Ein Mann betrat die Hütte. Ein alter, schlanker Mann. Er sprach etwas, und die Kreatur huschte von Cordie weg.
»Ich bin Grar«, stellte er sich vor. »Unser Gefährte hier heißt Heth. Wie ist dein Name?«
»Cordie.«
Der Mann näherte sich auf Händen und Knien; zum Stehen war die Hütte zu niedrig. Er trug einen Schurz aus Haaren, die auf den Boden hingen, als er kroch. Der Schurz bestand aus verschiedensten Farben: braun, rot, blond und rabenschwarz.
Er setzte sich vor Cordie und überkreuzte die Beine.
»Du bist eine derjenigen, die gestern Nacht von den Bäumen geflüchtet sind.«
»Ja.«
»Ich habe gehört, dass du eine von uns werden möchtest.«
»Ja.«
»Warum?«
Handelte es sich um eine Fangfrage? Cordie konnte keine Böswilligkeit in Grars Augen erkennen. »Damit ich nicht getötet werde«, antwortete sie.
»Sich uns anzuschließen, ist keine Gewähr dafür. Wir haben viele Feinde.«
Sie nickte.
»Entsetzt dich unsere Lebensweise?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wir leben abseits der Zivilisation, die du kennst. Wir verabscheuen sie. Schon unsere Väter und Vorväter haben sie verabscheut.«
»Warum?«, erkundigte sie sich und hoffte, die Frage würde ihn nicht verärgern.
»Gesetze. Regeln. Sie sind uns verhasst, so wie sie unserem Gründervater verhasst waren. Er flüchtete in diese Region der Wälder, um den Gesetzen der Zivilisation zu entkommen. Das war vor langer Zeit - 100 Jahre vor der Geburt deines Landes. Wilde bevölkerten diese Wälder, er aber war wilder als sie. Er metzelte sie hin und aß ihr Fleisch als Zeichen seiner Macht. Allein die Frauen verschonte er. In sein Bett holte er sie und sie schenkten ihm Abkömmlinge.«
»Abkömmlinge?«
»Kinder, Nachkommen, Junge. Sie wuchsen heran und wurden so wild wie ihr Vater. Sie töteten ihre Feinde und aßen sie nach seinem Vorbild.
Eine Frau aber war dem Urvater lieber als alle anderen.«
So redet doch niemand, dachte Cordie. Er muss unsere Sprache aus der Bibel gelernt haben.
»Schlank und hell war sie, eine Frau seltener Schönheit. Sie gebar ihm viele Söhne. Als die Söhne zu jungen Männern wurden, ging jener mit Namen Raf eines Nachts
zu ihr. Er gab sich keine Mühe, seine Tat zu verbergen, denn wisse, es ist unser Brauchtum, uns zu paaren, mit wem wir wollen, ohne Scham und Heimlichkeit. Als aber der Urvater erfuhr, was Raf getan hatte, da erfüllte sein Schrei die Nacht. In Raserei tobte er durch das Dorf. Alle jene, die seinen Zorn erblickten, flüchteten davor und versteckten sich im Wald. Sein Grimm war schrecklich. Jedem Sohn und jeder Tochter und jedem lebendigen Wesen riss er den Kopf ab. Und er nahm alle Köpfe mit. Fernab des Dorfes, das er fortan hasste, baute er sich ein Heim, und er umgab es mit den Köpfen jener, die er getötet hatte.
Nur zwei überlebten seine Raserei. Sie paarten sich, und ihre Zahl wuchs. Viele wurden in den Jahren nach dem großen Gemetzel getötet, doch viele überlebten auch. Ein Dasein wie verängstigte Tiere fristeten sie und versteckten sich des Nachts in den Wipfeln der Bäume, um dem raschsüchtigen Vater zu entgehen.
Schließlich beriefen sie zu einer großen Versammlung und beschlossen, ihm das Leben zu nehmen. Während die Frauen und Kinder auf den höchsten Bäumen Zuflucht suchten, zogen die Männer aus zum Kampfe. Der Wald erzitterte in jener Nacht unter Geheul von Wut und kläglichen, gequälten Schreien. Der Morgen kam, doch die Männer kehrten nicht zurück.
Unter den Frauen war eine Tapfere. Sie kletterte aus der Sicherheit ihres Baums zur Erde und reiste durch die Wälder zum Heim des Urvaters. Als sie zurückkam, berichtete sie, dass sie den Kopf jedes Mannes auf einem Holzkreuz vor der Tür des Vaters gefunden habe. Dann schlug sie sich mit einem Stein selbst den Schädel ein und brach tot zusammen.«
»Wie viele hat er getötet?«, fragte Cordie.
»In jener einen Nacht raubte er das Leben von 32 Männern.«
»Wie konnte er das?«
»Weil er der Teufel ist, Manfred Krull.«
Cordie starrte Grar an. Aus den Augen des alten Mannes sprach Furcht. »Der Teufel?«, flüsterte Cordie. »Lilly hat gesagt, ihn hätte ich vergangene Nacht gesehen. Sie meint, er sei es gewesen, der meinen Freund getötet hat.«
»Lilly sprach die Wahrheit. Du hast unseren Gründervater gesehen, den Teufel, Manfred Krull.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht... Es kann nicht der ursprüngliche ...«
»Es ist so«, beharrte Grar.
»Das ist unmöglich. Der Mann, von dem du erzählt hast, müsste mittlerweile um die 300 Jahre alt sein.«
»Viel älter.«
»Das kann nicht sein.«
»Das Böse altert nicht.«
Cordie schüttelte den Kopf. Das kaufte sie ihm nicht ab. Keine Chance. Aber zu widersprechen, würde Grar vielleicht verärgern, deshalb schwieg sie.
»Viele Male haben wir versucht, ihn zu töten. Noch jedes Mal ist es uns misslungen. Und jedes Mal übt er schreckliche Vergeltung. Unsere Zahl ist gering.«
»Wie gering?«
»Wir sind weniger als 100. Viele sind im Winter gestorben. Wir müssen uns vermehren, sonst stirbt unsere Sippe schon bald aus. Du wirst uns Kinder schenken«, sagte er. »Kinder, um die vielen Gefallenen zu ersetzen. Und du wirst uns frisches Blut schenken, auf dass es sich mit dem unserer Vorväter vermische. Ohne neues Blut werden die Kinder schwach und missgebildet geboren, so wie Heth.« Er nickte in Richtung des entstellten Mannes in der Ecke. »Das Blut seiner Eltern war alt.«
Zu viel Inzucht?, fragte sich Cordie. Sie hatte nicht gewusst, dass daraus solche Ungetüme hervorgehen konnten.
»Du wirst dich jedem Manne hingeben, bis dein Leib die Empfängnis erfährt. Nach deiner ersten Geburt darfst du gewähren lassen, wen du möchtest, und andere zurückweisen.«
»In Ordnung«, sagte sie.
»Nun müssen wir gehen.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Wohin?«
»Zu deinen Freunden.«
»Ich ... Zu wem?«
»Zu jenen, die mit dir von den Bäumen geflohen sind. Du wirst zu ihnen gehen.«
»Ich weiß nicht, wo sie sind.«
»Sie haben Zuflucht im Haus des Teufels gesucht. Du musst zu ihnen gehen und sie herausholen.«
»Ich?«
»Von uns kannst allein du das Land der Toten betreten.«
»O großer Gott, ich ...«
»Die Frauen sind jung. So wie du werden sie uns viele Kinder schenken. Wir müssen sie haben.«
»Aber da ist auch ein Mann.«
»Ihm wirst du das Leben nehmen.«
»Ich? Ich soll ihn umbringen?«
»Du hast andere getötet. Du hast Kigit getötet, die Gurlaw war.«
»Der Kerl hat ein Gewehr.«
»Du bist eine Frau.«
»Das ist nicht ...« Cordie bremste sich. Trotz würde ihr nicht weiterhelfen - und könnte für ihren Tod sorgen. »Also gut«, willigte sie ein. »Ich tue, was immer du sagst.«
»Ich höre Falschheit in deiner Stimme.«
»Nein. Ich tu es, ehrlich. Ich töte den Mann. Wirklich. Und dann sorge ich dafür, dass die Frauen rauskommen.«
»Verrätst du uns, so wird dein Tod schrecklicher sein, als du es dir in Albträumen auszumalen vermagst.«
Mit trockenem Hals erwiderte sie: »Ich werde euch nicht verraten.«
»Heth.«
Die Kreatur kam herbei.
»Deine Hand, Mädchen.«
Cordie hob den linken Arm.
Der alte Mann umfasste locker ihr Handgelenk und führte ihre Hand zu Heth. Cordie ballte sie zur Faust.
»Öffne die Finger.«
Zögerlich gehorchte sie.
»Bitte«, flüsterte sie.
»Du musst Gehorsam lernen«, erklärte Grar und schob ihren kleinen Finger auf Heths Mund zu. Die trockenen Lippen sogen ihn hinein. Cordie spürte die Kanten seiner Zähne. Die Zunge leckte über ihren Finger.
Dann biss Heth zu.
Cordie starrte auf ihren blutigen Stumpf. Sie sah Heth kauen. Die Decke der Hütte neigte sich seltsam, dann wurde alles dunkel.