»Heilige Scheiße, eine Hütte!«
Robbins schloss zu Neala auf. Sie blieben neben Sherri stehen und starrten zwischen den Bäumen hindurch.
Am Ende einer länglichen, von Mondlicht erhellten Lichtung stand eine Blockhütte.
»Nicht schlecht«, meinte Robbins. »Das sehen wir uns mal an.«
Er ging als Erster, trat auf freies Gelände hinaus und hielt inne, um den Blick prüfend über die Umgebung wandern zu lassen. Die Lichtung wies mehr als die Größe eines Foot- ballfelds auf, wenngleich sie etwas schmaler zu sein schien. Robbins beobachtete einige Sekunden lang die Ränder des Waldes, nahm jedoch keine Bewegung wahr. Die Hütte präsentierte sich dunkel und wirkte verlassen. »Bleibt dicht bei mir«, forderte er die Frauen auf.
Neala trat rechts neben ihn, Sherri links. Robbins setzte
sich mit dem Gewehr im Anschlag in Bewegung. Der Boden fühlte sich unter seinen Füßen leicht federnd an. Eine kühle Brise strich über seine nackten Arme.
Er sah Neala an. Sie hinkte. Ihre Lippen waren zusammengepresst, als verbeiße sie sich Schmerzen. Sie sah sehr tapfer und zugleich verletzlich aus. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen.
Neala bemerkte seinen Blick und rang sich ein Lächeln ab.
»Wie geht es deinen Füßen?«, erkundigte er sich.
»Die haben schon bessere Nächte erlebt.«
Er wandte sich Sherri zu. »Kommst du klar?«
»Muss ich wohl«, gab sie zurück und lachte verbittert.
Als sie sich der Hütte näherten, sah Robbins, dass sie von etlichen Pfählen umgeben war. Jede der hohen Stangen wies einen Querbalken auf, der an die Arme einer Vogelscheuche erinnerte. Oben auf jedem Pfahl prangte eine dunkle Kugel.
Sherri packte seinen Arm, blieb stehen und zog ihn zurück. »O Scheiße«, stieß sie hervor. »O verfluchte Scheiße!«
»Das sind Köpfe!«, flüsterte Neala.
Robbins spähte mit zusammengekniffenen Augen zur Spitze des nächstgelegenen Pfahls. Bei der Kugel handelte es sich tatsächlich um einen Kopf, dessen dunkles Haar im Wind flatterte. Er ließ den Blick von einem Pfahl zum anderen wandern. Auf jeden war ein Schädel gespießt. »Großer Gott«, entfuhr es ihm. Er trat einen Schritt vor.
Sherri zupfte an seinem Arm. »Da gehen wir nicht rein!«
Er wandte sich Neala zu.
Sie schüttelte den Kopf.
»Die Hütte«, sagte er.
»Ich will nicht«, entgegnete Neala mit einer Stimme wie der eines zu Tode verängstigten Kindes.
Robbins drehte sich um und nahm im Wald Bewegung wahr. Ein Gesicht tauchte neben einer Espe auf. Er hob das
Gewehr an und zielte, doch das Gesicht verschwand hinter einem Baumstamm.
Linkerhand preschte eine bleiche Gestalt zwischen den Bäumen hervor.
Sherri stöhnte laut.
»Zur Hütte«, befahl Robbins.
Neala drückte seinen Arm.
Ein Messer flog durch die Nacht, überschlug sich dabei. Die Klinge blitzte im Mondlicht auf. Robbins versetzte Neala einen Stoß. Sie taumelte in dem Moment zur Seite, als das Messer vorbeisauste. Robbins eilte zu ihr.
»Komm«, sagte er und zog sie auf die Beine.
»Großer Gott, es hätte mich ...«
»Hat es aber nicht.«
Sie rannten zur Hütte. Sherri schloss zu ihnen auf. Etwa dreieinhalb Meter vom ersten Pfahl entfernt ließ Robbins Nealas Arm los und hob rasch das Messer vom Boden auf. »Nimm es«, sagte er und schaute zurück.
Er sah niemanden.
Robbins ging zwischen den dicht beisammenstehenden Pfählen hindurch voraus und duckte sich unter den Querbalken hinweg. Er bewegte sich vorsichtig, um keinen der Pfahle zu rammen, stieß jedoch mit dem Gewehrkolben gegen einen. Das Gebilde wackelte. Etwas fiel von oben herab, und Neala, die sich hinter ihm befand, sog scharf und entsetzt die Luft ein. Er wollte zurückschauen, aber die Stangen umgaben ihn wie ein Käfig. Er konnte sich nicht umdrehen, ohne weitere zu berühren.
»Alles in Ordnung?«, rief er zurück.
Keine Antwort.
»Neala?«
»Es geht mir gut«, flüsterte sie.
»Sherri?«
»Schaff uns weg von hier!«
»Wie sieht's in der Nachhut aus?« Die Worte verließen seinen Mund, bevor er seinen Fehler erkannte. »Vergesst...«
»Iiiiiiiiih!«
Robbins richtete sich auf. Seine Schulter stieß gegen einen Querbalken. Das Pfahlgerüst schwankte in der losen Erde. Hastig ergriff er es, um zu verhindern, dass es umfallen konnte. Dann wirbelte er herum und schaute zurück. Neala harrte tief geduckt aus. Sherri stand ein Stück hinter ihr aufrecht mit dem Rücken zu ihm da. Ihre Schultern befanden sich auf selber Höhe mit den Querbalken, ihr Kopf war nur knapp unter all den anderen Köpfen.
Robbins beobachtete sie und begriff, dass sie nicht nach Krulls Ausschau hielt. Sie starrte die aufgespießten Schädel an. Dutzende davon. Rings um sie. Sie schienen sich heranzudrängen wie ein abscheulicher Menschenauflauf.
»Sherri!«, brüllte er.
Sie wirbelte herum. Stieß gegen einen Pfahl. Der stürzte gegen einen anderen, der daraufhin kippte, und plötzlich schwankte und fiel ein Dutzend der Gebilde. Die grausigen Kreuze neigten sich einander zu, als wollten sie sich Geheimnisse zuflüstern, andere prallten gegeneinander, wieder andere landeten auf dem Boden und rollten über die Erde.
Sherri starrte auf das Chaos, dann schaute sie zu Robbins. Ihre Augen und ihr Mund glichen dunklen Löchern in ihrem vom Mondlicht erhellten Gesicht.
Neala begann, sich aufzurichten. Robbins drückte ihren Kopf nach unten. »Nicht hinsehen«, warnte er. »Sherri, geh einfach weiter.«
Sie rührte sich nicht.
»Sherri!«
»Ich kann nicht.«
»Bleib hier«, forderte er Neala auf.
Er duckte sich unter den Querbalken hindurch und bahnte sich einen Weg durch das Labyrinth der Pfähle. Als er in Sherris Nähe gelangte, versperrten ihm die Kreuze in willkürlichen Winkeln den Weg. Er versuchte, eines beiseite zu hieven. Ein verwitterter Kopf, wenig mehr als ein Totenschädel mit einigen im Wind flatternden Haarsträhnen, schaukelte vor seinem Gesicht. Angewidert ließ er den Pfahl fallen.
Er stand Sherri gegenüber. Sie befand sich einige Meter entfernt. Ein Gewirr von Stöcken und Köpfen trennte sie voneinander. Ohne den Blick von ihr zu lösen, bewegte er sich vorwärts, stieg mit großen Schritten auf die morschen Kreuze und stampfte sie in den Boden. Zweimal landete sein Fuß auf Köpfen. Einer zersplitterte. Der andere kippte wie ein Stein und brachte Robbins beinah zu Fall. Im letzten Moment erlangte er das Gleichgewicht wieder und schauderte vor Grauen bei der Vorstellung, in dieses bizarre Chaos zu fallen.
Dann erreichte er Sherri und ergriff ihren Arm.
Er schaute an ihr vorbei. Niemand verfolgte sie.
»Alles in Ordnung?«
Sie brachte nur ein Wimmern heraus.
Robbins zog sie an der Hand durch das in den Boden getrampelte Gewirr.
»Mach die Augen zu«, sagte er.
Kurz schaute er zurück, um sich zu vergewissern, dass sie seinem Rat gefolgt war, dann zog er sie weiter. Er forderte sie auf, sich an seinem Gürtel festzuhalten. Als er das erste aufrecht stehende Kreuz erreichte, trat er es um. Der Kopf flog davon, doch er sah nicht hin. Ein weiteres Kreuz stand ihnen im Weg. Fluchend benutzte er den Gewehrkolben, um es beiseite zu schlagen. Er bewegte sich schnell und räumte ein Hindernis nach dem anderen aus dem Weg.
»Neala, lass die Augen zu. Wir sind gleich bei dir.«
Immer noch schlug er die Gebilde beiseite. Sie prallten gegen andere und Köpfe flogen davon.
Als er Neala beinahe erreicht hatte, zerrte er drei der Kreuze aus der Erde und schleuderte sie zur Seite. Er trat an Neala vorbei. »Halt dich an Sherri fest. Und lass die Augen zu.«
»Johnny, was ...«
»Ich bringe uns zur Hütte.«
Sein Fuß schoss vorwärts und trat einen wackligen Pfahl um. Dieser brachte den davor zu Fall und jener wiederum einen anderen. Während die Gebilde kippten, preschte er weiter und schlug noch mehr um. Er schwang das Gewehr. Der Kolben fällte ein Kreuz nach dem anderen. Robbins schwang die Waffe hoch und sie erfasste einen Kopf. Er schwang sie tief und die Stöcke fielen auseinander. Dann standen ihm keine weiteren Kreuze mehr im Weg. Die Tür der Hütte befand sich nur noch wenige Meter entfernt.
Robbins drehte sich um und betrachtete die Schneise, die er durch die Barriere geschlagen hatte. Der Pfad war von halb umgestürzten Kreuzen gesäumt, die in seltsamen Winkeln aus der Erde ragten.
»Alles in Ordnung«, verkündete er.
Die Frauen richteten sich auf und schauten zurück. Sherri riss eine Hand an den Mund. Neala wandte hastig den Blick ab.
Robbins ging zur Tür der Hütte. Sie besaß keinen Griff. Stattdessen hing ein Lederriemen heraus. Er zog daran und hörte das Knarren von Holz, als sich im Inneren ein Riegel hob. Robbins drückte gegen die Tür. Sie schwang auf.
»Hallo?«, rief er in die Finsternis.
Keine Antwort.
Er trat ein. Die Luft roch nach verdorbenem Wild, fühlte
sich warm und feucht an. Er spähte in die Dunkelheit, konnte jedoch nichts erkennen.
Kurz kramte er in seiner Hosentasche, bis er sein Streich- holzbriefchen fand. Er klappte es auf, riss ein Streichholz heraus und zündete es an. Der Kopf flammte auf. Er kniff die Augen gegen die plötzliche Helligkeit zusammen und drehte sich einmal vollständig herum. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass in dem kleinen Raum niemand lauerte, schüttelte er das Streichholz aus und kehrte zur Tür zurück.
»Alles klar. Kommt rein.«
Neala und Sherri traten ein. Robbins zog die Tür zu und sperrte dadurch das Mondlicht von draußen aus. Der Holzriegel fiel zu.
»So, da wären wir«, sagte er.
Nachdem er ein weiteres Streichholz angezündet hatte, suchte er in dessen flackerndem Schein rasch nach einer Lampe. Er fand eine Kerze in einem aus einer Wand ragenden Halter und entzündete sie. Wie sich herausstellte, wies jede Wand einen Kerzenhalter auf. Er zündete alle an. Die Flammen flackerten, erfüllten den Raum mit Schatten.
»Das muss ein Bett sein«, murmelte Sherri, den Blick auf einen Haufen Pelze gerichtet. Sie setzte sich darauf, strich vorsichtig mit den Händen darüber, dann legte sie sich zurück und seufzte.
Neala stand in der Mitte des Raums und drehte sich langsam im Kreis. Ihr Blick wanderte zu Robbins' Gesicht.
»Ich denke, wir sollten von hier verschwinden«, sagte sie.
»Wir müssen uns ausruhen«, erwiderte Robbins.
Sherri hob den Kopf. »Ich geh da nicht noch mal raus.«
»Dieser Ort ...«, setzte Neala an. »Wer immer hier lebt, muss derjenige gewesen sein, der die Köpfe aufgespießt hat.«
»Ich will das nicht hören«, verkündete Sherri.
»Was, wenn derjenige zurückkommt?«