schriftrolle nach. Dann sagte Richard: »Ein Verräter?«

»Die haben uns bloß aufgezogen«, sagte Door. »Wollten uns beunruhigen.«

»Das ist ihnen auch verdammt gut gelungen«, erwiderte Richard. Und sie gingen durch die offene Tür, und dann waren sie im British Museum.



Da Mr. Vandemar Hunger hatte, überquerten sie auf dem Rückweg den Trafalgar Square.

»Ihr Angst machen«, murmelte Mr. Croup angewidert. »Ihr Angst machen. Daß es so weit mit uns kommen mußte. «

Mr. Vandemar hatte ein halbes Sandwich mit Krabben und Kopfsalat in einem Mülleimer gefunden und riß es vorsichtig in kleine Stücke, die er auf die Platten vor sich warf und damit einen kleinen Schwarm hungriger nächtlicher Tauben anlockte.

»Hätte lieber tun sollen, was ich ursprünglich vorhatte«, sagte Mr. Vandemar. »Hätte ihr viel mehr Angst gemacht, wenn ich ihm hinter ihrem Rücken den Kopf abgerissen, meine Hand durch seine Kehle gesteckt und die Finger bewegt hätte. Gibt immer ein großes Geschrei«, verriet er, »wenn die Augäpfel rausfallen.«

Zur Demonstration bohrte er die Finger in die Luft und bewegte sie hin und her.

Mr. Croup war keineswegs einverstanden. »Warum gerade jetzt so zimperlich?« fragte er.

»Ich bin nicht zimperlich, Mister Croup«, sagte Mr. Vandemar. »Es gefällt mir, wenn die Augäpfel herausfallen. Die lustigen kleinen Guckerchen.«

Immer mehr graue Tauben, die eigentlich längst ins Bett gehörten, stolzierten herüber, pickten an den Brotkrumen und Krabben herum und verschmähten den Kopfsalat.

»Nicht Sie«, sagte Mr. Croup. »Der Chef. Erst sollen wir sie töten, dann entführen, dann ihr Angst machen. Was will er denn nun?«

Von Mr. Vandemars Sandwich war nichts mehr übrig, und so stürzte er sich auf den Schwarm Tauben, die mit ein paar klickenden Geräuschen und vereinzeltem nörgelndem Gurren aufflogen.

»Gut gefangen, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup anerkennend.

Mr. Croup hielt eine verblüffte und beunruhigte Taube in der Hand, die sich murrend in seinem Griff wand und fruchtlos auf seine Finger einpickte.

Mr. Croup seufzte dramatisch. »Na ja, wie auch immer. Jetzt haben wir jedenfalls die Katze in den Taubenschlag gesetzt«, sagte er genüßlich.

Mr. Vandemar hielt sich die Taube vors Gesicht. Es knirschte, als er ihr den Kopf abbiß und zu kauen begann.



Das Wachpersonal dirigierte die Museumsgäste in einen Korridor, der offenbar als eine Art Warteraum fungierte. Door beachtete die Wärter gar nicht und marschierte mit Richard im Schlepptau schnurstracks zu den Ausstellungsräumen.

Sie gingen durch die ägyptische Abteilung, ein paar Treppen hoch und in einen Saal, der laut Beschilderung zur frühenglischen Abteilung gehörte.

»Dieser Schriftrolle zufolge«, sagte sie, »geht es hier durch direkt zum Angelus.«

Door blickte auf ihre Schriftrolle. Sah sich im Raum um. Zog ein Gesicht. »Tch«, seufzte sie und lief wieder die Treppen hinunter, auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren. Richard war der Meinung, er habe gerade ein intensives Déjà-vu-Erlebnis, bis ihm klar wurde, daß ihm all dies natürlich vertraut war: So hatte er früher seine Wochenenden verbracht, als er noch mit Jessica zusammen war. Was ihm bereits langsam wie etwas vorkam, das vor langer, langer Zeit jemand anders erlebt hatte.

»Dann war der Angelus also nicht da?« fragte Richard.

»Nein, da war er nicht«, entgegnete Door, etwas schärfer, fand Richard, als es auf seine Frage angebracht war.

»Aha«, sagte er. »Ich dachte nur.«

Sie gingen in einen anderen Raum. Richard fragte sich, ob er anfing, zu halluzinieren, entweder aufgrund einer Überdosis Zucker im Earl’s Court oder als Folge systematischer Desensibilisierung. »Ich höre Musik«, sagte er. Es klang wie ein Streichquartett.

»Die Party«, erwiderte Door.

Richtig. Die Leute im Smoking, mit denen sie in der Schlange gestanden hatten. Nein, hier schien der Angelus auch nicht zu sein. Door ging in den nächsten Saal, und Richard trottete hinterher. Er wünschte, er könnte sich irgendwie nützlich machen.

»Dieser Angelus«, sagte er. »Wie sieht der eigentlich aus?« Einen Moment lang glaubte er, sie würde ihn ausschimpfen, weil er gefragt hatte. Doch sie blieb stehen und rieb sich die Stirn. »Hier steht nur, daß darauf ein Engel abgebildet ist. Aber so schwer kann er ja nicht zu finden sein. Schließlich – «, fügte sie hoffnungsvoll hinzu, »wie viele Sachen mit Engeln drauf gibt’s denn hier schon?«


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