KAPITEL 4


»Wer will einen Schlummertrunk?«, fragte Lander, nach­dem sie ihre Koffer in Bungalow Zwölf getragen hatten.

»Du meinst 'ne Pepsi?«, hakte Cordelia nach.

»Was immer du möchtest. Pepsi, 7-Up, auch etwas Härte­res. Wir heben ein paar, um Ben und mich für den langen Weg zurück zu Nummer Drei zu stärken.«

»Dad versucht, uns zu besänftigen«, erklärte sie Ben.

Lander öffnete seine Reisebar. »Für mich Wodka«, ver­kündete er und lächelte über die Bemerkung seiner Tochter. Immerhin hatte sie recht. Sie mochte eine Besserwisserin und sexbesessen sein, aber sie war nicht dumm. »Einen Manhattan?«, fragte er Ruth.

»Das wäre jetzt genau richtig.«

»Was hättest du gern, Ben?«

Cordelia grinste den Jungen an. »Mach dir keine Hoffnun­gen«, sagte sie. »Das bekommst du heute Nacht nicht.«

Erfreut stellte Lander fest, dass Ben errötete.

»Nur 'ne Pepsi.«

»Wir haben kein Eis«, stellte Ruth fest.

Cordelia lächelte. »Ich habe neben dem Büro eine Eis­maschine gesehen.«

»Ich hole welches«, bot Ben an.

»Guter Mann.«

»Ich komme mit«, erklärte Cordelia. An der Tür drehte sie sich zu Lander um. »Keine Sorge, Dad. Wir werden uns keinen sexuellen Eskapaden hingeben.«

Damit gingen die beiden.

Lander goss Whiskey in eines der Gläser aus seinem Koffer. Er öffnete die kleine Flasche Wermut.

»Da hast du echt in ein Wespennest gestochen«, sagte Ruth.

»Die Wespen waren schon aufgescheucht«, gab Lander zurück. »Ich versuche nur, sie zu zähmen. Und eigentlich nicht mal das. Wenn sie es unbedingt treiben wollen, dann sollen sie es heimlich tun. So ist es ohnehin aufregender. Geklaute Kekse schmecken am besten.«

»Ich weiß nicht recht«, meinte Ruth. »Vielleicht sollten wir sie doch zusammen in einem Zimmer lassen. Immerhin sind sie 18. In ein paar Monaten gehen sie beide nach Santa Barbara, dann haben wir überhaupt keine Möglichkeit mehr, ihnen etwas vorzuschreiben.«

»Umso mehr Grund, es jetzt zu tun.«

»Hier rüber«, flüsterte Cordie. Sie zog Ben zu einem dunk­len Pfad zwischen zwei der Hütten.

»Wir sollten besser das Eis holen.«

»Wozu die Eile?«

»Sie warten.«

»Dann lass sie. Komm schon, das ist heute Nacht unsere einzige Chance, allein zu sein.«

»Aber nur eine Minute«, räumte Ben ein. »Wir wollen deinen Dad nicht wütend machen.«

»Ist mir doch egal.«

»Hast du wirklich geglaubt, er würde uns zusammen schlafen lassen?«

»Großer Gott, nein. Dad? Niemals. Aber den Versuch war's wert.« Sie führte Ben in die Schatten, schlang die Arme um ihn und berührte mit den Lippen zart seinen Mund. Zuerst wirkte er zögerlich, mit den Gedanken woanders. Sie küsste ihn inniger, öffnete den Mund, sog seine Zunge in ihren.

Ben zog sie dicht an sich und sie spürte seine Erregung an ihrem Bauch. Wenn sie nur einen Rock statt dieser engen Jeans trüge! Sie stöhnte vor frustriertem Verlangen und rieb den Körper an seinem Glied. Er ging leicht in die Knie. Cordelia presste sich gegen sein Becken, schob eine Hand in seine Hose und streichelte ihn. Eine seiner Hände wan­derte in ihre Bluse. Zärtlich knetete er ihre Brust durch den dünnen Stoff ihres BHs.

Plötzlich erzitterte sein gesamter Körper. Er biss ihr auf die Zunge. Seine Hand krampfte sich zusammen und jagte Schmerzen durch ihre Brust. Warme Flüssigkeit ergoss sich in ihre Hand und er sank auf die Knie.

Hinter ihm stand eine grinsende, zahnlose alte Frau und holte mit dem Hammer zu einem zweiten Schlag aus.

»Die brauchen ja ziemlich lange«, beschwerte sich Lander. Er schwenkte seinen warmen Wodka im Glas und trank einen Schluck.

»Sie waren den ganzen Tag nicht allein.«

»Man sollte meinen, sie könnten sich ein wenig in Zurückhaltung üben.«

»Sie sind verliebt, Schatz.«

»Ich weiß, ich weiß.«

Ruth setzte sich neben ihn aufs Bett. »Du bist selbst nicht gerade Weltmeister in Zurückhaltung. Erinnerst du dich an den Abend auf der Verandabank?«

Er lachte leise. »Ich war sicher, dein Dad würde uns er­wischen.«

»Und am nächsten Abend hast du ein Ölkännchen mitge­bracht.«

»Ich frage mich, ob ihnen je aufgefallen ist, dass das Ding nicht mehr quietschte.«

»Mir auf jeden Fall.«

»In der Nacht habe ich euch beide geschmiert.«

»Herrje, Lander!« Sie stupste ihn verspielt.

»Mir ist nicht entgangen, dass du auch aufgehört hast zu quietschen.«

»Du bist schrecklich!«

Sie küssten sich. Ihre Lippen fühlten sich geschmeidig, warm und vertraut an. Er spürte den sanften Druck ihrer Hand auf seinem Bein. »He«, meinte er. »Wir sollten besser nicht in Fahrt kommen.«

»Besser nicht«, pflichtete sie ihm bei. »Schätze, wir müs­sen uns in Zurückhaltung üben.«

»Das ist eigentlich nicht das, wonach mir der Sinn steht«, gab er zurück.

Lachend schubste sie ihn. »Wie wär's, wenn du das Eis holst? Das bringt dich auf andere Gedanken.«

»Ja, und vielleicht laufe ich den beiden Turteltäubchen über den Weg.« Er ergriff den Zimmerschlüssel und ging hinaus. Draußen vergewisserte er sich, dass die Tür abge­sperrt war. Er stieg die Holzstufen hinab und ließ den Blick über die kleinen Hütten auf der gegenüberliegenden Seite der Zufahrt wandern. Keine Spur von Cordelia und Ben. Er schaute ins Auto. Nichts.

Von der Mitte der Schotterzufahrt aus hatte er einen guten Überblick über alle sechs Hütten, das Büro und die Haupt­straße. Er drehte sich um und blickte hinter sich. Dort endete die Zufahrt und ging in den Wald über.

Der Urwald. Die murmelnden Kiefern und Schierlinge ...

Vielleicht waren sie in den Wald gegangen, um zwischen den Schierlingen eine schnelle Nummer zu schieben.

Darüber zu scherzen half nicht.

Es ist kein Scherz, wenn deine Tochter eine Nummer schiebt.

Er stellte sich Cordelia auf dem Rücken vor und Ben zwischen ihren Beinen. Sein Magen krampfte sich schmerz­haft zusammen.

Ich bin besessen, dachte er.

Neidisch?

Blödsinn.

Wo steckten die beiden?

Konnten sie in eine der Hütten gelangt sein? Er betrach­tete jede eingehend, drehte sich im Gehen, lief zeitweise rückwärts. Sechs Hütten. Zwölf Zimmer insgesamt. Hinter etwa der Hälfte der Fenster brannte Licht. Vor einigen ande­ren parkten Autos. Richtige Klapperkisten. Ihm fiel auf, dass eines - ein uralter, verbeulter Buick - sogar einen platten Hinterreifen hatte. Eine der Fensterscheiben war heruntergekurbelt.

Lander schüttelte den Kopf. Nein. Sie würden sich nicht trauen, es im Auto eines Fremden zu tun.

Er blieb stehen und betrachtete jedes Fahrzeug mit neuem Argwohn. Ohne sein Auto waren es insgesamt vier. Die Kinder konnten in jedem davon sein und auf dem Rücksitz knattern.

Knattern?

Landers Gesicht loderte vor Scham, als er die Richtung änderte und über den Schotter zu dem Buick ging. Er trat

nah genug hin, um zu erkennen, dass sich niemand auf dem Rücksitz befand, dann schwenkte er ab und näherte sich dem nächsten Wagen.

Ein Maverick. Die rechte Ecke des Hecks erwies sich als übel zugerichtet. Es sah fast so aus, als hätte ein metall­fressendes Monster ein Stück davon abgebissen. Lander trat näher und spähte auf den Rücksitz. Ein dunkler Schemen zuckte zusammen und sprang durch das gegenüberliegende Fenster hinaus. Eine Katze. Lander lachte leise über seine Angst. Er klopfte sich auf die Brust, in der sein Herz wie wild hämmerte, dann schaute er abermals in das Auto. Vom Innenspiegel hingen Babyschuhe. Sein Blick senkte sich auf die Lenksäule. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er sah sich rasch um und vergewisserte sich, dass er nicht beobachtet wurde, dann öffnete er die Beifahrertür und beugte sich über den Sitz.

V/o sich an der Lenksäule das Zündschloss hätte befinden sollen, erblickte er nur ein rundes Loch.

Hier stimmte tatsächlich etwas nicht.

Er kletterte wieder hinaus, schloss leise die Tür und ging zur Vorderseite. Seine Finger tasteten unter dem Rand der Motorhaube. Er fand die Verriegelung und löste sie. Angeln knarrten, als er die Haube hochklappte.

Keine Batterie.

Kein Kühler, kein Keilriemen, kein Vergaser, kein Luft­filter. Der Motorraum war ausgeweidet worden.

»Großer Gott«, murmelte er und senkte die Haube.

Er rannte über die Zufahrt zu einem verwahrlosten Grand Prix, öffnete dessen Motorhaube. Lander spähte in der Dunkelheit an die Stelle, wo sich der Motor befinden sollte, fand aber keinen vor. Der Wagen glich einer leeren Hülle.

Was war das für ein Motel, in dem nutzlose Autos vor den Zimmern parkten wie ... wie Köder?

Mit einem plötzlichen Anflug von Beklommenheit fragte sich Lander, ob der gesamte Ort verwaist war, ob man nur die Lichter in den Zimmern angelassen und die Wracks wie Attrappen vor die Hütten gerollt hatte ...

Dass die Tragödie »Mensch« benannt ... Der gute alte Poe; er tauchte stets auf, wenn man ihn am wenigsten brauchte. Und der Eroberer »Wurm« ihr Held.

Ein Schauspiel. Eine Bühne, die der lächelnde Mann aus dem Büro geschaffen hatte - oder die seltsame Person, die hinter der Tür gelauert hatte.

»Cordelia!«, brüllte Länder. »Cordelia! Ben!« Erwartete, lauschte auf eine Antwort. Alles, was er hörte, waren der Wind in den Bäumen, Grillen und entfernte Frösche, die Geräusche der Vögel, die in der Nacht sangen, als wäre alles in Ordnung, das Gelächter eines Fernsehpublikums.

Am Ende des Hofs schwang eine Tür auf. Ruth kam heraus. »Lander? Was ist?«

Er rannte zu ihr.

»Um Himmels willen ...«

Er schob sie wieder hinein und schloss die Tür.

»Was ist denn los?« Ihr verängstigter Blick bettelte ihn um eine rasche Antwort an. »Die Kinder?«

»Ich habe sie nicht gesehen. Keine Ahnung, wo sie sind, aber hier stimmt etwas nicht. All diese Autos sind Attrappen.«

»Ich verstehe nicht...« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber ... Erinnerst du dich an Norman Bates?«

»Wen?«

»Anthony Perkins. Psycho? Das Hotel ...«

»Lander, hör auf!«

»Ich glaube, das ist gar kein echtes Motel. Ich denke, es ist eine Art Falle.»

»Nein!«

Lander lehnte sich an die Tür und rieb sich das Gesicht. Als überzeugter Pazifist hatte er Schusswaffen immer ver­abscheut. Nun wünschte er bei Gott, eine zu besitzen.

»Was sollen wir tun?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er.

»Cordelia ist da draußen!«

»Vielleicht irre ich mich ja. Vielleicht ist alles ... völlig harmlos und die Kinder sind im Wald und vergnügen sich. Ich weiß es nicht.«

Mit leiser, angespannter Stimme sagte Ruth: »Dann soll­ten wir es besser herausfinden.«

»Wie?«

»Wir gehen rüber zum Büro ...«

»O ja, tolle Idee.«

»Was schlägst du denn vor?«

Lander blickte zum Telefon und verwarf den Gedanken sofort. Es bestand keine Möglichkeit, nach draußen zu tele­fonieren, ohne über die Schaltzentrale des Motels vermittelt zu werden. »Wir könnten Hilfe holen«, murmelte er. »Es muss hier Polizei geben, einen Sheriff...«

Ruth streckte die Hand nach dem Türknauf aus.

Er packte ihr Handgelenk.

»Ich gehe jetzt raus und suche meine Tochter«, erklärte sie. »Lass mich sofort los.«

»Warte! Wir müssen nachdenken.«

»Von wegen! Während du nachdenkst, könnte Cordie wer weiß was passieren!« Sie riss ihre Hand los, ergriff den Knauf und zog die Tür auf.

Lander ließ sich zurückfallen und schlug sie zu. »Ver­dammt noch mal, Ruth!«

»Lass mich raus!«

Das Telefon klingelte. Das jähe Geräusch erschreckte Lander. Ruths Kopf fuhr herum. Beide verharrten reglos

und starrten auf den schwarzen Apparat, als dieser erneut klingelte.

Lander rannte hin. Beim dritten Klingeln hob er ab. »Hallo?«

»Mr. Dills, hier ist Roy aus dem Büro.«

»Ja?«

»Ihre Tochter ist hier bei mir. Sie möchte gern mit Ihnen reden.«

Den Blick auf Ruth gerichtet, wartete Lander.

»Was ist?«, flüsterte seine Frau, brachte die Worte kaum heraus.

»Daddy?« Die Stimme seiner Tochter klang schrill vor Panik.

»Liebling, was ist los?«

»O Dad! Sie ... Ben! Ich glaube, er ist tot!«

»Wo bist du?«

»Nein. Komm nicht her. Sie werden dich umbringen.«

»Bist du im Büro?«

»Lass dich nicht von ihnen erwischen!«

Er gab Ruth ein Zeichen. »Warte, deine Mutter will mit dir reden.«

Ruth eilte durch das Zimmer. Lander reichte ihr den Hörer. »Hallo, Cordie?«

»Sorg dafür, dass sie weiterredet«, flüsterte Lander.

Ruth nickte.

Er rannte zur Tür, riss sie auf und hastete hinaus. Irgend­etwas - ein Draht? - verfing sich an seinem Fuß. Als er kopfüber stürzte, erhaschte er einen kurzen Blick auf eine grinsende alte Frau, die mit untergeschlagenen Beinen auf der Motorhaube seines Autos saß und einen Hammer in der Hand hielt. Dann landete Lander im Schotter neben dem Vorderrad.

Mit einem freudigen Aufschrei stürzte sich die Frau auf ihn.

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