Kapitel Dreizehn

Der Engel Islington hatte einen dunklen und stürmischen Traum.

Riesige Wogen stiegen empor und schlugen über der Stadt zusammen; von einem Horizont zum andern zerrissen Blitze den Himmel; der Regen fiel, die Stadt erzitterte; Feuer brach in der Nähe des großen Amphitheaters aus. Islington blickte von hoch oben darauf hinab, er schwebte in der Luft, wie man es in Träumen tut, wie er es in jenen längst vergangenen Tagen getan hatte. Es gab Gebäude in dieser Stadt, die viele hundert Meter hoch waren, doch vor den grünen Wogen des Atlantiks wirkten sie winzig klein.

Und dann hörte er die Menschen schreien.

Vier Millionen Menschen lebten in Atlantis. Und in seinem Traum hörte Islington jede einzelne Stimme, klar und deutlich, als sie schrien und erstickten und verbrannten und starben.

Die Wogen verschluckten die Stadt, und der Sturm legte sich wieder.

Beim Morgengrauen gab es keine Anzeichen mehr dafür, daß es dort je eine Stadt gegeben hatte. Nichts als die vom Wasser aufgeblähten Leiber von Kindern, von Frauen und von Männern, die auf den kalten Morgenwellen trieben; Leiber, an denen die grauweißen Möwen bereits mit ihren grausamen Schnäbeln zu picken begannen.

Und Islington erwachte.

Er stand neben der großen schwarzen Tür aus Feuerstein und angelaufenem Silber. Er berührte die kalte Glätte des Feuersteins, die Kühle des Metalls.

Er berührte den Tisch. Er fuhr flüchtig mit den Fingern über die Wände.

Dann durchschritt er die Gemächer seines Saals, eins nach dem anderen, und berührte alle möglichen Gegenstände.

Beim Gehen folgte er Mustern, glatten Rinnen, die seine nackten Füße im Laufe der Jahrhunderte im Fels hinterlassen hatten. Als er beim Felsbecken angekommen war, blieb er stehen. Er kniete nieder und berührte mit den Fingern das Wasser.

Es kräuselte sich. Die Spiegelungen im Becken, die den Engel und die Kerzenflammen, die ihn umrahmten, zeigten, gerieten schimmernd in Bewegung und verformten sich.

Er blickte in einen Keller.

Der Engel konzentrierte sich einen Augenblick lang. Irgendwo in der Ferne hörte er ein Telefon klingeln. Mr. Croup ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Er sah reichlich selbstzufrieden aus. »Croup und Vandemar«, bellte er. »Im Angebot: Augen ausstechen, Nasen zerschlagen, Zungen durchbohren, Kinne spalten und Kehlen durchschneiden.«

»Mister Croup«, sagte der Engel. »Sie haben jetzt den Schlüssel. Ich will, daß das Mädchen namens Door auf ihrem Weg zu mir zurück nicht zu Schaden kommt.«

»Nicht zu Schaden kommt«, wiederholte Mr. Croup unbeeindruckt. »Gut. Wir passen auf, daß sie nicht zu Schaden kommt. Was für eine glänzende Idee – sehr originell. Wirklich erstaunlich. Die meisten Menschen würden Mörder für Exekutionen engagieren, für hinterhältige Morde, sogar für abscheuliche Massaker. Nur Sie, Sir, beauftragen die beiden besten Killer in Zeit und Raum, aufzupassen, daß einem kleinen Mädchen nichts zustößt.«

»Es ist mein Ernst, Mister Croup. Ihr darf kein Leid geschehen. Wenn Sie ihr irgend etwas antun, bekommen Sie es mit mir zu tun. Verstanden?«

»Ja.«

»Gibt es sonst noch etwas?« fragte Islington.

»Ja, Sir.« Croup hustete in seine Hand. »Erinnern Sie sich noch an den Marquis de Carabas?«

»Gewiß.«

»Ich vermute, die Auslöschung des Marquis ist nicht mit einem derartigen Verbot belegt … ?«

»Nein«, sagte der Engel. »Hauptsache, Sie beschützen das Mädchen.«

Er zog die Hand aus dem Wasser. Jetzt spiegelten sich nur noch Kerzenflammen und ein Engel darin wider.

Und dann stand der Engel Islington auf und kehrte gemessenen Schritts in seine inneren Gemächer zurück, um auf seine Gäste zu warten.



»Was hat er gesagt?« fragte Mr. Vandemar.

»Er hat gesagt, Mister Vandemar, daß wir mit dem Marquis verfahren können, wie es uns beliebt.«

Vandemar nickte. »Einschließlich ihn auf quälend schmerzhafte Weise umbringen?«

»Ja, Mister Vandemar, das will ich meinen.«

»Das ist gut, Mister Croup. Würde mir ungern noch so eine Standpauke anhören.« Er blickte zu dem blutigen Etwas hoch, das über ihnen hing. »Dann sollten wir besser die Leiche loswerden.«



Eines der Vorderräder des Einkaufswagens quietschte und zog beharrlich nach links. Mr. Vandemar war auf einer mit Gras zugewachsenen Verkehrsinsel in der Nähe des Krankenhauses auf den Einkaufswagen gestoßen. Er hatte, wie ihm auf den ersten Blick aufgefallen war, genau die richtige Größe für einen Leichentransport. Mr. Vandemar hätte die Leiche natürlich auch tragen können; aber dann hätte sie ihn vielleicht vollgeblutet oder mit anderen Flüssigkeiten besudelt. Und er besaß nur den einen Anzug.

Daher schob er den Einkaufswagen mit der Leiche des Marquis de Carabas darin den Abwasserkanal entlang, und die Karre machte quietsch, quietsch und zog nach links.

Er wünschte, zur Abwechslung würde Mr. Croup den Wagen einmal schieben.

Doch Mr. Croup redete. »Wissen Sie, Mister Vandemar«, sagte er, »gegenwärtig bin ich zu entzückt, zu beglückt, um nicht zu sagen zu trunken vor Freude, um zu meckern, maulen oder murren – nachdem wir endlich tun durften, was wir am besten können – «

Mr. Vandemar passierte eine besonders diffizile Ecke. »Jemanden umbringen, meinen Sie?« fragte er.

Mr. Croup strahlte. »Jemanden umbringen meine ich in der Tat, Mister Vandemar, Sie tapfere Seele, Sie prächtiger, edler Gesell’. Dennoch dürfte Ihnen mittlerweile aufgefallen sein, daß unter meinem frohen, glückseligen und munteren Gehabe ein düsteres ›Aber‹ lauert. Eine winziger Störfaktor, wie ein klitzekleiner Brocken roher Leber, der in meinem Stiefel klebt. Sie, davon bin ich überzeugt, sagen sich sicherlich: ›In Mister Croups Brust ist nicht alles zum Besten bestellt. Ich werde ihn dazu bringen, sich mir zu eröffnen.‹«

Dies ließ sich Mr. Vandemar durch den Kopf gehen, während er die runde Eisentür zwischen dem Abwasserkanal und dem nächsten Siel mit roher Gewalt öffnete und hindurchkletterte. Anschließend zog er den Einkaufswagen mit der Leiche des Marquis de Carabas durch die Tür. Und dann sagte er, da er sich mehr oder weniger sicher war, daß er niemals auf eine derartige Idee gekommen wäre: »Nein.«

Mr. Croup ignorierte dies und fuhr fort: »… Und wenn ich dann auf Ihr Flehen hin preisgeben würde, was mich so verstimmt, müßte ich bekennen, daß die Notwendigkeit, unser Licht unter den Scheffel zu stellen, meine Seele verdrießt. Wir sollten die traurigen Überreste des ehemaligen Marquis an den höchsten Galgen Unter-Londons hängen. Und sie nicht wegwerfen wie eine gebrauchte …«

Er hielt inne und suchte nach dem passenden Vergleich.

»Ratte?« schlug Mr. Vandemar vor. »Kohlmeise? Milz?«

Mr. Croup gefiel nichts davon. »Wie auch immer«, sagte er.

Vor ihnen befand sich ein tiefer Kanal mit braunem Wasser. Auf der Wasseroberfläche trieben schmutzigweiße Schaumflocken, gebrauchte Kondome und der eine oder andere Fetzen Toilettenpapier.

Mr. Vandemar hielt den Einkaufswagen an.

Mr. Croup beugte sich hinab. Er hob den Kopf des Marquis an den Haaren hoch und zischte in sein totes Ohr: »Je schneller diese Angelegenheit erledigt ist, desto besser. Es gibt andere Zeiten und andere Orte, an denen zwei Paar Hände, die mit dem Garrottierdraht und dem Tranchiermesser umzugehen wissen, durchaus willkommen sind.«

Dann stand er auf. »Gute Nacht, mein guter Marquis. Vergessen Sie nicht, zu schreiben.«

Mr. Vandemar kippte den Einkaufswagen um, und die Leiche des Marquis rollte heraus und klatschte in das braune Wasser unter ihnen.

Und anschließend schob Mr. Vandemar den Einkaufswagen ebenfalls in den Abwasserkanal und sah zu, wie die Strömung ihn forttrug.

Dann hielt Mr. Croup seine Lampe hoch, und er schaute dort, wo sie standen, in die Höhe.

»Es macht einen richtig traurig, wenn man sich überlegt«, sagte Mr. Croup, »daß da oben auf den Straßen Menschen herumlaufen, die die Schönheit dieser Siele niemals kennenlernen werden, Mister Vandemar. Diese Backsteinkathedralen unter ihren Füßen.«

»Wahre Handwerkskunst«, stimmte Mr. Vandemar zu.

Sie kehrten dem braunen Wasser den Rücken zu und machten sich wieder auf den Weg in die Tunnel.

»Mit den Städten ist es so wie mit den Menschen, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup affektiert. »Der Zustand ihrer Eingeweide ist von entscheidender Bedeutung.«



Door hängte sich den Schlüssel an einem Bindfaden, den sie in einer der Taschen ihrer Lederjacke gefunden hatte, um den Hals.

»Da ist er nicht sicher«, sagte Richard. Das Mädchen schnitt eine Grimasse.

»Na ja«, sagte er. »Ist er wirklich nicht.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Also gut«, sagte sie. »Ich werde mir eine Kette dafür besorgen, wenn wir auf dem Markt sind.«

Sie liefen durch ein Labyrinth von in Kalkstein geschlagenen Höhlen und tiefen Tunnels, das auf Richard einen fast schon prähistorischen Eindruck machte.

Er lachte leise.

»Was ist so lustig?« fragte Door.

Er grinste. »Ich dachte nur gerade daran, was der Marquis wohl für ein Gesicht machen wird, wenn wir ihm erzählen, daß wir den Schlüssel ohne seine Hilfe von den Mönchen bekommen haben.«

»Ich bin sicher, ihm fällt dazu irgendein sardonischer Spruch ein«, erwiderte sie. »Und dann geht’s zurück zum Engel. Auf dem ›langen und gefährlichen Weg‹. Was immer das ist.«

Richard war kurz davor, zu sagen: »Ich bin sicher, es ist lang und es ist gefährlich«, doch er schluckte es wieder hinunter. Statt dessen bewunderte er die Höhlenmalereien an den Wänden. In Rostbraun- und Ocker- und Sienatönen waren angreifende Eber und flüchtende Gazellen dargestellt, wollige Mastodone und riesige Faultiere: Er war der Meinung, die Gemälde müßten schon Tausende von Jahren alt sein, doch dann bogen sie um eine Ecke, und dort stieß er auf im gleichen Stil gemalte Lastwagen, Hauskatzen, Autos und – merklich schlechter ausgeführt als die anderen Motive, als hätte der Künstler sie nur selten und aus weiter Entfernung gesehen – Flugzeuge.

Keines der Gemälde war sehr weit vom Boden entfernt. Er fragte sich, ob die Maler zu einer Rasse unterirdischer Neandertaler-Pygmäen gehörten. Das war immerhin ebenso wahrscheinlich wie alles andere in dieser seltsamen Welt.

»Und wo ist der nächste Markt?« fragte er.

»Keine Ahnung«, antwortete Door. »Hunter?«

Hunter glitt aus dem Schatten hervor. »Ich weiß es nicht.«

Eine kleine Gestalt schoß an ihnen vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Kurze Zeit später kamen zwei weitere winzige Gestalten in einem mörderischen Tempo auf sie zu.

Hunter ließ eine Hand vorschnellen, als sie vorbeiliefen und erwischte einen kleinen Jungen am Ohr.

»Au!« sagte er, wie kleine Jungs es tun. »Laß los! Sie hat meinen Pinsel geklaut!«

»Stimmt«, sagte eine piepsige Stimme ein Stück den Gang hinunter. »Das hat sie.«

»Hab’ ich nicht«, ertönte eine noch höhere und piepsigere Stimme noch weiter den Gang hinunter.

Hunter deutete auf die Gemälde an der Höhlenwand. »Habt ihr die gemacht?« fragte sie.

Der Kleine trug die maßlose Überheblichkeit zu Schau, die man nur bei den allergrößten Künstlern und allen neunjährigen Jungen findet. »Ja«, sagte er trotzig. »Ein paar davon.«

»Nicht schlecht«, sagte Hunter.

Der Junge funkelte sie wütend an.

»Wo ist der nächste Wandermarkt?« fragte Door.

»Belfast«, sagte der Junge. »Heute nacht.«

»Danke«, sagte Door. »Ich hoffe, du kriegst deinen Pinsel wieder. Lassen Sie ihn los, Hunter.«

Hunter ließ das Ohr des Jungen los.

Er rührte sich nicht. Er musterte sie von oben bis unten, dann zog er ein Gesicht, um auszudrücken, daß er vollkommen unbeeindruckt war. »Sie sind Hunter?« fragte er.

Sie lächelte bescheiden zu ihm herab. Er schniefte. »Sie sind die beste Leibwächterin der Unterseite?«

»So sagt man.«

Die Hand des Jungen schoß nach hinten und dann wieder vor, in einer einzigen fließenden Bewegung. Verdutzt hielt er inne und öffnete die Faust, untersuchte seine Handfläche. Dann schaute er verwirrt zu Hunter empor.

Hunter hatte ein kleines Schnappmesser mit einer gefährlichen Klinge in der Hand. Sie hielt es so hoch, daß der Junge es nicht erreichen konnte.

Er rümpfte die Nase. »Wie haben Sie das gemacht?« »Verdufte«, sagte Hunter.

Sie klappte das Messer zusammen und warf es dem Jungen zu, der ohne sich noch einmal umzuschauen den Gang hinunterlief, auf der Jagd nach seinem Pinsel.



Der Körper des Marquis de Carabas trieb mit dem Gesicht nach unten das tiefe Siel entlang gen Osten.

Die Abwasserkanäle Londons haben ihr Leben als Flüsse und Bäche begonnen, die vom Norden bis zum Süden in die Themse strömten. Dieses System hatte viele Jahre lang einigermaßen funktioniert, bis 1858 die Abwassermenge, die die Menschen und Betriebe Londons produzierten, in Verbindung mit einem ziemlich heißen Sommer ein Phänomen hervorbrachte, das damals der Große Gestank genannt wurde. Die Menschen, die London verlassen konnten, taten dies; diejenigen, die blieben, wickelten sich mit Karbol getränkte Lappen ums Gesicht und versuchten, nicht durch die Nase zu atmen.

Das Parlament war Anfang 1858 gezwungen, seine Arbeit einzustellen, und im folgenden Jahr verordnete es ein Programm zum Bau einer Kanalisation. Die Abwasserkanäle, insgesamt Tausende von Kilometern lang, wurden mit einer sanften Neigung von Westen nach Osten angelegt, und irgendwo hinter Greenwich wurden die Abwässer in die Mündung der Themse gepumpt und ins Meer gespült.

Diesen Weg nahm jetzt der Körper des toten Marquis de Carabas, von Westen nach Osten, auf den Sonnenaufgang und die Kläranlage zu.

Von einem hohen Backsteinsims aus sahen Ratten, die gerade mit Dingen beschäftigt waren, die Ratten tun, wenn kein Mensch sie beobachtet, den Körper vorübertreiben.

Die größte von ihnen, ein großes schwarzes Männchen, quiekte.

Ein kleineres braunes Weibchen quiekte zurück, dann sprang sie von dem Sims auf den Rücken des Marquis und ritt ein Stückchen auf ihm, schnüffelte an seinen Haaren und dem Mantel, kostete das Blut und beugte sich dann gefährlich weit vor, um zu inspizieren, was von dem Gesicht zu sehen war.

Sie hüpfte von dem Kopf ins schmutzige Wasser und schwamm emsig ans Ufer, wo sie die glitschigen Backsteine hinaufkletterte.

Dann eilte sie auf einem Balken zurück und gesellte sich wieder zu ihren Begleitern.



»Belfast?« fragte Richard.

Door lächelte spitzbübisch und sagte nur: »Du wirst schon sehen«, als er versuchte, ihr mehr darüber zu entlocken.

Er probierte es anders. »Woher weißt du, daß der Junge, was den Markt angeht, die Wahrheit gesagt hat?« fragte er.

»Darüber erzählt man hier unten einfach keine Lügen. Ich … glaube, bei dem Thema können wir gar nicht lügen. « Sie zögerte. »Der Markt ist etwas Besonderes.«

»Woher wußte der Junge, wo er stattfindet?«

»Jemand hat es ihm gesagt«, sagte Hunter.

Richard grübelte einen Augenblick darüber nach. »Woher wußte der es?«

»Jemand hat es ihm gesagt«, erklärte Door.

»Aber …« Er fragte sich, wer überhaupt die Veranstaltungsorte aussuchte, wie die Information verbreitet wurde …

Eine volltönende Frauenstimme fragte aus der Dunkelheit: »Hss. Wißt ihr, wo der nächste Markt ist?«

Sie trat ins Licht. Sie trug Silberschmuck, und ihr dunkles Haar war perfekt frisiert. Sie war sehr blaß, und ihr langes Kleid war aus pechschwarzem Samt.

Richard wußte sofort, daß er sie schon einmal gesehen hatte, aber es dauerte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, wo: auf dem ersten Wandermarkt, genau: bei Harrods. Sie hatte ihm zugelächelt.

»Heute nacht«, sagte Hunter. »Belfast.«

»Danke«, sagte die Frau. Ihre Augen waren wirklich unglaublich, dachte Richard. Sie hatten die Farbe von Fingerhut. »Bis dann«, sagte sie, und sie schaute Richard an, als sie das sagte. Dann wandte sie schüchtern den Blick ab.

Sie trat in den Schatten, und weg war sie.

»Wer war das?« fragte Richard.

»Sie nennen sich Velvets«, sagte Door. »Am Tage schlafen sie hier unten, und nachts gehen sie auf der Oberseite spazieren.«

»Sind sie gefährlich?« fragte Richard.

»Jeder ist gefährlich«, erwiderte Hunter.

»Hört mal«, sagte Richard. »Um nochmal auf den Markt zurückzukommen. Wer entscheidet, wo er abgehalten wird und wann? Und wie erfahren die ersten davon? «

Hunter zuckte mit den Schultern.

»Door?« fragte er.

»Darüber habe ich nie nachgedacht.«

Sie bogen um eine Ecke.

Door hielt ihre Lampe hoch. »Gar nicht schlecht«, sagte sie. »Und dazu noch schnell«, sagte Hunter. Sie berührte das Gemälde an der Felswand mit der Fingerspitze. Die Farbe war noch feucht.

Es war ein Gemälde von Hunter und Door und Richard. Es war nicht besonders schmeichelhaft.



Die schwarze Ratte betrat ehrerbietig den Bau der Goldenen, den Kopf gesenkt und die Ohren angelegt.

Fiepend und keckernd schob sie sich vorwärts.

Die Goldenen hatten ihren Bau in einem Knochenhaufen errichtet. Dieser Knochenhaufen hatte einmal einem wolligen Mammut gehört, damals, in den kalten Zeiten, als diese großen, behaarten Tiere über die verschneite Tundra im Süden Englands spazierten, als ob, fanden die Goldenen, sie ihnen allein gehörte.

Dieser spezielle Mammut jedenfalls war von den Goldenen ziemlich gründlich und endgültig eines Besseren belehrt worden.

Die schwarze Ratte verbeugte sich am Fuße des Knochenhaufens. Dann legte sie sich mit dargebotener Kehle auf den Rücken, schloß die Augen und wartete.

Nach einer Weile teilte ihr ein Quieken von oben mit, daß sie sich wieder umdrehen konnte.

Einer der Goldenen krabbelte aus dem Mammutschädel oben auf dem Knochenhaufen. Er lief den uralten elfenbeinernen Stoßzahn entlang – eine Ratte mit goldenem Fell und kupferfarbenen Augen, so groß wie eine große Hauskatze.

Die schwarze Ratte sprach. Der Goldene dachte kurz nach und quiekte einen Befehl. Die schwarze Ratte rollte sich auf den Rücken und bot wieder einen Augenblick lang ihre Kehle dar. Dann ein Wuseln und Zappeln, und schon war sie unterwegs.

Natürlich hatten auch schon vor dem Großen Gestank Sielmenschen in den elisabethanischen Abwasserkanälen gewohnt, in den Abwasserkanälen der Restauration, in den Regency-Abwasserkanälen, während mehr und mehr Wasserwege Londons in Rohre und überdachte Gänge gezwängt wurden, während die wachsende Bevölkerung immer mehr Schmutz, mehr Müll, mehr Abwässer produzierte; doch erst nach dem Großen Gestank, nach dem großen viktorianischen Kanalisationsbauprogramm, begannen sie wirklich eine Rolle zu spielen.

Man fand sie überall an den Abwässerkanälen, doch ihr Zuhause hatten sie in einigen der kirchenähnlichen Backsteingruften im Osten, dort, wo viele schaumgekrönte Gewässer zusammenflossen. Dort saßen sie dann, Angelruten und Netze und selbst gebastelte Haken neben sich, und beobachteten die braune Wasseroberfläche.

Die Sachen, die sie trugen – braune und grüne Sachen – , waren mit einer dicken Schicht von etwas bedeckt, das Schimmel gewesen sein mochte oder irgendein petrochemischer Schlamm oder, was durchaus denkbar gewesen wäre, etwas viel Schlimmeres. Sie trugen ihr Haar lang und verfilzt. Sie rochen mehr oder weniger so, wie man es sich vorstellt.

Alte Sturmlaternen hingen überall im Tunnel. Niemand wußte, was die Sielmenschen als Brennstoff benutzten, aber ihre Laternen brannten mit einer ziemlich abscheulichen blaugrünen Flamme.

Wie die Sielmenschen sich untereinander verständigten, war nicht bekannt. Bei ihren seltenen Kontakten mit der Außenwelt bedienten sie sich einer Art Gebärdensprache. Sie lebten in einer Welt des Gurgelns und Tröpfelns, die Männer, die Frauen und die stillen kleinen Sielkinder.

Dunnikin entdeckte etwas im Wasser. Er war der Anführer der Sielmenschen, der Weiseste und Älteste. Er kannte die Siele besser als ihre Erbauer. Dunnikin griff nach einem langen Garnelennetz; eine geübte Handbewegung, und er fischte ein ziemlich mitgenommenes Mobiltelefon aus dem Wasser. Er ging hinüber zu einem kleinen Haufen Müll in der Ecke und legte das Telefon zum Rest des Fangs. Die heutige Ausbeute bestand bisher aus: zwei nicht zusammenpassenden Handschuhen, einem Schuh, einem Katzenschädel, einer Ausgabe von Fiesta, einem aufgeweichten Päckchen Zigaretten, einer Beinprothese, einem toten Cockerspaniel, einem Geweih (präpariert) und der unteren Hälfte eines Kinderwagens.

Es war kein guter Tag gewesen. Und heute war Marktnacht. Dunnikin behielt das Wasser im Auge. Man konnte nie wissen, was noch kommen würde.



Old Bailey hängte seine Wäsche zum Trocknen auf. Sie flatterte und wehte im Wind oben auf dem Centre Point. Vom Centre Point an sich hielt Old Bailey nicht viel, aber, wie er oft den Vögeln sagte, der Blick von oben war unvergleichlich. Der Wind riß Federn von Old Baileys Mantel und blies sie fort über London. Es machte ihm nichts aus. Wie er ebenfalls oft seinen Vögeln sagte: Wo die herkamen, gab es noch mehr. Eine große schwarze Ratte krabbelte durch eine zerborstene Lüftungsklappe, schaute sich um und kam dann zu Old Baileys von Vögeln besudeltem Zelt herüber. Sie lief am Zelt hoch und Old Baileys Wäscheleine entlang. Sie quiekte ihn aufgeregt an.

»Langsamer, langsamer«, sagte Old Bailey. Die Ratte wiederholte, was sie gesagt hatte, mit etwas tieferer Stimme und langsamer. »Du lieber Gott«, sagte Old Bailey.

Er lief ins Zelt und kehrte mit Waffen zurück – seiner Röstgabel und einer Kohlenschaufel. Dann eilte er wieder hinein und kam mit ein paar Tauschobjekten zurück. Und dann trat er noch einmal ins Zelt, öffnete seine Holztruhe und steckte das Silberkästchen in die Tasche.

»Ich habe wirklich keine Zeit für solchen Unsinn«, sagte er zu der Ratte, als er zum letzten Mal aus dem Zelt kam. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Vögel fangen sich nicht von selber, mußt du wissen.«

Die Ratte fiepte ihn an.

Old Bailey löste das Seil, das um seinen Leib gewickelt war. »Schließlich«, erklärte er der Ratte, »könnte ja auch jemand anders die Leiche holen. Ich bin eben nicht mehr der Jüngste. Ich mag die Unterorte nicht. Ich bin ein Dachmann, und zwar mit Leib und Seele.«

Die Ratte machte ein unhöfliches Geräusch.

»Eile mit Weile«, erwiderte Old Bailey. »Ich geh’ ja schon. Du Dreikäsehoch. Ich kannte schon deinen Ururgroßvater, Bürschchen, also bild dir bloß nichts ein … Nun denn, wo ist der Markt?«

Die Ratte sagte es ihm. Dann steckte er sie in seine Tasche und kletterte über den Rand des Gebäudes.



Als er so auf dem Sims neben dem Abwasserkanal saß, auf seinem Plastikgartenstuhl, überkam Dunnikin eine Vorahnung von Reichtum und Wohlstand. Er spürte, wie sie von Westen nach Osten trieb, auf sie zu.

Er klatschte laut in die Hände. Andere Männer kamen zu ihm gelaufen, und die Frauen und die Kinder, und im Laufen schnappten sie sich Haken und Netze. Sie reihten sich auf dem schmuddeligen Sims auf, in dem flackernden grünen Licht des Siels.

Dunnikin zeigte auf etwas, und sie warteten, schweigend, wie die Sielmenschen eben warten.

Die Leiche des Marquis des Carabas wurde mit dem Gesicht nach unten den Abwasserkanal entlanggetrieben. Die Strömung trug ihn so langsam und feierlich voran wie eine Beerdigungsbarkasse.

Schweigend holten sie ihn mit ihren Haken und ihren Netzen heran, und schon bald hatten sie ihn auf den Sims gehievt. Sie zogen ihm den Mantel und die Stiefel aus und nahmen sich, was er in den Manteltaschen hatte. Den Rest der Kleidung ließen sie jedoch an der Leiche.

Dunnikin strahlte angesichts einer solchen Beute. Er klatschte noch einmal, und die Sielmenschen begannen sich für den Markt bereitzumachen. Jetzt hatten sie wirklich etwas zu verkaufen.



»Bist du sicher, daß der Marquis auf dem Markt ist?« fragte Richard Door, als der Weg langsam anzusteigen begann.

»Er läßt uns nicht im Stich«, sagte sie so zuversichtlich sie konnte. »Ich bin sicher, er wird da sein.«


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