KAPITEL 1

Neala O'Hare verlangsamte ihren MG, als die schmale Straße eine Kurve beschrieb. Die Abendsonne befand sich nicht mehr hinter ihr. Schatten der hohen Bäume verhüllten mit ihren dunklen Umhängen die Fahrbahn. Neala nahm ihre Sonnenbrille ab.

Sherri, die neben ihr saß, sog plötzlich scharf die Luft ein.

Neala sah es auch. Sie stieg auf die Bremse.

Ihre Freundin stützte sich reflexartig mit einer Hand an der Windschutzscheibe ab, als der Wagen jäh zum Stehen kam.

Vor ihnen schleppte sich mit kraftvollen, haarigen Armen ein beinloses Ding über die Straße.

»Was um alles in der Welt ist das?«, murmelte Sherri.

Neala schüttelte den Kopf.

Dann wandte es sich ihnen zu.

Nealas Hände umklammerten das Lenkrad. Verblüfft

versuchte sie zu begreifen, was sie vor sich sah. Das Gesicht erinnerte nur entfernt an das eines Mannes.

Die Kreatur änderte die Richtung und begann, sich auf den Wagen zuzuschleppen.

»Weg hier!«, rief Sherri. »Schnell! Setz zurück!«

»Was ist das?«, fragte Neala.

»Fahr endlich!«

Neala fuhr rückwärts, allerdings langsam, gerade schnell genug, um Abstand zu der sich nähernden Kreatur zu halten. Sie konnte den Blick nicht von deren aufgedunsenem Gesicht abwenden.

»Überfahr es!«, herrschte Sherri sie an.

Neala schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ich glaube, es ist ein Mann.«

»Wen interessiert's? Um Himmels willen, überfahr es und lass uns verschwinden!«

Das Geschöpf richtete sich auf und balancierte auf seinem Rumpf, um die Arme freizubekommen. Es starrte Neala anzüglich an.

»O Gott«, stieß Sherri hervor.

Es fingerte an einer Öffnung seiner pelzigen Weste. Eine Tasche? Dann zog es eine abgetrennte menschliche Hand daraus hervor, küsste deren Handfläche und warf sie. Die Hand flog auf Neala zu. Sie duckte den Kopf, spürte sie in ihrem Haar und schlug sie weg. Die Hand fiel in die Lücke zwischen den Schalensitzen.

Das beinlose Wesen schleppte sich von der Straße und verschwand im Wald.

Neala blickte auf die Hand hinab, auf die gekrümmten Finger, die korallenrot lackierten Nägel, den weißen Haut­streifen, wo sich mal ein Ehering befunden hatte. Sie beugte sich seitwärts über die Tür und übergab sich auf den Asphalt. Anschließend drehte sie sich ihrer Freundin zu.

»Wir müssen sie loswerden«, sagte Sherri.

»Ich ...«

Sherri knurrte, als wäre sie wütend, ergriff die Hand an den Fingern und schleuderte sie aus dem Auto. »Gott!« An­gewidert wischte sie sich ihre eigene Hand an den Shorts ab.

Neala raste los.

Während sie fuhr, lief der Zwischenfall in ihrem Geist immer und immer wieder ab. Sie verspürte den Drang, einen Sinn darin zu erkennen, aber egal, wie sehr sie sich konzen­trierte, es ergab sich kein Muster, das sie akzeptieren konnte. Die Szene gehörte in einen Albtraum, nicht auf eine fried­liche Straße auf dem Weg nach Yosemite.

Sie war froh, als sie eine Ortschaft auftauchen sah - keine besonders große, das war klar. Hier oben in dieser Gegend gab es keine großen.

»Vielleicht haben sie hier eine Polizeistation.«

»Du hast doch nicht etwa vor, anzuhalten!«

»Wir sollten es jemandem sagen.«

»Sag es Pater Higgins, um Himmels willen. Heb's dir für die Beichte auf. Herrgott, lass uns einfach abhauen.«

»Wir können es nicht einfach vergessen.«

»Es vergessen? Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich vor mir dieses widerliche, aufgedunsene ...« Sherri schüttelte jäh den Kopf, als wolle sie das Bild abschütteln. »Verdammt, das werde ich nie vergessen. Aber wir müssen deswegen nicht rumlaufen und eine große Sache daraus machen, okay? Wir behalten es einfach für uns. Weißt du, was passiert ist, ist passiert.«

Die Hälfte der Ortschaft hatten sie bereits hinter sich gelassen. Vor ihnen sah Neala einen Laden für Angelköder, Terk's Diner und das Sunshine Motor Inn.

»Warum halten wir nicht bei dem Imbiss?«, schlug Neala vor.

»Warum lassen wir es nicht?«

»Komm schon, es ist fast sieben. Wir könnten beide ein Abendessen vertragen.«

»Du meinst, du kannst nach dieser Geschichte noch essen?«

»Ich kann es zumindest versuchen. Auf jeden Fall möchte ich aus dem Auto und mich entspannen. Darüber nachden­ken. Darüber reden. Außerdem haben wir keine Ahnung, wann wir das nächste Mal an einem Restaurant vorbei­kommen.«

»Du nennst das ein Restaurant?«

»He, das ist genau der richtige Laden für dich. Wahrschein­lich verdreckt, mit schmutzigen Löffeln und zwielichtigen Gestalten.«

Sherri brachte ein Lächeln zustande. »Na schön. Aber das mit dem Freak behalten wir für uns.«

Neala bog auf den Schotterparkplatz ein und stellte den Motor ab. Sie schlossen das Verdeck, kurbelten die Fenster hoch und verriegelten die Türen. Bevor sie sich in Bewe­gung setzten, streckte sich Neala. Von dem langen Tag im Auto fühlte sie sich völlig steif. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, drückte die Schultern zurück und spürte woh­lig, wie sich ihre Muskeln anspannten. Die Bewegung straffte ihre Bluse über ihren Brüsten. Es gefiel ihr, wie sich der Stoff an ihren Nippeln anfühlte. Dabei musste sie dran denken, wie lange es zurücklag, seit sie zuletzt die leiden­schaftliche Berührung der Finger oder Zunge eines Mannes an ihren Brüsten gespürt hatte.

Vielleicht würde sie in Yosemite Glück haben.

Und einen rauen Gebirgskerl kennenlernen.

Und für Sherri auch einen. Ich bin ja nicht selbstsüchtig.

»Ich fühle mich fast schon wieder menschlich«, sagte sie, als sie hinter dem Auto zu Sherri trat.

Die beiden überquerten den Schotterparkplatz zum Ein­gang des Lokals. Sherri zog die Insektenschutztür auf und sie traten ein.

Neala gefiel die Wärme. Die vertrauten Gerüche weckten in ihr die Lust auf einen Cheeseburger mit Pommes. »Theke?«, fragte sie, als sie zwei leere Stühle am Ende erblickte. Die anderen sechs waren besetzt.

»Nehmen wir einen Tisch«, erwiderte Sherri, womit sie Neala überraschte. Für gewöhnlich zog Sherri die Theke vor, wo sie gern Unterhaltungen mit Fremden anfing.

An diesem Abend anscheinend nicht.

Sie nahmen einander gegenüber an einem Tisch etwas abseits Platz. Kurz begegnete Sherris Blick jenem Nealas, dann senkte sie ihn.

»Jetzt sei wieder fröhlich«, forderte Neala sie auf.

»Klar.«

»Sei nicht so. Bitte.«

»Oh, wie sollte ich denn sein?«

»Wie die mutige Siegerin, die alle kennen und bewun­dern.«

Damit entlockte sie Sherri nicht einmal ein Lächeln.

Neala brauchte dieses Lächeln. Sie hatte sich noch nie so verängstigt, so allein gefühlt. Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt dafür, dass Sherri so schweigsam und trübsinnig wurde.

»Hilft es, wenn ich mich entschuldige?«, fragte Neala.

»Du kannst nichts dafür.«

»Der Wanderurlaub war meine Idee.«

»Der Freak war nicht deine Idee.«

»Das ist mal sicher. Aber wenn wir zu Hause geblieben wären ...«

»Schon gut. Vergiss es.«

Die Kellnerin kam. »Tut mir leid, dass ihr warten musstet.«

Sie stellte Gläser mit Wasser auf den Tisch und gab ihnen beiden jeweils eine Speisekarte.

Als sie ging, sahen die beiden jungen Frauen die Speise­karten durch. Normalerweise unterhielten sie sich über das Angebot, entschieden vielleicht, sich Pommes oder Zwiebel­ringe zu teilen oder diskutierten darüber, ob sie »drauf pfeifen« und nur Milchshakes bestellen sollten. An diesem Abend schwiegen sie beide.

Die Kellnerin kam zurück. »Schon gewählt?«

Neala nickte. »Ich nehme euren Terkburger Special und Eistee.« Sie beobachtete, wie die dürre Frau ihre Bestellung mit ernster Miene notierte.

Kann heute Abend denn gar niemand lächeln?, fragte sie sich.

Mit einem solchen Ring am kleinen Finger sollte sich diese Frau wie ein Schneekönig freuen.

»Ein Rindfleischsandwich mit Zwiebeln und Käse«, sagte Sherri. »Pommes und eine Pepsi.«

Die Frau nickte und ging davon.

Sherri sah ihr mit gerunzelter Stirn nach.

»Hast du ihren Ring gesehen?«, fragte Neala in der Hoff­nung, die betretene Stimmung zu durchbrechen.

»Wie hätte ich den übersehen können? Das Ding hätte mich fast geblendet.«

»Glaubst du, er ist aus Glas?«

»Für mich hat er ziemlich echt ausgesehen. Natürlich bin ich keine Expertin. Außerdem habe ich meine Juwelierlupe zu Hause gelassen.«

Neala lachte und erblickte den Ansatz eines Lächelns in Sherris Gesicht. »Hat wie ein Ehering ausgesehen«, meinte sie.

»Falscher Finger. Und falsche Hand. Wahrscheinlich ist sie rausgewachsen.«

»Die? Sie besteht ja nur aus Haut und Knochen.«

»Vielleicht ist es ein Freundschaftsring«, schlug Sherri vor. »Ich könnte so einen Freund brauchen. Dem das Geld nur so aus dem Arsch quillt. Wäre ich diese Frau, ich würde innerhalb von etwa zwei Sekunden auf dieses Kaff schei­ßen. Mir den Kerl schnappen und in die große Stadt ver­duften.«

Als die Kellnerin ihr Essen brachte, beobachteten sie beide deren Hand.

»Was glaubst du?«, fragte Neala, als sie fort war.

»Ich glaube, er ist echt.«

Neala biss in ihren Terkburger: eine dicke Frikadelle auf Sesambrötchen. Saft rann ihr übers Kinn. Sie wischte ihn mit dem Handrücken ab und griff nach einer Serviette. »Köstlich«, sagte sie.

»Meins auch«, erwiderte Sherri. Seitlich aus ihrem Sand­wich baumelten lasche Zwiebelstreifen.

»Zwiebelatem.«

»Hast du vor, mich zu küssen?«, fragte Sherri.

»Nicht heute Nacht.«

»Verdammt, und dabei hatte ich mich schon so drauf gefreut.«

»Du wirst mit Sicherheit das Zelt vollstinken. Vielleicht sollten wir besser unter freiem Himmel schlafen.«

»Was, wenn es regnet?«, fragte Sherri mit vollem Mund, wodurch ihre Worte gedämpft klangen.

»Dann werden wir nass.«

»Das will ich nicht.«

»Besser nass als Zwiebelgase im Zelt.«

»Ach ja?« Sherri hob die obere Sandwichscheibe hoch, ergriff mit Zeigefinger und Daumen einen verworrenen Klumpen Zwiebeln und ließ ihn auf Nealas Teller fallen. »Du isst auch davon. Zu meiner Absicherung.«

Lachend legte Neala die Zwiebeln auf ihren Terkburger und aß.

Bald waren ihre Teller leer. Neala dachte daran, zum Auto zurückzukehren. Sie wollte es aber nicht.

»Was hältst du von Nachtisch?«, fragte Sherri, als hätte auch sie es nicht eilig damit, zu gehen.

»Gute Idee.«

Dies war kein Zeitpunkt zum Kalorienzählen. Neala zer­brach sich darüber ohnehin selten den Kopf; sie hatte kein Problem damit, ihre schlanke Figur zu halten. Trotzdem fühlte sie sich bei fettigen Desserts immer schuldig. An diesem Abend allerdings war es die Schuldgefühle wert, die Rückkehr zum Auto hinauszuzögern.

Beide bestellten einen Eisbecher mit Karamellsauce. Sie aßen langsam, stocherten in der Eiscreme, in dem dicken warmen Sirup, in der mit gehackten Nüssen bestreuten Schlagsahne.

»Das Ding wird mir gute zwei Zentimeter auf die Hüften packen«, meinte Sherri. Sie war ein Handbreit größer als Neala und hatte breite Schultern, einen üppigen Busen und ausladende Hüften. Sherri war keineswegs dick, aber ein, zwei Zentimeter mehr an der Hüfte würden bei ihr nicht besonders auffallen. Neala beschloss, diese Beobachtung für sich zu behalten.

»Das schuften wir diese Woche locker wieder runter«, sagte sie stattdessen.

»Schon toll, wenn man seinen Urlaub mit Müh und Plag verbringt.«

»Es wird dir gefallen.«

»Klar doch. Es würde mir dann super gefallen, wenn Robert Redford zu unserem Lagerfeuer käme, ich ihn mit meinem Esprit und Charme glatt umhaue und er mich mitnimmt. Aber bei meinem Glück würde er sich in dich verknallen.«

»Ich würde ihn mit dir teilen.«

Als die Eisbecher leer waren, bestellten sie Kaffee.

Danach müssen wir gehen, dachte Neala. Zurück zum Auto. Zurück auf die schmale, dunkle Straße durch die Wälder.

Wir können nicht die ganze Nacht hierbleiben.

Sie beobachtete, wie die Kellnerin die hölzerne Eingangs­tür schloss. Durch das Fenster sah sie, dass die Abend­dämmerung angebrochen war. Der Schotter des Parkplatzes zeichnete sich als verschwommenes Grau ab. Auf der ande­ren Straßenseite blinkte das Schild des Sunshine Motor Inn in tristem Blau. Es zeigte an, dass Zimmer frei waren.

Ihr Blick begegnete jenem Sherris.

»Kommt nicht infrage«, sagte Sherri.

»Ich weiß. Ich will auch nicht bleiben. Ich will nicht gehen und ich will nicht bleiben.«

»Wir werden uns wesentlich besser fühlen, sobald wir einige Meilen hinter uns haben.«

Neala nickte zustimmend.

»Aber bevor wir irgendetwas tun, muss meine Wenigkeit mal aufs Klo.«

Während sie weg war, trank Neala eine weitere Tasse Kaffee.

Als Sherri zurückkam, ging Neala. Die Toilette, die sich im hinteren Bereich des Lokals befand, erwies sich als sauber und angenehm. Sollte sie auch sein, dachte Neala. Immerhin scheint das Lokal stinkreichen Leuten zu gehören.

Sie kehrte zum Tisch zurück. Sherri hatte das Trinkgeld bereits hingelegt. Sie brachten die Rechnung zur Kasse. Diesmal war Neala mit dem Bezahlen an der Reihe.

Für unterwegs kaufte sie noch zwei Packungen Minz­bonbons.

Die Kellnerin ließ Wechselgeld in ihre Hand rieseln. »Beehrt uns bald wieder«, sagte sie.

Sherri griff nach dem Türknauf und versuchte, ihn zu drehen. Er rührte sich nicht. Sie versuchte es erneut. »He, Miss?«, rief sie zur Kellnerin.

Die Köpfe aller Gäste an der Theke drehten sich ihnen zu.

»He, Miss, die Tür klemmt.«

Die Gäste starrten sie an. Ein paar der Jüngeren lächelten, die meisten jedoch schauten düster drein.

»Die klemmt nicht, Schätzchen. Sie ist abgesperrt.«

Neala spürte, wie blanke Angst ihre Eingeweide zusammen- krampfte.

»Wie wär's damit, sie aw/zusperren?«, fragte Sherri.

»Ich fürchte, das kann ich nicht tun.«

»Ach ja? Und warum nicht?«

»Weil ihr beide hierbleibt.«

Mit einem breiten Grinsen wandte sich die Kellnerin den anderen Gästen zu - denselben Gästen, wie Neala plötzlich erkannte, die bereits an der Theke gesessen hatten, als Sherri und sie vor so langer Zeit angekommen waren.

Schweigend kletterten vier der Männer von ihren Hockern.

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