Der Boden war mit Stroh bestreut, darunter lag eine Schicht Binsen. Ein offenes Holzfeuer loderte knisternd in einem großen Kamin. Ein paar Hühner stolzierten pikkend auf dem Boden umher. Sessel mit handbestickten Kissen darauf standen herum, und die Fenster und Türen waren mit Tapisserien verhängt.
Als der Zug aus der Haltestelle schlingerte, taumelte Richard vorwärts. Er streckte die Hand aus, bekam die am nächsten stehende Person zu fassen und fand sein Gleichgewicht wieder.
Die am nächsten stehende Person war ein kleinwüchsiger, grauhaariger, ältlicher Ritter, der ganz wie ein kürzlich pensionierter Beamter ausgesehen hätte, fand Richard, wären da nicht der Zinnhelm, der Wappenrock, der ziemlich ungeschickt gestrickte Kettenpanzer und der Speer gewesen. So sah er aus wie ein kürzlich pensionierter Beamter, der, eher gegen seinen Willen, zum Eintritt in die örtliche Laienspieltruppe genötigt worden war, wo er einen Ritter spielen mußte.
Der kleine graue Mann blinzelte kurzsichtig in Richards Richtung und sagte: »Entschuldigung.«
»Meine Schuld«, erwiderte Richard.
»Ich weiß«, sagte der Mann.
Ein irischer Wolfshund trottete den Gang entlang und blieb neben einem Lautenspieler stehen, der auf dem Boden saß und zerstreut eine frohe Melodie zupfte. Der Wolfshund starrte Richard an, schnaubte verächtlich, legte sich dann hin und schlief ein.
Am entgegengesetzten Ende des Waggons schäkerte ein ältlicher Falkner, einen haubentragenden Falken auf dem Handgelenk, mit einem kleinen Grüppchen von Damen, die ihr Letztverkaufsdatum bereits alle ein wenig überschritten hatten. Bei einigen war sogar das Haltbarkeitsdatum schon längst abgelaufen. Einige Fahrgäste starrten die vier Reisenden unverhohlen an, andere ignorierten sie ebenso unverhohlen.
Es war, fand Richard, als hätte jemand einen kleinen mittelalterlichen Hofstaat genommen und ihn, so gut es ging, in ein U-Bahn-Abteil gesteckt.
Ein Herold hob seine Fanfare an die Lippen und blies ein unmelodisches Signal. Ein massiger älterer Mann in einem voluminösen pelzgesäumten Morgenrock und Pantoffeln torkelte durch die Verbindungstür zum nächsten Abteil, den Arm auf die Schulter eines Hofnarren in einem schäbigen Narrenkostüm gestützt.
Der riesige Mann war in jeder Hinsicht überlebensgroß. Er trug eine Augenklappe über einem Auge, was dazu führte, daß er ein wenig hilflos und aus dem Gleichgewicht geraten aussah, wie ein einäugiger Vogel. In seinem rotgrauen Bart hingen Essensreste, und am unteren Ende seines schäbigen Pelzgewands lugte etwas hervor, das aussah wie eine Schlafanzughose.
Das, dachte Richard völlig richtig, muß der Earl sein.
Der Narr des Earl, ein älterer Mann mit einem verkniffenen Mund und einem angemalten Gesicht, sah aus, als sei er vor hundert Jahren vor einem Leben am Ende der Besetzungslisten der Varietétheater geflohen. Er geleitete den Earl zu einem thronähnlichen geschnitzten Holzsitz, in den sich der Riese ein wenig unsicher niederließ. Der Wolfshund stand auf, trottete durch den ganzen Waggon und ließ sich zu den in Pantoffeln steckenden Füßen des Earl nieder.
Earl’s Court, dachte Richard. Natürlich. Der Hof des Earl. Und dann begann er zu überlegen, ob es wohl im Barons Court einen Baron gab oder einen Raben im Ravenscourt oder …
Der kleine alte Ritter hustete asthmatisch und sagte: »Nun denn, Ihr Leut’. Was ist Euer Begehr?«
Door trat vor. Sie ging sehr aufrecht und wirkte größer und selbstsicherer, als Richard sie bisher gesehen hatte, und sie sagte: »Wir ersuchen um eine Audienz bei Seiner Gnaden, dem Earl.«
Der Earl rief durch den Waggon: »Was hat die Kleine gesagt, Halvard?« Richard fragte sich, ob er wohl schwerhörig sei. Schlurfend drehte Halvard, der ältliche Soldat, sich um und legte eine Hand an den Mund.
»Sie ersuchen um eine Audienz, Euer Gnaden«, brüllte er über das Rattern des Zuges hinweg.
Der Earl schob seine dicke Pelzkappe zur Seite und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Unter seiner Kappe wurde er kahl. »Tatsächlich? Eine Audienz. Prächtig, prächtig. Wer ist es denn, Halvard?«
Halvard wandte sich ihnen wieder zu. »Er will wissen, wer Ihr seid. Aber bitte faßt Euch kurz.«
»Ich bin Lady Door«, verkündete Door. »Lord Portico war mein Vater.«
Die Miene des Earl hellte sich auf, als er das hörte; er beugte sich vor und spähte mit seinem gesunden Auge durch den Qualm. »Hat sie gesagt, sie sei Porticos Älteste? « fragte er den Narren.
»Jawohl, Euer Gnaden.«
Der Earl winkte Door zu sich. »Kommt her«, sagte er. »Kommt-kommt-kommt. Laßt mich Euch anschauen.« Sie ging den Waggon entlang und griff beim Gehen, um nicht umzufallen, nach den dicken Seilenden, die von der Decke hingen. Als sie vor dem hölzernen Sessel des Earl stand, knickste sie. Er kratzte sich am Bart und starrte sie an.
»Wir waren alle sehr bestürzt, als wir von Eures Vaters unglücklichem – «, sagte der Earl und unterbrach sich dann und sagte: »Tja, Eure ganze Familie, das war ein – «, und seine Stimme erstarb, und er sagte: »Ihr müßt nämlich wissen, ich hegte die wärmsten Gefühle für ihn, hatte schließlich geschäftlich recht viel mit ihm zu tun … Der gute alte Portico … voller Ideen …« Er hielt inne. Dann tippte er dem Narr auf die Schulter und flüsterte mit seinem sonoren Organ, laut genug, daß es trotz des Zuglärms gut zu hören war: »Geh und mach Witze, Tooley. Verdien dir dein Brot.«
Der Narr torkelte den Gang entlang und schnitt dabei arthritische Grimassen. Vor Richard blieb er stehen.
»Und wer mögt Ihr wohl sein?« fragte er.
»Ich?« sagte Richard. »Ähm. Ich? Mein Name? Ich heiße Richard. Richard Mayhew.«
»Mayhew?« kiekste der Narr, wobei er auf ältliche, ziemlich theatralische Weise Richards schottischen Akzent nachahmte. »Mayhew? Oho! ’s ist kein Mann, ’s ist ein Mondkalb im Kilt!«
Die Höflinge kicherten zurückhaltend.
»Und ich«, erklärte de Carabas dem Narren mit einem blendenden Lächeln, »bin der Marquis de Carabas.«
Der Narr blinzelte.
»De Carabas, der Dieb?« fragte er. »De Carabas, der Leichenräuber? De Carabas, der Verräter?« Er wandte sich zu den umstehenden Höflingen. »Aber das kann nicht de Carabas sein! Wie denn? De Carabas ist schon vor langer Zeit aus dem Umfeld des Earl verbannt worden. Vielleicht ist es statt dessen ein echter Schweinehund.«
Die Höflinge kicherten, diesmal unbehaglich, und ein leises Rauschen nervöser Gespräche setzte ein. Der Earl sagte nichts, doch seine Lippen waren fest zusammengepreßt, und er hatte zu zittern begonnen.
»Ich heiße Hunter«, sagte Hunter zu dem Hofnarren.
Da waren die Höflinge still. Der Narr öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte, und dann sah er sie an, und dann schloß er seinen Mund wieder.
Der Anflug eines Lächelns umspielte Hunters wohlgeformte Lippen. »Na los«, forderte sie ihn auf. »Sag etwas Lustiges.« Der Narr starrte die abgeknickten Spitzen seiner Schuhe an. Dann murmelte er: »Mein Hund hat keine Nase.«
Der Earl hatte den Marquis de Carabas wie eine langsam brennende Zündschnur angestarrt, mit einem hervorquellenden Auge und weißen Lippen. Offenbar traute er seinen Augen und Ohren nicht. Dann explodierte er: Er sprang auf, ein graubärtiger Vulkan, ein ältlicher Berserker. Sein Kopf streifte das Waggondach. Er zeigte auf den Marquis und brüllte speichelnd: »Das lasse ich mir nicht gefallen, das nicht! Er soll vortreten!«
Halvard drohte dem Marquis mit seinem kümmerlichen Speer, und dieser schlenderte zum Vorderende des Zuges, bis er neben Door vor dem Thron des Earl stand. Ein Knurren entrang sich der Kehle des Wolfshunds.
»Ihr«, sagte der Earl und stach mit einem bebenden Finger in die Luft. »Ich kenne Euch, de Carabas. Ich habe nichts vergessen. Ich bin vielleicht alt, aber ich habe nichts vergessen.«
Der Marquis verneigte sich.
»Darf ich Euer Gnaden erinnern«, sagte er liebenswürdig, »daß wir ein Abkommen hatten? Ich habe die Friedensverhandlungen zwischen Eurem Volk und dem Raven’s Court geführt. Und im Gegenzug willigtet Ihr ein, mir einen kleinen Gefallen zu tun.«
Also gibt es wirklich einen Raven’s Court, dachte Richard. Er fragte sich, wie es da wohl zugehen mochte.
»Einen kleinen Gefallen?« fragte der Earl. Er wurde rot wie eine Tomate. »So nennt Ihr das also? Durch Eure Dummheit hatte ich auf dem Rückzug aus White City den Verlust von einem Dutzend Männer zu beklagen. Ich selbst habe ein Auge verloren.«
»Und wenn es gestattet ist, Euer Ehren«, sagte der Marquis würdevoll, »möchte ich die Gelegenheit nutzen, Euch zu sagen, daß diese Augenklappe Euch vorzüglich steht. Euer Antlitz kommt dadurch erst richtig zur Geltung.«
»Ich habe gelobt … «, wetterte der Earl, und seine Barthaare sträubten sich, »ich habe gelobt … wenn Ihr jemals wieder mein Reich betretet, dann werde ich …«, seine Stimme erstarb. Er schüttelte den Kopf. Fuhr fort. »Es wird mir schon wieder einfallen. Ich vergesse nichts.«
»Er ist also vielleicht nicht allzu erfreut, Sie zu sehen?« flüsterte Door de Carabas zu.
»Na ja, ist er ja auch nicht«, murmelte er zurück.
Door trat noch einmal vor. »Euer Gnaden«, sagte sie laut und deutlich, »de Carabas ist hier als mein Gast und mein Begleiter. Um all der Verbundenheit willen, die zwischen Eurer und meiner Familie geherrscht hat, um der Freundschaft zwischen meinem Vater und – «
»Er hat meine Gastfreundschaft mißbraucht«, dröhnte der Earl. »Ich habe gelobt … wenn er je wieder mein Reich betritt, lasse ich ihn ausweiden und räuchern … wie … wie etwas, das man üblicherweise erst, ähm, ausweidet, und dann, äh, räuchert, ähm …«
»Vielleicht – ein Bückling, Mylord?« schlug der Hofnarr vor. Der Earl zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht von Bedeutung. Wachen, ergreift ihn.«
Das taten sie. Die Wachen waren zwar beide schon jenseits der Sechzig, doch als sie mit der Armbrust auf den Marquis zielten, zitterten ihre Hände nicht, weder vor Alter noch vor Angst.
Richard sah Hunter an. Sie wirkte völlig gelassen: Sie betrachtete die Szene beinahe amüsiert, wie ein Theaterstück, das ihr zuliebe aufgeführt wurde.
Door verschränkte die Arme und reckte sich, legte den Kopf zurück und hob ihr spitzes Kinn. Jetzt sah sie nicht mehr so sehr wie ein zerlumpter Straßenkobold aus, sondern eher wie jemand, der es gewohnt ist, sich durchzusetzen. Die seltsam gefärbten Augen blitzten. »Euer Gnaden, der Marquis begleitet mich auf meiner Suche. Unsere Familien sind seit langem befreundet – «
»Ja. Das stimmt«, unterbrach sie der Earl zuvorkommend. »Hunderte von Jahren. Hunderte und Aberhunderte. Ich kannte schon Euren Großvater. Ein komischer alter Kauz. Bißchen undurchsichtig.«
»Aber ich muß Euch sagen, daß ich in einem gewaltsamen Vorgehen gegen meinen Begleiter einen Angriff auf mich und mein Haus sehe.« Das Mädchen starrte zu dem alten Mann empor, der über ihm in die Höhe ragte. Einen Moment lang standen sie stocksteif da. Er zupfte erregt an seinem rotgrauen Bart. Dann schob er die Unterlippe vor wie ein kleines Kind. »Ich will ihn hier nicht haben«, sagte er.
Der Marquis zog die goldene Taschenuhr hervor, die er in Porticos Arbeitszimmer gefunden hatte. Lässig warf er einen Blick darauf. Dann wandte er sich an Door, als ob nichts geschehen wäre. »Mylady«, sagte er, »offenbar bin ich Ihnen eher von Nutzen, wenn ich diesen Zug verlasse. Außerdem muß ich noch andere Avenuen erkunden.«
»Nein«, sagte sie. »Wenn Sie gehen, gehen wir alle.«
»Lieber nicht«, sagte der Marquis. »Hunter wird sich um Sie kümmern, solange Sie sich in Unter-London aufhalten. Wir treffen uns auf dem nächsten Markt. Machen Sie in der Zwischenzeit keine Dummheiten.«
Der Zug hielt an einer Haltestelle.
Door fixierte den Earl: riesige, seltsam gefärbte Augen in einem blassen, herzförmigen Gesicht: »Werdet Ihr ihn in Frieden gehen lassen, Euer Gnaden?« fragte sie.
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, rieb sich das gesunde Auge und seine Augenklappe und sah sie dann wieder an.
»Hauptsache, er geht«, sagte der Earl. »Das nächste Mal … «, er fuhr sich mit einem dicken alten Finger über den Adamsapfel, »...Bückling.«
»Ich finde allein hinaus«, sagte der Marquis zu den Wachen und ging auf die offene Tür zu.
Halvard hob seine Armbrust und zielte auf den Rücken des Marquis. Hunter streckte die Hand aus und drückte das Ende der Armbrust wieder in Richtung Fußboden.
Der Marquis trat auf den Bahnsteig, drehte sich um und winkte ihnen zum Abschied ironisch zu. Zischend schloß sich die Tür hinter ihm.
Der Earl setzte sich in seinen riesigen Sessel am Ende des Waggons. Er sagte nichts.
Der Zug ratterte und schlingerte durch den dunklen Tunnel. »Wo sind bloß meine Manieren?« murmelte der Earl vor sich hin. Er schaute sie mit einem weitaufgerissenen Auge an. Dann sagte er es noch einmal, mit einem verzweifelten Dröhnen in der Stimme, das Richard wie den Beat einer Bass-drum im Magen spürte. »WO SIND BLOSS MEINE MANIEREN?«
Er winkte einen der ältlichen Ritter zu sich. »Sie werden hungrig sein nach der Reise, Dagvard. Und auch durstig, möcht’ ich meinen.«
»Ja, Euer Gnaden.«
»Haltet den Zug an!« rief der Earl.
Die Türen öffneten sich zischend, und Dagvard trippelte eilig auf einen Bahnsteig hinaus.
Richard beobachtete die Menschen dort draußen. Niemand kam in ihren Wagen. Niemand schien etwas Ungewöhnliches zu bemerken.
Dagvard ging zu einem Süßigkeitenautomaten. Er nahm den Helm ab. Dann klopfte er mit einem Kettenhandschuh seitlich an den Automaten.
»Befehl vom Earl«, sagte er. »Schokolade.«
Es ratschte und surrte tief in den Eingeweiden der Maschine, und sie begann, Dutzende Trauben-Nuß-Schokoriegel auszuspucken, einen nach dem anderen. Dagvard fing sie in seinem Metallhelm auf.
Die Türen begannen sich zu schließen. Halvard steckte den Griff seiner Pike dazwischen, und sie öffneten sich und begannen, sich immer wieder zu öffnen und zu schließen und dabei gegen den Pikengriff zu knallen.
»Bitte bleiben Sie von den Türen zurück«, sagte eine Lautsprecherstimme. »Der Zug kann erst abfahren, wenn alle Türen geschlossen sind.«
Der Earl glotzte Door mit seinem gesunden Auge schief an. »Nun. Was bringt Euch zu mir?«
Sie leckte sich die Lippen. »Also, indirekt, Euer Gnaden, der Tod meines Vaters.«
Er nickte langsam. »Ja. Ihr wollt Rache. Und das zu Recht.« Er hustete und rezitierte dann in einem basso profundo: »Bietet blitzenden Klingen die Stirn, laßt aufleuchten das wilde Feuer, senkt das eiserne Schwert ins verhaßte Herz, glutrot das … das … Dingsda. Ja.«
»Rache? Ja. Das hat mein Vater auch gesagt. Aber ich will nur verstehen, was passiert ist, und mich selbst schützen. Meine Familie hatte keine Feinde.«
Da torkelte Dagvard wieder in den Zug, den Helm voller Schokoriegel und Coladosen; die Türen konnten sich schließen, und der Zug fuhr wieder los.
Der Mantel war über und über mit Münzen und Scheinen bedeckt – und Schuhen. Schuhen an Füßen, die die Münzen traten, die Banknoten beschmierten und zerrissen und den Mantelstoff zerfetzten. Geld wie Dreck.
»Laßt mich in Ruh’«, bettelte Lear. Er stand mit dem Rücken an der Wand der Unterführung. Blut lief über sein Gesicht und tropfte hellrot in seinen Bart. Sein Saxophon hing schlaff und verdreht auf seiner Brust.
Er war von einer kleinen Menschenmenge umringt – mehr als zwanzig, weniger als fünfzig. Alle drängelten und schubsten, ein hirnloser Mob, die Augen leer und starr, der, verzweifelt um sich schlagend und kratzend, versuchte, Lear Geld zu geben.
An der gekachelten Wand war Blut, dort, wo Lear sich den Kopf aufgeschlagen hatte. Armrudernd wehrte er eine Frau mittleren Alters ab, die ihm mit weit geöffneter Handtasche eine Faust voll Fünf-Pfund-Noten entgegenstieß. In ihrem Eifer, ihm ihr Geld zu geben, drohte sie ihm das Gesicht zu zerkratzen. Er wand sich, um ihr auszuweichen, und stürzte auf den Tunnelboden.
Jemand trat auf seine Hand. Sein Gesicht wurde in eine Brühe von Kleingeld gestoßen. Er begann zu schluchzen und zu fluchen.
»Ich hab’ Ihnen doch gesagt, Sie sollen’s nicht übertreiben«, sagte dicht neben ihm eine elegante Stimme. »Wie ungezogen.«
»Helfen Sie mir«, keuchte Lear. »Nun ja, es gibt tatsächlich einen Gegenzauber«, gestand die Stimme beinahe widerstrebend.
Die Menge drängelte sich jetzt noch näher heran. Ein Fünfzig-Pence-Stück, das jemand geworfen hatte, schlitzte Lear die Wange auf. Er rollte sich wie ein Fötus zu einer Kugel zusammen, schlang die Arme um sich, vergrub sein Gesicht zwischen den Knien.
»Spielen Sie es, verdammt noch mal«, sagte er. »Egal, was Sie wollen … Machen Sie bloß, daß sie aufhören …«
Eine Flöte begann leise zu spielen und hallte durch die Unterführung. Eine einfache Melodielinie, immer wieder von vorn, jedesmal ein wenig anders: die de-Carabas-Variationen.
Die Schritte entfernten sich. Erst schlurfend, dann immer schneller: Bald waren sie fort. Lear öffnete die Augen.
Der Marquis de Carabas lehnte an der Wand und spielte auf der Flöte. Als er sah, daß Lear ihn anschaute, setzte er die Flöte ab und steckte sie wieder in eine Innentasche. Er warf Lear ein spitzengesäumtes Taschentuch aus geflicktem Leinen zu. Lear wischte sich das Blut von der Stirn und aus dem Gesicht.
»Die hätten mich umgebracht«, sagte er vorwurfsvoll.
»Ich habe Sie gewarnt«, sagte de Carabas. »Sie können von Glück sagen, daß ich auf dem Rückweg wieder hier entlanggekommen bin.«
Er half Lear, sich aufzusetzen.
»Also«, sagte de Carabas. »Ich glaube, jetzt schulden Sie mir noch einen Gefallen.«
Lear hob seinen Mantel – zerrissen und schlammverschmutzt und von den Abdrücken vieler Füße gezeichnet – vom Boden der Unterführung. Plötzlich war ihm sehr kalt, und er wickelte sich den zerfetzten Mantel um die Schultern. Münzen fielen heraus, und Scheine flatterten zu Boden. Er ließ sie liegen.
»Hab’ ich wirklich Glück gehabt? Oder haben Sie mich reingelegt?«
Der Marquis sah beinahe beleidigt aus. »Wie können Sie nur so etwas von mir denken?«
»Weil ich Sie kenne. Deshalb. Also – was ist es diesmal? Diebstahl? Brandstiftung? Mord?« Lear klang resigniert und ein wenig traurig.
De Carabas griff hinunter und nahm sein Taschentuch wieder an sich. »Diebstahl, fürchte ich«, sagte er. »Ich brauche zufällig ganz dringend eine Skulptur aus der T’ang-Dynastie.«
Lear schauderte. Dann nickte er langsam.
Richard wurde ein Cadbury’s-Trauben-Nuß-Schokoriegel in Automatengröße gereicht und ein großer Silberpokal, der am Rand mit Steinen verziert war, die Richard für Saphire hielt. Der Pokal war mit Coca-Cola gefüllt.
»Ich möchte einen Toast auf unsere Gäste ausbringen«, sagte Tooley, der ältliche Hofnarr. »Ein Kind, ein Bravo, ein Trottel. Mögen sie alle bekommen, was sie verdienen. «
»Welcher bin ich?« flüsterte Richard Hunter zu.
»Der Trottel natürlich«, flüsterte sie zurück.
»Früher«, sagte Halvard trübsinnig, nachdem er an seiner Cola genippt hatte, »gab es noch Wein. Wein mag ich lieber. Er ist nicht so klebrig.«
»Geben Ihnen alle Automaten die Sachen einfach so heraus?« fragte Richard.
»Aber ja«, sagte der alte Mann. »Sie gehorchen dem Earl, müßt Ihr wissen. Er regiert den Untergrund. Den Untergrund der Züge. Er ist der Herrscher der Central, der Circle, der Jubilee, der Victorious, der Bakerloo – tja, er ist der Herrscher aller Linien bis auf die Underside Line.«
»Was ist die Underside Line?« fragte Richard.
Halvard schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen.
Hunter berührte Richards Schulter mit den Fingern. »Wissen Sie noch, was ich Ihnen über die Schäfer in Shepherd’s Bush gesagt habe?«
»Sie sagten, ich sollte sie lieber nicht kennenlernen und keine Fragen stellen.«
»Gut«, sagte sie. »Jetzt können Sie auch die Underside Line auf die Liste der Dinge setzen, über die Sie besser nichts wissen.«
Door kam vom anderen Ende des Wagens zu ihnen zurück. Sie lächelte. »Er hat sich bereit erklärt, uns zu helfen«, sagte sie. »Kommt. Er wartet in der Bibliothek auf uns.«
Richard war beinahe stolz darauf, daß er nicht fragte: »Was für eine Bibliothek?« oder darauf hinwies, daß man in einem Zug keine Bibliothek einrichten könne. Statt dessen folgte er Door zum leeren Thron des Earl, darum herum und durch die Verbindungstür dahinter in die Bibliothek.
Es war ein riesiger steinerner Raum mit einer hohen Decke. An jeder Wand waren Regale angebracht. Die Regale waren voll: auch mit Büchern, ja. Doch es befanden sich Unmengen von anderen Dingen darin: Tennisschläger, Hockeyschläger, Regenschirme, ein Spaten, ein Notebook-Computer, ein Holzbein, mehrere Becher, Dutzende von Schuhen, Ferngläser, ein kleines Holzscheit, sechs Handpuppen, eine Lavalampe, mehrere CDs, Schallplatten (LPs, Singles und 78er), Kassetten und Achtspurbänder, Würfel, Spielzeugautos, Gebisse, Armbanduhren, Taschenlampen, vier Gartenzwerge in verschiedenen Größen (zwei Angler, einer davon mit heruntergelassenen Hosen), stapelweise Zeitungen, Magazine, dreibeinige Schemel, eine Kiste Zigarren, ein Plastikschäferhund mit nickendem Kopf, Socken … Der Raum war ein kleines Imperium von Fundsachen.
»Das ist sein wahres Reich«, murmelte Hunter. »Verlorenes. Vergessenes.«
Fenster waren in die Steinwand eingelassen. Durch sie hindurch konnte Richard die ratternde Finsternis und die vorbeifliegenden Lichter der U-Bahn-Tunnel sehen.
Der Earl saß mit gespreizten Beinen auf dem Boden, tätschelte den Wolfshund und kraulte ihn unter dem Kinn. Der Hofnarr stand neben ihm und sah verlegen aus. Der Earl rappelte sich auf, als er ihrer ansichtig wurde. Seine Stirn legte sich in Falten.
»Ah. Da seid Ihr ja. Also, ich habe Euch doch aus einem bestimmten Grund hergebeten, es fällt mir gleich ein …« Er zupfte an seinem rotgrauen Bart, eine winzige Geste für so einen großen Mann.
»Der Engel Islington, Euer Gnaden«, sagte Door höflich.
»Ach ja. Euer Vater hatte eine Menge Ideen, wißt Ihr. Hat mich nach meiner Meinung gefragt. Ich mißtraue Veränderungen. Deshalb habe ich ihn zu Islington geschickt. « Er hielt inne. Blinzelte mit seinem einen Auge. »Habe ich Euch das schon erzählt?«
»Ja, Euer Gnaden. Und wie kommen wir zu Islington?«
Er nickte, als hätte sie etwas Bedeutungsvolles gesagt. »Nur einmal auf dem schnellen Weg. Danach muß man den langen Weg nehmen. Gefährlich.«
Door fragte geduldig: »Und wie geht der schnelle Weg?«
»Nein, nein. Dafür muß man ein Öffner sein. Taugt nur für Porticos Familie.« Er legte ihr eine riesige Hand auf die Schulter. Dann glitt seine Hand zu ihrer Wange hinauf. »Besser für Euch, Ihr bleibt hier bei mir. Einem alten Mann nachts ein bißchen Wärme spenden, he?« Er glotzte sie lüstern an und berührte ihr wirres Haar mit seinen alten Fingern.
Hunter trat einen Schritt auf Door zu. Door machte ihr ein Zeichen: Nein. Noch nicht.
Door sah zu dem Earl auf und sagte: »Euer Gnaden, ich bin Porticos älteste Tochter. Wie komme ich zum Engel Islington?«
Richard staunte, wie Door angesichts des offenbar aussichtslosen Kampfes des Earl gegen den Zahn der Zeit die Ruhe bewahren konnte.
Der Earl blinzelte würdevoll mit seinem einzelnen Auge: ein alter Raubvogel, den Kopf zur Seite gelegt. Dann nahm er seine Hand von ihrem Haar.
»Das seid Ihr. Das seid Ihr. Porticos Tochter. Wie geht es Eurem geschätzten Vater? Ich hoffe, gut. Ein feiner Mann. Guter Mann.«
»Wie kommen wir zum Engel Islington«, fragte Door, doch ihre Stimme zitterte leicht.
»Hmm? Mit dem Angelus natürlich.«
Richard ertappte sich dabei, wie er sich den Earl vor sechzig, achtzig, fünfhundert Jahren vorstellte: ein mächtiger Krieger, ein raffinierter Stratege, ein großer Frauenliebhaber, ein guter Freund, ein schrecklicher Feind. Irgendwo da drinnen war noch etwas von diesem Mann übrig.
Der Earl hantierte auf den Regalen herum, schob Stifte und Pfeifen und Blasrohre, kleine Gargoyles und tote Blätter hin und her. Dann griff er wie eine alternde Katze, die zufällig über eine Maus stolpert, nach einer kleinen zusammengerollten Schriftrolle und reichte sie dem Mädchen.
»Hier, Mädel«, sagte der Earl. »Da steht alles drin. Wir sollten Euch wohl lieber an der richtigen Stelle absetzen.«
»Sie setzen uns ab?« fragte Richard. »Mit einem Zug?«
Der Earl blickte sich nach der Quelle dieser Geräusche um, bis sein Blick auf Richard fiel. Er lächelte strahlend. »Ach, das ist nicht der Rede wert«, dröhnte er. »Für Porticos Tochter tu’ ich doch alles.«
Triumphierend umklammerte Door die Schriftrolle.
Richard spürte, wie der Zug abbremste, und er und Door und Hunter wurden aus dem steinernen Zimmer zurück in den Waggon geführt.
Richard schaute auf den Bahnsteig hinaus, während sie langsamer wurden.
»Verzeihung. Welche Haltestelle ist das hier?« fragte er.
Der Zug hielt vor einem der Schilder: BRITISH MUSEUM stand darauf. Irgendwie war das zuviel des Guten. Das Wesen im U-Bahn-Schacht, den Earl’s Court und sogar die seltsame Bibliothek konnte er akzeptieren. Aber, verdammt noch mal, mit dem U-Bahn-Plan kannte er sich wirklich aus. Und das hier ging zu weit. »Es gibt keine Haltestelle namens British Museum«, sagte Richard mit fester Stimme.
»Nein?« dröhnte der Earl. »Dann, hmm, müßt Ihr beim Aussteigen sehr vorsichtig sein.« Und er lachte vergnügt und tippte seinem Narren auf die Schulter. »Hast du das gehört, Tooley? Ich bin ebenso komisch wie du.«
Der Narr lächelte das trostloseste Lächeln, das man je gesehen hat. »Mir bersten die Seiten, mir brechen die Rippen, meine Heiterkeit ist unermeßlich, Euer Gnaden«, sagte er.
Die Türen öffneten sich zischend.
Door lächelte zu dem Earl empor. »Danke«, sagte sie.
»Fort mit Euch«, erwiderte der riesige alte Mann und scheuchte Door und Richard und Hunter aus dem warmen, verrauchten Waggon auf den leeren Bahnsteig. Und dann schlossen sich die Türen, und der Zug fuhr ab, und Richard ertappte sich dabei, wie er ein Schild anstarrte, das, egal, wie oft er blinzelte – sogar, wenn er weg- und ganz plötzlich wieder hinschaute, um es auf frischer Tat zu ertappen – eigensinnig dabei blieb:
BRITISH MUSEUM.