Kapitel Elf

»Hunter, worauf haben Sie es eigentlich abgesehen?« fragte Richard.

Die drei gingen am Ufer eines unterirdischen Flusses entlang. Richard betrachtete respektvoll das graue Wasser, das eine Armlänge entfernt rauschte und wogte. Dies war nicht die Sorte Fluß, in den man hineinfiel und aus dem man dann wieder herausstieg. Es war die andere Sorte.

»Abgesehen?«

»Na ja«, sagte er. »Ich versuche, ins richtige London zurückzukommen und in mein altes Leben. Door will herausfinden, wer ihre Familie umgebracht hat. Und worauf haben Sie es abgesehen?«

Sie quälten sich Schritt für Schritt am Ufer entlang. Hunter ging voraus. Sie sagte nichts.

Der Fluß floß gemächlicher und mündete in einen kleinen unterirdischen See. Sie gingen am Ufer entlang, ihre Lampen spiegelten sich im schwarzen Wasser, die Reflexion wurde vom Flußnebel verwischt.

»Also, was ist es?« fragte Richard. Eigentlich erwartete er gar keine Antwort.

Hunters Stimme war leise und eindringlich. Sie ließ sich nicht aus dem Takt bringen. »Ich habe in der Kanalisation unter New York mit dem großen blinden weißen Alligatorkönig gekämpft. Er war neun Meter lang, mit Abwässern gemästet und ein gefährlicher Gegner. Und ich habe ihn besiegt, und ich habe ihn getötet. Seine Augen waren wie riesige Perlen in der Finsternis.«

Ihre Stimme mit dem seltsamen Akzent hallte durch den Untergrund, vom Nebel umschlungen.

»Ich habe mit dem Bären gekämpft, der in der Stadt unter Berlin jagte. Er hatte tausend Männer getötet, und das getrocknete Blut von hundert Jahren klebte braun und schwarz an seinen Klauen, aber mir mußte er sich geschlagen geben. Er flüsterte Worte in einer menschlichen Sprache, als er starb.«

Der Nebel hing tief über dem See. Richard bildete sich ein, er könne die Kreaturen sehen, von denen sie sprach, weiße Schemen, die sich im Dunst krümmten.

»Es gab einen schwarzen Tiger in der Unterstadt von Kalkutta. Einen Menschenfresser, intelligent und verbittert, von der Größe eines kleinen Elefanten. Ein Tiger ist ein würdiger Gegner. Ich habe ihn mit meinen bloßen Händen besiegt.«

Er warf Door einen Blick zu. Sie lauschte Hunter aufmerksam: Dies war also auch ihr neu.

»Und ich werde das Ungeheuer von London erlegen. Es heißt, sein Fell starre vor Schwertern und Speeren und Messern von jenen, die vergeblich versucht haben, es zu töten. Seine Stoßzähne sind Rasiermesser, und seine Hufe sind Donnerkeile.

Ich werde es töten, oder ich werde bei dem Versuch umkommen.«

Ihre Augen leuchteten bei dem Gedanken an ihre Beute. Der Flußnebel wurde langsam zu einer dicken gelben Brühe.

Eine Glocke schlug nicht weit von ihnen dreimal. Man hörte sie über das Wasser schallen.

Es wurde langsam heller. Richard glaubte, er könne um sie herum die Umrisse von Gebäuden erkennen. Der gelbgrüne Nebel verdickte sich: Er schmeckte nach Asche und dem Schmutz von tausend Jahren in der Stadt. Er klebte an ihren Lampen und dämpfte das Licht.

»Was ist das?« fragte er.

»Der Londoner Nebel«, sagte Hunter.

»Aber den gibt es doch schon seit Jahren nicht mehr, oder? Seit dem Clean Air Act und so weiter.« Richard ertappte sich dabei, wie er an die Sherlock-Holmes-Bücher seiner Kindheit dachte. »Wie wurde er genannt?«

»Erbsensuppe«, sagte Door. »Waschküche. Auf der Oberseite hat es jetzt seit bestimmt vierzig Jahren keinen mehr gegeben. Sein Geist spukt bei uns hier unten. Hm. Kein Geist. Eher ein Echo.«

Richard atmete einen Strang des gelbgrünen Nebels ein und begann zu husten.

»Das klingt gar nicht gut«, sagte Door.

»Hab’ was in den falschen Hals gekriegt«, sagte Richard.

Der Boden wurde klebriger, matschiger: Er sog beim Gehen an Richards Füßen.

»Immerhin«, sagte er, um sich zu beruhigen, »ein bißchen Nebel hat noch keinem geschadet.«

Door schaute ihn mit großen Koboldaugen an. »1952 gab es einen, der schätzungsweise viertausend Leute das Leben gekostet hat.«

»Leute von hier?« fragte er. »Aus Unter-London?«

»Ihre Leute«, sagte Hunter.

Richard war durchaus bereit, das zu glauben. Er dachte daran, die Luft anzuhalten, doch der Nebel wurde dicker. Der Boden wurde breiiger. »Ich versteh’ das nicht. Wieso habt ihr hier unten Nebel, und wir haben keinen?«

Door kratzte sich an der Nase. »Es gibt in London kleine Blasen der alten Zeit, in denen die Dinge und Orte sich nicht verändern, genau wie in den Blasen in Bernstein«, erklärte sie. »Es gibt eine Menge Zeit in London, und die muß schließlich irgendwohin – es wird nicht alles auf einmal verbraucht.«

»Vielleicht bin ich noch nicht wieder ganz klar im Kopf«, seufzte Richard. »Aber das machte beinahe Sinn.«



Der Abt wußte, daß der heutige Tag Pilger bringen würde. Dies Wissen stammte aus seinen Träumen; es umgab ihn wie die Finsternis. So wurde es ein Tag des Wartens, was, wie er wußte, eine Sünde war: der Augenblick wollte erlebt werden; Warten war eine Sünde, nicht nur wider die Zeit, die noch kommen würde, sondern auch wider den Augenblick, dem man gerade keine Beachtung schenkte.

Dennoch wartete er.

Jeden Gottesdienst des Tages, jede ihrer kärglichen Mahlzeiten verbrachte der Abt aufmerksam darauf lauschend, ob endlich die Glocke ertönte, ob er endlich erfahren würde, wer und wie viele es waren.

Er ertappte sich dabei, daß er auf einen sauberen Tod hoffte. Der letzte Pilger hatte noch fast ein Jahr überlebt, als sabberndes, schreiendes Etwas. Der Abt betrachtete seine Blindheit weder als Segen noch als Fluch: Sie war einfach da, aber dennoch war er dankbar gewesen, daß er das Gesicht der armen Kreatur nicht hatte sehen können. Bruder Jet, der sich um sie gekümmert hatte, wachte nachts immer noch schreiend mit ihrem verzerrten Gesicht vor Augen auf.

Am späten Nachmittag schlug die Glocke dreimal. Der Abt kniete gerade in der Kapelle und verharrte vor dem, was in die Obhut seines Ordens gegeben worden war. Er richtete sich auf, tastete sich zum Korridor und wartete dort.

»Vater?« Die Stimme gehörte Bruder Fuliginous.

»Wer bewacht die Brücke?« fragte der Abt ihn. Seine Stimme klang für einen alten Mann überraschend tief und melodiös.

»Bruder Sable«, kam die Antwort aus der Finsternis.

Der Abt streckte die Hand aus, ergriff den Ellenbogen des jungen Mannes und ging langsam neben ihm her durch die Korridore der Abtei.



Es war kein fester Boden mehr da und kein See. Sie wateten in dem gelben Nebel durch eine Art Sumpf. Es spritzte und matschte.

»Das ist ekelhaft«, sagte Richard. Es durchweichte seine Schuhe, drang in seine Socken und freundete sich viel intensiver mit seinen Zehen an, als Richard lieb war.

Vor ihnen ragte eine Brücke aus dem Sumpf, und eine schwarzgekleidete Gestalt wartete an ihrem Ende. Er trug die schwarze Tracht eines Dominikanermönchs. Seine Haut hatte die dunkle Farbe alten Mahagonis. Er war ein großer Mann, und er hatte einen hölzernen Stock in der Hand, der so groß war wie er selbst.

»Haltet ein!« rief er. »Sagt mir eure Namen und euren Rang.«

»Ich bin Lady Door«, sagte Door. »Ich bin Porticos Tochter, vom Hause Arch.«

»Ich bin Hunter. Ich bin ihre Leibwächterin.«

»Richard Mayhew«, sagte Richard. »Naß.«

»Und ihr wollt passieren?«

Richard trat vor. »Ja, so ist es. Wir sind wegen eines Schlüssels hier.«

Der Mönch sagte nichts. Er hob seinen Stock und stieß Richard damit sanft vor die Brust. Richard verlor den Halt, und er landete in dem schlammigen Wasser (oder, um einen Tick genauer zu sein, in dem wäßrigen Schlamm).

Der Mönch wartete einen Moment, um zu sehen, ob Richard sich erheben und zu kämpfen beginnen würde. Aber nein.

Hunter war es, die vortrat.

Richard rappelte sich aus dem Schlamm auf und verfolgte mit offenem Mund seinen ersten Stockkampf.

Der Mönch war gut. Er war größer als Hunter und, wie Richard vermutete, kräftiger. Hunter hingegen war schneller als der Mönch.

Die hölzernen Stöcke klickten und knallten im Nebel aufeinander.

Der Stock des Mönchs traf Hunter plötzlich in die Magengrube. Sie stolperte in den Schlamm. Er kam näher – zu nah, denn er erkannte, daß es ein Täuschungsmanöver gewesen war, und ihr Stock traf ihn heftig und präzise in die Kniekehlen, und seine Beine gaben nach.

»Genug!« rief eine Stimme von der Brücke.

Hunter trat einen Schritt zurück. Sie stand neben Richard und Door.

Der große Mönch erhob sich aus dem Schlamm. Seine Lippe blutete. Er verneigte sich tief vor Hunter und ging dann zum Fuß der Brücke.

»Wer ist das, Bruder Sable?« rief die Stimme.

»Lady Door, Lord Porticos Tochter vom Hause Arch; Hunter, ihre Leibwächterin, und Richard Mayhew Naß, ihr Begleiter«, sagte Bruder Sable durch seine aufgesprungenen Lippen. »Sie hat mich in einem fairen Kampf besiegt, Bruder Fuliginous.«

»Laß sie heraufkommen«, sagte die Stimme.

Hunter ging voran zur Brücke. Auf dem Scheitelpunkt der Brücke wartete ein weiterer Mönch auf sie: Bruder Fuliginous. Er war jünger und kleiner als der erste Mönch, den sie getroffen hatten, aber genauso gekleidet. Seine Haut war von einem tiefen, satten Braun.

Weitere schwarzgekleidete Gestalten standen kaum sichtbar im gelben Nebel. Weitere Black Friars, vermutete Richard.

Der zweite Mönch starrte die drei einen Moment lang an und sagte dann:

»Wenn ich den Kopf drehe, ist der Weg frei.

Dreh’ ich ihn wieder, kommt keiner vorbei.

Ein Gesicht hab’ ich nicht, doch Zähne durchaus.

Also – wer bin ich? Wer findet’s heraus?«

Door trat einen Schritt vor. Sie leckte sich die Lippen und schloß halb die Augen. »Wenn ich den Kopf drehe …«, sprach sie grübelnd vor sich hin. »Zähne durchaus … ist der Weg frei …« Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie blickte zu Bruder Fuliginous empor. »Ein Schlüssel«, sagte sie. »Die Antwort heißt: ein Schlüssel.«

»Sehr schlau«, sagte Bruder Fuliginous. »Damit seid ihr schon zwei Schritte weiter. Einer fehlt noch.«

Ein sehr alter Mann trat aus dem gelben Nebel und ging vorsichtig auf sie zu, wobei er sich mit seiner schwieligen Hand an der steinernen Brücke festhielt. Er blieb stehen, als er bei Bruder Fuliginous angekommen war. Seine Augen waren milchigweiß, vom grauen Star getrübt. Richard mochte ihn vom ersten Augenblick an.

»Wie viele sind es?« fragte er den jüngeren Mann mit tiefer und beruhigender Stimme.

»Drei, Vater Abt.«

»Und hat einer davon den ersten Pförtner besiegt?«

»Ja, Vater Abt.«

»Und hat einer davon dem zweiten Pförtner richtig geantwortet? «

»Ja, Vater Abt.«

»Also steht noch einem von ihnen die Bewährungsprobe bevor. Er oder sie soll jetzt vortreten.«

Door sagte: »Oh, nein.«

Hunter sagte: »Lassen Sie mich an seiner Stelle gehen. Ich werde die Bewährungsprobe machen.«

Bruder Fuliginous schüttelte den Kopf. »Das können wir nicht erlauben.«

Als Richard ein kleiner Junge war, hatte er mal auf einem Schulausflug ein Schloß in der Nähe seines Heimatortes besucht. Er war mit seiner Klasse die vielen Stufen bis zum höchsten Punkt des Schlosses hinaufgestiegen, einem teilweise verfallenen Turm. Während sie dort oben standen, erklärte ihnen der Lehrer die Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete.

Selbst in jenem Alter hatte Richard bereits Höhenangst gehabt. Er hatte sich an das Sicherheitsgeländer geklammert, die Augen zusammengekniffen und versucht, nicht hinunterzusehen.

Der Lehrer hatte ihnen erzählt, daß man von der Spitze des Turms bis zum Fuß des Berges, über dem er aufragte, hundert Meter tief stürzte. Und er hatte ihnen erklärt, daß ein Groschen, den man von der Turmspitze hinunterwarf, am Fuß des Berges genug Kraft hätte, um den Schädel eines Mannes zu durchschlagen.

In jener Nacht lag Richard im Bett und stellte sich den Groschen vor, wie er mit der Kraft einer Pistolenkugel oder eines Donnerkeils hinunterfiel. Er sah immer noch aus wie ein Groschen, doch im Fallen wurde er zur Mordwaffe …

Eine Bewährungsprobe.

Bei Richard fiel der Groschen. Ein spezieller Groschen.

»Moment mal«, sagte er. »Noch mal ganz von vorn. Hm-mm: Bewährungsprobe. Da steht jemandem eine Bewährungsprobe bevor. Jemandem, der sich nicht im Schlamm herumgeprügelt hat und der es nicht geschafft hat, das ›Mein-erster-Buchstabe-findet-sich-in-Robert,aber-nicht-in-Bett‹-Rätsel zu lösen …«

Er faselte Unsinn. Er hörte sich faseln, und es war ihm völlig egal.

»Diese Bewährungsprobe«, fragte er den Abt, »wie schwer ist die? Etwa so wie ein Besuch bei einer ziemlich übellaunigen älteren Verwandten oder eher so, als würde man die Hand in siedendes Wasser tauchen, um zu sehen, wie schnell die Haut abgeht?«

»Hier entlang«, sagte der Abt.

»Bei ihm sind Sie an der falschen Adresse«, sagte Door. »Nehmen Sie eine von uns.«

»Drei von euch sind gekommen. Es gibt drei Prüfungen. Jeder von euch absolviert eine Prüfung: So ist es gerecht«, sagte der Abt. »Wenn er die Bewährungsprobe besteht, kehrt er zu euch zurück.«

Eine leichte Brise lockerte den Nebel ein wenig auf. Die anderen dunklen Gestalten waren, wie Richard es sich gedacht hatte, weitere Black Friars. Jeder Mönch hielt eine Armbrust in den Händen. Jede Armbrust war auf Richard oder auf Hunter oder auf Door gerichtet. Sie schlossen die Reihen und schnitten Richard so von Hunter und Door ab.

»Wir suchen einen Schlüssel – «, sagte Richard.

»Ja«, sagte der Abt.

»Er ist für einen Engel«, erklärte Richard.

»Ja«, sagte der Abt. Er streckte eine Hand aus und fand Bruder Fuliginous’ Armbeuge.

Richard senkte die Stimme. »Hören Sie, einem Engel kann man doch keine Bitte abschlagen, besonders nicht als Mann Gottes wie Sie … Warum lassen wir die Sache mit der Bewährungsprobe nicht einfach aus? Wenn Sie mir den Schlüssel geben, sage ich den anderen, wir hätten die Prüfung gemacht.«

Der Abt begann, die Wölbung der Brücke hinabzugehen. An ihrem Fuß befand sich eine Tür, die offenstand. Richard folgte ihm. Manchmal kann man einfach nichts tun.

»Als unser Orden gegründet wurde, wurde uns der Schlüssel anvertraut. Er ist eine der heiligsten und mächtigsten Reliquien, die es gibt. Wir müssen ihn weitergeben, aber nur an denjenigen, der die Bewährungsprobe besteht und sich als würdig erweist.«

Richard hinterließ eine Spur nassen Schlamms auf dem Weg durch die gewundenen, engen Korridore.

»Wenn ich die Prüfung nicht bestehe, dann bekommen wir den Schlüssel nicht, oder?«

»Nein, mein Sohn.«

Richard dachte kurz darüber nach. »Könnte ich es ein zweites Mal probieren?«

»Eher nicht, mein Sohn«, sagte der Abt. »Wenn das geschehen sollte, bist du aller Wahrscheinlichkeit nach …«, er zögerte und sagte dann: »… jenseits von Gut und Böse. Aber sorge dich nicht, vielleicht bist du derjenige, dem der Schlüssel zufällt, hm?«

In seiner Stimme lag etwas gespenstisch Beruhigendes, das viel erschreckender war als jeder Versuch, Richard Angst zu machen.

»Sie würden mich umbringen?«

Der Abt starrte mit milchigblauen Augen geradeaus. Seine Stimme klang ein klein wenig vorwurfsvoll. »Wir sind heilige Männer«, sagte er. »Nein, die Bewährungsprobe bringt dich um.«

Sie gingen eine Treppe hinunter in einen niedrigen Raum, eine Art Krypta mit seltsam geschmückten Wänden.

»Jetzt«, sagte der Abt. »Lächeln!«

Ein elektrischer Kamerablitz zischte auf und blendete Richard für einen Moment. Als er wieder sehen konnte, hatte Bruder Fuliginous die abgenutzte Polaroidkamera wieder gesenkt und riß gerade das Foto heraus.

Der Mönch wartete, bis es fertig entwickelt war, und dann heftete er es an die Wand.

»Das hier sind die, die es vergeblich versucht haben«, seufzte der Abt. »Wir haben ihnen eine Wand gewidmet, damit keiner von ihnen vergessen wird. Auch das ist unsere Pflicht: Gedenken.«

Richard starrte die Gesichter an. Ein paar Polaroids; zwanzig oder dreißig andere Fotos, ein paar Gummidrucke und Daguerrotypien; und danach Bleistiftskizzen und Aquarelle und Miniaturen. Sie zogen sich an der ganzen Wand entlang. Die Mönche betrieben das schon seit geraumer Zeit.



Door schauderte. »Ich bin so dumm«, murmelte sie. »Das hätte ich wissen müssen. Schließlich sind wir zu dritt. Ich hätte nicht so voreilig sein dürfen.«

Hunters Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen. Sie hatte sich die Position eines jeden Mönchs, einer jeden Armbrust eingeprägt; sie hatte das Risiko berechnet, mit dem sie Door über die Brücke schaffen konnte: erstens unverletzt, zweitens leichtverletzt, und drittens, wenn sie selber schwere, Door aber nur leichte Verletzungen erleiden würde. Jetzt rechnete sie alles noch einmal nach. »Und was hätten Sie anders gemacht, wenn Sie es gewußt hätten?« fragte sie.

»Vor allem hätte ich ihn nicht hierher mitgenommen«, sagte Door. »Ich hätte den Marquis geholt.«

Hunter legte den Kopf zur Seite. »Trauen Sie ihm?« fragte sie direkt, und Door wußte, daß sie de Carabas meinte und nicht Richard.

»Ja«, sagte Door. »Mehr oder weniger.«

Door war seit gerade zwei Tagen fünf Jahre alt. Der Markt wurde an jenem Tag in den Gärten von Kew abgehalten, und ihr Vater hatte sie mitgenommen, als Geburtstagsgeschenk. Es war ihr erster Markt.

Sie befanden sich im Schmetterlingshaus, umgeben von leuchtendbunten Flügeln, irisierenden federleichten Dingern, die sie verzauberten und faszinierten, als ihr Vater sich neben sie kauerte.

»Door?« sagte er. »Dreh dich langsam um, und schau dort hinüber, zur Tür.«

Sie drehte sich um und sah hin. Ein dunkelhäutiger Mann in einem voluminösen Mantel, das schwarze Haar zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden, stand neben der Tür und redete mit zwei goldhäutigen Zwillingen, einem jungen Mann und einer jungen Frau. Die junge Frau weinte, wie Erwachsene weinen: Sie unterdrücken es, so sehr sie können, und hassen es, wenn es sich dennoch seinen Weg bahnt und sie dabei häßlich und komisch aussehen läßt.

Door wandte sich wieder den Schmetterlingen zu.

»Hast du ihn gesehen?« fragte ihr Vater.

Sie nickte.

»Das ist der Marquis de Carabas«, sagte er. »Er ist ein Lügner und Betrüger und vielleicht sogar so etwas wie ein Ungeheuer. Wenn du je in Not bist, geh zu ihm. Er wird dich beschützen, Mädchen. Er muß.«

Und Door schaute sich noch einmal nach dem Mann um. Er hatte den Zwillingen seine Hände auf die Schultern gelegt und führte sie aus dem Raum; doch er warf einen Blick über die Schulter zurück, als er ging, und er zwinkerte ihr zu.

Die Mönche, die sie umringten, wirkten im Nebel wie dunkle Geister. Door erhob die Stimme. »Verzeihung, Bruder«, rief sie Bruder Sable zu. »Wenn unser Freund, der gegangen ist, um den Schlüssel zu holen, scheitert, was geschieht dann mit uns?«

Er trat einen Schritt auf sie zu.

»Wir begleiten Sie hier heraus, und wir lassen Sie gehen. «

»Was ist mit Richard?« fragte sie.

Sie sah, wie er unter seiner Kapuze den Kopf schüttelte, traurig, endgültig.

»Ich hätte den Marquis mitnehmen sollen«, sagte Door; und sie fragte sich, wo er war und was er gerade tat.



Der Marquis de Carabas wurde gerade auf einem großen x-förmigen Holzgebilde gekreuzigt, das Mr. Vandemar aus ein paar alten Paletten, dem Teil eines Stuhls, einem Holztor und etwas, das offenbar ein Wagenrad war, zusammengebastelt hatte. Außerdem hatte er eine große Schachtel rostiger Nägel zu Hilfe genommen. Mr. Vandemar stand auf einer Leiter und zog die ganze Vorrichtung hoch.

»Ein bißchen höher«, rief Mr. Croup, der unten auf der Erde stand. »Ein bißchen nach links. Ja. Genau. Wunderbar. «

Es war schon sehr lange her, seit sie das letzte Mal jemanden gekreuzigt hatten.

Die Arme und Beine des Marquis de Carabas waren zu einem breiten X gespreizt. Nägel steckten in seinen Händen und Füßen. Um seine Mitte war ein Seil gebunden. Er war bewußtlos.

Das ganze Gebilde baumelte, von mehreren Seilen gehalten, in der Luft, dort, wo sich früher einmal die Kantine des Krankenhauses befunden hatte.

Mr. Croup hatte am Boden einen großen Berg scharfer Gegenstände zusammengetragen: von Rasierern und Küchenmessern bis zu herrenlosen Skalpellen und Lanzetten und ein paar interessanten Sachen, die Mr. Vandemar in der ehemaligen zahnärztlichen Abteilung gefunden hatte. Es war sogar ein Schürhaken aus dem Heizraum darunter.

»Warum schauen Sie nicht mal nach, wie es ihm geht, Mister Vandemar?« fragte er.

Mr. Vandemar streckte seinen Hammer aus und hob damit das Kinn des Marquis an.

Die Lider des Marquis zitterten und öffneten sich. Er holte tief Luft und spuckte Mr. Croup einen Klumpen scharlachroten Blutes ins Gesicht.

»Wie unartig«, sagte Mr. Croup streng. In Wirklichkeit war er recht erfreut.

Wurfübungen machen viel mehr Spaß, wenn das Ziel wach ist.



Der Kessel brodelte heftig. Richard betrachtete das kochende Wasser und fragte sich, was sie wohl damit anstellen würden. Seine Fantasie hatte mit Leichtigkeit alle möglichen Antworten parat.

Keine davon war richtig.

Das kochende Wasser wurde in eine Kanne geschüttet, und Bruder Fuliginous fügte drei Löffel Teeblätter hinzu. Die sich daraus ergebende Flüssigkeit wurde aus der Kanne durch ein Teesieb in drei Porzellantassen gegossen.

Der Abt hob seinen Kopf, sog die Luft ein und lächelte. »Der erste Teil der Bewährungsprobe«, sagte er, »ist eine schöne Tasse Tee. Nimmst du Zucker?«

»Nein danke«, sagte Richard mißtrauisch.

Bruder Fuliginous goß ein wenig Milch in den Tee und reichte Richard eine Tasse mit Untertasse.

»Ist er vergiftet?« fragte Richard.

Der Abt sah beinahe beleidigt aus. »Gute Güte, nein.«

Richard nippte an dem Tee, der mehr oder weniger genau wie Tee schmeckte. »Aber es gehört zur Prüfung?«

Bruder Fuliginous nahm die Hände des Abts und legte sie um eine Tasse Tee.

»In gewisser Weise. Wir servieren den Suchenden immer gern eine Tasse Tee, bevor sie beginnen. Für uns gehört das zur Prüfung. Für dich nicht.« Der Abt nippte an seinem Tee, und ein glückseliges Lächeln breitete sich auf seinem uralten Gesicht aus. »Ziemlich guter Tee, alles in allem.«

Richard setzte seine Teetasse ab. »Hätten Sie dann etwas dagegen«, fragte er, »wenn wir jetzt einfach mit der Prüfung weitermachen würden?«

»Keineswegs«, sagte der Abt. »Keineswegs.«

Er stand auf. Die drei gingen zu einer Tür am entgegengesetzten Ende des Raums.

»Gibt es … «, Richard zögerte und versuchte, sich zu entscheiden, was er fragen wollte. Dann sagte er: »Gibt es irgend etwas, das Sie mir über die Prüfung sagen können? «

Der Abt schüttelte den Kopf.

Es gab wirklich nichts zu sagen: Er pflegte den Suchenden zur Tür zu geleiten. Und dann wartete er ein oder zwei Stunden. Danach ging er wieder hinein und holte die Überreste des Suchenden aus der Kapelle und bestattete sie in der Gruft. Und manchmal war einer noch nicht tot, obwohl man das, was von ihm übrig war, auch nicht lebendig nennen konnte. Und für diese Unglücklichen sorgten die Black Friars, so gut sie eben konnten.

»Na gut«, sagte Richard. Und er lächelte. »Also dann: Macduff, voran.«

Bruder Fuliginous zog die Bolzen an der Tür zurück. Sie knallten wie zwei Schüsse. Er zog die Tür auf.

Richard trat hindurch.

Bruder Fuliginous stieß die Tür hinter ihm zu und verriegelte sie wieder.

Er geleitete den Abt zu seinem Stuhl zurück und gab dem alten Mann die Teetasse wieder in die Hand. Der Abt nippte schweigend an seinem Tee. Und dann sagte er: »Eigentlich heißt es ›Macduff, stoß zu‹. Aber ich hab’ es nicht übers Herz gebracht, ihn zu verbessern. Er klang wie ein sehr netter junger Mann.«


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