KAPITEL 16

Neala saß mit dem Rücken an der Wand unter einer Kerze und beobachtete, wie Johnny die Hütte durchsuchte.

Zuerst überprüfte er die Wände, an denen Rehfelle hingen, vermutlich, um den Wind auszusperren. Er hob jedes Fell an und spähte darunter.

Als er mit den Wänden fertig war, trat er an den Kamin. Ein schwarzer Kessel hing über der erloschenen Kohle. Er holte ihn heraus, nahm den Deckel ab und schnupperte. Würgend schloss er den Deckel wieder.

»Was ist?«, flüsterte Neala.

»Verdorben.«

Johnny hängte den Kessel zurück auf den Haken. Dann schob er die Hand in die Asche darunter. »Kalt«, sagte er, wischte sich die Finger ab und richtete sich auf. Er ergriff einen Schürhaken aus Metall. Für Neala sah er solide und schwer aus. Johnny schwang ihn einige Male, als wolle er


das Gewicht testen, anschließend legte er ihn zurück. Eine Weile begutachtete er den rußigen Blasebalg, einen Besen, einen Stuhl mit Korbsitz. Schließlich wandte er sich ab.

Er wanderte durch die Hütte. Seine Füße verursachten dank der dicken Felle, die den Boden bedeckten, kaum ein Geräusch.

»Wonach suchst du?«, fragte Neala.

»Nach irgendetwas, das wir verwenden können.« Er schüttelte den Kopf. »Aber hier ist gar nichts. Abgesehen davon.« Er nickte in Richtung des bedeckten Kessels.

»Was brauchen wir denn?«

»Etwas zu essen und Wasser. Ein paar Kanonen wären auch nett.«

Aus der Ecke ertönte Sherris Stimme. »Wenn du schon beim Träumen bist, wie wär's mit einem Helikopter, der uns von hier wegschafft?«

»Vielleicht gibt es noch einen Raum«, meinte Neala.

»Hab ich schon überprüft. Keine weiteren Türen.«

»Und eine weitere Hütte? Hinten vielleicht?«

»Ich seh' mal nach.« Er ging zur Tür, ergriff sein Gewehr, hob den Riegel an und zog die Tür auf.

Sein Körper zeichnete sich als schwarzer, kräftiger Sche­men gegen die Dunkelheit draußen ab. Er wirkte wachsam und gefährlich, als er in die Nacht hinausspähte. Dann drehte er sich um. »Bis gleich«, sagte er, und Neala hörte in seiner Stimme die Tapferkeit eines verängstigten Jungen.

Er griff nochmals herein, um die Tür zuzuziehen.

»Moment«, sagte Neala.

Johnny wartete, während sie aufstand und sich draußen zu ihm gesellte.

Ihr Blick wanderte über die unzähligen wackeligen Kreuze und Köpfe. Sie erkannte die Schneise, die Johnny für sie geschlagen hatte.

»Gehen wir nach hinten«, schlug Johnny vor.

Sie blieben dicht neben der Hütte. An der Ecke erblickte Neala weitere Kreuze, weitere Köpfe. An der Rückseite befanden sich noch mehr davon, aber keine anderen Gebäude. Die kleine, kompakte Hütte stand allein da.

Die beiden umrundeten den Rest der Hütte und blieben an der Tür stehen.

»Ich bleibe eine Weile hier draußen«, erklärte Johnny. »Du gehst rein und schläfst ein wenig.«

Neala zögerte. Vielleicht brauchte der Mann etwas Zeit für sich. Wahrscheinlicher jedoch fand sie, dass er ritterlich sein und Wache halten wollte, während sie schlief.

»Ich will bei dir bleiben«, gab sie zurück.

»Also ...«

»Wenn du lieber allein bist...«

»Nein, schon gut.« Er grinste. »Glaubst du wirklich, ich möchte mit all dem allein sein?« Er betrachtete das Meer der Köpfe. »Was, wenn sie anfangen, mit mir zu reden?«

»Glaubst du, das könnten sie?«

»Nicht, wenn wir uns weiter unterhalten.«

»Können wir uns setzen?«

Sie nahmen auf dem Boden Platz. Neala schlug die Beine übereinander und lehnte sich an die Blockhütte. Das Holz fühlte sich durch den dünnen Stoff ihrer Bluse rau und kratzig an. Sie ließ den Blick zu Boden gerichtet, während sie sprach. »Ich wollte dir danken«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was hier los ist oder warum du es getan hast, aber du hast uns das Leben gerettet.«

»Naja ...«

Neala wartete darauf, dass er fortfuhr, doch er fügte nichts hinzu. »Warum bist du eigentlich zurückgekommen?«

»Wer weiß?«

»Du musst es wissen.«

»Ja. Ich schätze, das muss ich wohl.«

»Sag es mir.«

»Ich denke, ich wollte nicht, dass du stirbst.«

Sie rückte seitwärts, bis sie ihn an ihrer Schulter spürte. Neala fühlte sich zu diesem Mann stark hingezogen, was sie verwirrte. Schließlich hatte er ursprünglich dabei mitge­wirkt, sie in diesen Albtraum zu stürzen. Vermutlich sollte sie ihn dafür hassen. Doch das konnte sie nicht. Er war stark und tödlich, aber zugleich auf eine Weise verletzlich, die in ihr den Wunsch weckte, ihn festzuhalten.

»Warum ich?«

»Keine Ahnung. Da ist etwas ... Ich wusste, was sie mit euch machen würden. Der Gedanke, dass du verletzt wirst...«

»Was ist mit Sherri? Mal angenommen, es wäre nicht um mich gegangen. Hättest du sie zum Sterben zurückge­lassen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil es in Barlow so läuft. So ist es schon immer gewesen, von Anfang an.«

»Wie hat es denn angefangen?« Sie sah ihn an. Er begeg­nete ihrem Blick, dann schaute er weg und betrachtete die Umgebung.

»Ich bin nicht sicher, ob das noch irgendjemand weiß«, antwortete er. »Die Krulls waren als Erste hier. Niemand scheint zu wissen, woher sie kommen. Allerdings gibt es reichlich Theorien. Manche behaupten, sie wären Kinder des Teufels, andere sagen, sie sind eine Art Stamm aus der Steinzeit.«

»Wenn sie aus der Steinzeit sind, woher haben sie dann Waffen aus Stahl?«

»Von uns. Wir geben ihnen, was sie wollen. Außer Schusswaffen.«


Neala schüttelte den Kopf.

»Na jedenfalls hatte meine Geschichtslehrerin an der Highschool die Theorie, dass die Krulls Nachkommen einer Gruppe von Wikingern sein könnten, die an der Pazifikküste ankam und sich das Delta entlang vorgearbeitet hat.«

»Und was denkst du?«

»Ich denke, sie könnten von irgendeinem verrückten alten Mann aus den Bergen abstammen - einem durchgeknallten Daniel Boone.« Neala sah ein verschmitztes Grinsen, als er mit den Schultern zuckte. »Was soll's, niemand weiß es. Ich habe eine Nachbarin namens Joanne Early, die glaubt, dass sie Marsmenschen sind. Was immer sie wirklich sind, sie haben die Kontrolle. Früher sind sie etwa einmal pro Monat über die Ortschaft hergefallen, aber unsere Vorväter ließen sich etwas einfallen und fingen an, ihnen Fremde auszu­liefern. Das funktionierte prächtig, denn die Bewohner von Barlow raubten die Leute zudem aus, bevor sie den Krulls übergeben wurden.«

»Das tun sie noch immer«, sagte Neala und blickte auf ihre nackten, blutigen Füße hinab.

»Beide Seiten profitieren davon. Solange die Krulls 8 bis 10 Opfer pro Monat bekommen, lassen sie uns zufrieden.«

»Hat nie jemand versucht, sie aufzuhalten?«

»Es gab schon ein paar Versuche, aber nicht viele. Einmal brach ein Bursche namens MacQuiddy mit einer Gruppe von Männern aus dem Ort dazu auf. Sie nannten sich die Glorreichen 14. Das war damals in den 1930ern. Zu der Zeit hatte sich herumgesprochen, dass es klug wäre, Barlow zu meiden. Es kamen kaum noch Reisende durch und unsere Leute konnten keine Opfer mehr in den Wald bringen. Also schlichen sich die Krulls eines Nachts in den Ort. Sie schnapp­ten sich ein Dutzend Frauen und Kinder. Die Glorreichen 14 zogen los, um sie zu retten, und kamen nie zurück.«

Neala beobachtete, wie sein Blick über das Meer der Köpfe wanderte. »Niemand kommt je zurück«, fügte er hinzu.

»Werden wir es denn schaffen?«

»Wir werden es jedenfalls versuchen.« Johnny schlang einen Arm um ihre Schultern und sie lehnte den Kopf an ihn.

Es fühlte sich gut an, mit Johnny zusammen zu sein.

Besser als mit irgendeinem anderen Mann seit Derek. Das war vor fast zwei Jahren gewesen. Die Trennung hatte sie in ein tiefes Loch gerissen. Sechs Monate lang hatte sie wie eine Einsiedlerin gelebt, Derek gehasst, alle Männer gehasst und doch ständig an die Zeit gedacht, die sie miteinander verbracht hatten, und davon geträumt, dass er zurück­kommen würde. Fast so, als hätte sie masochistische Freude an dem Schmerz gehabt, der mit solchen Gedanken einher­gegangen war.

Als sie die Einsamkeit letztlich aus dem Haus trieb, traf sie sich nur mit verzweifelten Männern. Sie wollten nachts Nealas Körper spüren, weil sie dieselbe Einsamkeit plagte. Viele versuchten, sich cool zu geben. Sie redeten großspurig daher, fuhren Porsches und verstellten sich. Andere zeigten ihre Empfindlichkeit wie eine offene Wunde - Jammer­lappen, die um Aufmerksamkeit bettelten. Nur selten traf sie auf normale Kerle, die Selbstvertrauen ausstrahlten und die sie vielleicht gern näher kennengelernt hätte.

Neala vermutete, dass die meisten davon bereits verheira­tet und damit beschäftigt waren, Kinder großzuziehen.

Und nun war da Johnny Robbins. Als normal konnte man ihn nicht bezeichnen - nicht, nachdem er in einer Ortschaft wie Barlow aufgewachsen und derart schreckliche Dinge getan hatte. Aber er war stark und selbstsicher. Er konnte liebenswürdig sein. Und er redete unverblümt.

Johnny unterschied sich so sehr von diesen anderen Männern - er vermittelte Unerschütterlichkeit. Jemand, auf den man sich verlassen konnte.

Jemand, den sie vielleicht lieben könnte.

Tränen traten ihr in die Augen. Sie schniefte und Johnny sah sie an.

»Tut mir leid«, sagte sie.

»Muss es nicht.«

»Es ist nur alles so entsetzlich.«

»Ich weiß.« Seine Hand streichelte ihr Haar und ihr nasses Gesicht.

»Wir werden nie Gelegenheit bekommen, einander kennen­zulernen, Johnny. Ich meine, Zeit miteinander zu verbringen, etwas miteinander zu unternehmen.«

»Doch, werden wir«, widersprach er.

Sie schüttelte den Kopf. Ein Schluchzen erschütterte ihren Körper.

»Werden wir. Verlass dich drauf.«

Sein Gesicht bewegte sich dicht zu ihrem. Er sah ihr in die Augen, lächelte warmherzig und drückte den Mund auf den ihren. Ihr Kuss hielt lange an. Neala wünschte, er würde nie enden.

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