Kapitel Sechzehn

Stundenlang gingen sie schweigend die gewundene Steinstraße hinab. Richard hatte immer noch Schmerzen, er humpelte, und in ihm rumorte es seltsam, geistig wie körperlich: Das Gefühl, geschlagen und verraten worden zu sein, quälte ihn, hinzu kam noch die Tatsache, daß er beinahe sein Leben an Lamia verloren hätte, die Nachwirkungen von dem, was Mr. Vandemar ihm zugefügt und was er oben auf der Planke erlebt hatte, so daß er sich alles in allem furchtbar zerschlagen fühlte. Doch was es noch schlimmer machte: Er war sich ziemlich sicher, daß all seine Erlebnisse des letzten Tages verglichen mit dem, was der Marquis durchgemacht haben mochte, zu etwas ziemlich Kleinem und Unbedeutendem verblaßten. Daher sagte er nichts.

Der Marquis war still; denn jedes Wort, das er hervorbrachte, verursachte ihm Halsschmerzen. Er begnügte sich damit, seine Kehle heilen zu lassen und sich auf Hunter zu konzentrieren. Wenn er seine Aufmerksamkeit nur einen Augenblick erlahmen ließe, das wußte er, würde sie es sofort merken, und dann wäre sie auf und davon, oder sie würde sich ihnen entgegenstellen. Daher sagte er nichts.

Hunter ging ein kleines Stück voraus. Auch sie sagte nichts. Dann erreichten sie das untere Ende der Down Street. Die Straße endete in einem monumentalen Torbogen – aus gigantischen grob behauenen Steinblöcken.

Dieses Tor haben Riesen gebaut, dachte Richard, obwohl er nicht hätte sagen können, woher er das wußte.

Das Tor selbst war schon lange verrostet und zerfallen. Seine Überreste lagen zu ihren Füßen im Schlamm und hingen nutzlos an einem verrosteten Scharnier an der Seite des Torbogens. Das Scharnier war größer als Richard.

Der Marquis bedeutete Hunter, stehenzubleiben. Er befeuchtete seine Lippen und sagte: »Dieses Tor markiert das Ende der Down Street und den Beginn des Labyrinths. Und jenseits des Labyrinths wartet der Engel Islington. Und im Labyrinth befindet sich das Ungeheuer. «

»Ich versteh’ das immer noch nicht«, sagte Richard. »Islington. Ich habe ihn doch kennengelernt. Es. Ihn. Er ist ein Engel. Ich meine … ein richtiger Engel.«

Der Marquis lächelte humorlos. »Wenn Engel bösartig werden, Richard, dann werden sie schlimmer als jeder sonst. Sie wissen doch, auch Luzifer war einst ein Engel.«

Hunter starrte Richard mit nußbraunen Augen an. »Der Ort, an dem Sie waren, ist Islingtons Zitadelle und sein Gefängnis. Er kann ihn nicht verlassen.«

Der Marquis sah sie an. »Ich schätze, das Labyrinth und das Ungeheuer dienen dazu, Besucher abzuschrecken.«

Sie neigte den Kopf. »Das ist anzunehmen.«

Plötzlich brüllte Richard den Marquis an, und all seine Wut und Ohnmacht und Enttäuschung machte sich in einer zornigen Explosion Luft: »Wieso reden Sie überhaupt mit ihr? Wieso ist sie noch bei uns? Sie hat uns die ganze Zeit betrogen. Sie ist eine Verräterin – sie wollte uns glauben machen, Sie seien der Verräter!«

»Und ich habe Ihnen das Leben gerettet, Richard Mayhew«, sagte Hunter leise. »Viele Male. Auf der Brücke. Vor dem Wesen an der U-Bahn-Haltestelle. Auf dem Brett dort oben.«

Sie sah ihm in die Augen, und es war Richard, der den Blick abwandte.

Etwas hallte durch die Tunnel: ein Bellen oder ein Brüllen. Die Haare auf Richards Nacken stellten sich auf. Es war weit entfernt, aber das war auch das einzige daran, was ihn ein wenig beruhigte. Er kannte dieses Geräusch. Er hatte es in seinen Träumen gehört. Es klang weder wie ein Stier noch wie ein Keiler. Es klang wie ein Löwe. Es klang wie ein gewaltiger Drache.

»Das Labyrinth ist eine der ältesten Stätten Unter-Londons«, erklärte der Marquis. »Noch bevor König Lud auf den Themse-Sümpfen ein Dorf gründete, gab es hier ein Labyrinth.«

»Allerdings kein Ungeheuer«, sagte Richard.

»Damals noch nicht.«

Richard zögerte. Das entfernte Brüllen setzte wieder ein. »Ich … ich glaube, ich habe von dem Ungeheuer geträumt«, sagte er.

Der Marquis zog eine Augenbraue hoch. »Was für Träume?«

»Alpträume«, sagte Richard.

Der Marquis dachte darüber nach, und seine Augen flackerten. Und dann sagte er. »Hören Sie zu, Richard. Hunter nehme ich mit. Wenn Sie allerdings lieber hier warten wollen, nun ja, dann würde Sie trotzdem niemand als feig bezeichnen können.«

Richard schüttelte den Kopf. Manchmal kann man einfach nichts tun. »Ich kehre nicht um. Nicht jetzt. Sie haben Door.«

»Gut«, sagte der Marquis. »Nun denn. Wollen wir gehen? « Hunters perfekte Karamellippen verzogen sich zu einem Hohnlächeln. »Sie müssen verrückt sein, wenn Sie da hineingehen«, sagte sie. »Ohne den Talisman des Engels würden Sie niemals den Weg finden. Niemals an dem Keiler vorbeikommen.«

Der Marquis steckte seine Hand unter seine Poncho-Decke und holte die kleine Obsidian-Statue hervor, die er aus dem Arbeitszimmer von Doors Vater mitgenommen hatte. »Meinen Sie so einen?« fragte er.

Und dann stellte der Marquis fest, daß vieles, was er in den vergangenen Wochen durchgemacht hatte, durch Hunters Gesichtsausdruck wieder wettgemacht wurde. Sie gingen durch das Tor und hinein ins Labyrinth.



Doors Arme waren hinter ihrem Rücken gefesselt, und Mr. Vandemar ging hinter ihr, eine riesige Hand auf ihrer Schulter, und schob sie voran. Mr. Croup huschte voraus, den Obsidian-Talisman in der Hand, den er ihr oben in der Luft weggenommen hatte, und er blickte nervös von einer Seite zur anderen, wie ein Wiesel auf dem Weg zu einem Hühnerstallüberfall.

Das Labyrinth selbst war der reinste Irrsinn. Es war aus verlorengegangenen Fragmenten Ober-Londons gebaut: Gassen und Straßen und Korridore und Siele, die im Laufe der Jahrtausende durchs Netz gerutscht und in die Welt der Verlorenheit und des Vergessenseins übergegangen waren.

Sie stapften über Kopfsteinpflaster und durch Schlamm und Mist (Pferdemist und anderen) und über verfaulende Holzbretter. Der Ort veränderte sich beständig: Und jeder Weg teilte sich, führte im Kreise herum oder wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.

Mr. Croup ließ sich von dem Talisman, dessen Zug er spürte, führen.

Sie gingen eine winzige Gasse entlang, die einst zu einem viktorianischem ›Krähenhorst‹ gehörte hatte (einem Elendsquartier, in dem zu gleichen Teilen Diebstahl und Gin, totale Verwahrlosung und billiger Sex herrschten), und sie hörten es irgendwo in der Nähe schnaufen und schnauben. Und dann brüllte es.

Mr. Croup zögerte. Am Ende der Gasse blieb er stehen und schaute sich mit zusammengekniffenen Augen um, bevor er sie ein paar Stufen in einen langen steinernen Tunnel hinunterführte, der zur Zeit der Tempelritter über die Sümpfe hinweggeführt hatte.

Door sagte: »Sie haben Angst, nicht wahr?«

Er warf ihr einen wütenden Blick zu. »Hüten Sie Ihre Zunge.«

Sie lächelte, obwohl ihr gar nicht nach Lächeln zumute war. »Sie haben Angst, daß Ihr Talisman Sie nicht sicher an dem Ungeheuer vorbeibringt. Was haben Sie jetzt vor? Islington entführen? Und uns beide an denjenigen verkaufen, der am meisten bietet?«

»Ruhe«, sagte Mr. Vandemar.

Doch Mr. Croup lachte nur leise; und da wußte Door, daß der Engel Islington nicht ihr Freund war.

Sie begann zu schreien. »Hey! Ungeheuer! Hier sind wir! Hu-hu! Mister Ungeheuer!«

Mr. Vandemar versetzte ihr einen leichten Schlag an den Kopf und stieß sie gegen die Wand.

»Ruhe, hab’ ich gesagt«, erklärte er milde.

Sie schmeckte Blut und spuckte scharlachrot in den Schlamm. Dann öffnete sie den Mund und fing wieder an zu schreien. Mr. Vandemar, der das vorausgesehen hatte, hatte bereits ein Taschentuch aus seiner Tasche gezogen und stopfte es ihr in den Mund. Sie versuchte ihm dabei auf den Daumen zu beißen, doch das machte keinen nennenswerten Eindruck auf ihn.

»Jetzt sind Sie aber ruhig«, sagte er.

Mr. Vandemar war sehr stolz auf sein Taschentuch, das grün und braun und schwarz gesprenkelt war und ursprünglich einem ziemlich übergewichtigen Schnupftabakhändler aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts gehört hatte, der an einem Gehirnschlag gestorben und mit seinem Taschentuch in der Tasche beerdigt worden war. Mr. Vandemar fand immer noch dann und wann Reste des Schnupftabakhändlers darin, doch er war der Meinung, daß es trotz alledem ein schönes Taschentuch war.

Schweigend gingen sie weiter.



In seinem Felsensaal am Ende des Labyrinths, der seine Zitadelle und sein Gefängnis war, tat der Engel Islington etwas, das er seit vielen Tausenden von Jahren nicht mehr getan hatte.

Er tat folgendes.

Er sang.

Er hatte eine schöne Stimme, melodiös und wohlklingend. Wie alle Engel besaß er ein absolutes Gehör.

Islington sang einen Song von Irving Berlin. Und er tanzte beim Singen, in langsamen und makellosen Bewegungen und Schritten, in seinem Großen Saal voller Kerzen.

»Heaven«, sang der Engel, »I’m in Heaven,

And my heart beats so that I can hardly speak,

And I seem to find the happiness I seek

When we’re out together, dancing cheek to cheek.

Heaven, I’m in Heaven,

And the cares that hung around me in the week

Seem to vanish like a gambler’s lucky streak …«

Als er die schwarze Tür in dem dazugehörigen Gemach erreichte, die Tür aus Feuerstein und angelaufenem Silber, hörte er auf zu tanzen. Er fuhr mit den Fingern langsam über die Tür, preßte die Wange an ihre kalte Oberfläche.

Und er sang weiter, leiser jetzt.

»Heaven …

I’m in Heaven …

I’m in Heaven …

I’m in Heaven …«

Und dann lächelte er, sanft und liebenswürdig, und das Lächeln des Engels Islington war schrecklich anzusehen.

Er sagte die Worte, wiederholte sie immer wieder, so daß die Silben in der kerzenerleuchteten Dunkelheit seines Gemachs in der Luft hingen.

»Ich bin im Himmel«, sagte er.



Richard schrieb einen weiteren Eintrag in sein geistiges Tagebuch. Liebes Tagebuch, dachte er. Heute habe ich den Gang über die Planke überlebt, den Kuß des Todes und eine Lektion über das Treten.

Im Moment bin ich in einem Labyrinth unterwegs, mit einem Irren, der von den Toten wiederauferstanden ist, und einer Leibwächterin, die in Wirklichkeit etwas ist … was auch immer das Gegenteil einer Leibwächterin sein mag. Ich habe so sehr den Boden unter den Füßen verloren, daß …

Ihm fiel kein Bild dafür ein.

Sie wateten durch nassen, morastigen Boden, einen engen Durchgang zwischen dunklen Steinwänden.

Der Marquis hielt sowohl den Talisman als auch die Armbrust in den Händen, und er ging drei Meter hinter Hunter. Richard trug Hunters Speer und eine gelbe Fakkel, die die Steinwände und den Schlamm erleuchtete. Er ging ein gutes Stück vor Hunter. Der sumpfige Boden stank, und riesige Mücken hatten begonnen, Richard in Arme, Beine und Gesicht zu stechen. Weder Hunter noch der Marquis hatten die Mücken auch nur mit einem Wort erwähnt. In Richard keimte der Verdacht, daß sie sich inzwischen völlig verirrt hatten.

Es war seiner Stimmung nicht gerade zuträglich, daß hier und da Tote im Morast lagen: ledrige, mumifizierte Körper und Skelettknochen und bleiche Leichname. Er fragte sich, wie lange sie schon dort lagen und ob sie von dem Ungeheuer oder den Mücken getötet worden waren.

Er wartete weitere fünf Minuten und elf Mückenstiche ab, und dann rief er aus: »Ich glaube, wir haben uns verirrt. Hier sind wir schon einmal durchgegangen.«

Der Marquis hielt den Talisman hoch. »Nein. Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte er. »Der Talisman führt uns direkt hin. Das schlaue kleine Ding.«

»Ja«, sagte Richard, den das gar nicht beeindruckte. »Sehr schlau.«

In diesem Moment trat der Marquis barfuß auf den zertrümmerten Brustkorb eines halb vergrabenen Leichnams, der ihm in die Ferse stach und ihn zum Straucheln brachte. Die kleine schwarze Statue flog durch die Luft und plumpste in den Morast. Der Marquis richtete sich wieder auf und zielte mit der Armbrust auf Hunters Rücken. In der Ferse seines rechten Fußes verspürte er eine Wärme und einen Schmerz: Er hoffte, daß der Schnitt nicht tief war. Er hatte nur noch so wenig Blut übrig, daß er weiteres kaum noch entbehren konnte.

»Richard!« rief er. »Ich habe ihn fallenlassen. Könnten Sie bitte zurückkommen?«

Richard ging mit hocherhobener Fackel zurück, in der Hoffnung, der Obsidian würde im Licht glitzern, doch er sah nichts als nassen Schlamm.

»Suchen Sie da unten«, sagte der Marquis.

Richard stöhnte.

»Sie haben von dem Ungeheuer geträumt, Richard«, sagte der Marquis. »Wollen Sie ihm wirklich begegnen?«

Richard dachte nicht sehr lange darüber nach, dann legte er den Bronzespeer auf die Oberfläche des Morasts, steckte die Fackel in den Schlamm, so daß sie aufrecht stehenblieb und die Oberfläche des Sumpfes in ein zuckendes bernsteinfarbenes Licht tauchte, und er kniete sich in den Dreck und suchte nach der Statue.

In der Hoffnung, nicht auf irgendwelche toten Gesichter oder Gliedmaßen zu stoßen, fuhr er mit den Händen über die Oberfläche des Morasts.

»Es ist hoffnungslos. Er kann sonstwo sein.«

»Suchen Sie weiter«, sagte der Marquis.

»Ich sehe ihn!« rief Richard.

Er kämpfte sich durch den Schlamm darauf zu. Das kleine glasige Ungeheuer lag in einer Pfütze dunklen Wassers. Vielleicht hatte Richard den Schlamm aufgewühlt, als er sich näherte; für wahrscheinlicher hielt er es jedoch, daß es die pure Bosheit der Natur war. Wie auch immer, er war nur wenige Meter von der kleinen Statue entfernt, als der Morast ein Geräusch machte, das sich anhörte wie ein gigantisches Magengrummeln, und eine große Gasblase aufstieg und giftig und obszön neben dem Talisman zerplatzte, der unter der Wasseroberfläche verschwand.

Richard erreichte die Stelle, wo der Talisman gelegen hatte, stieß seine Arme tief in den Schlamm und suchte danach. Es hatte keinen Zweck. Er war fort.

»Was machen wir nun?« fragte Richard.

Der Marquis seufzte. »Kommen Sie wieder her, und dann denken wir uns etwas aus.«

Leise sagte Richard: »Zu spät.«

Es kam auf sie zu, sehr langsam, sehr schwerfällig. Das war Richards erster Gedanke. Und dann sah er, welch eine Strecke es zurücklegte, und ihm wurde klar, wie falsch er damit gelegen hatte, es für langsam zu halten. Zehn Meter von ihnen entfernt verlangsamte das Ungeheuer seinen Schritt und verharrte. Seine Flanken dampften. Es brüllte, triumphierend und angriffslustig.

Seine Seiten und sein Rücken waren mit zerbrochenen Speeren, gesplitterten Schwertern und verrosteten Messern gespickt.

Das gelbe Licht der Fackel glitzerte in seinen roten Augen, auf seinen Hauern und seinen Hörnern.

Es senkte den massigen Kopf. Eine Art Eber? dachte Richard und stellte dann fest, daß das Unsinn war: So riesig war kein Eber. Es hatte die Größe eines Stiers, eines Elefanten, eines Traums. Es starrte sie an, und es hielt hundert Jahre lang inne, die in einem Dutzend Herzschlägen vorbei waren.

Hunter kniete sich hin und hob den Speer aus dem Sumpf. Und mit einer Stimme, in der nichts als reine Freude war, sagte sie: »Ja! Endlich!«

Sie hatte sie alle vergessen; Richard im Schlamm und den Marquis und seine dumme Armbrust und die ganze Welt. Sie war glücklich und hingerissen, endlich war sie am rechten Ort, in der Welt, für die sie lebte. Ihre Welt enthielt zwei Dinge: Hunter und das Ungeheuer.

Auch das Ungeheuer wußte das. Sie waren das perfekte Paar, Jäger und Gejagter. Und wer wer war und was was, würde nur die Zeit enthüllen; die Zeit und der Tanz.

Das Ungeheuer griff an.

Hunter wartete, bis sie den Speichel aus seinem Maul tropfen sah, und als es über ihr war, stach sie mit dem Speer zu; doch während sie spürte, wie der Speer eindrang, wußte sie, daß sie den Bruchteil einer Sekunde zu lange gewartet hatte, und der Speer fiel ihr aus den gefühllosen Händen, und ein Hauer, schärfer als die schärfste Rasierklinge, durchbohrte ihre Seite.

Und als sie unter dem Ungeheuer zusammenbrach, spürte sie, wie seine Hufe ihren Arm und ihre Hüfte und ihre Rippen zermalmten. Und dann war es fort, verschwunden in der Dunkelheit, und der Tanz war vorbei.



Mr. Croup war erleichterter, das Labyrinth hinter sich zu haben, als er zugeben wollte. Doch er und Mr. Vandemar waren heil und ganz hindurchgekommen, und ihre Beute ebenfalls.

Vor ihnen befand sich eine Felswand, eine in die Felswand eingelassene Eichentür und ein in die Tür eingelassener ovaler Spiegel.

Mr. Croup berührte den Spiegel mit seiner schmutzigen Hand.

Die Oberfläche des Spiegels beschlug, als er sie berührte. Der Engel Islington schaute zu ihnen heraus.

Mr. Croup räusperte sich. »Guten Morgen, Sir. Wir sind’s, und wir haben die junge Lady, die zu holen Sie uns beauftragt hatten.«

»Und der Schlüssel?« Die sanfte Stimme des Engels schien von überallher zu kommen.

»Hängt an ihrem schwanengleichen Hals«, sagte Mr. Croup zufrieden.

»Tretet ein«, sagte der Engel.

Dann ging die Tür auf, und sie traten ein.

Es war alles so schnell gegangen. Das Ungeheuer war aus der Dunkelheit aufgetaucht, Hunter hatte sich den Speer geschnappt, es hatte sie angegriffen und war wieder in der Finsternis verschwunden.

Richard lauschte angestrengt. Er hörte nichts als das langsame tropf, tropf von Wasser, irgendwo, und das hohe Sirren von Mücken.

Hunter lag auf dem Rücken. Ein Arm war in einem eigenartigen Winkel abgeknickt. Er kroch durch den Schlamm zu ihr. »Hunter?« flüsterte er. »Hören Sie mich?«

Stille. Und dann, in einem derart schwachen Flüstern, daß er einen Moment lang glaubte, er habe es sich eingebildet. »Ja.«

Der Marquis stand immer noch ein paar Meter entfernt neben einer Wand. Jetzt rief er: »Richard – bleiben Sie, wo Sie sind. Die Kreatur wartet nur ab. Sie kommt zurück.«

Richard beachtete ihn nicht. Er sprach mit Hunter.

»Werden Sie …«, er hielt inne. Es kam ihm sehr dumm vor. Trotzdem sagte er es: »Werden Sie wieder gesund?«

Da lachte sie mit blutbefleckten Lippen und schüttelte den Kopf.

»Gibt es hier unten eigentlich irgendwelche Ärzte?« fragte er den Marquis.

»Hm. Nicht in dem Sinne, wie Sie meinen. Wir haben ein paar Heiler, eine Handvoll Quacksalber und Wundärzte …«

Hunter hustete und zuckte dann zusammen. Hellrotes Blut tropfte ihr aus dem Mundwinkel.

Der Marquis schob sich näher heran. »Haben Sie Ihr Leben irgendwo versteckt, Hunter?« fragte er.

»Ich bin Jägerin«, flüsterte sie verächtlich. »Von so etwas halten wir nichts …« Sie sog mühsam Luft in ihre Lungen und atmete dann aus, als strengte sie das Atmen bereits zu sehr an. »Richard, haben Sie je einen Speer benutzt?«

»Nein.«

»Nehmen Sie ihn«, flüsterte sie.

»Aber …«

»Tun Sie’s!« Ihre Stimme war leise und eindringlich. »Heben Sie ihn auf. Halten Sie ihn am stumpfen Ende fest.«

Richard hob den heruntergefallenen Speer auf. Er hielt ihn am stumpfen Ende fest. »Den Teil kannte ich schon«, erklärte er.

Der Schimmer eines Lächelns flog über ihr Gesicht. »Ich weiß.«

»Hören Sie«, sagte Richard und fühlte sich dabei nicht zum ersten Mal wie der einzig vernünftige Mensch in einem Irrenhaus. »Lassen Sie uns ganz leise sein. Vielleicht geht es wieder weg. Wir versuchen, Hilfe zu holen.«

Und nicht zum ersten Mal hörte ihm die Person, mit der er sprach, überhaupt nicht zu. »Ich habe etwas Schlimmes getan, Richard Mayhew«, flüsterte sie traurig. »Ich habe etwas sehr Schlimmes getan. Weil ich diejenige sein wollte, die das Ungeheuer tötet. Weil ich den Speer brauchte.«

Und dann begann sie sich mühsam aufzurichten. Richard war weder klar gewesen, wie schwer sie verletzt war, noch konnte er sich jetzt vorstellen, was für Schmerzen sie haben mußte. Er sah ihren rechten Arm, aus dessen Haut auf entsetzliche Weise ein weißer Knochensplitter ragte, nutzlos herabhängen. Blut lief aus einer Wunde in ihrer Seite. Ihr Brustkorb sah verkehrt aus.

»Hören Sie auf!« zischte er vergeblich. »Runter mit Ihnen!«

Mit der linken Hand zog sie ein Messer aus ihrem Gürtel, legte es in ihre Rechte und schloß die Finger darum.

»Ich habe etwas Schlimmes getan«, wiederholte sie. »Und jetzt versuche ich, es wieder gutzumachen.«

Dann begann sie zu summen. Hoch zu summen und tief zu summen, bis sie den Ton gefunden hatte, der die Wände und die Rohre und den Raum in Schwingungen versetzte, und sie summte diesen Ton, bis es schien, als würde ihr Summen im gesamten Labyrinth widerhallen. Und dann sog sie Luft in ihren zerschmetterten Brustkorb und rief: »Hey. Dicker? Wo bist du?«

Nichts. Kein Geräusch außer dem leisen Tropfen von Wasser. »Vielleicht ist es … weg …«, sagte Richard und umklammerte den Speer so fest, daß ihm die Hände wehtaten.

»Das möchte ich bezweifeln«, murmelte der Marquis.

»Na los, du Mistvieh«, stieß Hunter hervor. »Hast du etwa Angst?«

Vor ihnen ertönte ein tiefes Grollen, und das Ungeheuer griff von neuem an.

Diesmal durfte es keinen Fehler geben. Der Tanz, dachte Hunter. Der Tanz ist noch nicht vorbei.

Und als das Ungeheuer auf sie zukam, die Hörner gesenkt, schrie sie: »Jetzt – Richard! Stich zu! Von unten nach oben! Jetzt!«, und dann traf das Ungeheuer sie, und ihre Worte wurden zu einem wortlosen Schrei.

Richard sah es aus der Dunkelheit kommen, hinein in das Licht der Fackel. Es ging alles ganz langsam.

Es war wie ein Traum.

Es war wie alle seine Träume.

Das Ungeheuer war so nah, daß er seinen animalischen Gestank nach Blut und Kot riechen konnte, so nah, daß er seine Wärme spüren konnte.

Und er stach zu, so heftig er konnte, stieß den Speer von unten nach oben hinein.

Da ertönte ein Gebrüll oder ein Schrei der Qual und des Hasses und des Schmerzes. Und dann war es still.

Er hörte sein Herz in seinen Ohren pochen. Er hörte Wasser tropfen. Die Mücken begannen wieder zu sirren.

Er stellte fest, daß er immer noch das Heft des Speeres festhielt, obgleich die Klinge tief in dem Körper des Ungeheuers steckte. Er ließ los.

Dann hielt er nach Hunter Ausschau. Ihr Körper war unter dem Ungeheuer eingeklemmt. Er drückte, so kräftig er konnte, gegen das warme tote Gewicht des Tieres. Es war, als würde er einen Chieftain-Panzer anschieben. Doch schließlich rollte er es mühsam ein wenig von ihr herunter.

Hunter lag auf dem Rücken und starrte hinauf ins Dunkel. Ihre Augen waren offen, doch irgendwie wußte er, daß sie nichts sahen.

»Hunter?« sagte er.

»Ich bin noch hier, Richard Mayhew.« Ihre Stimme klang beinahe körperlos. Sie versuchte gar nicht erst, ihn mit ihren Augen zu finden, ihn zu fixieren. »Ist es tot?«

»Ich glaube schon. Es bewegt sich nicht.«

Und dann lachte sie; es war ein seltsames Lachen – als hätte sie gerade den lustigsten Witz vernommen, der jemals einem Jäger zu Ohren gekommen war. Und zwischen Lachen und Husten erzählte sie den beiden diesen Witz: »Sie haben das Ungeheuer getötet«, sagte sie. »Jetzt sind Sie der größte Jäger Unter-Londons. Der Krieger …« Und dann hörte sie auf zu lachen. »Ich spüre meine Hände nicht. Nehmen Sie meine rechte Hand.«

Richard tastete unter dem Körper des Ungeheuers und nahm Hunters Hand in seine.

»Habe ich noch ein Messer in der Hand?« flüsterte sie.

»Ja.« Er konnte es fühlen, kalt und klebrig.

»Nehmen Sie das Messer. Es gehört Ihnen.«

»Ich will es nicht …«

»Nimm es.«

Er löste das Messer aus ihren Fingern.

»Es gehört jetzt dir«, flüsterte Hunter. Nichts bewegte sich außer ihren Lippen; und ihre Augen trübten sich. »Es hat mich immer beschützt. Du mußt allerdings mein Blut abwischen … Die Klinge darf nicht verrosten … Ein Jäger pflegt seine Waffen.« Sie schluckte Luft. »Jetzt … berühre mit dem Blut des Ungeheuers … deine Augen und deine Zunge …«

Richard wußte nicht recht, ob er sich verhört hatte. »Was?«

Der Marquis sprach in sein Ohr. Richard hatte gar nicht bemerkt, daß er nähergekommen war. »Tun Sie es, Richard. Sie hat recht. Das wird Sie durchs Labyrinth führen. Tun Sie’s.«

Richard griff nach dem Speer und fuhr mit der Hand am Heft entlang, bis er das warme, klebrige Blut des Ungeheuers spürte. Er kam sich etwas idiotisch dabei vor, doch er berührte mit der Hand seine Zunge und dann seine Augen. »Fertig«, sagte er.

»Das ist gut«, flüsterte Hunter. Mehr sagte sie nicht.

Der Marquis de Carabas streckte die Hand aus und schloß ihr die Augen. Richard wischte Hunters Messer an seinem Hemd ab. Das hatte sie ihm schließlich aufgetragen. Es ersparte ihm das Denken.

»Gehen wir«, sagte der Marquis und erhob sich.

»Wir können sie doch nicht einfach hierlassen.«

»Doch. Wir können den Leichnam später abholen.«

Richard polierte die Klinge an seinem Hemd, so gründlich er konnte. »Und wenn es kein Später gibt?«

»Dann müssen wir hoffen, daß jemand sich unser aller Überreste annimmt. Einschließlich jener von Lady Door. Und die ist es bestimmt langsam leid, auf uns zu warten.«

Richard schaute zu Boden. Er wischte die letzten Spuren von Hunters Blut von ihrem Messer und steckte es sich in den Gürtel. Dann nickte er.

»Gehen Sie«, sagte de Carabas. »Ich folge Ihnen, so schnell ich kann.«

Richard zögerte; und dann rannte er los, was das Zeug hielt.



Vielleicht lag es am Blut des Ungeheuers. Ihm fiel keine andere Erklärung ein. Aus welchem Grund auch immer, er lief auf direktem Weg durch das Labyrinth hindurch. Für ihn barg es keine Geheimnisse mehr. Er hatte das Gefühl, er kannte jede Ecke, jeden Weg, jede Gasse, jeden Pfad und jeden Tunnel.

Er war erschöpft, als er so durch das Labyrinth lief. Das Blut pochte ihm in den Schläfen. Ein Vers ging ihm beim Laufen durch den Kopf, zum Rhythmus seiner Füße. Es war etwas, das er als Kind gehört hatte.

Heute nacht, wie jede Nacht,

gibt Kerzenschein uns Licht.

Bis morgen dann die Sonne lacht,

denn Christ vergißt uns nicht.

Wie ein Klagelied gingen ihm die Worte immer und immer wieder im Kopf herum. Gibt Kerzenschein uns Licht …

Am Ende des Labyrinths befand sich ein steiler Granitfelsen, und in den Felsen eingelassen war eine hohe hölzerne Doppeltür. An einer der Türen hing ein ovaler Spiegel. Sie war geschlossen. Er berührte das Holz, und daraufhin öffnete sie sich lautlos. Richard trat ein.


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