Prolog

Der Abend, bevor Richard nach London fuhr, war nicht besonders gelungen.

Anfangs hatte er sich noch gut amüsiert: Es hatte ihm Spaß gemacht, die Abschiedskarten zu lesen und sich von mehreren nicht gerade unattraktiven, jungen Damen seiner Bekanntschaft umarmen zu lassen; er hatte sich über die Warnungen vor den Nachteilen und Gefahren Londons gefreut und über einen weißen Regenschirm mit dem Plan des Londoner U-Bahn-Netzes darauf, für den seine Freunde zusammengelegt hatten; die ersten paar Gläser Bier waren ihm noch bestens bekommen, doch dann stellte er fest, daß er sich mit jedem folgenden Glas Bier bedeutend weniger gut amüsierte; bis er nun zitternd auf dem Bürgersteig vor dem Pub saß, die Vor- und Nachteile des Sich-Übergebens und Sich-nicht-Übergebensgegeneinander abwog und sich gar nicht mehr amüsierte.

Im Pub feierten Richards Freunde weiter seine bevorstehende Abreise, mit einer Begeisterung, die Richards Meinung nach schon an Bösartigkeit grenzte.

Angestrengt hielt er sich an dem zusammengerollten Regenschirm fest und fragte sich, ob es wirklich so eine gute Idee sei, nach London zu gehen.

»Paß lieber auf«, sagte eine brüchige alte Stimme. »Die scheuchen dich hier weg, bevor du weißt, wie dir geschieht. Tät mich auch nicht wundern, wenn sie dich gleich einbuchten.« Zwei stechende Augen starrten ihn aus einem vogelartigen, schmutzigen Gesicht an. »Alles in Ordnung?«

»Ja, danke«, sagte Richard.

Das schmutzige Gesicht wurde weicher.

»Hier, armer Jung’«, sagte sie und drückte Richard ein Fünfzig-Pence-Stück in die Hand. »Wie lange bist du denn schon auf der Straße?«

»Ich bin nicht obdachlos«, erklärte Richard verlegen und versuchte, der alten Frau ihre Münze zurückzugeben. »Bitte – nehmen Sie Ihr Geld. Es geht mir gut. Ich bin nur rausgegangen, um ein bißchen frische Luft zu schnappen. Ich fahre morgen nach London«, erläuterte er.

Sie blickte mißtrauisch zu ihm herab, nahm dann ihre fünfzig Pence zurück und ließ sie in den Schichten von Mänteln und Tüchern verschwinden, in die sie gehüllt war.

»In London war ich schon mal«, vertraute sie ihm an. »Ich war da verheiratet. Aber er hat nichts getaugt. Meine Mutter hat immer gesagt, ich soll nicht nach auswärts heiraten, doch ich war jung und schön, auch wenn man mir das heute nicht mehr ansieht, und ich hab’ meinem Herzen gehorcht.«

»Ja, gewiß«, sagte Richard. Die Überzeugung, daß er sich gleich übergeben müßte, begann langsam zu schwinden.

»Und dann hatte ich den Salat. Ich hatte kein Dach überm Kopf, ich weiß, wie das ist«, sagte die alte Frau. »Deshalb hab’ ich gedacht, du wärst auch obdachlos. Weshalb gehst du nach London?«

»Ich hab’ da einen Job«, erzählte er ihr stolz.

»Was für einen?« fragte sie.

»Ähm, im Wertpapiergeschäft«, sagte Richard.

»Ich war Tänzerin«, sagte die alte Frau, und sie torkelte unbeholfen auf dem Gehweg herum und summte tonlos vor sich hin. Dann schaukelte sie hin und her wie ein Kreisel, kurz bevor er zum Stillstand kommt, und hörte schließlich, Richard zugewandt, wieder auf.

»Streck die Hand aus«, sagte sie ihm, »dann sag’ ich dir die Zukunft voraus.«

Er gehorchte.

Sie legte ihre alte Hand in seine und blinzelte ein paarmal, wie eine alte Eule, die eine Maus verschluckt hat und nun Verdauungsbeschwerden bekommt.

»Du hast einen weiten Weg vor dir …«, sagte sie.

»London«, sagte Richard.

»Nicht nur London…« Sie zögerte. »Nicht das London, das ich kenne.«

Es begann zu regnen.

»Tut mir leid«, sagte die alte Frau. »Mit Türen fängt es an.«

»Türen?«

Sie nickte. Der Regen wurde stärker. »Ich an deiner Stelle würde auf Türen achten.«

Richard stand ein wenig schwankend auf. »Ist gut«, sagte er, etwas unsicher, wie man mit einer solchen Information umzugehen habe. »Mach’ ich. Danke.«

Die Tür des Pubs ging auf, und Licht und Lärm schwappten auf die Straße.

»Richard? Alles in Ordnung?«

»Ja, mir geht’s gut. Bin gleich wieder da.«

Die alte Dame wackelte schon wieder die Straße hinunter. Sie wurde naß.

Richard hatte das Gefühl, er müsse etwas für sie tun: Geld konnte er ihr jedoch keins geben. Er eilte ihr nach. »Hier!« sagte er. Er fingerte an dem Schirm herum, um den Knopf zum Öffnen zu finden. Dann ein Klick, und der Regenschirm erblühte zu einem riesigen U-Bahn-Plan.

Die alte Frau nahm ihn entgegen. Sie nickte.

»Du hast ein gutes Herz. Manchmal reicht das, um einen zu beschützen, wo man auch hingeht.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Aber meistens nicht.«

Ein Windstoß drohte ihr den Schirm zu entreißen, doch sie hielt ihn fest. Sie schlang ihre Arme darum. Dann ging sie in den Regen und die Nacht hinaus, eine weiße Gestalt, bedeckt mit den Namen von U-Bahnhöfen: Earl’s Court, Marble Arch, Blackfriars, White City, Victoria, Angel, Oxford Circus …

Richard ertappte sich dabei, wie er in seinem Suff darüber nachdachte, ob es am Oxford Circus wohl wirklich einen Zirkus gab: einen echten Zirkus mit Clowns und schönen Frauen und gefährlichen Tieren.

Die Tür des Pubs öffnete sich: ein Lärmschwall, als sei drinnen gerade die Lautstärke aufgedreht worden.

»Richard, du Wichser, das ist deine Scheißparty, und du verpaßt alles.«

Er ging zurück in den Pub. Der Drang, sich zu übergeben, hatte sich in Anbetracht der seltsamen Begegnung verflüchtigt.

»Du siehst aus wie eine ersoffene Ratte«, sagte jemand.

»Du hast doch noch nie eine ersoffene Ratte gesehen«, erwiderte Richard.

Jemand anders reichte ihm einen großen Whisky. »Hier, runter damit. In London kriegst du nämlich keinen echten Scotch.«

»Doch, bestimmt«, seufzte Richard. Wasser tropfte ihm aus den Haaren in den Drink. »In London gibt es alles.«

Und er stürzte den Scotch hinunter, und dann noch einen, und dann verschwamm der Abend und zersplitterte in Bruchstücke; und hinterher erinnerte er sich nur noch an das Gefühl, daß er etwas, das Sinn machte, für etwas Riesengroßes und Altes verließ, das keinen Sinn machte, und daran, daß er endlos lange in einen Rinnstein voller Regenwasser kotzte, irgendwo kurz vor Morgengrauen, und daran, wie eine weiße Gestalt, eine Art kleiner, runder Käfer, sich im Regen von ihm entfernte.

Am nächsten Morgen stieg Richard in den Zug nach London, Euston. Seine Mutter gab ihm einen kleinen Kuchen mit, den sie für die Reise gebacken hatte, und eine Thermosflasche voll Tee; und Richard Mayhew fuhr nach London und fühlte sich grauenhaft.


Загрузка...